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eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017

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Alle Rechte vorbehalten

Originaltitel: Crocodiles and Good Intentions © 2017 by Liza Cody

Printausgabe: © Argument Verlag 2017

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: September 2017

ISBN 978-3-95988-088-6

Über das Buch

Die schon herbeigesehnte Fortsetzung des grandiosen Romanerfolgs »Lady Bag« setzt sich mit Verve auf die Fährte des ganz normalen Wahnsinns unserer Welt. Zwischen den abgewrackten Wohnsilos sozialer Brennpunkte und selbstgerecht-stolzem Bürgeridyll ringt Liza Codys liebenswerte Heldin um Durchblick und um die Kraft, ausnahmsweise das Richtige zu tun.

 

Über die Autorin

Liza Cody studierte Kunst und arbeitete u. a. als Roadie, als Fotografin, Malerin und Möbeltischlerin, bevor sie zum Schreiben kam. Ihre Kriminalromane um die Londoner Privatdetektivin Anna Lee wurden mit etlichen Preisen ausgezeichnet, in viele Sprachen übersetzt und fürs Fernsehen verfilmt. In den 1990ern begann sie mit der als Genrebreaker berühmt gewordenen Bucket-Nut-Trilogie um Catcherin Eva Wylie, für die sie u. a. den Silver Dagger erhielt (deutsche Titel: Was sie nicht umbringt, Eva sieht rot, Eva langt zu).

Seitdem folgten sehr unterschiedliche Romane, welche die Lust am Experimentieren mit ausgefuchsten Genre-Anleihen verbindet. Für »Lady Bag« erhielt sie den Deutschen Krimi Preis 2015. Auch ihr zuletzt erschienener Roman »Miss Terry« führte monatelang die Krimibestenliste an und wurde mit dem Deutschen Krimi Preis 2017 ausgezeichnet. Liza Cody lebt in Bath und schreibt weitere Romane.

 

Liza Cody

 

Krokodile und edle Ziele

 

Übersetzt von Else Laudan

 

CulturBooks Verlag

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Vorwort von Else Laudan

»Beten hilft nicht«, sagt der Sikh auf der Tankstelle zu der Nonne, und ich freu mich wie Bolle, grinse von Ohr zu Ohr, obwohl ich die Stelle selber übersetzt und schon fünfmal gegengelesen habe. Dabei geht mir eigentlich der Sinn für Klamauk völlig ab. Wenn alles schiefgeht, was nur schiefgehen kann, und dann noch eins draufgesetzt wird. Erst Liza Cody hat mir beigebracht, ihre bittersüßen Slapstick-Einlagen zu genießen. Auch deshalb, weil sie sich über ihre zugespitzten Figuren nicht erhebt. Sie nie verrät, sondern nur losschickt und nach Strich und Faden an der Wirklichkeit scheitern lässt, auf eine Art, dass ich mich darin wiederfinde. Ein liebevoller Zerrspiegel meiner peinlichen Niederlagen und meiner Alibis.

Teil des Zaubers ist für mich, dass Cody in dieser immer wieder überraschenden Achterbahnfahrt so viel Realität unterbringt – die Sorte grimmige Realität, die uns zwischen Zorn und Verzweiflung taumeln lässt, weil das Reale grausam, schreckensreich und vollkommen irrwitzig ist. Hier genial transformiert: Der Irrwitz ist hintergründig, schlagfertig und bemerkenswert. Wortspiele, ­Bilder, Sätze und Erkenntnisse, die mir über Wochen und Monate durch den Kopf rumoren und immer wieder ein Aha, eine Idee bescheren, oft auch ein Schmunzeln. Das ist Munition für den ­Alltag. Und ich ahne, dass genau das der Sinn des Blödelns ist: Wenn die Wirklichkeit schon nicht zuversichtlich stimmt, wird bei Liza Cody immerhin ehrliches Hinschauen belohnt – mit Spannung, kleinen Späßen, großen Einsichten und viel Galgenhumor.

Der Witz umarmt die Wirklichkeit, schrieb Karl Kraus. Willkommen also in Lady Bags neuer Odyssee, in der Charme auf Chancenlosigkeit prallt, Glitzern auf Gier, Demut auf Dünkel und Revolution auf Reihenhauswelt.

 

»Ich mag dich lieber, wenn du dir was vormachst«, wisperte der Lord der Lügen. »Leute, die sich selbst belügen, kann man so viel leichter dazu bringen, dass sie alle anlügen. Los, trink aus.«

Else Laudan

Kapitel 1

Zu Gast bei Ihrer Majestät

Eins lässt sich zugunsten von Knast sagen: Wenn du drin bist, muss der Gesundheitsdienst dich behandeln. Draußen können sich Ärzte und Zahnärzte ihre Patienten aussuchen, und wenn du auf der Straße lebst, suchen sie sich in neunundneunzig von hundert Fällen nicht dich aus.

Nur eins von vielem, was sich gegen Knast sagen lässt: Die zahnärztliche Versorgung ist barbarisch.

Sie warteten, bis ich zwölf Kilo verloren hatte, weil ich nicht kauen konnte, bevor sie den Zahnarzt holten, der mir sämtliche kaputten Zähne raushackte. Dann zog er mir gleich noch eine Ladung von den anderen, wegen jahrelanger Vernachlässigung. Es hat was Unlogisches, einer Person, die nicht kauen kann, die Zähne zu entfernen. Aber auf meine Art von Logik hört im Knast niemand. Er meinte, auf lange Sicht würde ich ihm dankbar sein. War ich nicht.

Man gab mir einen Satz falsche Beißer, und wie meine Schuhe saßen sie nicht richtig. Die Wärterin der Krankenstation sagte, mein Maul wär genauso groß wie meine Füße, und ich könnte von Glück sagen, dass mir überhaupt welche passten.

Also sind meine Zähne, wie meine Schuhe, jetzt Dinge, die man mir klauen kann, wenn ich nicht aufpasse. Zum Glück sind sie aus Plastik, und ich hab sie im Mund gehabt, also gibt es wohl nicht so viele Diebe, die scharf auf sie sind.

* * *

»Ange«, sagte Kerrilla Cropper, »halt einfach mal die Klappe. Du denkst dich noch zu Tode. Paar Leute hier im Trakt finden schon, du hast ’n Rad ab und sehnst dich nach ’ner Tracht Prügel. Ich kann ihnen da nicht guten Gewissens widersprechen.«

Es gibt in jedem Gefängnistrakt eine Knallhartentruppe. Dass sie Frauen sind, heißt noch lange nicht, dass sie keinen Nutzen daraus ziehen, bösartiger als alle anderen zu sein.

»Lass dich ruhig mit dem Teufel ein«, sagte ich, »wenn du glaubst, das macht dein Leben einfacher.«

»Und das ist auch so ’ne Nummer …« Kerrilla ist es gar nicht geheuer, wenn ich vom Teufel anfange, dabei geht sie sonntags in die Kapelle. Aber sie muss genau wie ich jeden verdammten Tag diese versifften Klos putzen, während Satans Vasallen die gemütlichen Jobs wie Bücherei, Wäscherei und Lazarett ­kriegen.

Sie ist ein großes, ein wirklich großes Mädchen, aber sie kann weder lesen noch schreiben. Ich helfe ihr beim Formulare-­Ausfüllen, deshalb toleriert sie mich. Aber sie will nicht mit mir in eine Zelle. Sie meint, ich grummele nachts vor mich hin und rede den ganzen Tag verrücktes Zeugs.

Ansonsten nehme ich meine Medikamente und mache absolut keinen Ärger, selbst wenn mir die Mitglieder der Knallhartentruppe in die Suppe spucken und anschließend auch noch den Nerv haben, mich zu fragen, ob ich ihnen die Anträge für die Hafturlaubskommission schreibe. Das Ganze nennt sich Gemeinschaftsleben. Ich komm damit klar, weil’s keine andere Möglichkeit gibt.

»Meine Ma hat ’ne Besuchserlaubnis«, berichtete Kerrilla und rührte mit einer braun gefleckten Bürste Bleiche in einer Schüssel an. »Sie bringt meinen Connor mit. Ich kann’s gar nicht erwarten.« Sie sah bange aus. Sie hatte ihren Sohn seit sechs Monaten nicht gesehen.

»Ob er mich noch erkennt?«, fragte sie.

Nein, wird er nicht, dachte ich, denn das ist eine alltägliche Knasttragödie. Laut sagte ich: »Er wird deine Liebe erkennen. Er ist noch zu klein, um sich dem Teufel zu verschreiben.«

»Ach, halt doch deine verdammte Fresse«, brüllte sie und spritzte mit Bleiche nach mir.

Egal wie viel Bleiche wir nehmen, gegen den Dreck kommen wir nicht an. Die Sprünge im Porzellan, die Risse im Mörtel und die Ritzen im Boden sind gefüllt mit dem Blut von Tausenden verlorener Seelen.

* * *

Später am Abend, nach dem Tee und vor der Einschließung, fand ich Kerrilla im Fernsehraum, wo sie Trickfilme guckte und leise vor sich hin weinte.

»Ach, Ange«, sie zog Rotze hoch und rieb sich die Augen mit den schon ganz schwarz geheulten Ärmeln. »Es ist so mühsam für Ma, Connor den ganzen Weg hierherzubringen. Sie sagt, er wollte nicht mit, und sie konnte ihn nicht zwingen. Ich hatte mich so auf ihn gefreut. Aber Ma hat gesagt, daran hätte ich mal denken sollen, bevor ich Scheiße baue. Am Ende haben wir uns angebrüllt.«

»Wollen und Wünschen bringt immer Enttäuschung«, sagte ich, weil’s wahr ist.

»Und du nennst dich Freundin?«, brüllte sie und stürmte schluchzend davon.

»Eigentlich nicht, nein«, sagte ich hinter ihr her. »Ich bin hier und du bist hier. Wir sind öfter mal gleichzeitig am selben Ort, aber das ist noch keine Freundschaft.«

Ich habe nur eine einzige echte Freundin. Sie ist kein Mensch, darum weiß ich, dass ich mich vollkommen auf sie verlassen kann, durch dick und dünn, bis zum Tod. Sie heißt Elektra. Pierre hat mir ein Foto von ihr geschickt, weil er dachte, damit könnte sich meine Knastzelle ›heimeliger‹ anfühlen. Er ist ein wohlmeinender Idiot, der noch nie im Kittchen saß. Ein hochrangiges Mitglied der Knallhartentruppe kriegte es in ihre schmierigen Finger und sagte: »Dein Hund sieht mehr nach Hundefutter als nach Hund aus. Ich wette, dein Kumpel lässt ihn verhungern.«

Ich hab ihr eine Gabel ins Gesicht gerammt. Viel Schaden hat das nicht angerichtet, weil’s eine Plastikgabel war, aber sie hat ein solches Geheul losgelassen, dass die Wachteln angerannt kamen und mich in Einzelhaft steckten. Das ging in Ordnung. Ich mag Einzelhaft. Und es hat meinem Ruf genützt. Ich galt nicht mehr als vollgedröhnter Zombie. Ich galt als unberechenbarer Zombie und gab nicht so ein gutes Mobbingopfer ab. Ich hatte ein Talent für Gewalt bewiesen – diese Sprache verstehen Satans Handlanger.

Aber das Foto bin ich lieber losgeworden. Hier drin ist es besser, nicht mal ein Bild von etwas Wertvollem zu haben, denn auch Bilder kann man stehlen oder besudeln.

Am nächsten Morgen nach Bohnen auf so durchgeweichtem Toast, dass ich ihn kauen konnte, kamen Kerrilla und ich wieder bei Bleiche und Bürste zusammen. Sie sagte: »Dein Entlassungstermin ist bald, Ange. Geh hin und sieh für mich nach dem Rechten. Der Freund von meiner Ma mag keine schwarzen Babys, und ich fürchte, er kriegt sie dazu, meinen Connor beim Sozialamt abzuladen.«

»Deine eigene Ma?« Aber eigentlich wunderte mich das nicht – Mütter sind nicht immer auf dein Wohlergehen bedacht. Jedermann bildet sich das ein, aber sie sind menschlich, und die Würmer des Teufels bohren auch an ihren Äpfeln.

»Sie würde für dieses versiffte Stück Scheiße alles tun«, sagte sie wie zur Bestätigung meiner schlimmsten Befürchtungen in Bezug auf Frauen und Liebe. Sie fuhr fort: »Die schicken dich doch bald zurück nach London. Was kann ich schon tun, solange ich hier in Birmingham sitze?«

»Was ist mit seinem Vater?«

»Der würde Connor nur bei seiner Ma abladen. Die hat wahrscheinlich ’n Freund, der keine weißen Babys mag. Außerdem sind die doch alle in Gangs.«

»Vielleicht wäre er ja besser dran, wenn …«

»Sag’s nicht, Ange«, kreischte Kerrilla. »Lass es sein. Ein Baby braucht seine Familie.« Wohlgemerkt, sie meint dieselbe Familie, die aus ihr eine missbrauchte Analphabetin gemacht hat, so nichtsahnend und verkorkst, dass sie mit dem erstbesten Kerl durchgebrannt ist, der zu stoned war, um sich um ihr Aus­sehen zu scheren. Die Knallhartentruppe hier im Trakt nennt sie Gorillakacke und hält das für geistreich.

Auf einmal riss sie sich das Hemd vom Leib und stopfte es mit der Bürste in die Kloschüssel. In der nächsten Kabine kam die Jogginghose dran. Dann ihre Unterwäsche, dann ihre Schuhe, dann die Wischmoppköpfe und Putzlappen. Sie rannte hin und her, frierend und wabbelig, und zog ab, zog ab, zog ab, bis der gesamte Fußboden unter Wasser stand.

»Zieh es durch, Kerri«, murmelte ich und stand daneben und sah zu. Sie machte ihrem Hass auf sich selbst und ihre Lage Luft. Besser raus damit als drinbehalten, sag ich, auch wenn man diesen einen glorreichen Anfall von Raserei und Unabhängigkeit bestrafen würde, indem man sie noch ohnmächtiger machte. Natürlich schleppten drei Wachteln sie weg und warfen sie in Einzelhaft.

»Wieso hast du das nicht verhindert?«, fragte PO Brownlee und starrte auf die verstopften Klos.

»Der Teufel hat seine Krallen in sie geschlagen«, sagte ich. »Umstände, die sich meiner Kontrolle entziehen …«

»Ach verfickter Scheißdreck, wieso frag ich überhaupt? Sieh zu, dass du diesen Schlamassel wegputzt.«

Nach dem Mittagessen schickten sie mich ins Lazarett, und ich stand in der Schlange für die Pillen an, die mir Freud und Leid des Lebens ersparen. Falls der Sinn des Lebens in Fortpflanzung, Lachen und Schmerzen besteht, dann ist mein Leben sinnlos, noch viel sinnloser als das von Kerri.

Als ich drankam, schaute der Doc in meine Akte und sagte: »Wir sollten jetzt mal anfangen zu kürzen.«

Ich stemmte meine Fäuste auf den Schreibtisch und sagte: »Fangen Sie mit meinen Füßen an. Kürzen Sie die, dann wird es leichter, passende Schuhe zu kriegen. Hacken Sie ein bisschen was an den Fersen weg und was von den Zehen. Das wird erst mal blutig, aber dafür bin ich dann mehr wie Aschenputtel. Es ist nämlich nicht meine Schuld – meine Mutter hat mir bei der Geburt nicht die Füße gebunden. Natürlich hat sie dann andere Methoden gefunden, mir Fesseln anzulegen, damit ich nicht weglaufen konnte, als mir mein charmanter Fürst der Finsternis begegnet ist. Ich konnte nur mit ihm tanzen. Bis zum bösen Ende.«

»Ach, verdammt und zugenäht«, sagte der Doc und gab mir die volle Dosis. Er ist neu, aber er wird schon noch dazulernen.

Drei Tage danach überstellten sie mich zurück nach London. Kerrilla war immer noch in Einzelhaft, also hatte ich keine Möglichkeit, mich zu verabschieden, und sie konnte mir nicht sagen, wo ihre Mutter wohnte. Ich war vom Haken. Wer außer einem erbärmlichen weltfremden Würstchen wie ihr würde denn auch eine Katastrophe wie mich um Hilfe bei familiären Problemen bitten? Ich würd ja glatt lachen, nur könnten mir dabei die Zähne rausfallen.

* * *

Zurück im Gefängnis Ihrer Majestät Holloway in London kam mich meine Anwältin Ms. Kaylee Yost besuchen. Sie sagte: »Wir können mit einem Entlassungstermin irgendwann im Laufe der nächsten Woche rechnen, mit ein bisschen Glück und sofern Sie Ärger aus dem Weg gehen. Ich werde wohl irgendwelche Bewährungsauflagen verhandeln müssen, aber im Grunde ist Ihre Zeit um. Wie fühlen Sie sich damit?«

Wegen der Pillen fühlte ich praktisch gar nichts, aber ich wusste, dass Elektra auf mich wartete. Wenn ich sie erst sah und mir ein Schlückchen Rotwein genehmigte, würde ich mich schon viel normaler fühlen.

Als könnte sie meine Gedanken hören, sagte Ms. Yost: »Natürlich müssen Sie als Erstes mit Ihrem AA-Sponsor und einem Bewährungshelfer sprechen. Sie sind ja jetzt vom Alkohol weg und werden feststellen, dass Ihr Leben wesentlich sicherer und gesünder ist, wenn Sie dabei bleiben.« Sie sah so zufrieden mit mir aus und so hoffnungsvoll, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihr zu sagen, was ich dachte: Pustekuchen. Was soll denn Freiheit nützen, wenn man nicht mal nach den eigenen Regeln verkacken darf?

»Kommt Pierre mich abholen?«

Ms. Yost glaubte noch immer, er sei mein AA-Sponsor. Für eine Anwältin war sie ganz schön leichtgläubig. Andererseits war sie ja bloß eine Babyanwältin, und ich war ihre erste Klientin gewesen, also fand ich, ich sollte ein bisschen sachte mit ihr umgehen und ihr nicht gleich alle Illusionen auf einmal kaputtmachen.

»So ein liebenswürdiger Mann. Er sagt, er wartet draußen.«

»Mit Elektra?«

»Und Ihrer Schwester.«

»Ach du je«, sagte ich.

Die Person, die Ms. Yost als meine Schwester bezeichnet, ist niemandes Schwester und auch nicht mit mir verwandt. Er bildet sich ein, ein Mädchen zu sein, muss sich aber immer mal wieder rasieren. Das ist noch so ein Geheimnis, das ich meiner Anwältin vorenthalte, weil sie eine eher geradlinige Frau und leicht zu verwirren ist. Wenn sie als Gerichtsbevollmächtigte wüsste, dass man mich in die Obhut eines Travestiekünstlers, eines Transsexuellen und einer Hündin entlässt, die von den dreien vermutlich die vernünftigste ist, hätte sie womöglich Bedenken, sich dermaßen hilfsbereit zu zeigen. Und dermaßen hoffnungsvoll.

* * *

Zum Aufschluss, der Stunde der Geselligkeit, war ich zurück. Ich ging in meine Zelle. Ich bin nicht gut in gesellig, und ich wollte Ms. Yosts Mitbringsel, einen weißen Schokoriegel, verputzen, ohne gestört zu werden oder teilen zu müssen. Gerade hatte ich das Einwickelpapier entfernt, da spürte ich eine Anwesenheit an meiner Tür. Ich blickte auf und sah, dass sich dort ein kleines rotblondes Wiesel herumdrückte.

»Was?«

»Schrei mich nicht an.« Sie schlüpfte herein und stellte sich mit dem Rücken dicht an die Wand, als hätte man ihr zu oft in den Hintern getreten. »Ich bin gerade von Birmingham überstellt worden, und Kerrilla Cropper wollte, dass ich dich aufsuche.«

»Wer?«

»Na, Gorillakacke – jetzt tu nicht so, als hättest du sie vergessen. Ich war mit ihr im Strafverschärfungstrakt, und als sie da rauskam, hat sie mir ihre halbe Tabakration gegeben, damit ich verspreche, mit dir zu reden, obwohl du ’ne haltlose Irre bist und in einem Pappkarton lebst.«

Eine halbe Tabakration ist sehr, sehr teuer für eine, die dermaßen Kette raucht wie Kerri.

Ich sagte: »Und?«

»Und ich hab den Namen und die Adresse von ihrer Ma aufgeschrieben, und du musst da hingehen, wie du’s versprochen hast.«

»Hab ich nicht!«

»Hier, nimm schon«, sie drückte mir die schmuddelige abgerissene Ecke eines Umschlags in die Hand, »und hör auf rumzubrüllen.«

Kapitel 2

Was man so Freilassung nennt

Schließlich kam der Zeitpunkt, wo mir der Doc Pillen für ein paar Tage aushändigte und der Vizedirektionssekretär die dreiundsiebzig Piepen, die ich mit Toilettenschrubben verdient hatte, und sie mich wieder da rausschickten und für den öffentlichen Verzehr freigaben.

Ich war so grau und nüchtern wie der Morgen, und ich musste an das letzte Mal denken, wo ich diese Tür hinter mir hatte zuschlagen hören. Das war vor Jahren gewesen, da hatte ich keine Freunde oder Verwandten gehabt, keinen Job und nichts als die Adresse eines Hostels in Southwark. Damals glaubte ich noch, ich könnte mir den Weg zurück in ein anständiges, geachtetes Leben erkämpfen. Jetzt weiß ich, dass ich das nicht kann, und das nimmt ein bisschen was von dem Druck weg.

Aber wie um mir die Behaglichkeit von niedrigen bis gar keinen Erwartungen zu verweigern, war die erste Person, die ich sah, als ich auf die Straße trat, Ms. Kaylee Yost mit einem Plastikordner voller Instruktionen und hilfreicher Vorschläge, wie ich mich am schnellsten zu einer nüchternen braven Bürgerin umschulen könnte. Für eine Person, die so darauf brannte wie ich, die Freiheit mit einer Pulle Rotwein zu feiern, ließ sich das nur als kompletter Reinfall bezeichnen.

Dann sah ich Elektra auf mich zutrotten, ihr Fell wunderschön gezeichnet wie das einer Tigerkatze, ihre Ohren gespitzt und ihr Schwanz freudig wedelnd: »Hallo, da bist du ja, wie geht’s dir, wo warst du?« Natürlich sagte sie das nicht laut – ich brauche mehr als ein Glas Roten, bevor sie mich ihre Stimme hören lässt –, aber ihre Topasaugen leuchteten und hießen mich willkommen. Ich ließ meine Tragetasche fallen und breitete die Arme aus.

Es gibt ein Leben nach dem Knast, und hier war sie, die Vorderpfoten auf meinen Schultern, den schlanken Kopf unter mein Kinn gedrückt.

Dann sah ich meine ›Schwester‹, meine Mister-Schwester, die klicketi-klack mit Pfennigabsätzen auf mich zustöckelte, in grasgrünen Strumpfhosen und einem scharlachroten Kunstpelzmantel. »Hätte mir ja denken können, dass ich neben einem Hund nur die zweite Geige spiele«, raunte er gerührt.

»Na ja, sie ist immerhin ein Greyhound«, sagte ich, bevor er mich in parfümierte Kunstpelzarme zog. Ich muss sagen, ich ziehe Hundefell und Hundeduft vor, aber wenn Schmister Zuschauer hat, kann er einem großen Mädchenauftritt einfach nicht widerstehen.

»Ich hab dich sooo vermisst, aber Pierre und Cherry haben für mich gesorgt, und ich für Elektra. Ich hab ihr einen Kaschmirmantel gegen die Kälte gestrickt, nur hat Pierre nicht erlaubt, dass ich ihn ihr heute anziehe. Er meinte, du würdest mich umbringen.«

»Sie sieht damit aus wie die Brautjungfer bei einer superschwulen Hochzeit«, verkündete Pierre, der gleich dahinter kam.

»Sie sieht traumhaft aus«, protestierte Schmister.

»Ich schwör dir, wenn Hunde rot werden könnten …«

Ich sagte: »Wer ist Cherry?«

»Wollen wir uns nicht ein Café suchen?«, warf Ms. Yost ein. »Auf ein Heißgetränk zur Feier des Tages.«

»Wir wär’s mit einem Pub?«, fragte ich.

Ms. Yost warf Pierre einen warnenden Blick zu. Er nahm sich zusammen und sagte: »Aber, Angela, du weißt doch, dass dergleichen nicht in Frage kommt, solange ich auf dich achtgebe.« Schwülstigkeit passte überhaupt nicht zu ihm, aber immerhin musste Schmister kichern.

Ich knirschte mit den Zähnen. Das hier hatte mit Freiheit nichts zu tun. Das war soziale Kontrolle. Da hätte ich genauso gut im Kittchen bleiben können.

Ich sagte: »Na ja, ich muss eh erst mal nach Shoreditch, um was für eine Freundin zu erledigen, also hab ich gar keine Zeit zum Feiern.«

»Was für ’ne Freundin?«, sagte Schmister. »Du hast keine Freunde.«

»Unglück schmiedet starke Bande«, sagte ich. Schmister schien vergessen zu haben, dass er und ich Freunde waren. Und Pierre war nicht der Einzige, der schwülstig daherreden konnte.

»Kommt schon, Mädels«, sagte Pierre, »zankt euch nicht. Ihr habt euch monatelang nicht gesehen. Machen wir’s doch, wie Kaylee vorgeschlagen hat. Gönnen wir uns ein Tässchen Koffein. Sie hat bestimmt nicht den ganzen Tag Zeit.«

Also verbrachten wir eine unbehagliche halbe Stunde damit, so zu tun, als wäre Schmister ein Mädchen, Pierre mein AA-Sponsor und ich nicht voll auf dem Alk-Jieper.

Kaylee Yost sagte: »Sie sehen so viel gesünder aus.« Womit sie trocken meinte.

Pierre sagte: »Das Weiß deiner Augen ist tatsächlich mal weiß, weißte.«

»Mir gefallen die Zähne«, sagte Schmister.

Am liebsten hätte ich sie rausgeholt und nach ihm geworfen.

Elektra sagte nichts, die Gute. Sie lehnte sich gegen meinen Stuhl und legte ihren Kopf auf mein Knie, und ich fütterte sie unterm Tisch mit Häppchen von meinem klebrigen Gebäckstück.

Im Knast muss ich nicht so tun, als wäre ich gesellig. Niemand erwartet von mir, dass ich Wertschätzung oder Dankbarkeit zeige für etwas, worum ich gar nicht gebeten hab. Aber ich murmelte mein Dankeschön an Ms. Yost dafür, dass sie mir einen Bewährungshelfer in der trostlosen Ödnis des nord-nordwestlichen Finchley besorgt hatte, denn das lag in relativer Nähe zum gegenwärtigen Wohnsitz von Pierre, der ja angeblich auf mich aufpasste. Und wie ich hinzufügen darf, so weit wie nur irgend möglich entfernt vom West End, meinem bevorzugten Ort der Nichtansässigkeit.

Der Teufel schnappt sich gern wohlmeinende Trottel wie Kaylee Yost und schiebt sie mir unter wie einen Stein in meinem Schuh. So stellt er sicher, dass ich meine Freiheit nicht genießen kann und dass ihr, dem armen Lämmchen, unter meinem schwieligen zynischen Fuß sämtliche Ideale zermanscht werden. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Was für ein cleverer Scheißer er doch ist. All die kleinen Schritte auf dem mühevollen Weg hierher, in dieses Café, wo ich mit diesen drei nicht zueinanderpassenden Leutchen hocke, waren zunächst sein Werk. Ich landete im Bau, weil ich ihm zu Willen gewesen war. Der einzige Akt unbefleckten freien Willens meinerseits war, dass ich mir Elektra ausgesucht habe. Sie ist nämlich die eine wahrhaft Unschuldige in meiner Geschichte.

Kaylee ging dann irgendwann, aber nicht, ehe sie mich gezwungen hatte, ihr Telefon zu benutzen und bei einem Bewährungshelfer namens Howard Piper einen Termin zu vereinbaren. Sie war wild entschlossen, mich auf den schmalen schnurgeraden Pfad zurückzuführen – den sie tagtäglich beschreitet und für so leicht gangbar hält.

Pierre sagte: »Enttäusch sie nicht. Sie hat sich die ganze Zeit für dich ins Zeug gelegt.«

»Aber sie ist dermaßen langweilig«, beschwerte sich Schmister. »Dieser Hosenanzug ist hundert Prozent Polyester.«

»Wieso verpasst du ihr nicht eine von deinen Schönheits­kuren?«, schlug ich vor.

»Sie ahnt ja nicht mal, dass sie eine braucht. Wo wir gerade dabei sind – wie gefallen dir die hier?« Er öffnete den Reißverschluss seines Mantels und entblößte einen engen Pulli, der einen schwellenden Busen zur Schau stellte, der absolut echt aussah.

»Oh, du hast dich doch nicht …«, rief ich.

»Operieren lassen? Nein, Dummchen. Ich bin bei dem tollsten Endokrinologen aller Zeiten in Behandlung. Er ist das reinste Genie in Sachen Hormone. Pierre ist schon dermaßen eifersüchtig.«

Pierre seufzte schwach. »Du kapierst es einfach nicht, was? Ich bin ein Kerl. Ich will gar keine Titten, außer an Cherry. Ich bin ein Illusionist. Das ist was anderes, weißte.« Er war eigentlich Automechaniker, kahl wie ein Straußenei mit Armen wie knotige Eichenstämme, aber trotzdem die mit Abstand beliebteste Diana Ross in der ganzen Nordlondoner Travestieszene. Es hatte was Tröstliches, dass er und Schmister einander nicht immer verstanden, denn mir waren sie beide ein totales Rätsel.

»Warum bin ich immer noch hier und höre mir euren Stuss an, obwohl ich zur Abwechslung mal tun kann, was ich will?« Ich stand auf.

»Nu warte mal«, sagte Pierre. »Ich hab für dich die Bullen beschwindelt. Weiß der Geier wieso, vielleicht weil ich es nicht aushalte, eine erwachsene Transe flennen zu sehen. Jedenfalls gondelst du jetzt nicht davon und gibst dir die Kante, wo du die erste Nacht aus dem Knast bist. Cherry würde sich Sorgen machen.«

»Pierre und ich haben für dich und Elektra die alte Ambulanz-Minna klargemacht«, sagte Schmister. »Sie steht bei Cherry hinterm Haus, und das ist der Wohnort, den du brauchst. Du kannst nämlich jetzt nicht mehr ohne festen Wohnsitz sein.«

»Wer ist Cherry?«, fragte ich erneut.

* * *

Die Minna sah aus wie die Kemenate einer hübschen Prinzessin, nur dass es keine Prinzessin gab und nichts zum Sitzen außer dem Kajütenbett. Es lag sogar ein niedlicher rosa Plüschhase auf dem Kopfkissen, falls ich mich mal einsam fühlte und was zum Kuscheln brauchte. Ich spürte, wie mir der Magensaft hinten in der Gurgel hochkam. Mir kamen auch noch andere Säfte hoch, hinten in den Augen; vielleicht lag Schmister auf seine schauderhafte Art ja wirklich was an mir.

Elektra trank Wasser aus einer rosa Schüssel mit ihrem Namenszug drauf und streckte sich dann in einem eigenen weichen Bettchen aus. Sie wirkte äußerst zufrieden. Die Minna roch nach Reinigungsmittel mit Zitronenduft, Lufterfrischer und nach der chemischen Toilette. Es erinnerte mich ans Kittchen und ans Lokusputzen. Ich wollte eigentlich die Luft von London riechen, Verkehrsstau, Budenpommes, freie Menschen und Hunde.

Ich legte mich auf das untere Kajütenbett und hieß Elektra zu mir kommen und sich neben mich legen. Dann steckte ich meine Nase in ihre Halsgrube und schlief ein. Das zumindest war eine Freiheit, die ich mir jetzt gönnen konnte – schlafen beim Summen des wirklichen Lebens, ohne das ständige Knallen zuschlagender Türen.

Ich träumte einen einsamen Traum von einem Kreidepfad, der sich meilenweit über wellige Hügel erstreckte. Elektra rannte voraus, bis sie nur noch ein Punkt am leeren Horizont war. Das war alles, aber es schien sich ewig hinzuziehen.

Am Abend nahm ich am Essen bei Cherry teil. Sie hatte ein fades Chili gekocht, das wir auf amerikanische Art mit ­Crackern statt mit Reis aßen. Danach gab es Brownies und plörrigen Kaffee.

Sie sprach gurrend mit Pierre, neckisch mit Schmister und tätschelte Elektra, zu mir war sie höflich-kühl. Tragischerweise gab es keinen Wein zum Essen, noch nicht mal ein dünnes Bier, und als ich mich kurz entschuldigte, um aufs Klo zu gehen, fand ich nichts Berauschendes im Arzneischränkchen und auch keine interessanten Flaschen im Kühlschrank oder in den Küchenschränken. Cherrys Bude war so trocken wie ein Dinosaurierknochen.

Doch ich besaß ja ein Heilmittel. »Ich geh mal in den Pub«, sagte ich, als ich von meiner Hausdurchsuchung zurückkam. Ich tastete in meiner Tasche nach den dreiundsiebzig Pfund, die ich im Bau verdient hatte. Sie waren weg. Vollständig.

Ich stieß ein Gebrüll aus.

Pierre, Schmister und Cherry saßen da wie versteinert. Sie sahen schockiert aus, aber nicht überrascht. Elektra drückte sich platt unter den Couchtisch.

Mein glühender, wutentbrannter Blick heftete sich auf Langfinger Schmister.

»Guck mich nicht so an«, sagte er. »Das war nicht meine Idee.«

»Rück’s raus.« Ich baute mich zornbebend vor ihm auf. »Hast du auch nur den leisesten Schimmer, was ich dafür tun musste? Häh?«

»Hören Sie auf zu schreien.« Cherry sprang auf. »Pierre und ich, wir haben Ihnen zuliebe gelogen. Also lassen Sie es jetzt nicht an uns aus. Und bitte brüllen Sie nicht in meinem Wohnzimmer. Sie machen Elektra Angst.«

Pierre wirkte so unbeschwert wie Buddha persönlich. Er sagte: »Hast du deine Medizin genommen?«

»Ja!«, brüllte ich. Hatte ich natürlich nicht. Ich hatte mir vorgestellt, ich könnte das Essen und die Gesellschaft über mich ergehen lassen und mich dann im nächsten Pub belohnen gehen. Nach ein paar Krüglein vom Roten würde alles in Ordnung sein. Ich würde den chemischen Nebel nicht mehr brauchen. Elektra würde wieder mit mir sprechen, und ich würde frei sein.

»Du hast sie nicht genommen, stimmt’s?« Er sah mir direkt in die Augen.

»Volltreffer«, bemerkte Schmister.

Ich strebte zur Tür. »Ein tolles Nachhausekommen ist das!« Ich wäre in meinem rechtschaffenen Zorn geradewegs hinausgestürmt, nur dass Elektra irgendwie nicht mit mir mitstürmte. Sie blieb unterm Couchtisch und machte ein sorgenvolles Gesicht.

»Nachhausekommen?«, höhnte Schmister. »Du hättest doch gar kein Zuhause, wenn ich nicht die Minna gestiftet hätte.«

»Wozu brauchtest du den Krankenwagen überhaupt noch?«, fragte ihn Cherry. »Du wohnst doch schon in meinem Gästezimmer, seit die da … weg ist.«

Pierre gähnte und sagte: »Los, geh deine Pillen nehmen, Momster. Komm runter. Gönn dir ’ne Mütze Schlaf.«

Meine außerkörperliche Erfahrung:

Plötzlich hing ich unter der Zimmerdecke in der Ecke überm Fernseher. Kopfüber wie eine Fledermaus. Und starrte auf Schmister, Cherry, Pierre und Elektra, als wären sie die vier Gesichter der Frau an sich. Schmister alias Little Missy, ein Knabe, der entgegen aller Vernunft davon ausging, ein Mädchen zu sein, und viel mädchenhafter wirkte als Cherry – die richtige Frau. Pierre, der die weibliche Kunst der Illusion nutzte, um alle zu überzeugen, er sei eine Diva, und gleichzeitig alle Privilegien des echten Mannes für sich beanspruchte. Cherry, eine so waschechte Frau, dass sie diese Übergriffe auf ihr ­Territorium anscheinend nicht als Bedrohung empfand. Elektra, die treue, die zuverlässige, Inbegriff weiblicher Tugenden. Und ich? Tja, ich war gar nicht da. Ich war die große Unsichtbare in diesem Gemälde. Mit meinen großen Füßen und Plastikzähnen, meinem Narbengesicht und meinem katastrophalen Mangel an Sprit – zählte ich da überhaupt noch als Frau?

Schmister half mir auf die Beine. Elektra winselte und leckte mir die Hand. Pierre sagte: »Also weißte, du kannst doch nicht plötzlich aufhören, die Medikamente zu nehmen, die du seit Monaten einwirfst. Morgen, nachdem du beim Bewährungshelfer warst, bring ich dich zu Cherrys Hausarzt, da besorgen wir dir ein Rezept und einen vernünftigen Ausschleichplan.«

»Man könnte ihn glatt für ’n richtigen AA-Sponsor halten«, murmelte Schmister, als er und Pierre mir zur Hintertür halfen.

Cherry hielt Elektra am Halsband fest.

Ich lag allein auf dem Kajütenbett in der Minna und fühlte mich verlassener als jemals im Knast.

Kapitel 3

Freunde sind Feinde

Howard Piper war einer von diesen Pseudobewährungshelfern im schwarzen Geh-mit-den-Kids-Kapuzenpulli. Er schaute kaum von seinen Akten auf – eine Frau in meinem Alter nahm er gar nicht erst wahr. Das war so ein Moment, wo es sich als Segen erwies, die Unsichtbare zu sein. Er würde mir zwar keinerlei Hilfe anbieten, aber er würde mir auch keinen Kummer machen.

Der Arzt war anders. Er wollte zeigen, wie freundlich und einfühlsam er sich Randständigen gegenüber verhalten konnte. Er verließ sich auf Pierres Wort, ohne Fragen zu stellen, und überreichte ihm, nicht mir, die erbetenen Rezepte. Über meinen Kopf hinweg unterhielt er sich mit Pierre über Arzneimittelabhängigkeit und die Wirkung von Medikamenten auf Alkoholismus. Ab und an bezog er mich ein, indem er mir ein wohlwollend herablassendes Lächeln zuwarf. Ich spielte das Spiel mit, indem ich stur schwieg, mich weit weg dachte und Elektras Ohren kraulte.

Anschließend stampfte ich erbost raus, ohne Danke oder Auf Wiedersehen zu sagen. Pierre holte mich ein und zwang mich in der Apotheke zu warten, bis die Rezepte eingelöst waren, und dann ließ er mich direkt vor Ort meine Pillen nehmen, vor den grausamen Augen des Apothekers, als wäre ich irgendeine dahergelaufene Methadonabhängige.

Früher habe ich Pierre gemocht. Jetzt nicht mehr. Irgendwann, irgendwo hat Satan ihm seine Einflüsterungen in sein hübsches schwarzes Ohr geraunt. Die Worte sind durch sein Hirn getingelt und haben sein Herz infiziert. Jetzt ist er ein Agent des Verderbers, aber davon weiß er nichts. Er hält sich für die Güte in Person. Er hatte sich den Vormittag freigenommen, um ›mir auf die Sprünge zu helfen‹, und mir zu Mittag Fish and Chips und heißen süßen Tee spendiert. Er verstaute meine Arznei sicher in seiner Tasche, weil er argwöhnte, ich würde sie verscherbeln, um mir Fusel davon zu kaufen.

Ich war ganze vierundzwanzig Stunden aus dem Knast raus und hatte noch nicht mal einen Hauch von Freiheit geschmeckt oder auch nur am Roten genippt. Ganz klar war hier der Herr der widerlichen Würmer am Werk und brachte alle meine Freunde gegen mich auf. Alle um mich herum konspirierten, um mich in eine nüchterne, achtbare, saubere und ordentliche Mitbürgerin zu verwandeln.

Aber für Achtbarkeit musst du dich jeden Tag deines Lebens abmühen. Du darfst dich nicht besaufen oder in der Öffentlichkeit furzen. Deine Socken müssen zusammenpassen, deine Fingernägel müssen frei von Dreckrändern sein, und du solltest jederzeit darauf vorbereitet sein, Fremde in deiner Bude mit Tee und Gebäck zu bewirten. Nur wozu das alles? Ich will kein Gebäck, keine sauberen Fingernägel, keine Adresse und keine Freunde, denn wenn ich mich daran erst gewöhnt habe, kommt der Teufel und schnappt mir alles weg. Er kann mich nicht finden, solange Elektra und ich in Bewegung bleiben und uns von Ärzten, Anwältinnen und Bewährungshelfern fernhalten.

Aus den Augen, aus dem Sinn, wenn ich nichts habe, kann man mir nichts wegnehmen, und wenn ich nirgends wohne, kann man mich nicht zwangsräumen.

An diesem Abend ging Cherry aus, um einen Abendkurs mit dem Titel ›Kreiere dein persönliches Handtaschendesign‹ zu besuchen. Pierre, Schmister und ich aßen Pizza. Als sie in der Küche darüber stritten, wer den Müll rausbringen musste, klaute ich zehn Mäuse aus Schmisters Portemonnaie und schlich mit Elektra an meiner Seite zur Vordertür hinaus.

Wir spazierten allein durch die nächtlichen Straßen und spürten die feuchte Kälte des Winters auf unseren Lidern und an den Ohrläppchen. Wir rochen die Wolken aus bleifreien Abgasen von der nördlichen Ringstraße und betrachteten den akkumulierten Dreck verkehrsreicher Jahre auf den Schaufenstern pleitegegangener Geschäfte. Streunende Jugendgangs aßen schleimige Kebabs und zwangen uns zum Ausweichen in Hauseingänge oder in den Rinnstein. Es war gar keine böse Absicht. Sie steckten bloß bis zum Arsch in ihren Smart­phones und iPads und sahen uns ganz einfach nicht. Sie waren die Herren des Gehwegs. Ihr Wohlstand und Vermögen waren in die schimmernde Technologie investiert, die sie in den Händen hielten, damit sie vergaßen, dass sie machtlos, missachtet und Ausschuss waren. Genau wie ich.

Wir stießen auf einen Spirituosenladen, der hinter stählernen Rollgittern lauerte. Drinnen hockten der Ladengehilfe und der Sprit in einem Käfig aus kugelsicherem Glas. Ich steckte mein Geld durch einen Schlitz, und der Gehilfe tat eine Zweiliter­flasche und mein Wechselgeld in einen Bottich, aus dem ich beides herausfischen konnte. Es war ein erbärmlich von Argwohn geprägter Austausch, aber mir war das egal. Die Freiheit war mein, und jetzt hielt ich die Lösung all meiner Probleme in den eigenen Händen – eine schwere Plastikflasche mit rotem Trost.

Elektras Ohren klebten flach an ihrem schmalen Schädel. Sie zitterte vor Kälte und Besorgnis. Ich sagte: »Nun guck mich nicht so an. Ich weiß gar nicht, worüber du dich beklagst – oder bist du neuerdings zu gut für mich? Hast du bequemerweise vergessen, wie nah du am Eingeschläfertwerden warst, als ich dich retten kam?« Sie winselte und presste sich an meine Beine.

Wir verließen den Spritladen und wandten uns wieder in Richtung Minna und Cherrys Haus. Aber ich konnte nicht länger warten. Ich schraubte die Pulle im Gehen auf und steckte den Hals zwischen meine Lippen. Ich nahm einen langen, tiefen Schluck – meinen ersten nach so vielen schmerzhaft trockenen Monaten. Meine Gurgel öffnete sich weit, um das Heilmittel für alles, was mich plagt, in Empfang zu nehmen, und ich spürte, wie sich der eng um meinen Kopf gewickelte Stacheldraht lockerte, noch ehe der Wein in meinem Magen ankam.

Ich erfuhr fast sieben Minuten reinster Glückseligkeit. Die Last aus Anspannung und Unmut fiel von meinen Schultern, ich spürte die Kälte nicht länger. Das gähnende Loch in meiner Brust verheilte. Mein Kopf fühlte sich leicht und luftig an.

»Elektra«, sagte ich, »wie kann etwas, das sich so gut anfühlt, schlecht für mich sein?«

»Ich hab nie gesagt, es sei schlecht für dich«, antwortete sie traurig, »ich habe gesagt, es ist schlecht für mich. Du vergisst den Heimweg, und wir enden irgendwo in einem Hauseingang ohne auch nur eine Decke, unter der wir uns verkriechen könnten.«

»Red doch keinen Scheiß! Wir gehen jetzt nach Hause.« Doch dann blieb ich stehen. Ohne Vorwarnung packte Schmerz meine Schädelbasis mit eiserner Faust und drückte zu. Als hätte ich in eine Zitrone gebissen, fingen sämtliche Speicheldrüsen unter meiner Zunge an, wie wild zu produzieren. Schweiß floss mir übers Gesicht. Dann erbrach ich mich. Pizza und ein halber Liter Rotwein stürzten aus meinem Mund aufs Pflaster. Selbst als er schon völlig leer war, krampfte und hob sich mein Magen.

Ich stolperte weg von der Bescherung. Mein Kopf, meine Eingeweide und meine Kehle zuckten vor Krämpfen.

»Was?«, fragte Elektra.

»Gift«, würgte ich. »Deine lieben Freunde Pierre und Schmister haben mich mit verdorbener Pizza gefüttert.«

Angewidert trat sie einen Schritt zurück. »Bist du sicher, dass es nicht der Wein ist? Du bist nicht mehr daran gewöhnt.«

»Es ist die Pizza!«

»Schon gut, nicht schreien.« Sie stand ein paar Schritte entfernt von mir und rümpfte ihre feine schlanke Nase. »Bloß komm jetzt weg hier. Du willst doch nicht wieder in den Bau wegen unbotmäßiger Trunkenheit.«

»Ich bin nicht betrunken«, stöhnte ich, »so leid mir das tut. Und wie soll ich unbotmäßig sein, wenn ich nicht mal aufrecht stehen kann?«

»Du bringst das irgendwie fertig.« Sie drehte sich um und trottete davon in den trüben Tunnel der Nacht, führte mich weg von meiner Schmach und hin zu meiner Schuld.

Mein Kopf hämmerte wie die Türen von Holloway und machte mich blind, doch ich folgte dem Klicken ihrer High Heels auf dem versifften Pflaster, in den Armen meine Plastikflasche mit Wein und Wärme.

* * *

Am nächsten Morgen erwachte ich als Knäuel auf dem Boden der Minna. Mein Schädel war doppelt so groß wie sonst und schepperte wie ein alter Kolbenmotor. Elektra schlief auf dem Bett.

»Momster«, rief Little Miss Schmister von draußen, »bist du schon auf?« Seine Stimme war ein Kriegsbeil, das durch meine Nervenbahnen hackte.

»Geh weg«, stöhnte ich, und die Anstrengung des Sprechens zerrte an meinen Eingeweiden.

Er riss die hinteren Türen auf, stand da und starrte mich an, während meine Augäpfel im Tageslicht brutzelten.

»Das nenne ich einen ausgewachsenen Kater«, sagte er ­trocken. » Hast du eine Ahnung, wie abstoßend du aussiehst?«

Elektra streckte sich ausgiebig und sprang über meinen toten Körper hinweg, um ihn zu begrüßen.

»Warte, wenn ich das Pierre erzähle. Der dreht durch.«

»Geh weg – ich sterbe.«

Elektra spazierte davon zu ihrem morgendlichen Pinkeln.

»Pierre wird dermaßen enttäuscht sein.« Schmister schwelgte in seiner Missbilligung. »Er hat gedacht, du hättest dich geändert, der arme Trottel.«

»Hätte mich vielleicht erst mal fragen sollen, oder?« Ich bedeckte meine Augen mit dem Unterarm.

Schmister ließ mich nicht in Ruhe. Er drängte mir eine Flasche Wasser auf. »Trink das, trink alles aus. Du musst auch deine Pillen nehmen. Und ich kann dir die Weinpulle nicht dalassen. Pierre würde mir die Eingeweide rausreißen, eine Schlinge draus machen und mich daran aufknüpfen.«

Ich trank etwas von seinem Wasser und nahm die verhassten Pillen aus seinen manikürten Pfoten entgegen. Er ließ mich den Mund weit aufmachen, damit er kontrollieren konnte, ob ich sie runtergeschluckt hatte. Ich hätte ebenso gut wieder im Bau sein können.

»Auf jetzt«, sagte er herrisch. »Wasch dich ordentlich und zieh dir was Sauberes an. Du müffelst nach Kotze und Achselschweiß. Ins Haus kannst du erst nach dem Mittagessen. Ich hab eine Klientin da.« Und er tänzelte davon, meine Pulle voll Erbarmen unterm Arm, als wäre dieses elende Eckchen des mitleidslosen Universums seine private Tanzfläche.

»Ich hasse dich mit unflätiger Leidenschaft«, sagte ich und ließ mich zurück auf die Liege fallen, die so heimelig nach Elektra roch, dass ich praktisch auf der Stelle einschlief.

Als ich aufwachte, wurde mir klar, was passiert war. Der Teufel hatte meine Freunde erwischt und sie in Feinde verwandelt. Er hatte Pierres und Schmisters edle Ziele gepackt und sie so lange verschnürt und verknotet, bis sie ein Wirrwarr bildeten und Gutes zu Bösem umgemodelt war. So kommt es nämlich, wenn Leute sich einbilden, sie wären auf Seiten der Engel.

* * *

Ich wusch mich und zog meine älteren, weniger dreckigen Sachen an. Die bekotzten Plünnen ließ ich auf dem Boden der Minna liegen. Im Schränkchen unterm Bett fand ich meinen alten Rucksack und packte alles Brauchbare hinein, auch Hundefutter und einen Dosenöffner. Bettler dürfen nicht wählerisch sein, und genau das bin ich letzten Endes nun mal: eine Bettlerin. Meine Existenz hängt an der Gunst von Fremden. Satan hat eine Heidenarbeit damit, beiläufige Güte zuschanden zu machen.

Dann verschloss ich die Türen, versteckte den Schlüssel im Auspuff und schritt davon, ohne zurückzublicken. Elektra kam an meine Seite, und ich kraulte ihr die Ohren. »Wir haben Erfahrung damit«, versicherte ich ihr. »Wir kriegen das hin. Wir brauchen nur einander und sonst nichts.«

Ich ging nicht den ganzen Weg bis zum West End zu Fuß. Spinnt ihr? Frisch aus dem Ferienlager, mit einem Kopfweh so groß wie die Albert Hall? Ich hab doch keine Superkräfte. Ich nutzte, was von Schmisters Zehner übrig war, und nahm den Zug. Und falls ihr euch jetzt Sorgen um Schmister macht – lasst es. Er hat mir meine dreiundsiebzig Pfund gestohlen. Ich hab ihm bloß zehn geklaut. Er hat noch einen Riesenvorsprung. Er hat immer einen Riesenvorsprung.

Am Piccadilly Circus verließ ich die U-Bahn atemlos, zittrig und durcheinander vom Gestank so vieler Leiber. Ich kam mir vor, als wäre ich jahrelang weg gewesen und in meiner Abwesenheit hätte sich die Bevölkerungsdichte mit 99 multipliziert. Unter dem kalten grauen Eros zu stehen war, wie im Mittelpunkt eines rasenden, kreischenden Rades Halt zu suchen. Die Rotationskraft brachte mich ins Trudeln, und ich musste mich erst mal auf die Stufen setzen, um mich in all dem Chaos zu besinnen.

Ich sagte mir, dies war es, wonach ich mich im Gefängnis gesehnt hatte. Dieses Chaos war meine Freiheit. Ich war nur ein Blättchen an einem Riesenbaum, das sich mitten im Sturm an einen Zweig klammerte. Niemand richtet sein niederträchtiges Augenmerk auf ein einzelnes Blättchen, oder?

»Das Chaos ist mein Verbündeter«, flüsterte ich Elektra zu. Sie lehnte sich stumm an meine Schulter. Ich fuhr fort: »Es gibt keinen Grund auszuflippen, aber allen Grund, dankbar zu sein. Ich muss mich nur erst wieder dran gewöhnen.«

»Na, Scheiße noch mal, also wenn das nicht Lady Bag ist!«, krächzte eine belegte, stinkende Stimme hinter mir. »Quatscht mit ihrem Köter, weil sich keiner, der bei Trost ist, mit ihr ­blicken lassen würde.«

Ich drehte mich um. Es waren Scots Gary und seine Gefährtin Husten-Hazel. Ihr Gesicht war grau und schartig wie ein Bimsstein. Sie sagte: »Hab gehört, du wärst im Bunker krepiert.« Sie hustete pfeifend. Ihre Knöchel waren lila und dick geschwollen.

»Falsch gehört. Ich hab gehört, du rauchst nicht mehr.«

»Falsch gehört.« Ihr Lachen begann und endete in einem würgenden, qualvollen Hustenanfall.

Scots Gary sagte: »Das sollten wir feiern – du lebst noch und sie stirbt noch. Haste paar Kröten fürn Schlückchen?«

Ich hatte nur noch sechzig Pence übrig, also musste ich trinken, was sie tranken, nämlich Industrie-Cider.

Diesmal brauchte es nur ein paar Mundvoll, bis – genau wie gestern Abend – meine Eingeweide und mein Kopf mit der Wucht eines Zugunglücks kollabierten.