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»Bei allen Menschen und bei allen Arten von Schmerzen ist der allerwichtigste ›Schmerzgenerator‹ das Gehirn.«

(Jensen 2012, S. 234)

Zu diesem Buch gibt es zusätzliches Material online: http://www.carl-auer.de/machbar/chillen_unterm_sorgenbaum

Andrea Kaindl

Chillen unterm
Sorgenbaum

Chronische Schmerzen bei
Kindern und Jugendlichen

Ein verhaltens- und
hypnotherapeutisches
Behandlungsmanual

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Themenreihe »Hypnose und Hypnotherapie«

hrsg. von Bernhard Trenkle

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: © Richard Fischer • www.richardfischer.org

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

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Erste Auflage, 2017

ISBN 978-3-8497-0198-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8099-9 (ePUB)

ISBN 978-3-8497-8086-9 (PDF)

© 2017 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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info@carl-auer.de

Inhalt

Einleitung

1     Grundlagen

1.1  Schmerz – was ist das?

1.2  Häufigkeit chronischer Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen

1.3  Primäre Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter

1.3.1  Symptomatik, Pathophysiologie und Therapie von Migräne

1.3.2  Ein mögliches biopsychosoziales Entstehungsmodell von Migräne

1.3.3  Symptomatik, Pathophysiologie und Therapie von Spannungskopfschmerzen

1.3.4  Ein mögliches biopsychosoziales Entstehungsmodell von Spannungskopfschmerzen

1.4  Primäre Bauchschmerzen im Kindes- und Jugendalter

1.4.1  Symptomatik, Klassifikation und Therapie primärer Bauchschmerzen

1.4.2  Ein mögliches biopsychosoziales Entstehungsmodell primäre Bauchschmerzen

1.5  Chronische Schmerzen des Bewegungsapparats im Kindes- und Jugendalter

1.6  Das Modell »Schmerztor«

1.7  Psychologische Behandlungskonzepte für Schmerzen im Kindes- und Jugendalter

1.7.1  Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter

1.7.2  Bauchschmerzen im Kindes- und Jugendalter

1.7.3  Multimodale stationäre Therapie chronischer Schmerzen im Kindes- und Jugendalter

1.8  Hypnose in der Therapie von Schmerzen

1.8.1  Therapie akuter Schmerzen

1.8.2  Therapie chronischer Schmerzen

1.8.3  Therapie funktioneller Schmerzen – der hypnosystemische Ansatz

1.8.4  Hypnotherapie von Schmerzen im Kindes- und Jugendalter

2     »ALLES IM KOPF!« – das Manual

2.1  Einführung

2.2  Anamnese

2.2.1  Fragebögen

2.2.2  Erstgespräch

2.3  Psychoedukation

2.4  Informationen für Eltern: Erster Elternabend

2.5  Die therapeutischen Einheiten

2.5.1  Einheit 1: »Schließe das Schmerztor!«

2.5.2  Einheit 2: »Komm in die Stress-Balance!«

2.5.3  Einheit 3: »Finde deinen eigenen Rhythmus!«

2.5.4  Einheit 4: »Gute Gedanken machen das Leben leichter«

2.5.5  Einheit 5: »Mut tut gut!«

2.5.6  Einheit 6: »Schmerz lass nach!«

2.6  Zweiter Elternabend

2.7  Nachgespräch

2.8  Evaluation

2.9  Ausblick

Informationen und Literatur zum Weiterlesen

Für Therapeuten

Internetseiten

Für junge Patienten und deren Eltern

Internetseiten

Bücher

Danksagung

Übersicht des Online-Materials

Literatur

Über die Autorin

Einleitung

Philipp, 8 Jahre alt, 2. Klasse Grundschule, wird schon seit über zwei Jahren von krampfartig auftretenden Bauchschmerzen geplagt. Es bestand der Verdacht auf eine immer wieder aufflammende Blinddarmentzündung. Philipp wurde deshalb operiert. Seit der Appendektomie vor einem Jahr sind die Bauchschmerzen aber eher noch schlimmer geworden. Immer häufiger klagt Philipp über einen Dauerbauchschmerz.

Emma, 13 Jahre alt, 6. Klasse Mittelschule, hat häufige und lange anhaltende Kopfschmerzen, gegen die sie scheinbar nichts unternehmen kann. Sie klagt deshalb gar nicht mehr darüber. In der letzten Zeit sind allerdings ihre Schulleistungen stark abgefallen. Bei einem Gespräch darüber erzählt Emma ihren Eltern, wie sehr die dauernden Kopfschmerzen ihre Konzentration beeinträchtigen.

Ahmed, 11 Jahre, 5. Klasse Gymnasium, leidet ungefähr zweimal im Monat unter anfallsartigen Kopfschmerzen. Er möchte sich dann nur noch ins Bett legen. Gleichzeitig ist ihm übel und er erbricht. Manchmal kann er, kurz bevor die Kopfschmerzen kommen, nicht mehr richtig sehen: Ein Teil des Gesichtsfeldes ist blind, und es tauchen Lichtblitze auf. Dies irritiert ihn sehr und macht seiner Mutter große Sorgen.

Bei aller Verschiedenheit haben diese Kinder eines gemeinsam: Sie leiden unter beeinträchtigenden wiederkehrenden oder chronischen Schmerzen, sind aber körperlich völlig gesund – das hat eine eingehende und differenzierte somatische Diagnostik ergeben. Es gibt deshalb auch keine einfache und sofort wirksame medizinische Therapie, die diese Schmerzen beseitigen und ihr Wiederauftreten verhindern könnte.

Trotz einer großen Erleichterung darüber, dass es in diesen Fällen keine schwere Erkrankung als Ursache der Schmerzen gibt, stellen sich nun aber bei Eltern und Kind Rat- und Hilflosigkeit ein: Der Alltag ist stark gestört, die Fehltage in der Schule häufen sich, die Belastung der gesamten Familie durch die Schmerzen wird immer stärker. Man hat schon so vieles versucht, um das Problem in den Griff zu bekommen, und dabei sogar abwegige Therapien ausprobiert. Der Termin in einer Spezialambulanz soll nun endlich Klarheit hinsichtlich der Diagnose und ein Rezept für eine wirksame Therapie bringen.

An dieser Stelle ist es dringend notwendig, den jungen Patienten1 und ihren Eltern ein Modell anzubieten, das ihnen das, was ihnen unverständlich scheint, möglichst verständlich erklärt. Sie benötigen Informationen dazu, wie ein Mensch immer wieder oder dauernd schlimme Schmerzen erleben kann, auch wenn keine Erkrankung, Verletzung oder Schädigung zugrunde liegt. Es geht darum, ihnen zu vermitteln, dass bei jeder Art von Schmerz tatsächlich »alles im Kopf« stattfindet: die Entstehung, die Chronifizierung und die Bewältigung. Aus einem solchen Modell lassen sich dann hilfreiche Maßnahmen ableiten: Die Familie bekommt einerseits Tipps für den Alltag und erhält andererseits ein evidenzbasiertes therapeutisches Angebot, das alle Familienmitglieder entlastet und wieder Erfahrungen der Kompetenz und Selbstwirksamkeit möglich macht.

Das Manual ALLES IM KOPF! erfüllt diesen Auftrag. Es ist in vielen Jahren meiner Arbeit mit schmerzkranken Kindern und Jugendlichen entstanden. Diese begann im Jahr 2000 mit einem Modellprojekt der Techniker Krankenkasse, die den bei ihr versicherten Kindern das Programm »Stopp den Kopfschmerz!« von Heide Denecke und Birgit Kröner-Herwig anbot – ein Gruppentraining für Kinder und Jugendliche mit chronischen Kopfschmerzen. Die jahrelange Durchführung und Weiterentwicklung dieser Gruppenarbeit führte mich schließlich an das Sozialpädiatrische Zentrum der Kinderklinik Dritter Orden in München, wo ich den Auftrag und die Chance erhielt, ein Konzept für die psychologische Therapie von wiederkehrenden oder chronischen Schmerzen im Kindes- und Jugendalter zu entwickeln.

So entstand schließlich das nun vorliegende Manual ALLES IM KOPF!. Es vereint kognitiv-verhaltenstherapeutische mit hypnotherapeutischen Techniken, die sich in der Therapie von Schmerzstörungen bewährt haben. Das Modell »Schmerztor« bildet die Grundlage für die Psychoedukation bei dieser Therapie, indem es auf einfach verständliche Weise den Beitrag psychologischer und sozialer Faktoren bei der Entstehung und Chronifizierung von Schmerzen erklärt. Daraus lassen sich sowohl hilfreiche Tipps für den Familienalltag als auch therapeutische Interventionen ableiten.

Im ersten Teil des Buchs werden die Grundlagen des Manuals ALLES IM KOPF! erläutert. Dazu gehört die Darstellung der häufigsten Schmerz-Syndrome im Kindes- und Jugendalter und ihrer Pathophysiologie. ALLES IM KOPF! beruht vor allem auf Erfahrungen in der Therapie von chronischen Kopf- und Bauchschmerzen. Insofern liegt hier der Schwerpunkt der Informationen. Für jede der Störungen wird ein biopsychosoziales Störungsmodell entwickelt.

»Das Schmerztor« zeigt, wie sich ein solches Störungsmodell in der Psychoedukation vermitteln lässt und sowohl für die Vervollständigung der Diagnostik als auch zur Planung der Therapie genutzt werden kann.

Im Folgenden werden gängige psychologische Behandlungskonzepte für die Therapie von chronischen Schmerzen im Kindes- und Jugendalter dargestellt.

Da ALLES IM KOPF! einen hypnosystemischen Ansatz vertritt und Elemente der Hypnotherapie enthält, folgt eine Ausführung über den Stellenwert der Hypnose in der Therapie akuter, chronischer und funktioneller Schmerzen. Auch hier fließen schon vorhandene Behandlungskonzepte für kindliche Kopf- und Bauchschmerzen ein.

Der zweite Teil des Buchs besteht aus dem Manual ALLES IM KOPF! – von der Diagnostik bis zur Katamnese. Das Zentrum bildet die Psychoedukation nach dem Schmerztor-Modell. Darauf bauen die folgende Beratung, die Elterninformationen und die Therapieeinheiten für die jungen Patienten auf. Zur Begleitung und Evaluation der Behandlung gibt es ein Schmerz- und Erfolgstagebuch. Fragebögen nach Abschluss der Behandlungsphase und nach einem halben Jahr messen den Einsatz und Erfolg der erlernten Techniken.2

Zum Schluss gehe ich auf weitere hypnotherapeutische Interventionen ein, die nach der manualgestützten Therapie im Einzelsetting zum Einsatz kommen können. Außerdem werden Möglichkeiten dargestellt, wie man das vorliegende Konzept durch die Kooperation mit anderen therapeutischen Disziplinen (Physio-, Ergotherapie, kreative Therapien) ergänzen oder auf ein (teil-)stationäres Konzept ausweiten kann.

Ich erlebe die Arbeit mit den schmerzkranken Kindern und ihren Familien als immer wieder herausfordernd. Es ist spannend, gemeinsam mit den jungen Patienten auf die Suche nach ihren individuellen Ressourcen zu gehen, und es ist beglückend, sie auf ihrem Weg zu mehr Lebensfreude und -qualität zu begleiten. Ich würde mich freuen, wenn ich etwas von meiner Begeisterung mitteilen und möglichst viele Kollegen für diese Arbeit gewinnen könnte.

1   Die Inhalte des vorliegenden Manuals beziehen sich in gleichem Maße auf Mädchen und Jungen, auf Frauen und Männer. Zur besseren Lesbarkeit habe ich jedoch die männliche Form für alle Personenbezeichnungen gewählt. Die weibliche Form ist dabei stets mitgedacht.

2   Die Fragebögen stehen zum Download bereit unter http://carl-auer.de/machbar/chillen_unterm_sorgenbaum.

1   Grundlagen

1.1  Schmerz – was ist das?

Jeder Mensch kennt Schmerzen und hat sie im Laufe seines Lebens schon in unterschiedlichen Formen erfahren. Dennoch fällt es schwer, Schmerzen adäquat zu beschreiben und ihre Intensität zu messen – Schmerzen und die dadurch entstehenden Beeinträchtigungen sind ein hoch subjektives Erleben.

Dies spiegelt auch die Definition der International Association for the Study of Pain (IASP) wider: »An unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage.« Die IASP weist darauf hin, dass jeder Schmerz subjektiv ist. Wir können auch Schmerzen empfinden, wenn keinerlei Gewebeschädigung vorliegt. Die Definition von Schmerz sollte also unabhängig von einer Noxe, einem pathogenen Stimulus, erfolgen. Auch wenn es in den meisten Fällen körperliche Ursachen gibt, sollte Schmerz immer als psychologischer Zustand begriffen werden (iasp-pain.org).

Jensen (2012) beschreibt die Verarbeitung von potenziellen Schmerzreizen beginnend in der Peripherie bis in verschiedene Re gionen des zentralen Nervensystems. Erst im Gehirn erhält der Schmerzreiz seine affektiven und emotionalen Komponenten, erst dort erfolgt die kognitive Bewertung und das Auslösen einer »Alarmreaktion«. Das Zusammenspiel all dieser Zentren in der sogenannten »Schmerzmatrix« erzeugt das subjektive Schmerzerleben, wie es in der Definition der IASP beschrieben ist (Jensen 2012, S. 24 ff.).

Die Verarbeitung der Schmerzreize auf den verschiedenen Ebenen des Nervensystems und der Einfluss psychologischer Faktoren darauf spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob ein zunächst akuter Schmerz chronisch wird. Aus diesem Grund kommt den psychologischen Behandlungsverfahren eine so hohe Bedeutung in der Prävention und Therapie chronischer Schmerzen zu.

Das Ausmaß und die Formen chronischer Schmerzen im Kindesund Jugendalter sowie deren Behandlungsmöglichkeiten möchte ich im Folgenden detailliert darstellen.

1.2  Häufigkeit chronischer Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen

Chronische oder wiederkehrende Schmerzen sind unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland weit verbreitet.

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) aus dem Jahr 2007 befragte dazu die Eltern von 3- bis 10-jährigen Kindern (Fremdeinschätzung) und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren (Selbstauskunft). So ergaben sich folgende Zahlen: 30,6 % der Kinder und 52,9 % der Jugendlichen litten unter wiederkehrenden Schmerzen. 54,1 % der Kinder mit wiederkehrenden Schmerzen waren deshalb beim Arzt gewesen, 36,7 % nahmen gegen die Schmerzen Medikamente ein. Unter den Jugendlichen mit wiederkehrenden Schmerzen waren 35,9 % beim Arzt gewesen, 46,7 % nahmen dagegen Medikamente ein (Ellert, Neuhauser u. Roth 2007).

Am häufigsten wurden dabei Kopf- und Bauchschmerzen genannt. Es ergab sich eine 3-Monats-Prävalenz für Kopfschmerzen bei den Kindern von 56 %, bei den Jugendlichen von 78 %. Die 3-Monats-Prävalenz für Bauchschmerzen betrug bei den Kindern 63 %, bei den Jugendlichen 60 %. Die Häufigkeit von Kopfschmerzen nahm mit dem Alter zu.

Albers und Kollegen (2015) berichten in einem Übersichtsartikel über die Prävalenzen primärer Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: »38 % bis 84 % der Kinder bzw. Jugendlichen berichten über Kopfschmerzen in den letzten drei oder sechs Monaten. (…) Häufige Kopfschmerzen (mindestens wöchentlich) werden von etwa 4 % bis 10 % der Kinder berichtet.« Die großen Differenzen in den Angaben der einzelnen Studien sind dabei auf methodische Unterschiede zurückzuführen. Es scheint allerdings valide Daten zu einem zeitlichen Anstieg der Kopfschmerzprävalenz für Kinder und Jugendliche zu geben (ebd., S. 602). Als Risikofaktoren werden Stress, Rauchen, Koffeinkonsum und dysfunktionale Muskelspannung genannt. »Interventionen sollten deshalb versuchen, diese Risikofaktoren zu minimieren« (ebd., S. 606).

Eine Studie zu den gesundheitlichen Belastungen von Münchner Gymnasiasten (Selbsteinschätzung mithilfe einer Beschwerdenliste) zeigte, dass 83,1 % der befragten Jugendlichen mindestens einmal im Monat unter Kopfschmerzen litten. Davon hatten 30,1 % der Befragten eine Migräne oder wahrscheinliche Migräne, während 68,5 % über Spannungskopfschmerzen oder wahrscheinliche Spannungskopfschmerzen klagten. Es ergaben sich höhere Kopfschmerzprävalenzen für Mädchen als für Jungen. Auch waren bei den Münchner Gymnasiasten die Kopfschmerzprävalenzen höher als bei anderen Stichproben von Jugendlichen (Milde-Busch et al. 2012).

Groß und Warschburger (2012) geben Prävalenzraten für wiederkehrende Bauchschmerzen von bis zu 30,8 % an. Mädchen sind dabei häufiger betroffen als Jungen. Wahrscheinlich gibt es zwei Altersgipfel in der Häufigkeit funktioneller Bauchschmerzen: Die Zahlen sind am höchsten für das Alter zwischen 4 und 6 Jahren und zwischen 7 und 12 Jahren (Gulewitsch et al. 2012).

Muskuloskelettale Schmerzen gehören ebenfalls zu den häufigen Schmerzerfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Dabei leiden jüngere Kinder unter 10 Jahren häufiger unter Schmerzen der unteren Extremitäten (Prävalenz 36 %), während Jugendliche häufiger über Rückenschmerzen klagen (Prävalenz 49 %) (Haas 2009).

Eine Längsschnittstudie von van Gessel und Kollegen (2011) an 9- bis 14-Jährigen beobachtete den Verlauf der Schmerzsymptome über 4 Jahre: Während zu Beginn der Erhebungen mehr als 53 % der Kinder zwischen 9 und 14 Jahren unter wiederkehrenden Schmerzen in Kopf, Bauch oder Rücken litten, waren es zum letzten Messzeitpunkt schon 62 % der Kinder. Je älter die Kinder waren, desto höher war das Risiko für wiederkehrende Schmerzen. Mädchen litten nicht nur häufiger an Schmerzen als Jungen, die Schmerzintensität steigerte sich bei ihnen auch stärker. Kinder, die Schmerzen in mehreren Körperbereichen hatten, fühlten sich durch die Kopfschmerzen am meisten beeinträchtigt.

Ungefähr 3 % aller Kinder und Jugendlichen sind von chronischen Schmerzen so geplagt, dass es zu massiven Beeinträchtigungen hinsichtlich des Schulbesuchs, der Freizeitaktivitäten und Sozialkontakte kommt. Dazu leiden diese Patienten häufig zusätzlich unter Schlafstörungen und Erschöpfung oder auch emotionalen Problemen (Zernikow et al. 2012).

Die Autoren der KiGGS-Studie ziehen die Schlussfolgerung, »dass Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen ein ernst zu nehmendes Problem darstellen« (Ellert, Neuhauser u. Roth 2007). Sie stellen deshalb die Frage, »wann (…) Chronifizierungen beginnen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Präventionsarbeit mit Kindern ergeben« (ebd., S. 717).

Da Kinder und Jugendliche am häufigsten unter chronischen sogenannten primären Schmerzen (Kopf-, Bauch- und muskuloskelettalen Schmerzen) leiden, werden diese in den nächsten Abschnitten genauer betrachtet.

1.3  Primäre Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter

Wie aus den oben angeführten Studien ersichtlich ist, sind Kopfschmerzen weitverbreitet unter Kindern und Jugendlichen. Bei der Bestimmung der Prävalenz wird allerdings häufig nicht unterschieden, ob es sich dabei um primäre oder sekundäre Kopfschmerzen handelt. Primäre Kopfschmerzen gelten als eigenständige Erkrankung, während sekundäre Kopfschmerzen Symptom einer anderen zugrunde liegenden Störung, z. B. akuter oder chronischer Infekte, Verletzungen, Fehlsichtigkeit oder orthopädischer Probleme, sind. In der klinischen Praxis ist die Diagnostik primärer Kopfschmerzen deshalb immer auch eine Ausschlussdiagnostik. Die genaue Anamnese hat eine besonders große Bedeutung. Die International Headache Society (IHS) gibt Richtlinien zur Klassifikation primärer Kopfschmerzen an. Dazu gehören bei Kindern vor allem die Migräne und Kopfschmerzen vom Spannungstyp, während andere Kopfschmerzformen im Kindes- und Jugendalter nur untergeordnete Bedeutung haben (Gaul 2015).

1.3.1  Symptomatik, Pathophysiologie und Therapie von Migräne

Julia ist 17 Jahre alt, lebt mit beiden Eltern und ihrem jüngeren Bruder zusammen und besucht die 12. Klasse des Gymnasiums. Sie ist eine sehr gute und beliebte Schülerin, die sich für vieles interessiert. Nach dem Abitur möchte sie Psychologie studieren.

In ihrer Freizeit engagiert sie sich in der Jugendarbeit bei den Pfadfindern, wo sie einmal pro Woche eine Gruppenstunde für Jüngere anbietet und Vorstandsfunktonen in ihrem Pfadfinderstamm übernimmt. Seit dem Herbst 2015 hilft sie im Flüchtlingswohnheim ihres Wohnortes und organisiert dort die Kinderbetreuung während der Deutschkurse für die Erwachsenen. Schon seit vielen Jahren hat sie Klavierunterricht, sie übt regelmäßig und gern.

Julia bezeichnet sich selbst als »Perfektionistin« und als »harmoniesüchtig«: Konflikte in Familie und Freundeskreis belasten sie sehr.

Ihre erste Migräneattacke hatte sie im Alter von 9 Jahren in der 4. Klasse. In der Folge trat die Migräne ungefähr alle zwei Monate auf. Julia hat dann quälende Kopfschmerzen, liegt in ihrem abgedunkelten Zimmer im Bett und muss meist mehrmals erbrechen. Sie kann die Schule nicht besuchen. Ein Schmerzmedikament lindert zwar den Kopfschmerz, ein allgemeines Krankheitsgefühl bleibt jedoch bis in die Nacht. Erst am nächsten Morgen ist Julia wieder fit.

Seit circa einem halben Jahr kommen die Attacken häufiger, manchmal dauern sie auch noch einen weiteren Tag an. Deshalb stellt sich Julia in der »Kopfschmerzsprechstunde« der Kinderklinik vor.

Symptomatik

Die Migräne tritt typischerweise in Attacken auf, die bei Kindern zwischen einer und 72 Stunden lang dauern können. Sie ist gekennzeichnet durch einseitig frontotemporale mäßige bis starke Schmerzen mit pochendem oder pulsierendem Charakter. Bei Kindern können die Schmerzen auch auf beiden Seiten des Kopfes auftreten, die Einseitigkeit des Migräneschmerzes entwickelt sich häufig erst im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter. Die Schmerzen werden begleitet von Lichtscheu, Lärmempfindlichkeit, Übelkeit und einem starken Krankheitsgefühl. Diese Symptomatik wird verstärkt durch Bewegung bei einfachen Alltagsaktivitäten, z. B. Treppensteigen oder beim Gang auf die Toilette. Kinder, die unter einer Migräneattacke leiden, hören von sich aus auf zu spielen, ziehen sich zurück und legen sich ins Bett. Auch Jugendliche und Erwachsene haben das dringende Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe, viele fühlen sich so müde, dass sie schlafen wollen.

Unmittelbar vor oder zu Beginn des Migränekopfschmerzes tritt bei manchen Patienten die sogenannte Aura auf. Dabei handelt es sich um einen neurologischen Symptomenkomplex. Am häufigsten kommt es dabei zu visuellen Halluzinationen (z. B. ein »Flimmerskotom«), aber auch zu Parästhesien (Gefühl des Ameisenlaufens oder des »Einschlafens« eines Körperteils) auf einer Körperhälfte oder Wortfindungsstörungen.

Davon unterscheidet man die eher unspezifischen Vorbotensymptome, die sich mehrere Tage bis Stunden vor einer Migräneattacke zeigen: vegetative Symptome wie Müdigkeit, übermäßiger oder fehlender Hunger und Durst, Übelkeit, Verschwommensehen, Gähnen oder Blässe.

Zur Migräne zählt man auch periodische Syndrome, die typischerweise in der Kindheit auftreten und als Vorläufer einer »klassischen« Migräne gelten: Dazu gehören das zyklische Erbrechen (episodisch auftretende Attacken von Übelkeit und Erbrechen), die sogenannte abdominelle Migräne (episodisch auftretende Attacken von Bauchschmerzen mit Übelkeit, Erbrechen und vasomotorischen Symptomen) sowie der gutartige paroxysmale Schwindel (wiederkehrende kurze Schwindelattacken).

Die Migräne wird dann als chronisch bezeichnet, wenn sie an mindestens 15 Tagen im Monat auftritt (www.ihs-classification.org).

Pathophysiologie

Zur Pathophysiologie der Migräne gibt es heute relativ sichere Erkenntnisse (siehe dazu z. B. Gerber-von Müller et al. 2012): Demnach ist die Veranlagung zur Migräne genetisch bedingt und bringt eine sensorische Hypersensitivität mit sich. Die somatosensorischen und visuellen Anteile des Gehirns zeigen eine vermehrte Erregbarkeit. Es fehlt eine Habituation auf Hinweisreize. Stattdessen kommt es sogar zu einer langandauernden Verstärkung der visuellen und akustischen evozierten Potenziale. Diese Hypersensitivitätshypothese wird unterstützt durch PET-Ergebnisse, die zeigen, dass Migränepatienten auch in den schmerzfreien Zeiten im visuellen Kortex eine erhöhte Reaktion auf Lichtreize zeigen (Manyar et al. 2014). Lau und Kollegen (2014) nennen mehrere Belege für eine sensorische Hypervigilanz bei Migränikern, die genetisch präsdisponiert ist (ebd., S. 1202). Der Migräne liegt demnach also eine Reiz- oder Informationsverarbeitungsstörung zugrunde.

Einen Migräneanfall kann man werden als Schutzreaktion des Gehirns verstehen, die auf eine sensorische oder emotionale Überreizung, also auf individuellen Stress, erfolgt. Diese wird wohl durch einen sogenannten Migränegenerator im Hypothalamus (Zernikow u. Wager 2016) ausgelöst. In der Attacke kommt es dann zu einer Weitstellung der Gefäße und einer lokalen neurogenen Entzündungsreaktion, die freien Nervenendigungen in den Hirnhäuten und Hirngefäßen werden immer weiter sensibilisiert. Über den Trigeminus werden diese Reize an das Zentralnervensystem weitergeleitet, das die verschiedenen Symptome der Migräne (Kopfschmerzen, erhöhte Schmerzempfindlichkeit am ganzen Körper, vegetative Reaktionen, Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Lärmempfindlichkeit u. a.) produziert (Zernikow u. Wager 2016).

Ein Video des Deutschen Kinderschmerzzentrums (www.deutscheskinderschmerzzentrum.de) erklärt die Pathophysiologie der Migräne gut und leicht verständlich in verschiedenen Sprachen für Kinder und Jugendliche. Allerdings sind gerade im Hinblick auf die angenommene Hypersensitivität die dort gegebenen Hinweise zur Therapie kritisch zu bewerten. Es wird geraten, nach der Einnahme eines wirksamen Schmerzmittels (Ibuprofen oder Triptan) nur kurz zu warten und dann mit dem Alltag fortzufahren wie bisher.

Therapie

Im Gegensatz zu den oben genannten Tipps empfiehlt die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) zur Therapie der akuten Migräneattacke bei Kindern und Jugendlichen zunächst Reizabschirmung und Ruhe. Sollte dies nicht genügen, kann eine medikamentöse Therapie durch Ibuprofen (10 mg pro Kilogramm Körpergewicht) oder ein geeignetes Triptan erfolgen. Bei einer starken Alltagsbeeinträchtigung durch zahlreiche Migräneanfälle mit hoher Intensität kann auch eine medikamentöse Prophylaxe zum Einsatz kommen. Vor allem weisen die Experten der DMKG auch auf die hohe Wirksamkeit verhaltensmedizinischer Maßnahmen zur Migräneprophylaxe hin (Evers et al. 2008). Die im Jahr 2016 erschienene Leitlinie »Entspannungsverfahren und verhaltenstherapeutische Interventionen zur Behandlung von Migräne« der DMKG empfiehlt ausdrücklich Entspannungsverfahren (vor allem Progressive Muskelentspannung), Ausdauersport, Biofeedback und kognitive Verhaltenstherapie zur Prävention der Migräne bei Erwachsenen (Kropp et al. 2016).

1.3.2  Ein mögliches biopsychosoziales Entstehungsmodell von Migräne