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Pierre Rosanvallon

Die Gegen-Demokratie

Politik im Zeitalter des Misstrauens

Aus dem Französischen von
Michael Halfbrodt

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

© der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

© der Originalausgabe 2014 [2006] by Éditions du Seuil

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Misstrauen und Demokratie (Einleitung)

Die Misstrauensgesellschaft

Die drei Dimensionen der Gegen-Demokratie

Der Mythos vom passiven Bürger

Entpolitisiert oder unpolitisch?

Die Geschichte der Demokratie neu lesen

IDie Überwachungsdemokratie

Überwachen, denunzieren, benoten

Die Wachsamkeit

Die Denunziation

Die Benotung

Die Aufpasser

Der wachsame Bürger

Der neue Aktivismus

Das Internet als politische Form

Funktionale Aufsicht durch unabhängige Behörden

Interne Prüfungs- und Bewertungsagenturen

Der Lauf der Geschichte

Drei Phasen

Demokratischer Dualismus: eine lange Geschichte

Die unmögliche Institutionalisierung

Legitimitätskonflikte

Feder und Tribüne

Die drei Legitimitäten

Die neuen Wege der Legitimität

IISouveränität als Verhinderung

Vom Widerstandsrecht zur komplexen Souveränität

Widerstand und Zustimmung in mittelalterlichen Theorien

Das Zeitalter der Reformation

Aufklärung, negative Macht und die Volkstribunen

Das Experiment der Französischen Revolution

Fichte und die Idee eines modernen Ephorats

Ein signifikantes Vergessen

Die selbstkritischen Demokratien

Klassenkampf als negative Politik

Die Metamorphosen der Opposition

Rebell, Widerstandskämpfer, Dissident

Der Niedergang der kritischen Dimension in den Demokratien

Die negative Politik

Das Zeitalter der »Abwahlen«

Prävention und Veto-Macht

Schwache Demokratie

IIIDas Volk als Richter

Historische Referenzen

Das Beispiel Griechenland

Das englische impeachment

Der amerikanische recall

Die Quasi-Gesetzgeber

Die demokratische Jury

Die Produktion konkurrierender Normen

Schattenlegislatoren

Die Vorliebe für das Urteil

Zur Verrechtlichung des Politischen

Das Rechtfertigungsgebot

Die Pflicht zur Entscheidung

Der aktive Betrachter

Die Macht der Theatralität

Der Raum des Exemplarischen

Wählen und Urteilen

IVDie unpolitische Demokratie

Ohnmachtsgefühle und Formen der Entpolitisierung

Das Zeitalter des Unpolitischen

Der Horizont der Transparenz

Die beiden Formen der Entpolitisierung

Die populistische Versuchung

Eine Pathologie der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie

Populismus und Gegen-Demokratie

Lektionen in unpolitischer Ökonomie

Ein Wort kehrt zurück

Die ökonomische Funktion der Überwachung

Der Markt oder Triumph des Vetos

Unpolitische Ökonomie

Das gemischte System der Moderne (Schluss)

Die neuen Wege der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie

Die Gegen-Demokratie konsolidieren

Die Demokratie repolitisieren

Das gemischte System der Moderne

Der Gelehrte und der Bürger

Bibliografie

Personenregister

Zum Autor

Misstrauen und Demokratie (Einleitung)

Das demokratische Ideal herrscht mittlerweile uneingeschränkt, und doch stehen die Systeme, die sich auf dieses Ideal berufen, fast überall unter heftiger Kritik. Das ist das große politische Problem unserer Zeit. Der Vertrauensverlust der Bürger in ihre Führer und in die politischen Institutionen ist deshalb eines der Phänomene, das die Politikwissenschaften in den letzten zwanzig Jahren am gründlichsten untersucht haben. Inzwischen liegt eine Reihe wichtiger – vergleichender wie länderspezifischer – Studien vor, die in dieser Angelegenheit eine eindeutige Diagnose zulassen. Auch die Analyse der zunehmenden Wahlenthaltung hat eine umfangreiche Literatur hervorgebracht. Bezeichnenderweise bleiben selbst die Demokratien jüngsten Datums von diesem Problem nicht verschont, wie die Situation in den Ländern des ehemals kommunistischen Ostblocks sowie in den einstigen Diktaturen Asiens oder Lateinamerikas belegt. Wie sind diese gemeinhin als Ausdruck einer »Krise«, eines »Unbehagens«, einer »Abkehr« oder eines »Versagens« wahrgenommenen Tatsachen zu bewerten? Heutzutage überwiegen Interpretationen, die häufig ein ganzes Sammelsurium von Gründen anführen, wie den wachsenden Individualismus und seine Konsequenzen, den ängstlichen Rückzug in die Privatsphäre, das Nachlassen des politischen Willens, den Aufstieg von Eliten, die immer weniger Bezug zum Volk haben. Häufig ist von einem »Niedergang des Politischen« zu hören, und die Schuld dafür wird mal bei den Regierenden gesucht, die verblendet seien oder sich ihrer Verantwortung entzögen, mal bei den Regierten, die resigniert seien oder jedes Interesse an der Politik verloren hätten. Es fehle etwas oder es sei etwas aufgegeben worden, wird beklagt; die heutigen Demokratien seien von ihrem ursprünglichen Modell abgewichen oder hätten ihre anfänglichen Verheißungen verraten. Solche Einschätzungen sind heute allenthalben zu finden, sie verbinden misslaunige oder verbitterte Kommentare zur Gegenwart mit nostalgischer Sehnsucht nach einer maßlos idealisierten Vergangenheit der Bürgergesellschaft. Bisweilen braut sich in den Untiefen dieser Enttäuschung sogar ein dumpfer Hass auf die Demokratien zusammen.

Das vorliegende Werk verfolgt andere Spuren, um die gegenwärtige Verfasstheit der Demokratien zu verstehen. Es ist insbesondere darum bemüht, den Analyserahmen zu erweitern, indem es die Geburtsfehler der parlamentarischen Regierungsform in ein dynamisches Verhältnis zu den Reaktionen der Gesellschaft setzt. Denn historisch betrachtet ist die Demokratie stets als Versprechen und Problem zugleich in Erscheinung getreten. Als Versprechen auf ein System, das mit den Bedürfnissen der Gesellschaft in Einklang steht, einer Gesellschaft, die ihrerseits auf dem Wahrwerden eines doppelten Imperativs, dem der Gleichheit und der Unabhängigkeit, basiert. Als Problem insofern, als die Realität von der Umsetzung dieser hehren Ideale oft weit entfernt war. Selbst dort, wo man versucht hat, das demokratische Projekt zu verwirklichen, ist es entweder grob verfälscht, subtil verkürzt oder systematisch blockiert, jedenfalls nie zu Ende geführt worden. Streng genommen haben wir bisher eigentlich noch kein vollkommen »demokratisches« System erlebt. Die real existierenden Demokratien sind unvollendet geblieben, wenn nicht ins Gegenteil verkehrt worden, in einem Ausmaß freilich, das von Fall zu Fall stark variierte. Deshalb waren Enttäuschungen auch ständige Wegbegleiterinnen der Hoffnungen, die der Ausbruch aus der Welt der Abhängigkeit und des Despotismus genährt hatte. Der Grundsatz, Regierungen durch den Wählerwillen zu legitimieren, ging stets mit Misstrauensbekundungen der Bürger gegenüber den etablierten Mächten einher. Schon in dem berühmten Agreement of the People, dem ersten demokratischen Manifest der Neuzeit, das am 1. Mai 1649 in London veröffentlicht wurde, tritt dieser Dualismus von Vertrauen und Misstrauen auf exemplarische Weise zutage. Garantie der Bürgerrechte und der Religionsfreiheit, Einführung von Geschworenengerichten, allgemeines Wahlrecht, Beschränkung der Wahlmandate, strikte Unterordnung der militärischen unter die zivile Gewalt, Zugang aller zu öffentlichen Ämtern, all die Grundsätze, um derentwillen die Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts geführt wurden, finden sich bereits in diesem bahnbrechenden Text vorformuliert. Bezeichnenderweise spricht dieses Dokument jedoch zugleich von der »leidvollen Erfahrung« mit der Korruption der Mächtigen, von der Gefahr, dass sich, allen Vorkehrungen zum Trotz, Partikularinteressen durchsetzen und die Repräsentativregierung in eine neue Form von Herrschaft umschlägt. Die Bedingungen, unter denen eine Macht als legitim zu betrachten ist, werden also im gleichen Atemzug formuliert wie ein »Misstrauensvorbehalt« gegenüber jeder Macht.

Die Misstrauensgesellschaft

Die Geschichte der realen Demokratien ist von permanenten Spannungen und Konflikten nicht zu trennen. Diesem Umstand wurde auf zweierlei Weise Rechnung getragen. Zunächst durch eine Vielzahl von Vorschlägen und Experimenten, die darauf abzielten, die Defizite des Parlamentarismus auszugleichen. Indem man beispielsweise die Frequenz der Urnengänge erhöhte, direktdemokratische Mechanismen implementierte oder versuchte, die Rechenschaftspflicht der Mandatsträger zu verstärken. In jedem dieser Fälle ging es um eine Verbesserung der »Wahldemokratie«. Parallel dazu bildete sich ein komplexes Ensemble informeller gesellschaftlicher Praktiken, Prüfungen und Gegenkräfte, aber auch Institutionen, heraus, das dazu gedacht war, den Vertrauensverlust durch eine organisierte Form von Misstrauen wettzumachen. Man kann Demokratie weder denken noch ihre Geschichte erzählen, ohne diese Mechanismen zu behandeln.

Es sind somit zwei Dimensionen zu berücksichtigen, will man die Dynamik der diversen demokratischen Experimente korrekt erfassen: zum einen die Funktionalität und Dysfunktionalität der parlamentarisch-repräsentativen Institutionen, zum anderen die Herausbildung dieses Misstrauensuniversums. Bisher hat sich die Aufmerksamkeit der Historiker und politischen Theoretiker vornehmlich auf die erste Dimension konzentriert. Ich selbst habe eine systematische Erfassung dieses Feldes vorgenommen und in diesem Zusammenhang die Spannungen, die die Institutionen der Staatsbürgerschaft, der Repräsentation und der Souveränität strukturieren, eingehend analysiert.1 Jetzt ist es an der Zeit, sich der zweiten Dimension zuzuwenden. Sicherlich waren die diversen Äußerungen dieses Misstrauens schon oft genug Gegenstand punktueller Untersuchungen, die sich solchen Themen widmeten, wie der Geschichte der Widerstände gegen die Ausdehnung staatlicher Macht, der Soziologie des nachlassenden Bürgerengagements oder der Abkehr vom politischen System usw. Auf diese Weise gerieten einzelne Aktionsformen und spezifische Einstellungen in den Blick. Sie wurden jedoch nicht in einen Gesamtrahmen gestellt, sondern allenfalls auf eine sehr allgemeine und unverbindliche Art dem Kampf für ein Leben in einer gerechteren und freieren Welt zugeordnet. Gegenstand des vorliegenden Werkes ist hingegen, diese Misstrauensäußerungen in einem umfassenden Kontext zu betrachten, innerhalb dessen ihre grundlegendsten Eigenschaften ein zusammenhängendes und schlüssiges Ganzes ergeben, kurzum, sie als Elemente eines politischen Systems zu begreifen. Ziel ist es, auf dieser Grundlage zu einem erweiterten Verständnis der Funktionsweise, Geschichte und Theorie der Demokratien zu gelangen.

Um das Problem richtig einzuordnen, sei zunächst darauf verwiesen, dass der Ausdruck dieses Misstrauens zwei große Richtungen eingeschlagen hat, eine liberale und eine demokratische. Das liberale Misstrauen gegenüber der Macht ist oft theoretisch untermauert und kommentiert worden. Montesquieu hat ihm seine gültige Formulierung gegeben,2 und die Gründerväter des amerikanischen Systems haben es in eine konstitutionelle Form gegossen. Während der ganzen Zeit, in der über die amerikanische Verfassung diskutiert wurde, war jemand wie Madison von der Vorstellung geradezu besessen, einer Anhäufung von Machtbefugnissen vorzubeugen. Seine Absicht war weniger, eine gute und starke, auf dem Vertrauen der Bevölkerung basierende Regierung zu begründen, als eine schwache Macht zu installieren und dem Argwohn eine institutionelle Form zu geben. Er zielte mehr darauf ab, den Einzelnen vor dem Zugriff der Staatsgewalt zu schützen, als den Bürger zum Souverän zu erheben. Auf französischer Seite vertraten Benjamin Constant oder Sismondi vergleichbare Positionen. Für den Ökonomen Sismondi, der zugleich einer der großen politischen Theoretiker des frühen 19. Jahrhunderts war, bestand der Schlüssel zu der Art von Regierungsform, die ihm vorschwebte, in der »beständige[n] Geneigtheit zum Widerstande«3. Für Autoren wie ihn war die Erinnerung an die Feudalzeit prägend. Sie wollten jede Rückkehr zur Despotie ausschließen. Mehr Demokratie bedeutete in diesem Fall automatisch, mehr Argwohn gegenüber den Staatsorganen.4 Benjamin Constant ging noch weiter in diese Richtung und behauptete, Freiheit bedinge einen systematischen Gegensatz zwischen öffentlicher Meinung und den Regierungsvertretern; er sprach sogar von der Notwendigkeit einer »Überwachung durch den Haß«5. Seine eigentliche Originalität liegt allerdings anderswo, nämlich in der Tatsache, dass er als Erster deutlich unterschied zwischen einem »alten« Misstrauen, das der Ablehnung einer Willkürherrschaft über die Gesellschaft entsprang, und einem »modernen« Misstrauen, das auf der Erkenntnis beruhte, dass auch die neuen, aus dem Gemeinwillen hervorgegangenen Systeme auf Abwege geraten könnten. Unter Verweis auf das »furchtbare Beispiel« Robespierres betonte er die Kluft, die sich 1793 in Frankreich aufgetan habe zwischen einem politischen Prozess, im Zuge dessen »[d]as allgemeine Vertrauen […] ehrenhafte Männer zu hohen Verwaltungsposten emporgetragen« habe, und der Tatsache, dass Letztere »zugelassen [hätten], daß Mörderbanden sich bildeten«.6 Für Constant war das Vertrauen in die Demokratie folglich selbst etwas, das begrenzt werden musste. Als mit der charte constitutionnelle von 1830 die parlamentarische Monarchie und damit das politische System eingeführt wurde, das er schon immer befürwortet hatte, begrüßte er den Text mit der unvermittelten Bemerkung, dass »jede [gute] Verfassung ein Akt des Misstrauens« sei.7 Das liberale Misstrauen ist hier als eine »präventive Macht« zu verstehen, um mit einem treffenden Ausdruck Bertrand des Jouvenels zu sprechen.8 Sie nimmt deshalb bewusst eine zögerliche und pessimistische Haltung gegenüber der Demokratie ein. Misstrauen heißt in diesem Fall Zweifel an der Volksmacht, Angst vor ihren Irrtümern, Bedenken gegenüber der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts.

Daneben gibt es aber noch ein weiteres, nämlich demokratisches Verständnis von Misstrauen. Dessen Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass die gewählten Repräsentanten ihre Zusagen einhalten, bzw. Druck auszuüben, damit die eigentliche Bestimmung der Regierung, dem Gemeinwohl zu dienen, gewahrt bleibt. Es ist dieses demokratische Misstrauen, das uns in diesem Buch interessiert, da uns Misstrauen in einem posttotalitären Zeitalter vornehmlich in dieser Form begegnet. Ein solches demokratisches Misstrauen kennt viele Wege, um sich auszudrücken und Gestalt anzunehmen. Ich werde im Folgenden drei Haupttypen unterscheiden: Überwachungsbefugnisse, Verhinderungsformen und Urteilsprüfungen. Im Rahmen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie umreißen diese drei Gegenmächte also die Konturen dessen, was ich als Gegen-Demokratie bezeichnen möchte. Diese Gegen-Demokratie ist nicht das Gegenteil von Demokratie. Sie ist vielmehr jene Form von Demokratie, die die übliche Wahldemokratie abstützt, nach Art eines Strebepfeilers, die Demokratie der indirekten Kräfte, die sich über die Gesellschaft verteilen, die permanente Demokratie des Misstrauens gegenüber der punktuellen Demokratie der Wählerlegitimation. Diese Gegen-Demokratie ist somit Bestandteil eines umfassenderen Systems, das die rechtmäßigen demokratischen Institutionen einschließt. Sie ist bestrebt, diese Institutionen zu ergänzen und ihre Wirkungen zu verstärken; sie fungiert als deren Widerlager. Sie muss deshalb als eine wahrhaft politische Form verstanden und analysiert werden, die zu beschreiben und zu bewerten Thema dieser Arbeit ist.

Die Bedeutung dieses politischen Misstrauens demokratischen Typs ist umso größer, als die Gegenwartsgesellschaften ohnehin durch einen allgemeinen Vertrauensverlust in ihre Funktionstüchtigkeit und eine entsprechende Zunahme von Misstrauensreaktionen geprägt sind. Dieser Anbruch einer Misstrauengesellschaft lässt sich anhand dreier Faktoren, eines wissenschaftlichen, eines ökonomischen und eines soziologischen, erklären. Der wissenschaftliche Faktor ist von Ulrich Beck in seinem Buch Risikogesellschaft gut herausgearbeitet worden.9 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der banale Befund, dass wir in eine Welt eingetreten sind, die mit dem Technikoptimismus, der bis in die 1960er Jahre vorherrschte, gebrochen hat. Das Zeitalter der Katastrophen und Ungewissheiten, in dem wir inzwischen leben, hat ein Verständnis moderner Industrie und Technologie befördert, das diese eher mit dem Begriff des Risikos als dem des Fortschritts assoziiert. Diese Risikogesellschaft ist, strukturell gesehen, eine Gesellschaft des Misstrauens gegenüber der Zukunft. Das Problem ist aber, dass die Bürger trotz allem auf die Wissenschaftler angewiesen bleiben, denn sie verfügen über keine eigenständigen Kriterien zur Beurteilung der relevanten Fragen. Die Rolle der Wissenschaftler erscheint somit als unverzichtbar und problematisch zugleich. Die Bürger haben also keine andere Wahl, als die Wissenschaftler zu zwingen, Rede und Antwort zu stehen und Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Die Strategie besteht darin, Misstrauen in einem positiven Sinne zu instituieren, als eine Art Sicherung, als Vorkehrung zum Schutz gesellschaftlicher Interessen. Zu Recht haben die Kommentatoren Becks auf das Paradoxe dieser Strategie aufmerksam gemacht: »Wenn der Bürger die Probleme lösen will, die von den Experten weder vorhergesehen noch verhütet wurden, ist er ihnen erneut ausgeliefert. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als ihnen weiter eine Vollmacht auszustellen, allerdings in dem verstärkten Bemühen, Maßnahmen zu ihrer Kontrolle und Überwachung zu finden.«10 Der Wandel des wissenschaftlich-technischen Universums hat somit zur Entstehung bestimmter Formen gesellschaftlichen Misstrauens geführt. In diesem Zusammenhang wird gern auf das »Vorbeugeprinzip« verwiesen, doch wird dieser Begriff dem Phänomen nur bedingt gerecht (das in seinem Bereich gewisse Ähnlichkeiten mit der liberalen Gewaltenteilung in dem Feld der Politik aufweist).

Auch auf makroökonomischer Ebene nimmt das Vertrauen ab. Definiert man Letzteres als eine Form des Wissens, das die Formulierung von Hypothesen über ein zukünftiges Verhalten ermöglicht, so kommt man tatsächlich an der Feststellung nicht vorbei, dass dieses Wissen, das im vorliegenden Fall »Konjunkturprognose« heißt, sich verringert. Tatsächlich sind mittel- und langfristig verlässliche Voraussagen nicht mehr möglich, weil die dafür zuständigen Institutionen dazu entweder technisch außerstande sind oder in der Vergangenheit zu oft danebenlagen, um noch glaubwürdig zu sein. Die Zeiten, in denen das französische Parlament noch darüber abstimmte, welche Wachstumsraten in den kommenden fünf Jahren erreicht werden sollten, gehören offenkundig einer längst vergangenen Epoche an (obwohl Wirtschaftsplanung noch vor dreißig Jahren wie selbstverständlich in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers fiel). Der Eintritt in eine weniger vorhersehbare, weil von offeneren und komplexeren Interaktionssystemen beherrschte Wirtschaftswelt trägt somit ebenfalls zur Stärkung des Misstrauens bei, zumal es sich in diesem Fall mit dem weit verbreiteten Gefühl verbindet, dass staatliches Handeln in der Wirtschaft ohnehin nichts ausrichten könne.

Neben wissenschaftlichen und ökonomischen Faktoren sind auch soziologische Mechanismen für das Entstehen einer Misstrauensgesellschaft verantwortlich. In einer »Entfremdungsgesellschaft«, um die Formulierung Michael Walzers aufzugreifen, erodieren die materiellen Grundlagen gesellschaftlichen Vertrauens; die Menschen verlassen sich weniger aufeinander, weil sie sich nicht mehr gut genug kennen. Mangelndes Vertrauen in andere und Misstrauen gegenüber den Regierenden stehen in unmittelbarer Beziehung, wie groß angelegte Vergleichsstudien gezeigt haben: Brasilien, das Land, das in Sachen politischen Misstrauens alle Rekorde bricht, ist zugleich das Land, in dem die Werte für zwischenmenschliches Vertrauen am niedrigsten liegen. Dänemark, wo die Situation genau umgekehrt ist, zeigt, dass ein großes Vertrauen in andere mit einer weniger argwöhnischen Haltung gegenüber den Regierenden einhergeht.11 Bezeichnenderweise wird Korruption umso eher toleriert, je größer die Enttäuschung über die Demokratie ist.12 Demokratisches Misstrauen und strukturelles Misstrauen überschneiden und verstärken sich wechselseitig. Die Summe dieser verschiedenen Faktoren ist dafür verantwortlich, dass man vom Anbruch einer »verallgemeinerten Misstrauensgesellschaft« spricht, wenn von der heutigen Welt die Rede ist.13 Eine solche Gesellschaft bildet den Hintergrund, vor dem die Transformationen der Demokratie, die uns hier interessieren, zu betrachten sind.

Die drei Dimensionen der Gegen-Demokratie

Beginnen wollen wir mit den Überwachungsbefugnissen. Um sie ursächlich zu begreifen und ihre Entstehung nachzuvollziehen, sei daran erinnert, dass der Gedanke der Volkssouveränität sich historisch gesehen auf zweierlei Weise artikulierte. Zum einen über das allgemeine Wahlrecht, das Recht der Bürger, ihre Führer selbst zu wählen. Das ist der bekannteste und direkteste Ausdruck des demokratischen Prinzips. Doch das Recht, in regelmäßigen Abständen zu wählen und dadurch eine Regierung zu legitimieren, ging fast stets mit dem Wunsch einher, eine dauerhaftere Kontrolle über die gewählte Regierung auszuüben. Denn die Bindung durch den Wahlakt erschien von vornherein als unzureichend, um die Repräsentanten zu zwingen, ihren Verpflichtungen treu zu bleiben. Zwar glaubte man zeitweilig, die Beziehung zu den Wählern dadurch enger knüpfen zu können, dass man sie Formen des imperativen Mandats annehmen ließ. Doch diese Praxis erwies sich als unvereinbar mit den Erfordernissen einer offenen parlamentarischen Diskussion (denn eine wirkliche Debatte setzt voraus, dass man seine Meinung ändern kann, nachdem man die Argumente der Gegenseite gehört hat). Weshalb man schließlich überall auf das imperative Mandat verzichtete und stattdessen nach anderen, mittelbareren Wegen suchte, die Demokratie zu verwirklichen. An die Stelle einer »utopischen Repräsentation«, bei der die Meinung der Repräsentanten völlig deckungsgleich wäre mit der ihrer Wähler, trat die konkrete Praxis einer permanenten Infragestellung, eines Drucks auf die Gewählten, dessen Wirkung sich auf unspezifischere und äußerlichere Weise geltend machte. Die Suche nach einer »Gegenmacht«, die sie zugleich stabilisieren und ihren Kurs korrigieren würde, blieb so ein ständiges, untergründig vorhandenes Moment im Leben der Demokratien. Die Französische Revolution bestätigte erstmals eindrucksvoll, welcher zentrale Stellenwert diesem Dualismus von Macht und Gegenmacht zukam. Schon 1789 entstand ein Wort zur Bezeichnung dieser komplementären Form von Souveränität, die man herbeizuführen gedachte, um das Ideal einer den Gemeinwillen verkörpernden Regierung zu verwirklichen: surveillance (Überwachung). Die nimmer ruhende Wachsamkeit des Wächter-Volkes wurde als das große Heilmittel gegen institutionelle Fehlentwicklungen angepriesen, insbesondere um zu kurieren, was man als repräsentative Entropie bezeichnen könnte (das heißt, die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Wählern und Gewählten).

Später, während der jakobinischen Schreckensherrschaft, kam der Begriff »Überwachung« wegen seiner Nähe zur Tyrannei der revolutionären Clubs und Ausschüsse in Verruf und wurde anschließend aus dem politischen Vokabular verbannt. Wohlgemerkt, das Wort, nicht die Sache selbst. Denn die Zivilgesellschaft hat es sich nie nehmen lassen, die Regierung auf mancherlei Weise und vielerlei Wegen zu beaufsichtigen, zu kontrollieren, zu begutachten und auf die Probe zu stellen. Diese Befugnisse haben sich sogar beträchtlich erweitert. Während die institutionelle Ordnung der parlamentarischen Demokratien in den letzten zweihundert Jahren mehr oder minder stabil geblieben ist (hinsichtlich der Vorstellung von Repräsentation, der Wahrnehmung von Verantwortung, der Rolle von Wahlen), sind diese Überwachungsbefugnisse in erheblichem Maße ausgebaut und diversifiziert worden. Wir werden der Reihe nach ihre drei wesentlichen Erscheinungsformen untersuchen: Wachsamkeit, Denunziation und Benotung. Jede trägt dazu bei, die Legitimation durch Wahlen in jene umfassendere Form gesellschaftlicher Legitimation einzubetten, die das Reputationskapital einer Person oder eines Systems darstellt. Denn die genannten Mechanismen wirken sich zunächst dahingehend aus, dass sie die Reputation einer Macht auf den Prüfstand stellen. Reputation ist auch eine Art von »unsichtbarer Institution« und bildet als solche einen der konstitutiven Faktoren des Vertrauens. Diese Prüfverfahren teilen mehrere Eigenschaften: Sie zeichnen sich durch Permanenz aus (während Wahlen nur gelegentlich stattfinden); sie können durch Einzelpersonen, nicht nur durch Organisationen angewendet werden; sie erweitern und erleichtern die Einflussnahme der Gesellschaft auf die Regierung (wie schon John Stuart Mill bemerkte: Man kann nicht alles tun, aber man kann alles kontrollieren). Deshalb ist diese »Überwachungsdemokratie« aktuell auf dem Vormarsch.

Die Vermehrung von Sanktions- und Präventionsbefugnissen bildet die zweite strukturimmanente Dimension des Misstrauens in der Gegen-Demokratie. Im Geist der Gesetze traf Montesquieu die in seinen Augen zentrale Unterscheidung zwischen Handlungsrecht [faculté d’agir] und Verhinderungsrecht [faculté d’empêcher]. Er verwies auf ein Missverhältnis, dessen Bedeutung in dem Maße zunahm, wie die Bürger erfahren mussten, dass die Mandatsdemokratie zur Verwirklichung ihrer Ziele und Hoffnungen nur bedingt geeignet ist. Da die Bürger letztlich wenig Handhabe besaßen, um die Regierungen zu zwingen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen oder bestimmte Entscheidungen zu treffen, gewannen sie über vermehrte Sanktionen gegenüber der Staatsmacht eine Form von Handlungsfähigkeit zurück. Somit zeichnete sich im Schatten der »positiven Demokratie« – des Wählervotums und der gesetzlichen Institutionen – allmählich ab, was man »negative gesellschaftliche Souveränität« nennen könnte. Diese Entwicklung hat vor allem einen »technischen« Grund: Blockademaßnahmen erzeugen wirklich sichtbare und greifbare Resultate. Zu erreichen, dass ein Gesetzesentwurf zurückgezogen wird, entspricht voll und ganz der Intention des Akteurs, während die Frage, ob genug Druck ausgeübt wurde, um die Durchsetzung einer erwünschten Politik zu erzwingen, in jedem Fall kontroverser beurteilt werden wird. Der Wille kommt in einem Blockadeakt stets vollständig zum Zuge, weil es dabei um eine eindeutige und klare Entscheidung geht, die umsetzt, was mit ihm inhaltlich gemeint oder beabsichtigt ist. Das Mandat oder die bloße Genehmigung besitzen diese Eigenschaften nicht, die Frage, inwieweit der Wille sich realisieren lässt, bleibt in diesem Rahmen tatsächlich offen, weil die Zukunft ungewiss und die Handlungsweise des Bevollmächtigten nicht vorherbestimmt ist. Die der Mandatsdemokratie immanente Spannung, die das Versprechen oder die Zusage erzeugt, wird im Rahmen einer negativen Demokratie überwunden.

Zudem ist aus soziologischer Sicht offenkundig, dass negative Koalitionen leichter herzustellen sind als positive Mehrheiten. Denn sie kommen mit ihren Widersprüchen besser zurecht. Mehr noch, es ist gerade ihre Heterogenität, aus der sich die Leichtigkeit ihres Zustandekommens und ihres Erfolges erklärt. Solche reaktiven Mehrheiten brauchen nicht kohärent zu sein, um eine Wirkung zu erzielen. Ihre Macht ist umso größer, als im Rahmen der Widerstände, die sie zum Ausdruck bringen, die Intensität der Reaktionen eine wesentliche Rolle spielt. Auf der Straße, im medienwirksamen Protest oder im symbolischen Ausdruck geht es um mehr als Arithmetik. Wirklich handlungsfähige gesellschaftliche Mehrheiten sind hingegen viel schwerer zu bilden. Denn sie setzen naturgemäß entweder einen passiven Konsens oder eine positive, bewusste Übereinkunft voraus. Sie können sich nicht, wie das bei Wählermehrheiten oder mehr noch bei reaktiven Koalitionen oft der Fall ist, auf Missverständnisse und Unklarheiten gründen. Sie sind daher anfälliger und unbeständiger. Die Erfahrung zeigt übrigens, dass ein Politiker leichter durch ungeschickte Aussagen Stimmen verliert, als er durch originelle oder mutige Stellungnahmen gewinnt. Volkssouveränität äußert sich somit mehr und mehr als eine Macht der Verweigerung, ob im periodischen Wahlverhalten oder in den permanenten Reaktionen auf Regierungsentscheidungen. Auf diese Weise wird die ursprüngliche programmatische Demokratie [démocratie de projet] durch eine neue prohibitive Demokratie [démocratie de rejet] überlagert. Die Souveränität des Volkes äußert sich in Gestalt einer Veto-Macht. Die demokratische Regierung wird nicht mehr allein durch ein Genehmigungs- und Legitimierungsverfahren definiert. Ihre Struktur verdankt sich fortan wesentlich der permanenten Auseinandersetzung mit verschiedenen Vetokategorien vonseiten gesellschaftlicher Gruppen bzw. politischer oder wirtschaftlicher Kräfte. Daher rührt der verschiedentlich geäußerte Gedanke, dass die politischen Systeme inzwischen weniger durch ihren institutionellen Aufbau im engeren Sinne (präsidiales oder parlamentarisches, Zwei- oder Mehrparteiensystem usw.) charakterisiert seien als durch die Art und Weise, wie die Bedingungen politischen Handelns durch die Blockademöglichkeiten der verschiedenen Akteure vorstrukturiert sind.

Ein drittes konstitutives Element der Gegen-Demokratie ist die zunehmende Bedeutung des Volkes als Richter. Dieser Umstand findet in der Verrechtlichung des Politischen seinen sichtbarsten Ausdruck. Es scheint, als würden die Bürger mittlerweile von juristischen Prozessen die Resultate erwarten, die sie sich von Wahlen vergeblich erhofft hatten. Diese Verrechtlichung steht im Zusammenhang mit der nachlassenden Bereitschaft der Regierungen, auf die Forderungen der Bürger zu reagieren. Man verlangt von den Regierungen umso mehr, dass sie präzise Rechenschaft ablegen (Prinzip der accountability), je weniger sie für die Erwartungen der Gesellschaft empfänglich zu sein scheinen (Prinzip der responsiveness). Wir sind auf diesem Wege von Auseinandersetzungsdemokratien zu Beschuldigungsdemokratien übergegangen. Es ist in den letzten zwanzig Jahren zu einem Gemeinplatz geworden, auf Grundlage dessen von einem Aufstieg des Richters zur politischen Instanz zu sprechen. Allerdings erfasst dieser Befund nur einen kleinen Teil des Problems. Das Wesentliche ergibt sich erst aus einem Vergleich der Eigenschaften von Wählen und Urteilen. Die gegenwärtige Präferenz für das Urteilen bekommt nur dann einen Sinn, wenn man sie auf die spezifischen Eigenschaften dieses Aktes als Modus der Entscheidungsfindung bezieht. Ob es sich um die Regeln der Beweisführung, die Formen von Theatralik oder die Art der Bezugnahme auf das Partikulare handelt, der Prozess als Verfahren zur Überprüfung eines Verhaltens hat sich so nach und nach zu einer metapolitischen Form entwickelt, die den Wahlen insofern als überlegen gilt, als sie konkretere Resultate zeitigt.

Das Volk der Wähler aus dem Gesellschaftsvertrag wurde somit immer massiver überlagert von den Gestalten des Volkes als Wächter, des Volkes als Vetomacht und des Volkes als Richter. Daraus entstanden indirekte Formen der Souveränitätsausübung, die von den Verfassungen nicht vorgesehen sind. Man kann diese Souveränität insofern als indirekt bezeichnen, als sie durch eine Reihe von Effekten gebildet wird, ohne von einer offiziellen Machtinstanz auszugehen oder sich in Form expliziter, politisch zu nennender Entscheidungen zu äußern. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie und die Gegen-Demokratie der indirekten Befugnisse müssen zusammengedacht werden, um die tatsächliche Dynamik gesellschaftlicher Machtaneignung in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Der übliche Gegensatz von realer und formaler Demokratie erscheint deshalb in diesem breiteren Kontext als wenig erhellend. Die bloße Unterscheidung in direkte und repräsentative Regierungsformen erweist sich ebenfalls als nicht sonderlich fruchtbar. Derart eng gefasste Kategorisierungen sollten zukünftig zugunsten einer mehrdimensionalen Sicht der demokratischen Betätigung aufgegeben werden. Daraus resultiert die Möglichkeit, eine erweiterte Grammatik des gemeinsamen Regierens zu erarbeiten. In seinem Gesellschaftsvertrag war Rousseau bestrebt, die Definition dessen, was einen Bürger ausmacht, zu »verkomplizieren«. Er wollte das einfache Wahlrecht ergänzen um die Rechte, seine Meinung zu äußern, Vorschläge zu machen, zu bestreiten und zu diskutieren.14 In einem klassischen Essay jüngeren Datums regte Albert Hirschman an, das Vokabular kollektiven Handels um die Ausdrücke voice, exit und loyalty zu bereichern (die man mit Protest oder kritische Wortmeldung, Abwendung und zustimmendes Desinteresse übersetzen könnte15). Unter Berücksichtigung der Gegen-Demokratie können wir dieses Lexikon um die Begriffe Wachsamkeit, Benotung, Druck durch Enthüllung, Obstruktion, Urteilsfindung erweitern. Primäres Ziel des vorliegenden Buches ist es, diese verschiedenen Aspekte von Gegen-Demokratie theoretisch zu entfalten und ihre Geschichte zu schreiben.

Der Mythos vom passiven Bürger

Unter dem Gesichtspunkt der Gegen-Demokratie betrachtet, verändern sich die Begriffe, in denen die Frage der politischen Partizipation zu stellen ist, und geben Anlass, das alte Lied von der Demokratieverdrossenheit zu überdenken. Zwar deuten alle Indikatoren für das Vertrauen der Bürger in die politischen Institutionen unverkennbar auf einen starken Abwärtstrend hin.16 Auch die zunehmende Wahlenthaltung stellt ein Faktum dar, das seit etwa zwanzig Jahren in fast allen Ländern zu beobachten ist.17 Allerdings sollten diese Daten mit Vorsicht interpretiert werden;18 und vor allem sollten sie einem allgemeineren Verständnis der Wandlungen bürgerschaftlichen Engagements zugeordnet werden. Die Politikwissenschaften bemühen sich seit Langem darum, Formen »unkonventioneller Beteiligung« zu erfassen, und sind dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass diese auch dort zunehmen, wo der Gang zu den Urnen offenkundig nicht mehr so häufig angetreten wird. Die Zahlen für die Beteiligung an Streiks und Demonstrationen, das Unterzeichnen von Petitionen, das Bekunden kollektiver Solidarität in Notsituationen legen nahe, dass wir keineswegs in ein neues Zeitalter politischer Apathie eingetreten sind und dass die Annahme eines vermehrten Rückzugs in die Privatsphäre unbegründet ist.19

Es empfiehlt sich also, eher von einem Wandel als einem Niedergang des bürgerschaftlichen Engagements zu sprechen. Zugleich haben sich das Repertoire, die Medien [vecteurs] und die Ziele [cibles] des politischen Ausdrucks diversifiziert. Während politische Parteien schrumpften, erlebten Interessengruppen [advocacy groups] und Vereine aller Art einen Aufschwung. Die Rolle der großen Vertretungsund Verhandlungsagenturen hat sich zusehends verringert, während Ad-hoc-Organisationen aus dem Boden schossen. Die Bürger haben inzwischen viele Möglichkeiten jenseits des Wahlzettels, um ihre Sorgen und Beschwerden zu artikulieren. Das Phänomen der Stimmenthaltung oder des Vertrauensverlustes muss also in eine erweiterte Analyse des Formenwandels demokratischer Betätigung eingebettet werden. Zwar ist der Wahlakt der sichtbarste und institutionell am stärksten verankerte Ausdruck von Staatsbürgerschaft. Er steht seit Langem als Symbol für die Idee politischer Partizipation und ziviler Gleichheit. Doch dieser Begriff von Partizipation ist komplex. Er beinhaltet nämlich drei Dimensionen der Interaktion zwischen Bevölkerung und politischer Sphäre: Ausdruck, Mitwirkung und Intervention. Ausdrucksdemokratie bedeutet, dass die Gesellschaft sich zu Wort meldet, dass sie kollektive Gefühle äußert, Urteile über die Regierenden und ihr Handeln formuliert oder auch Forderungen erheben kann. Die Mitwirkungsdemokratie umfasst die Gesamtheit der Mittel, durch welche die Bürger sich verständigen und aufeinander beziehen, um eine gemeinsame Welt zu erzeugen. Die Interventionsdemokratie wiederum wird durch alle Formen kollektiven Handelns gebildet, die auf die Erreichung eines erwünschten Resultats abzielen.

Das demokratische Leben baut auf diesen drei Formen politischer Betätigung auf. Das Besondere an den Wahlen ist, dass sie diese verschiedenen staatsbürgerlichen Existenzweisen (die zugleich verschiedenen »Momenten« des öffentlichen Lebens entsprechen) praktisch zur Deckung bringen wollen; die Stimmabgabe sollte der Inbegriff des politischen Engagements, seine sichtbarste und konzentrierteste Form sein. Im goldenen Zeitalter der Wahlbeteiligung war diese allumfassende und integrative Dimension des Wählens zudem untrennbar mit ihrer identitären Dimension verbunden. Das Wahlverhalten war weniger Ausdruck einer individuellen Präferenz als Demonstration einer kollektiven Zugehörigkeit.20 Viele Forscher, von André Siegfried bis zu den politischen Soziologen der 1960er Jahre, haben auf diese Eigenschaft verwiesen. Die Geschichte der Demokratie wurde lange Zeit mit einem Konzentrationsprozess des politischen Feldes gleichgesetzt, innerhalb dessen der langwierige Kampf um die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts zugleich als Mittel und Symbol fungierte. In diesem Kontext sind die aktuellen Veränderungen der Demokratie zu sehen: Während die Wahldemokratie unbestreitbar erodiert, haben sich die Ausdrucks-, Mitwirkungs- und Inventionsdemokratie entwickelt und gefestigt. Man kann also davon ausgehen, dass der passive Bürger in jeder Hinsicht ein Mythos ist.21 Dieser Wandel der politischen Betätigung ist inzwischen in einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten sowie einer umfangreichen, stärker politisch motivierten Literatur dokumentiert. Dennoch ist die theoretische Einordnung dieser Phänomene bislang erst im Ansatz erfolgt. Davon zeugt nicht zuletzt das Vorläufige der Begriffe, die zu ihrer Bezeichnung dienen. So sprechen die Politikwissenschaftler seit gut zehn Jahren mal vom Aufkommen »unkonventioneller« Politikformen, mal von neuer »Protestpolitik« [protest politics] oder »Zivilbürgerschaft«, um jene mannigfaltigen Erscheinungen zu beschreiben, die das Entstehen ungewohnter politischer Interventions- und Reaktionsarten belegen. Im Milieu der direkter involvierten politischen Aktivisten macht sich ebenfalls ein neuartiges Vokabular breit. Man spricht von »Bewegungslinker«, von »Nichtregierungspolitik«,22 von »Politik der Regierten«.23 Auch Begriffe wie Antimacht oder Gegenmacht finden häufig Verwendung,24 während viele Zirkel sich daranmachen, die Arbeiten Michel Foucaults zur modernen Gouvernementalität neu zu lesen. Der Begriff der Gegen-Demokratie muss auch unter diesem Gesichtspunkt gedacht werden. Er kann diesen verschiedenen Welten eine gemeinsame Sprache und geistige Kohärenz geben, indem er einen systematischen Rahmen zur Beschreibung dieser vielfältigen Transformationen der Gegenwartsdemokratie bereitstellt und sie in den Kontext einer umfassenden Demokratietheorie integriert.

Entpolitisiert oder unpolitisch?

Gibt es auch keine Entpolitisierung im Sinne eines verringerten Interesses an öffentlichen Angelegenheiten oder eines nachlassenden Bürgerengagements, so hat sich gleichwohl eine bestimmte Art der Beziehung zum Wesen des Politischen verändert. Doch ist sie anderer Natur, als gewöhnlich unterstellt wird. Das heutige Problem ist nicht die Passivität, sondern das Unpolitische [impolitique]25, das heißt das Fehlen eines globalen Verständnisses für die mit dem Aufbau einer gemeinsamen Welt verbundenen Probleme. Das Spezifische an den verschiedenen Figuren der Gegen-Demokratie, die wir im Folgenden untersuchen werden, ist nämlich, dass sie zu einer Vergrößerung der Distanz zwischen der Zivilgesellschaft und den Institutionen führen. Sie entfalten so eine Art Gegenpolitik, basierend auf der Kontrolle, der Begrenzung, der Opposition gegen die Staatsorgane, die zu erobern kein vorrangiges Ziel mehr ist. Diese Gegenpolitik äußert sich auf zweierlei Art. Zunächst führen die verschiedenen Mechanismen oder Verhaltensweisen, die dabei ins Spiel kommen, dazu, die Attribute der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Welt aufzulösen. Als wesentlich reaktive sind sie ungeeignet, ein kollektives Projekt zu befördern und zu strukturieren. Diese unpolitische Gegen-Demokratie zeichnet sich also dadurch aus, dass sie eine demokratische Betätigung mit nicht politischen Wirkungen kombiniert. Genau aus diesem Grund fällt sie nicht unter die üblichen Klassifizierungen politischer Systeme, sondern bildet eine eigene Form, die sich den traditionellen Unterscheidungen entzieht, die weder liberal noch republikanisch, weder repräsentativ noch direktdemokratisch ist.

Die disparaten Formen dieser Gegen-Demokratie haben des Weiteren zur Folge, dass ihre Sichtbarkeit und vor allem ihre Lesbarkeit vermindert wird. Allerdings sind Letztere zwei unverzichtbare Eigenschaften des Politischen an sich. Es gibt keine Politik, wenn Handlungen nicht ein und derselben Erzählung zugeordnet oder auf einer einzigen öffentlichen Bühne dargestellt werden können. Die Entwicklung gegen-demokratischer Formen weist somit einen zugleich komplexen und problematischen Charakter auf. Komplex, weil sich positive Elemente der Zunahme gesellschaftlicher Macht mit den Verlockungen populistischer Reaktion vermischen. Problematisch, weil der Wandel in Richtung »ziviler Demokratie«, den sie vorantreibt, zu Fragmentierung und Zerstreuung führt, wo Kohärenz und Gesamtheit eigentlich zwingend geboten wären. Es war übrigens das Wissen um diese Zweideutigkeiten, das mich dazu bewogen hat, den auf den ersten Blick schockierenden Neologismus »Gegen-Demokratie« zu prägen. Seine irritierenden Konnotationen eignen sich bestens dazu, das Widersprüchliche der Misstrauenspraktiken hervorzuheben. Sie fördern eine wohltuende Wachsamkeit seitens der Bürger und tragen auf diese Weise dazu bei, die staatlichen Instanzen für gesellschaftliche Forderungen empfänglicher zu machen, sie können bisweilen aber auch destruktive Formen von Ablehnung und Verleumdung begünstigen. Die Gegen-Demokratie bestätigt nicht nur, sie kann auch widersprechen. In diesem Buch findet sich eine »Rehabilitierung« der Misstrauenspraxis, weil sie zutiefst liberal und demokratisch zugleich ist. Allerdings eine hellsichtige Rehabilitierung, die die möglichen Fehlentwicklungen dieser Praxis sorgsam registriert.

Das ist, wie mir scheint, der tiefere Grund für die Entzauberung der zeitgenössischen Demokratien. Sie rührt nicht nur aus einer Enttäuschung her, die auch überwunden werden könnte (indem man beispielsweise die Verfahrensweisen des repräsentativen Systems verbessert), sondern verdankt sich der strukturellen Aporie, die aus der Kombination von Demokratischem und Unpolitischem resultiert. Diese Einsicht bildet die Grundlage, auf der unser Nachdenken über die Entstehungsbedingungen eines neuen Zeitalters der Demokratien letztlich beruht.

Die Geschichte der Demokratie neu lesen

Der von mir gewählte Ansatz ermöglicht es auch, einen neuen Blick auf die Geschichte der Demokratie zu werfen. Die verschiedenen Arten indirekter Macht, die wir erwähnt haben, zeichnen sich dadurch aus, dass sie zugleich »post-« und »prädemokratisch« sind. Postdemokratisch in dem Sinne, dass sie Reaktionen auf die nicht gehaltenen Versprechen der repräsentativen Regierungen sind, die im 17. und 18. Jahrhundert in den Niederlanden, in Großbritannien, in den Vereinigten Staaten und in Frankreich aus den Kämpfen gegen den Absolutismus hervorgingen. Und prädemokratisch insofern, als die Wahrnehmung von Überwachungs- und Widerstandsbefugnissen in vielen Fällen die allererste Etappe auf dem Weg menschlicher Emanzipation war. Das Recht auf Widerstand gegen die Tyrannei etwa wurde im Mittelalter formuliert, als sich noch niemand etwas unter Volkssouveränität vorstellen konnte. Desgleichen wurden Regierungen schon lange kontrolliert und bewertet, bevor die Idee aufkam, sie aus Wahlen hervorgehen zu lassen. Deshalb müssen wir uns von den traditionellen, allzu gradlinigen Geschichten der Demokratie verabschieden, die die allmähliche Annäherung an einen Idealtypus, den langsamen Übergang von einem System der Knechtschaft zu vollendeter Autonomie unterstellen. Tatsächlich haben das »Alte« und das »Neue«, »Liberalismus« und »Demokratie«, die informelle gesellschaftliche Macht und die regulären Institutionen ständig miteinander koexistiert. Die Gegen-Demokratie mag früher vorhanden gewesen sein als die parlamentarisch-repräsentative Demokratie, doch beider Geschichten bilden ein komplexes Geflecht, das im Folgenden entwirrt werden soll. Das bedeutet auch, dass die Sozial- und die Institutionengeschichte der Demokratie nicht zu trennen sind. Denn als grundsätzlich »soziale« ist die Gegen-Demokratie materielle Macht, praktischer Widerstand, unmittelbare Reaktionsbereitschaft. Sie ist ihrem Wesen nach Frage, Sanktion und Anfechtung. Während die parlamentarisch-repräsentative Demokratie dem gemächlichen Gang der Institutionen folgt, äußert sich die Gegen-Demokratie auf permanente Weise und gehorcht keinem institutionellen Zwang. Sie verkörpert gewissermaßen die Demokratie in ihrer Unmittelbarkeit.

Dieser Ansatz führt dazu, Geschichte und politische Theorie enger zusammenzudenken, gemäß der Methode, die ich bereits in meinen letzten Büchern verwendet habe. Die Geschichte muss, ich habe wiederholt darauf verwiesen, als tätiges Labor unserer Gegenwart verstanden werden, nicht nur als deren Hintergrundbeleuchtung. Das Leben der Demokratie besteht nicht darin, sich an einem Idealmodell zu messen, ihr geht es zunächst darum, Probleme zu lösen. Deshalb empfiehlt es sich, von dem Gedanken Abstand zu nehmen, es habe ein eindeutig formuliertes und explizit infrage gestelltes »Originalmodell« der Demokratie gegeben. Von der Komplexität des Realen und seiner aporetischen Dimension auszugehen, eröffnet einen produktiveren Zugang zum Politischen »an sich«, ermöglicht es uns, zu seinem Kern vorzustoßen und es in seinem Gewordensein zu erforschen. Die Geschichte liefert der Theorie nicht bloß eine Sammlung von Beispielen: sie dient vielmehr als Experimentierfeld und Prüfstand für Weltanschauungen. Weswegen ich mir vorgenommen habe, jenen Punkt zu erreichen, wo sich die Neugier des Historikers und die Strenge des politischen Philosophen in ihren Ambitionen vereinen.