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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold
Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Justine van Lawick
Margreet Visser

Kinder aus der Klemme

Interventionen für Familien in hochkonflikthaften Trennungen

Aus dem Niederländischen von Hildegard Höhr

Unter Mitarbeit von Stephanie Schöne und Annegret Eckhart-Ringel

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

Erste Auflage, 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Inhalt

Vorwort der Autorinnen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ein Wort des Dankes

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Eskalierende Konflikte

2.2 Charakteristische Merkmale von hochkonflikthaften Trennungen bzw. Scheidungen

2.2.1 Dämonisierung und zunehmender Stress

2.2.2 Aktive Beteiligung des Netzwerks

2.2.3 Streit über die Vorgeschichte der Trennung und über Ziele

2.2.4 Die Kinder aus dem Blick verlieren

2.2.5 Ohnmachtsgefühle

2.3 Interventionen

2.4 Kinder aus der Klemme

3 Die Methode

3.1 Zusammenfassung der Methodik

3.2 Behandlung im Rahmen einer Gruppe

3.3 Die therapeutische Haltung

3.4 Sicherheit und Veränderung

3.5 Zugangskontext und Vorgespräche

3.5.1 Zugangskontext

3.5.2 Vorgespräche

3.5.3 Gespräch mit den Kindern

3.6 Zusammensetzung der Gruppen

3.7 Informationsabend für das Netzwerk

3.8 Die allgemeine Organisation der Gruppensitzungen

3.9 Die Elterngruppe

3.9.1 Der Aufbau der Sitzungen

3.9.2 Die Sitzungen

3.9.3 Kontakte zwischen den Sitzungen und zusätzliche Netzwerktreffen

3.10 Die Kindergruppe

3.10.1 Einleitung

3.10.2 Punkte, die bei der Arbeit in der Kindergruppe besondere Aufmerksamkeit erfordern

3.10.3 Genereller Verlauf der Sitzungen

3.10.4 Die Sitzungen Evaluation

3.11 Vorspeise, Hauptgericht und Nachspeise

Nachwort

Anhang

Anhang 1: Brief mit Erläuterung zu allen benötigten Formalitäten

Anhang 2: Offene Fragen zu den Kindern

Anhang 3: Einladung zur Teilnahme (nach dem Vorgespräch)

Anhang 4: Erläuterung destruktiver Kommunikationsmuster

Anhang 5: Was macht es mit den Kindern?

Anhang 6: Eskalierende Konflikte, Traumata und das Stress-System

Hausaufgaben für die Zeit zwischen Sitzung 3 und 4

Erläuterung zu Aufgabe 1

Erläuterung zu Aufgabe 2

Anhang 7: Übungen und Spiele für die Kindergruppe

Übungen zum Kennenlernen

Zur Ruhe kommen

In der Gruppe freier werden

Übungen, die Gefühle betreffen

Vertrauensspiele

Literatur

Über die Autorinnen

Vorwort der Autorinnen

Das Programm Kinder aus der Klemme entstand infolge der Unzufriedenheit darüber, dass bei der Behandlung von Eltern und/oder Kindern in sehr komplexen Trennungssituationen – hochkonflikthafte Trennungen bzw. Scheidungen oder »Kampfscheidungen« genannt – häufig unzureichende oder keine Ergebnisse erzielt werden.

Im niederländischen Lorentzhuis, Zentrum für Systemische Therapie, Ausbildung und Beratung, verstrickten sich mehrere erfahrene systemische Therapeuten und Trainer in destruktive Streitigkeiten geschiedener Eltern. Was sich in der Paartherapie bewährt hatte, führte in solchen Fällen offenbar nicht zum Erfolg. Misstrauen, Argwohn und eine defensive Haltung torpedierten den Aufbau einer sicheren Arbeitsbeziehung – eine der Voraussetzungen für das Gelingen jeder Psychotherapie – oder machten diese völlig unmöglich. Noch komplizierter wird es, wenn eine Klage oder ein Prozess droht.

Die erfahrenen Therapeuten im KJTC (Traumazentrum für Kinder und Jugendliche) in Haarlem, Niederlande, mühen sich mit den Problemen der unbeteiligten Leidtragenden solcher Konflikte ab: Sie kümmern sich um die vielfältigen Beschwerden und Symptome, die bei Kindern durch die hochkonflikthafte Scheidung ihrer Eltern verursacht werden. Es hat sich herausgestellt, dass man diese Kinder nur erfolgreich behandeln kann, wenn sich der Kontext ändert, in dem sie leben. Ihre Beschwerden können in einer Psychotherapie sogar zunehmen: Sie spüren dann noch stärker, in welcher destruktiven Situation sie sich befinden und wie ohnmächtig sie in Anbetracht dessen sind. Sie lernen zwar, sich zu äußern, sind dann aber zu Hause immer noch nicht dazu in der Lage, weil jede emotionale Äußerung den elterlichen Konflikt weiter schüren kann. Im KJTC ist man deshalb zu dem Schluss gekommen, dass die Eltern zunächst einen sicheren Kontext für ihre Kinder schaffen müssen.

Das KJTC und das Lorentzhuis haben sich in ihrem Bestreben gesucht und gefunden, dieses Ziel zu verfolgen: Aus ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit ist das Programm für Elternpaare in hochkonflikthaften Trennungen bzw. Scheidungen und für ihre Kinder, Kinder aus der Klemme, hervorgegangen.

Zwei Jahre lang, von Anfang 2012 bis Anfang 2014, wurden Erfahrungen mit der im vorliegenden Buch beschriebenen neuen Methode Kinder aus der Klemme gesammelt. Ihr Hauptmerkmal ist, dass Eltern und Kinder in getrennten Gruppen behandelt werden. Die bisher mit diesem Konzept erzielten Ergebnisse sind vielversprechend. Im KJTC und im Lorentzhuis gehört das Programm Kinder aus der Klemme inzwischen zum festen Angebot. Und an vielen Orten in den Niederlanden wie auch in mehreren anderen europäischen Ländern gibt es mittlerweile Teams, die in der Anwendung dieser Methode ausgebildet worden sind.

An der Freien Universität Amsterdam (Vrije Universiteit) wird zurzeit eine wissenschaftliche Untersuchung über die Risikofaktoren bei hochkonflikthaften Trennungen bzw. Scheidungen durchgeführt. Die Studie überprüft außerdem die Effektivität der hier vorgestellten Intervention, indem sie Wirkfaktoren und Veränderungsprozesse bei Eltern und Kindern dokumentiert.1

Die Kinder weisen uns dabei den Weg. Sie lehren uns, worum es tatsächlich geht: dass Eltern einander nicht immer unablässig beschuldigen und dämonisieren, sondern die Bedürfnisse ihrer Kinder im Blick behalten und deshalb zu einem freundlichen Umgang miteinander finden.

Justine van Lawick und Margreet Visser
Haarlem und Leiden, im Januar 2017

1 Falls Sie sich für die Untersuchung oder deren Resultate interessieren oder einen Beitrag zur Untersuchung leisten wollen, können Sie zu Catrin Finkenauer (c.finkenauer@vu.nl) oder Kim Schoemaker (k.schoemaker@vu.nl), Abteilung Ontwikkelingspedagogiek, Vrije Universiteit, Amsterdam, Kontakt aufnehmen.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Wir brauchen nicht so fortzufahren, wie wir gestern gelebt haben.
Machen wir uns von dieser Anschauung los und tausend
Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein
.
Christian Morgenstern

Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Deutschland leiden leider viele Kinder nach einer Trennung ihrer Eltern, wenn es denen nicht gelingt, einen konstruktiven Weg einzuschlagen. Trauer, Verletzungen und Enttäuschungen sind der Nährboden für nicht enden wollende Konflikte, in denen die Kinder zwischen die Fronten, in einen Loyalitätskonflikt und aus dem Blick der Eltern geraten. All das kennen professionelle Helfer aus verschiedenen Berufsgruppen und Hilfekontexten, die versuchen, mit Trennungsfamilien gute Lösungen zu finden. Schnell geraten auch sie zwischen die Fronten und erleben sich als hilflos. Dies ist oft sehr entmutigend für die Kinder, wenn sie bemerken müssen, dass selbst »Helfer« es nicht schaffen, etwas zu ändern.

Justine van Lawick (Lorentzhuis) und Margreet Visser (Traumazentrum für Kinder und Jugendliche, KJTC) haben durch ihr Programm einen Weg gefunden, mit genau diesen Familien zu arbeiten. Einen Weg, der anders ist. Statt auf die Fehler und Verletzungen der Eltern wird der Blick wieder auf die Kinder gerichtet. Dies ist durch die Kraft der Gruppe aus mehreren betroffenen Familien (Multifamilientherapie) möglich, in der die Sitzungen stattfinden. Es findet eine Elterngruppe parallel zu einer Kindergruppe statt. Statt wie gewohnt zu zweit in alte Muster zu verfallen (in denen Helfer eher als Statisten wirken), werden die Eltern angeregt, neue Sichtweisen zu entwickeln, werden auch kritisch von den anderen gespiegelt. Es entsteht ein ansteckendes Entwicklungsklima, das Mut zum Ausprobieren machen kann. Die Gruppe ist dabei Treibhaus und Schutzraum zugleich.

Für die Kinder bedeutet es ebenfalls neue Erfahrungen: Sie sind nicht allein, anderen Kindern geht es auch so und sie sind nicht komplett ausgeschlossen oder auf sich selbst gestellt, wenn die Eltern aufeinandertreffen. Sie können die Eltern zwischendurch sehen und spüren, wie es diesen für sie so wichtigen Menschen geht. Sie haben die Chance, im geschützten Rahmen ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, und werden gestärkt. Sie erleben, dass die Eltern ihretwegen arbeiten.

Wir trafen auf Justine van Lawick und ließen uns anstecken von der Kraft dieses Programms. Trotz all der Streits, die diese Familien umgeben, gelingt es Justine van Lawick und Margreet Visser, den Familien mit Wärme und Wohlwollen zu begegnen. Das ist wirksam – auch jenseits der eigentlichen Methodik. Das Team des Lorentzhuis und des KJTC hat ganz hervorragende Entwicklungsarbeit geleistet!

Wir hatten das Glück, von Justine van Lawick geschult zu werden, und können seitdem die Arbeit mit diesem Programm nicht lassen. Auch im deutschen Kontext ist es hochwirksam, auch wenn es derzeit (noch) keine deutschen Studien dazu gibt. Wir arbeiten in zwei verschiedenen Kontexten, in denen das Programm eingesetzt werden kann: in der Jugendhilfe/Erziehungsberatung und im klinischen Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wenn Behandlungsmöglichkeiten der Kinder scheitern, weil der Rahmen durch die Eltern eine Veränderung nicht zulässt. Diese beiden Kontexte sind im Buch berücksichtigt.

Justine van Lawick ist eine hervorragende Netzwerkerin, die uns aus diesen unterschiedlichen Kontexten zusammengebracht hat und mit viel Eifer an der Weiterverbreitung des Programms auch in Deutschland arbeitet. Wir sind stolz, einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, und freuen uns auf ein weiter wachsendes Netzwerk.

Dr. med. Annegret Eckhart-Ringel und Dipl.-Päd. Stephanie Schöne

Ein Wort des Dankes

Wir möchten allen Kollegen danken, die bis jetzt an diesem Programm mitgearbeitet und dadurch zur Entwicklung dieser Methode beigetragen haben: Erik van der Elst, Jeroen Wierstra, Tessa Reedijk, Ingeborg van Waes, Flora van Grinsven, Danielle Steggink, Irene Martens und Hans Bom. Yayouk Willems hat uns bei der Formulierung wunderbarer Berichte und insbesondere beim Aufbau und bei der Übersetzung der Website www.kinderenuitdeknel.nl ins Englische (No Kids in the Middle) geholfen, die seit dem 1. April 2014 im Netz ist. Catrin Finkenauer und Kim Schoemaker engagieren sich für die wissenschaftliche Untersuchung und haben uns durch Literaturrecherchen und theoretische Überlegungen wichtige Denkanstöße gegeben und unseren Blick geschärft. Janet van Bavel hat diesem Programm durch ihre unterstützende Anwesenheit zu Kontinuität verholfen. Und natürlich danken wir Ellen Volkers, der Sekretärin des Lorentzhuis, die sich in den ersten Jahren um die telefonische Beantwortung von Fragen und um Anmeldungen gekümmert hat. Obwohl ihr dies kaum Zeit für die Erledigung anderer Aufgaben ließ, setzte sie ihre Bemühungen unermüdlich fort. Glücklicherweise haben nacheinander Monica van Steen, Matje Doeven und Anne Becker das Team verstärkt, indem sie die Organisation und die meisten der mit dem Programm verbundenen Verwaltungsarbeiten übernahmen. Wir danken auch den Teams des KJTC und des Lorentzhuis, die sich unseren Wünschen und Vorstellungen fügen mussten, aber trotzdem eine positive Grundhaltung bewahrten und sich mit uns zusammen über alle praktischen Probleme, mit denen wir in den ersten Jahren konfrontiert wurden, den Kopf zerbrachen.

Auch danken wir den Sponsoren, der Willem-Meindert-de-Hoop-Stiftung und der Stiftung Kinderpostzegels (Wohlfahrtsmarken für das Kind), die die Entwicklung dieses Programms ermöglichten. Wir danken weiterhin dem niederländischen Ministerium für Gesundheit, Gemeinwohl und Sport (Ministerie van Volksgezondheid, Welzijn en Sport), das es uns ermöglichte, dieses Buch zu publizieren und so unsere Ideen und unsere Methode weiter zu verbreiten.

Natürlich danken wir auch Arthur und Niels, unseren geliebten Männern, die uns bei der Entstehung dieses Buches aktiv unterstützt haben. Insbesondere Niels hat sich mit seiner sorgfältigen Durchsicht des Textes und seinen kreativen Abbildungen und Diagrammen unersetzlich gemacht.

Ganz besonders gilt unser Dank allen Eltern, die an unserem Programm teilgenommen haben und noch teilnehmen und die uns so helfen herauszufinden, was wirkt und was nicht. Und auch allen Kindern, die teilgenommen haben und noch teilnehmen, danken wir für ihren Einsatz, ihre Energie und dafür, dass sie die Hoffnung nicht aufgegeben haben. Sie helfen uns durchzuhalten und in unseren Bemühungen, nach einem noch besseren Weg zu suchen, nicht nachzulassen.

Justine van Lawick und Margreet Visser

1 Einleitung

In den Niederlanden erleben jedes Jahr etwa 70.000 Kinder, wie die Beziehung ihrer Eltern zerbricht (Sprangers, Steenbrink u. de Graaf 2008; Latten 2004; Spruijt 2007; Steenhof u. Harmsen 2002). Die meisten Trennungen (ca. 70 %) verlaufen akzeptabel bis gut. Den Partnern gelingt es, eine Regelung zu treffen, die die Lebensqualität beider Eltern und ihrer Kinder kaum beeinträchtigt.

In Deutschland wird etwa ein gutes Drittel (35 %) aller Eheschließungen im Laufe der folgenden 25 Jahre wieder geschieden (Zahlen aus dem Jahr 2014, Statistisches Bundesamt, Auszug aus dem Datenreport 2016, E. Krack-Roberg et al.). 2014 erlebten 134.800 minderjährige Kinder die Scheidung ihrer Eltern. Zusätzlich sind die Kinder zu berücksichtigen, die in Lebensgemeinschaften ohne Trauschein aufwachsen. Diese Familienform ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen (um 22 % im Jahr 2014, ebd.). Es ist davon auszugehen, dass die Trennungsrate in dieser Familienform etwa der der herkömmlichen Familienform entspricht.

Neuere Untersuchungen zeigen zwar, dass Kindern die vielen Veränderungen und die Anpassungen, zu denen die neue Situation sie zwingt, oft zu schaffen machen, aber nach einiger Zeit und auf lange Sicht geht es den meisten Kindern wieder gut. Sie merken, dass sie ihren Eltern sehr wichtig sind und dass sie trotz der emotionalen und anderweitigen Probleme, die mit der Trennung verbunden sind, weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit ihrer Eltern stehen. Längerfristig besteht dann kein Unterschied mehr zwischen ihrer Situation und derjenigen der Kinder von Eltern, die sich nicht trennen (Buysse et al. 2011; Hughes 2005).

Kinder scheinen insbesondere unter den Streitigkeiten von Eltern zu leiden, unabhängig davon, ob diese zusammen oder getrennt leben. Bei etwa 30 Prozent aller Trennungen entstehen finanzielle Probleme und/oder Differenzen über den Elternplan2. Bei 15 Prozent dieser Gruppe verläuft die Trennung sehr problematisch (Spruijt 2007). Aus einer kürzlich durchgeführten Untersuchung (van der Valk e. Spruijt 2013) geht hervor, dass bei der untersuchten Elterngruppe die Erstellung eines Elternplans den Streit noch verschärfte.

In Deutschland müssen im Scheidungsverfahren nur die eigentliche Scheidung vollzogen und der Versorgungsausgleich geregelt werden. Klärungen bezüglich des Sorgerechts oder der Umgangsregeln werden selten im Rahmen des eigentlichen Scheidungsverfahrens geklärt. Kommt es zu Streitigkeiten zwischen den Eltern, werden in der Regel eigene Gerichtsverfahren angestrengt, die Anwälte und Gerichte über Jahre beschäftigen können. Dabei ist die Hälfte der Sorgerechtsverfahren durch hochstrittige, nicht verheiratete Eltern verursacht. Es gibt Untersuchungen, die nahelegen, dass insgesamt knapp 30 % der Trennungen strittig verlaufen (Fichtner et al. 2010). Möglichkeiten wie eine durch das Jugendamt organisierte Mediation oder Beratung oder sogar eine gerichtliche Mediation sind in diesen Fällen kaum hilfreich (bke-Stellungnahme 2005).

An diese Gruppe wendet sich unser Programm. Eine Trennung/ Scheidung ist ein Prozess, der sich über Jahre dahinschleppt und der durch Destruktion, Rachsucht, Argwohn und Dämonisierung gekennzeichnet ist. Auch Eltern, die nie zusammengewohnt haben, sich aber das Sorgerecht für ihr Kind bzw. ihre Kinder teilen, verstricken sich manchmal in nicht enden wollende Kämpfe um Sorgerechts- und Umgangsregelungen.

Angesichts solcher destruktiver Prozesse befinden sich die Kinder in einer ausweglosen Situation und erleiden psychischen Schaden (Spruijt e. Kormos 2010). In den Niederlanden leiden pro Jahr ungefähr 3.000 Kinder unter den enormen Trennungsstreitigkeiten der Eltern. Nach dem Bericht des Kinderombudsmannes (Baracs, Vreeburg-van der Laan e. Dullaert 2014) leiden momentan ca. 16.000 Kinder unter der hochkonflikthaften Trennung bzw. Scheidung ihrer Eltern. Auch in Deutschland sind sehr viele Kinder davon betroffen. Es kann davon ausgegangen werden, dass jährlich ca. 30.000 Fälle hochstrittiger/hochkonflikthafter Trennungen deutsche Gerichte beschäftigen. Manche der Betroffenen kämpfen noch im Erwachsenenalter mit den negativen Folgen.

Dies sind erschreckende Fakten, wenn man bedenkt, dass zwischen den Konflikten der Eltern und den psychosozialen Konflikten von Kindern, wie sie in Ängsten, Depressionen und aggressivem Verhalten zum Ausdruck kommen, ein enger Zusammenhang besteht (Amato e. Cheadle 2005; Amato a. Keith 1991). Und je heftiger die Trennungskonflikte der Eltern sind, umso gravierender sind die psychosozialen Folgen für die Kinder (Amato 2001; Amato a. Keith 1991; van Lawick 2012).

Charakteristisch für hochkonflikthafte Trennungen sind langwierige Auseinandersetzungen, Feindseligkeiten, Schuldzuweisungen, emotionale Instabilität und das Unvermögen der Partner, für ihren Anteil an den Streitigkeiten Verantwortung zu übernehmen (Anderson et al. 2010). Dies alles führt zu einem Austausch von Negativität, der eskalieren kann (Ridley, Wilhelm a. Surra 2001). Middelberg (2001) nennt dieses Muster den »Tanz des Konflikts«, der aus Schuldzuweisungen, Kritik, Mangel an Empathie, emotionaler Reaktivität und einem Teufelskreis aus Angriff und Gegenangriff besteht.

Weil in hochkonflikthafte Trennungen oder Scheidungen verwickelte Eltern wenig oder oft kein Gefühl dafür zeigen, welche Auswirkungen ihre Auseinandersetzungen auf ihre Kinder haben, kann man diese Trennungen als eine Form von Kindesmisshandlung verstehen (Dalton, Carbon a. Olesen 2003; van Lawick 2012).

Für solche hochkonflikthaften Trennungen, sogenannte »Kampfscheidungen«, sind einige Merkmale charakteristisch, die auch bei emotionaler Kindesmisshandlung (z. B. Erniedrigung, verbaler Gewalt, Einschüchterung, sozialer Isolierung, Drohung, Ablehnung) und bei emotionaler Vernachlässigung (z. B. unzureichender Beaufsichtigung, Unvermögen, emotionalen Schaden vom Kind abzuwenden, unzureichendem Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes) eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass Kinder in solchen Fällen oft Zeugen von Streit und Gewalt zwischen ihren Eltern (z. B. bei häuslicher Gewalt) oder selbst zu Opfern von Gewalt werden.

Davies, Winter und Cicchetti (2006) weisen darauf hin, dass sich Gewalt zwischen Eltern sowohl direkt als auch indirekt auf die Kinder auswirken kann. Konflikte zwischen den Eltern können die Erziehung und die Eltern-Kind-Beziehung qualitativ beeinträchtigen (Buehler a. Gerard 2002). Der Zeit- und Geldaufwand insbesondere von Rechtsstreitigkeiten und die mit solchen Streitigkeiten verbundene psychische Belastung können außerdem dazu führen, dass die Eltern wenig Zeit für ihre Kinder haben. Insofern besteht selbst dann, wenn es den Eltern gelingt, ihre Konflikte nicht im Beisein ihrer Kinder auszutragen, die Gefahr einer indirekten nachteiligen Wirkung auf die Kinder infolge eingeschränkter Verfügbarkeit und aufgrund einer Verringerung finanzieller Spielräume.

Man braucht sich also nicht zu wundern, dass so viele Kinder unter Stress leiden, wenn sie den Trennungsstreitigkeiten ihrer Eltern ausgesetzt sind. Die häufigsten Reaktionen von Kindern auf das Miterleben von Gewalt zwischen ihren Eltern sind Kummer, Angst, Wut und Ohnmachtsgefühle (Pels, Lünnemann e. Steketee 2011).

Wenn der Streit zwischen Eltern (auch nach deren Trennung) anhält, entwickeln Kinder oft psychosoziale Probleme und Traumatisierungen. Zu den Symptomen, die infolgedessen auftreten können, zählen Konzentrationsprobleme, Hyperaktivität, somatische Beschwerden, Depression, Einsamkeitsgefühle, Angst, überangepasstes Verhalten, Schulprobleme, Suizidtendenzen und aggressives, oppositionelles Verhalten (Bream a. Buchanan 2003; Dalton, Carbon a. Olesen 2003; Jaffe, Crooks a. Poisson 2003; Kelly a. Emery 2003; Fichtner et al. 2010).

Das vorliegende Buch gibt zunächst eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der beschriebenen Methode, dann folgt eine ausführliche Darstellung der praktischen Anwendung − ihrer Grundzüge und ihrer wichtigsten Aspekte −, womit eine Art Rahmen skizziert wird, der Raum lässt für die individuelle Ausrichtung der Arbeit auf den einzelnen Klienten unter Berücksichtigung der Eigenarten der behandelnden Therapeuten. Dieser »lebendige Rahmen« ist ein wichtiges Kennzeichen der Methode Kinder aus der Klemme, eines Prozesses, der Kollegen dazu anregen soll, ähnlich zu arbeiten. Es handelt sich nicht um ein Buch mit Rezepten, die genau vorgeben, was in welcher Sitzung wie viele Minuten lang geschehen soll, sondern ist eher vergleichbar mit den Anweisungen eines Kochs, der sagt: »Probieren Sie zwischendurch und stellen Sie fest, ob Gewürze fehlen oder ob eher ein Schuss Milch nötig ist.«

Allerdings hat sich der von uns entwickelte Ablauf in der Praxis sehr bewährt. Die verschiedenen Aspekte bauen aufeinander auf und helfen den Eltern, zu deeskalieren und ihre Kinder wieder wirklich wahrzunehmen. Zunächst wird am Aufbau einer Arbeitsbeziehung und an der Verstärkung eines Gefühls der Sicherheit gearbeitet. Dies hilft den Eltern und ihren Kindern, Vertrauen in die Behandlung, zu den anderen Eltern in der Elterngruppe und zu sich selbst zu entwickeln, wodurch Raum entsteht, über neue Möglichkeiten nachzudenken. Am Anfang stehen also immer das Kennenlernen, das Vermitteln von Informationen und die Kontaktaufnahme; erst später werden die belastenderen, mit Stress verbundenen Themen angesprochen.

Wir stützen uns auf eine Anzahl theoretischer Ansätze, die helfen können, einen Streit anders zu rahmen, als die Kontrahenten es gewohnt sind, das Streiten zu unterbrechen und für alle Beteiligten eine sicherere Umgebung zu schaffen. Wir sehen diese theoretischen Ansätze als eine helfende Struktur an, nicht als Beschreibung der Wirklichkeit, also dessen, was »wahr« ist.

Eine Theorie, die uns hilft, von einer destruktiven zu einer konstruktiveren Interaktion zu gelangen, ist solch ein nützlicher Ansatz. Bateson befasst sich in seinem Buch Steps to an Ecology of Mind (Bateson 1972) mit diesem Thema. Er stellt klar, dass »die Landkarte nicht das Gelände« ist. Ebenso wenig lässt sich nach Batesons Auffassung der Wert einer Landkarte daran messen, wie naturgetreu sie das Gelände (die Wirklichkeit) darstellt. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Maße die Struktur der Karte zum Erreichen des angestrebten Ziels verhilft. Wenn wir dies auf unser Programm übertragen, können wir sagen, dass wir nach einer Theorie gesucht haben, die uns hilft, folgendes Ziel zu erreichen: den Streit zwischen den Eltern zu deeskalieren und eine sichere Umgebung zu schaffen, in der die Eltern sich entspannen und die Kinder sich entwickeln können.

Diese Theorie wird den Teilnehmern unserer Kurse in drei Informationsrunden vermittelt. In der ersten Sitzung werden destruktive Muster erklärt (Sitzung 1), in der zweiten die Auswirkungen ihrer Streitigkeiten auf die Kinder (Sitzung 2), und in der dritten werden die Themen Deeskalation, Traumareaktionen und Toleranzfenster behandelt. Letzteres bezeichnet den Bereich, in dem Menschen ihre Emotionen regulieren, in Kontakt bleiben, einander zuhören und zu Lösungen gelangen können (Sitzung 3). Die Beschreibungen der einzelnen Sitzungen enthalten auch Anleitungen für die Vermittlung der Theorie und für die Arbeit mit ihr in der Gruppe. So bietet die Methode einen klar strukturierten Rahmen, der genügend Raum für die individuelle Ausgestaltung lässt.

Der Name Kinder aus der Klemme ist an unsere Arbeitsweise gebunden und darf nur von denjenigen verwendet werden, die in dieser Methode geschult worden sind.3 Das Training besteht aus zwei Trainingstagen und mindestens drei Supervisionssitzungen. So wollen wir gewährleisten, dass diejenigen, die das Programm Kinder aus der Klemme anwenden, die auf die Kinder hin orientierte systemische Sichtweise kennen und unsere Erfahrungen in die komplexe Arbeit mit Familien einfließen lassen können.

2 In den Niederlanden sind Eltern bei Scheidungen gesetzlich verpflichtet, einen Elternplan zu entwickeln, in dem festgelegt wird, welche Aufgaben und Pflichten jeder Elternteil bei der Versorgung und Erziehung der Kinder übernimmt bzw. welche Umgangsregelungen gelten. Darüber hinaus können Vereinbarungen über verschiedene Aspekte der Erziehung getroffen werden wie z. B. Schlafenszeiten etc. (Anm. d. Übers.)

3 Siehe www.hetlock.nl

2 Theoretische Grundlagen4

2.1 Eskalierende Konflikte

Bei hochstrittigen Trennungen sind stets unablässig eskalierende Konflikte im Spiel. Die Theorie der Eskalationsstufen nach Glasl (2001) besagt, dass Konflikte die Tendenz haben, sich zu verhärten. In der ersten Phase, der rationalen oder sachlichen Phase, ist es noch möglich, zu einer Einigung zu gelangen. Beide Parteien können den Konflikt noch ohne Schaden beenden. Gelingt es jedoch nicht, den Konflikt aufzulösen, tritt er in Phase 2, die emotionale Phase, ein. Dann dominieren Emotionen und andere werden in den Konflikt hineingezogen. Es bilden sich zwei miteinander streitende Netzwerke; eine neutrale Position ist nicht mehr möglich. Oft können sich die Beteiligten ohne Hilfe von außen nicht mehr daraus befreien. Setzt sich der Konflikt fort, weitet er sich zu einem Krieg aus: Phase 3. Die Parteien bekämpfen einander erbittert und der Konflikt verhärtet sich zunehmend. Die Beteiligten sind in einer Tunnelsicht gefangen und können nicht mehr relativieren und reflektieren. Der andere wird für sie zum Feind, den sie um jeden Preis besiegen müssen – mit allen verfügbaren Mitteln, selbst wenn der eigene Untergang der Preis ist.

Dieses Modell wurde für Konflikte in Organisationen entwickelt, es lässt sich aber ebenso gut auf die Scheidungs- und Trennungsproblematik anwenden. Die Arbeit zahlloser Mediatoren basiert auf diesem Modell.

Das Programm »Kinder aus der Klemme« hat sich bisher hauptsächlich mit Phase 3, der »Kampfscheidung«, beschäftigt. Es eignet sich aber auch für Elternpaare, die in einen emotionalen Streit verstrickt sind (Phase 2), der sich noch nicht zu einem erbitterten Kampf ausgeweitet hat. Auch in diesen Fällen ist die Arbeit in einer Gruppe ein guter und effektiver Weg, den Streit zu durchbrechen.

2.2 Charakteristische Merkmale von hochkonflikthaften Trennungen bzw. Scheidungen

Die für hochkonflikthafte Trennungen bzw. Scheidungen charakteristischen Merkmale lassen sich in fünf Kategorien unterteilen, die in einem Zusammenhang stehen und einander beeinflussen:

1. Dämonisierung und kumulierender Stress.

Die Parteien dämonisieren einander. Dies ist mit anhaltendem Stress und emotionalen Reaktionen externalisierender und internalisierender Art verbunden. Stress, eskalierende Konflikte und destruktive Kommunikationsmuster prägen die Interaktion. Es gibt keinen Raum zum Zuhören, für Besinnung, Reflexion, Einfühlen und Dialog. Die Beteiligten sind in der Tunnelsicht ihrer eigenen Überzeugung, in ihrem Monolog gefangen.

2. Aktive Beteiligung des Netzwerks.

Viele Außenstehende werden in den Streit hineingezogen, nicht nur die Kinder, sondern auch das umfassendere soziale Netzwerk: Großeltern, neue Partner, Kinder und Familien der neuen Partner, Freunde, Nachbarn, Rechtsanwälte, Mediatoren, sozialpsychologische Helfer, Hausärzte, Menschen aus dem schulischen und beruflichen Umfeld. Die Streitigkeiten betreffen nicht nur zwei Menschen, sondern zwei Gemeinschaften.

3. Streit über das Scheidungsnarrativ und über Ziele.

Die Geschichte über die Scheidung endet nie und weitet sich zum Streit über Wünsche, Ziele und den weiteren Umgang mit der Situation aus.

4. Die Kinder aus dem Blick verlieren.

Entwicklung und Wohlbefinden der Kinder wird nicht mehr die erforderliche Aufmerksamkeit zuteil, weder im privaten Umfeld noch vonseiten der mit dem Problem befassten professionellen Helfer.

5. Ohnmacht.

Nicht nur die unmittelbar Beteiligten, sondern auch die Menschen aus deren privatem Umfeld und aus dem sie betreuenden professionellen Netzwerk erleben Ohnmachtsgefühle.

2.2.1 Dämonisierung und zunehmender Stress

Dämonisieren ist bei getrennten Eltern, die auch nach ihrer Trennung weiter streiten, sehr verbreitet. Der ehemalige Partner ist der Dämon, der nur Probleme bereitet und alles zerstört und verdirbt. Dämonisieren steht in enger Verbindung zur Unfähigkeit, die Tragik des Lebens zu akzeptieren (Alon a. Omer 2005). In unserer Gesellschaft herrscht die Auffassung vor, alles sei machbar und erreichbar. Fühlt sich etwas nicht gut an oder entspricht es nicht den Erwartungen, muss etwas verändert oder »repariert« werden − der andere, das Kind, die Umstände, der Therapeut, der Anwalt, das Gesetz und so weiter. Weil es immer etwas außerhalb der Person selbst gibt, das verändert werden muss, konzentriert sich die Energie, die Emotion auf diese äußere Instanz. Und wenn sich diese nicht verändern lässt, wird die Frustration noch größer und Emotionen wallen noch stärker auf. Zu akzeptieren, dass das Leben zwangsläufig Tragik und Frustration mit sich bringt, ist nicht möglich. Die Bemühungen, den anderen oder das andere verändern zu wollen, werden immer verbissener.

Sich zu trennen, wenn man Kinder hat, ist ein einschneidendes Ereignis. Die Eltern müssen das romantische Ideal aufgeben, mit dem Partner alt zu werden, gemeinsam ihre Kinder aufzuziehen oder gar noch weitere Kinder und später Enkelkinder zu bekommen. Plötzlich befinden sich die Partner in einem Trauerprozess. Schwarz-Weiß-Denken, bezogen auf den anderen, erleichtert es ihnen zunächst einmal, zu trauern und die Trennung zu verarbeiten. Boss (2006) spricht in solchen Fällen von ambivalenter Trauer; der Partner ist verloren, nicht mehr erreichbar, aber trotzdem noch da. Den meisten Eltern gelingt es im Laufe der Zeit, den nötigen Abstand zu gewinnen. Ihr Leben geht weiter, sie verlassen die Schwarz-Weiß-Welt und können einander wieder differenzierter oder sogar mit ihren guten Seiten sehen. Befinden sich Eltern hingegen in einem permanenten Streit, tritt bei der Verarbeitung der Trennung eine Stagnation ein, was Stress erzeugt und zur Folge hat, dass die Expartner5 nur die schlechten Seiten des anderen sehen und eine polarisierte Sicht voneinander entwickeln.

Weil diese Dämonisierung in hochkonflikthaften Trennungen wechselseitig erfolgt, eskaliert jede Kommunikation und endet in einem Konflikt. Das Stress-System wird immer wieder aktiviert und der Stress nimmt ständig zu: Stress infolge ständigen Streits, Stress wegen der Frage, bei wem die Kinder wann sein oder nicht sein sollen, Stress aufgrund von Rechtsstreitigkeiten, finanzieller Stress, mit der Kinderbetreuung verbundener organisatorischer Stress, Stress infolge der Angst, das Haus zu verlieren, Stress, der durch den Verlust der (angeheirateten) Familie, der Freunde, der Nachbarn entsteht, mit der Trauer über die Trennung verbundener Stress.

Wenn Eltern sich trennen und wegen der Organisation der Elternschaft und anderen Regelungen Meinungsverschiedenheiten bestehen, ist es besonders wichtig, dass die Ex-Partner gut miteinander kommunizieren können. Sie müssen einander zuhören und sich in den ehemaligen Partner wie auch in ihre Kinder einfühlen können, sie müssen in der Lage sein, Abstand zu nehmen, zu akzeptieren, dass Kompromisse notwendig sind, und verschiedene Interessen gegeneinander abwägen; sie müssen die positiven und negativen Seiten des anderen sehen, mit Frustrationen umgehen und einander als Eltern ausreichend vertrauen können. So reflexiv präsent und in Verbindung können getrennte Partner nur sein, wenn sie die Tragik des Lebens akzeptieren und ihre Gefühle regulieren können.

Bei Eltern, die in hochkonflikthafte Trennungen verstrickt sind, beobachten wir genau das Gegenteil. Schon die bloße Anwesenheit und das Verhalten des früheren Partners rufen starke emotionale Reaktionen hervor, die Stress erzeugen. Dies kann mit langwierigen, auch schon vor der Trennung entstandenen Streitigkeiten zusammenhängen, mit dem Nicht-Akzeptieren der Frustrationen und der Tragik, mit dem Schock und den Folgen der Trennung oder mit dem Wiedererleben alter Verletzungen aus der eigenen Kindheit.

Eltern fühlen sich bedroht und sind alarmiert. Sie können ihre Emotionen nicht mehr ausreichend regulieren oder geraten in einen Bereich außerhalb ihres Toleranzfensters (Siegel 2012) beziehungsweise außerhalb des Bereichs, in dem sie ihre Gefühle regulieren können. Wenn die Spannungen für Menschen zu stark werden und sie sich in einem Bereich außerhalb ihres Toleranzfensters befinden, wechseln sie in einen »Überlebensmodus«. Sie kämpfen, fliehen oder erstarren, was im Englischen »fight, flight, or freeze« (fff) genannt wird.

Für das Überleben wichtige primitivere Teile des Gehirns, auch das Reptilienhirn genannt, werden dann aktiviert. Besteht die Reaktion darin, zu kämpfen (bzw. zu streiten) oder zu fliehen, befindet sich der Körper in einem aktiven Zustand (Hyperarousal), weil er der Gefahr zu entkommen versucht. Beim Erstarren hingegen handelt es sich um einen passiven Zustand, Hypoarousal genannt. In beiden Fällen geht es um das Überleben im Hier und Jetzt. Es kommt zu einer Verengung des Bewusstseins und es entsteht eine Art Tunnelsicht, ein Zustand, in dem man leicht den Kontakt zur Wirklichkeit verliert und in dem Konflikte schnell eskalieren.

Feindselige Gedanken (Attributionen) und Gefühle

Kognitive Faktoren spielen für das Verstehen dieser destruktiven Prozesse eine wichtige Rolle. Die entscheidenden Dimensionen sind dabei erstens Kausalattributionen, Ursachenzuschreibungen, mit denen sich die Eltern ein Ereignis oder ein Verhalten erklären, und zweitens Verantwortungsattributionen, die zum Ausdruck bringen, in welchem Maße die Eltern einander die Verantwortung für Geschehnisse zuschreiben (Bradbury a. Fincham 1992).