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Systemische Soziale Arbeit

»Sozialarbeiterische Minimalethik: Steigere Alternativität!«

Peter Fuchs

Soziale Arbeit, als Einheit von Sozialarbeit und Sozialpädagogik, kann inzwischen als etablierte Profession und als aufstrebende Disziplin der Sozialwissenschaften gelten. Hinsichtlich der Profession lässt sich die Soziale Arbeit als systemische Praxis beschreiben und erklären sowie mit den vielfältigen Handlungsoptionen systemischer Methodik anreichern. In der Wissenschaft der Sozialen Arbeit sind Systemtheorie und Konstruktivismus als Paradigmen anerkannt.

Systemische und systemtheoretische Konzepte entsprechen den komplexen Aufgabenfeldern und Herausforderungen der Sozialen Arbeit in besonderer Weise. Sie erlauben es, einen Blick zu schulen und zu vertiefen, den die Soziale Arbeit seit jeher einzunehmen versucht: einzelne Menschen bei der Bewältigung ihrer alltäglichen Lebensführung nicht mit ihren Problemen zu verwechseln. Vielmehr geht es Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in ihrer Unterstützungsarbeit darum, die sozialen Verhältnisse, die systemischen Kontexte einzublenden, die die Verhaltensweisen von Menschen, ihre Eigenschaften und Probleme herausfordern, verfestigen und auch lösen können. Die klassische These, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, lässt sich mit der Systemtheorie nicht nur postulieren, sondern wissenschaftlich darstellen und methodisch so nutzen, dass überraschende Potenziale des Denkens und Handelns kreiert werden können.

Die Reihe Systemische Soziale Arbeit verfolgt das Ziel, die Potenziale und Grenzen der systemischen Sozialarbeitspraxis und Sozialarbeitstheorie auszuloten und weiterzuentwickeln. Dabei sollen das gesamte Spektrum der Sozialen Arbeit, ihre Vielschichtigkeit, ihre zahlreichen Arbeitsfelder und Rahmenbedingungen ausgeleuchtet und methodisch fundiert werden. Damit bieten die Bücher der Reihe praktizierenden Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen sowie Studierenden und Lehrenden Perspektiven an, die den Möglichkeitsraum des Denkens und Handelns nachhaltig erweitern.

Prof. Dr. Heiko Kleve
Herausgeber der Reihe Systemische Soziale Arbeit

Birgit Theresa Koch (Hrsg.)

Junge Flüchtlinge
auf Heimatsuche

Psychosoziales und
pädagogisches Handeln in
einem sensiblen Kontext

Mit einem Geleitwort von Kurt Ludewig

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Themenreihe »Systemische Soziale Arbeit«

hrsg. v. Heiko Kleve

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlag: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: Tom Levold

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Erste Auflage, 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Inhalt

Geleitwort von Kurt Ludewig

Migration und Integration – Eine kritische Einführung

Birgit Theresa Koch

Auf Heimatsuche – ein kurzer Blick in die Geschichte

Integration – Diskurse, Rassismen und die Entdeckung neuer Möglichkeiten

Psychosoziale und pädagogische Arbeit mit jungen Geflüchteten – die Themen dieses Buches im Suchdurchlauf

Teil I: Systemisches Wissen und Handeln – Chancen psychosozialer Beratung und traumasensibler Arbeit mit jungen Geflüchteten

1Wissen vom eigenen Nichtwissen – Herangehensweisen, Handlungsmöglichkeiten und Hürden in Beratung und Therapie junger Flüchtlinge

Esther Kleefeldt

Einleitung

Haltung und Herangehensweise

Vorgehensweisen und Methoden

Zusammenfassung: Was hilft bei der Arbeit mit jungen Flüchtlingen?

2Flucht, Trauma und Chancen der Genesung

Alexander Korittko

Phänomene: Unterschiedliche Diagnosen, unterschiedliche Verläufe

Traumatische Erfahrungen: Was bewirken sie?

Krieg, Flucht, Exil: Sequenzielle Traumatisierung

Traumasensible Begleitung

Drei Prinzipien der Stabilisierung

Posttraumatisches Wachstum und Resilienz

Tiergestützte Heilungsangebote

Trigger und Dissoziationsstopps

Traumaorientierte Pädagogik

Selbstfürsorge der Helfer

Ausblick

Haseeb, 18 Jahre, aus Kabul in Afghanistan

Teil II: Zusammenleben – Schutzraum Jugendhilfe und Familie

3Mit Herz und Hirn – Systemische Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern (UMAs) im Rheingau-Taunus-Kreis

Benjamin Bulgay

Zwischenbilanz einer systemisch-interkulturellen Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern (UMAs) im Rheingau-Taunus-Kreis

Unbegleitete minderjährige Asylbewerber: Wer ist das eigentlich?

Grundlagen der systemisch-interkulturellen Arbeit mit unbegleiteten Flüchtlingen

Integration besser verstehen

Zusammenfassung und Fazit

4Systemisch-interkulturelle Arbeit mit Flüchtlingsfamilien

Benjamin Bulgay

Rahmenbedingungen von Flüchtlingskindern und ihren Familien

Mit Ressourcen und Kompetenzen erfolgreich arbeiten

Fazit

5Auf einem guten Weg – Integrationsmöglichkeiten für minderjährige Flüchtlinge durch engagierte Paten- und Pflegeeltern. Ein Erfahrungsbericht

Peter Bünder, Annegret Sirringhaus-Bünder und Bernhard Schumacher

Das Brühler Patenelternkonzept

Die Supervision

Ausblick

Amal, 21 Jahre, aus Aleppo in Syrien

Teil III: Kontexte – Interkulturelle soziale Arbeit und ihre Organisation

6Interkulturelle soziale Arbeit braucht einen Rahmen – Die Gestaltung kultursensibler Dienste

Thomas Hegemann und Nicolas Grießmeier

Kontext

Leitideen

Zusammenfassung

7Integration junger Geflüchteter und Zuwandererfamilien – Ein systemischer Blick auf eine gesamtstädtische Strategie

Birgit Averbeck und Björn Enno Hermans

Herausforderungen für eine Stadt: Zuwanderung und Flucht von Kindern, Jugendlichen und Familien

Herausforderungen für einen freien Träger der Jugend- und Flüchtlingshilfe

Gemeinsame Herausforderungen der Kooperation für Kommune und Träger

Prozess der Entwicklung einer gesamtstädtischen Organisationsstruktur am Beispiel einer deutschen Großstadt

Entwicklungsprozesse innerhalb eines Trägers

Integrierte Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen in Verantwortungsgemeinschaft von Stadt und Trägern

8Supervision von interkulturellen Teams in der Flüchtlingsarbeit

Dörte Foertsch

Einleitung

Aufnahmestadt Berlin – Einige Zahlen und Fakten

Die Arbeitsbedingungen

Ankunft an einem fremden Ort

Ein buntes Team

Ankunft aus allen Himmelsrichtungen

Supervision als Modell für den Umgang mit den Flüchtlingen

Ähnlichkeiten und Unterschiede – eine Gratwanderung

Trauma und Traumatisierung, eine kulturbedingte Beschreibung

Eigene Erfahrungen und ihre Bewältigung als Stärke nutzen

Gefahren für das Team

Metaphern für die Arbeit mit geflüchteten Menschen

Fazit

Birgit Feichtinger, 55 Jahre, aus Zell an der Mosel

Teil IV: Engagement – Paten und andere Wegbegleiter

9Parcours Plus – Paten und Wegbegleiter für junge Geflüchtete

Anne-Katharine Hein und Mounira Ammar

Parcours Plus

Motive und Motivation für ein Ehrenamt

Endlich 18 – und was dann?

Hürden überwinden

Resilienz und positive Beziehungen

Ein Ausblick – für eine Gesellschaft, die Menschen zusammenbringt

10Empowerment & Sharing – Begleitete Selbsthilfe unter geflüchteten Jugendlichen und Migranten

Johannes Holz

Vorbemerkungen

Gemeinschaftliche Beratung und Photovoice – zwei starke Methoden für ein unübersichtliches Terrain

Gemeinsame Grundlagen und Wirkungen

Zusammenfassung und Schluss

11Auf der Suche nach der genderviablen Integration: Frauen- und Männerblicke auf den Prozess der Be-Heimatung zureisender Kulturen

Corina Ahlers

Einleitung

Das Zusammenleben mit syrischen Gästen in einem Haus

Der innere Dialog der Psychotherapeutin

Bedeutungssplitter aus der Intervision mit meinen arabischen Freunden

Integrierende Begegnungen

Genderviable Integration und Be-Heimatung: Gastgebende psychotherapeutische Blickwinkel zusammengefasst

Helen, 23 Jahre, aus Senafe in Eritrea

Teil V: Gemeinsames Lernen – Perspektiven für eine Zukunft in Europa

12Stiftung, Stadt und Land kooperieren: »angekommen in deiner Stadt« – Ein Modellprojekt für junge Geflüchtete und Zugewanderte

Ulrike Naim

Einleitung

Soziale Gerechtigkeit – Basis für friedliches Zusammenleben

Geflüchtete Kinder und Jugendliche – viel Mut und starker Wille

Vorbild: Schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge

Drei Kooperationspartner für ein Modellprojekt in NRW

Gelungene Kooperation: Stiftung, Stadt und Land Hand in Hand

13Tandem – Interkulturelles Lernen mit jungen Geflüchteten im universitären Kontext

Elif Polat

Einleitung

Empirische Befunde

Interkulturelles Tandemlernen – Ein besonderes Angebot für Geflüchtete

Kennenlernen und erste Begegnungen

Perspektivwechsel durch Tandemlernen

Sprache schafft Wirklichkeit

Gemeinsame Erkundungen außerhalb des Seminarraumes

Erfahrungen der Kursteilnehmenden

Zusammenfassung

14Psychosoziale Beratung von Geflüchteten für Geflüchtete – Ein Wissenstransfer von Afghanistan nach Deutschland

Inge Missmahl und Sarah Ayoughi

Elyas, 23 Jahre, aus Aleppo in Syrien

Teil VI: Denkanstöße – Kritische Reflexionen und Empfehlungen

15Bildungs- und Sozialarbeit für/mit/von geflüchteten Menschen – Denkanstöße aus der Perspektive der kritischen Migrationsforschung

Norbert Frieters-Reermann

Kontexte

Denkanstöße für die Bildungs- und Sozialarbeit

Flucht als die Konstruktion von interkultureller Begegnung

Ausblick

16Mit ausländischer Hardware und deutscher Software

Birgit Theresa Koch im Gespräch mit der Kabarettistin Idil Baydar

Psychosoziale Zentren und Organisationen

Literatur

Empfehlungen zum Weiterlesen

Über die Autoren

Über die Herausgeberin

Geleitwort

Die freundliche Einladung, dieses Buch mit einem Vorwort zu begleiten, dürfte seine Herausgeberin, Birgit Theresa Koch, wohl aus zwei Gründen ausgesprochen haben: Zum einen, weil dieses Buch ein eminent systemisches Thema behandelt, zum anderen, weil sie von meiner Identität als eingewandertem Halbdeutschen weiß.

Das Thema ist insofern ein grundsätzlich systemisches, weil es von dem so komplizierten wie einträglichen Zusammenkommen inhomogener Systeme handelt. Die alles andere als homogene Gruppe der angekommenen Fremden trifft auf eine ebenso inhomogene Gruppe der Einheimischen. Zwei black boxes treffen zusammen und versuchen, bestmöglich miteinander umzugehen. Das kennzeichnet zwar den Beginn jedweder Kommunikation, sie wird aber in diesem Fall nicht von den kulturellen Erwartungen, Normen und Kommunikationsmitteln gebahnt und erleichtert, die einer Gesellschaft gemeinsam sind. Obwohl die Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, sich auf implizite gemeinsame Werte beziehen, wie Idil Baydar im Gespräch mit der Herausgeberin zum Schluss des Bandes nachvollziehbar behauptet (S. 261 f.), bedürfen dennoch die verwendeten Codes einer geeigneten Übersetzung. Gerade in diesem Prozess der Hilfestellung bei der Verständigung zwischen Menschen sehe ich den Vorteil einer systemischen Denk- und Handlungsweise. Denn wie Esther Kleefeldt zu Recht anmerkt: »Auf der Grundlage systemischen Denkens und Handelns können Helfer ein Bewusstsein entwickeln für die eingeschränkte Tauglichkeit des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrungen für die Arbeit im interkulturellen Kontext« (S. 47). Mit diesem Aspekt von Ambivalenz und »eingeschränkter Tauglichkeit« im Umgang mit bei ihr wohnenden Arabern setzt sich Corina Ahlers im Rahmen einer eindrucksvoll offenen Selbstreflexion auseinander.

Als selbst eingewanderter Halbdeutscher, der in Chile aufgewachsen ist, weiß ich nur zu gut, wie schwer es war, die üblichen sozialen Erwartungen, die im Großen und Ganzen das Zusammenleben in Deutschland rahmen, überhaupt zu erkennen, sie dann zu respektieren und sich auch daran zu gewöhnen, nach Möglichkeit danach zu handeln. Bereits bei so Banalem wie Pünktlichkeit, Essenszeiten und Gerichten oder dem Umgang mit Geld musste ich viel nachlernen. Und das alles passierte, wie gesagt, einem Halbdeutschen, der aus einem katholisch-europäisch kolonisierten Land gekommen ist. Wäre ich hingegen statt nach Deutschland etwa nach Syrien, Afghanistan oder Eritrea gegangen … nicht auszudenken!

Damit sind wir mitten im Dilemma angekommen, von dem dieses Buch auf so vielfältige wie versierte Weise handelt. Auf die Frage verkürzt lautet es: Wie und was müssen sowohl Zuwanderer als auch Einheimische lernen, um miteinander auf verträgliche Weise auszukommen? Um eine einseitige Integration der Fremden kann es dabei wohl nicht gehen. Denn dieser Begriff beinhaltet, wie Birgit Theresa Koch darlegt, eine »mal mehr, mal weniger repressive Forderung nach Assimilation an oder Eingliederung in eine scheinbar homogene deutschsprachige Kultur«, eine Einbahnstraße, auf der sich völlig unzureichend nur die Fremden bewegen müssten (S. 20).

Das vorliegende Buch darf sich meines Erachtens als ein handliches Lehrbuch verstehen. Die enthaltenen Beiträge können allesamt für alle, die professionell oder auch persönlich mit Einwanderern oder Geflüchteten zu tun haben oder haben werden, enorm lehrreich sein. Denn wie Thomas Hegemann und Nicolas Grießmeier treffend beschreiben, werden wir es »in Zukunft mehr und mehr mit Klienten zu tun haben, die nach anderen Landkarten durch ihr Leben reisen als wir Professionellen selber« (S. 123).

Für das bereichernde Abenteuer, in das Fremde einzutauchen und dabei auch behilflich zu sein, ist dieser Band als Anleitung und Begleitung ein Muss.

Kurt Ludewig
Münster, im Juli 2017

Migration und Integration – Eine kritische Einführung

Birgit Theresa Koch

»Die Herausforderung besteht darin, das über Jahrtausende eines Lebens in kleinen, lokalen Gruppen geformte Denken und Fühlen mit Ideen und Institutionen auszustatten, die uns ein Zusammenleben in dem globalen Stamm erlauben, zu dem wir geworden sind.«

Kwame Anthony Appiah (2007)

Weltweit befinden sich mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Nur ein Bruchteil kommt nach Europa. Es sind vor allem junge Menschen, die sich auf den weiten Weg in die reichen Länder Europas machen: 2016 waren laut Mediendienst Integration1 73 % der deutschen Asylbewerber unter 30 Jahren alt. 36 % waren Minderjährige, die entweder alleine oder mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sind. Ein Drittel aller Schutzsuchenden waren Frauen und Mädchen. Bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF), die in der Regel von den Jugendämtern in Obhut genommen werden, ist der Jungenanteil mit ca. 80 % am höchsten. Sie kommen zurzeit vor allem aus Syrien, Afghanistan, aus dem Iran, dem Irak und aus Eritrea.

Obwohl die Versorgung und Unterstützung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge wie auch die von Kindern in Flüchtlingsfamilien kein Neuland war, stellte die plötzliche massenhafte Zuwanderung von (jungen) Geflüchteten eine große Herausforderung dar – mit einer Reihe positiver Auswirkungen. Sie mobilisierte nicht nur Professionelle aus psychosozialen und pädagogischen Handlungsfeldern und förderte damit die Entwicklung vieler neuer Projekte, sie brachte auch Menschlichkeit und ehrenamtliches Engagement in nicht geahntem Ausmaß in der deutschsprachigen Bevölkerung hervor. Das belebte den Diskurs über Migration, Einwanderung und globale Verantwortung und machte deutlich, dass es nicht nur um die Versorgung und sogenannte Integration der Geflüchteten, sondern auch um Veränderungen, Anpassungen und Integrationsleistungen der Mehrheitsbevölkerung gehen muss, damit gesellschaftliches Zusammenleben gelingen kann.

In psychosozialen und pädagogischen Handlungsfeldern stellten sich viele Fragen, auf die die Autoren und die Herausgeberin in diesem Sammelband nach Antworten gesucht haben:

• Was brauchen junge zwangsmigrierte Menschen aus Kriegsund Krisengebieten, die mit intensiven Gewalt- und Verlusterfahrungen konfrontiert waren?

• Wie können integrationsfördernde institutionelle Kooperationsstrukturen aufgebaut werden?

• Welche Anforderungen sind an kultursensible Organisationen in pädagogischen und psychosozialen Handlungsfeldern zu stellen?

• Welche Projekte und Hilfen haben sich bewährt, welche neuen müssen erfunden werden?

• Wie kann die Bevölkerung einbezogen und z. B. durch Patenschaften gut vorbereitet werden, damit Zusammenleben gelingen kann?

• Welche Kompetenzen und sozialen Ressourcen braucht es, damit jungen Flüchtlingen (und ihren Familien) eine dauerhafte Perspektive und Heimat geboten werden kann?

• Und nicht zuletzt: Welche Lehren ziehen wir aus der Vergangenheit, die in Deutschland wie im übrigen Europa eine von Einwanderung und Auswanderung, aber auch von Ressentiments gegenüber Fremden geprägte Geschichte ist?

Bevor wir uns den psychosozialen oder pädagogischen Themen und Fragen zuwenden, die sich in der Arbeit mit jungen Geflüchteten stellen, möchte ich Sie zu einem kurzen, in diesem Rahmen natürlich nur ausschnitthaft möglichen Rückblick in die Geschichte der (deutschen) Migration einladen wie auch zu einer Betrachtung der aktuellen und leider oft von Rassismen durchsetzten Diskurse zum Thema »Integration«. Psychosoziales Handeln findet nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern wird von Kontexten und historischen Erzählungen, die für bestimmte Zeiten leitend sind, stark beeinflusst. So kann es für Professionelle in der Arbeit mit jungen Geflüchteten handlungsrelevant und manchmal auch richtungweisend sein, ein Bewusstsein für die gesellschaftlichen und politischen Themen im Hintergrund zu gewinnen.

Auf Heimatsuche – ein kurzer Blick in die Geschichte

Schauen wir uns Märchen wie Hänsel und Gretel oder die Bremer Stadtmusikanten einmal genauer an oder hören wir bei Liedern wie Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein aufmerksam hin, merken wir, dass sich dahinter Migrationsgeschichten und schmerzhafte Erfahrungen junger Menschen verbergen, die von ihren Eltern nicht mehr ernährt werden konnten und wegen mangelhafter Überlebenschancen in die Ferne und in fremde Länder zogen.

»Tatsächlich verließ die Mehrzahl realer Migranten ihren wenig zufriedenstellenden Geburtsort in jugendlichem Alter«,

stellt der Historiker Dirk Hoerder (2010, S. 26) in seinem Buch über die Geschichte der deutschen Migration fest. Dabei waren die Aus- und Einwanderungsgründe in der Regel nicht selbst gewählt, sondern die Folge ökonomischer oder politischer Zwänge bzw. von Religionskriegen, Hungersnöten und Vertreibungen, die den Menschen im Herkunftsland kein Auskommen und keine Zukunft ermöglichten. Hugenotten, Juden, Türken und viele andere sind in deutschsprachige Gebiete eingewandert, deutschsprachige Menschen sind in alle Welt ausgewandert. Über Jahrhunderte hinweg kam es in ganz Europa immer wieder zu Wanderungsbewegungen, die zum Teil auch durch Anwerbungen (z. B. Besiedelung von Ostpreußen) forciert und gesteuert wurden. Schon um 1600 bestand die Bevölkerung von Frankfurt am Main zu 40 % aus Zugewanderten – protestantischen Flüchtlingen aus den Niederlanden, Juden, Wandergesellen u. a. –, die zum Wohlstand der Stadt beitrugen (ebd., S. 46). Bis heute hat sich daran wenig geändert, jeder zweite Einwohner Frankfurts hatte 2016 einen Migrationshintergrund.2 Zum Vergleich hierzu:

»Im Wien des 18. und 19. Jahrhunderts waren mehr als drei Viertel der Handwerksgesellen Zuwanderer« (ebd., S. 54).

Migration war normal und wurde in Europa noch nicht durch nationalistisches Denken und nationalstaatliches Handeln eingeschränkt.

Im 19. Jahrhundert kam es infolge von Hungerkatastrophen im Deutschen Reich zu Massenauswanderungen, die mehr als 4 Millionen Menschen umfasste. Viele dieser Auswanderer suchten neue Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten in den USA; aber auch Südamerika, Australien, Neuseeland und Kanada waren beliebte Einwandererstaaten. Edgar Reitz machte in seinem Film Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht (2013) auf diese Auswanderungszeit und die damit verbundenen Hoffnungen für junge Menschen aufmerksam. Im heutigen Deutschland werden Menschen mit vergleichbarer ökonomischer Flucht- und Einwanderungsmotivation gerne abwertend als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet, die unsere Asylgesetze ausnutzen.

Die massive Auswanderung aus Deutschland, die infolge der beiden Weltkriege und nationalsozialistischer Herrschaft noch forciert wurde, fand erst in den 1950er-Jahren mit dem Wiederaufbau ein Ende. Deutsche Arbeitskräfte reichten nicht aus, um das Land wiederaufzubauen, staatlicherseits wurden in den Folgejahren Arbeitskräfte aus Südeuropa, der Türkei und Nordafrika angeworben, insgesamt kamen 14 Millionen Männer und Frauen, von denen ca. 3 Millionen geblieben sind (Hoerder 2010). So wurden aus »Gastarbeitern« Einwanderer in einem Zuwanderungsland, das sich bis heute nicht als Einwanderungsland sehen will. Während viele Staaten ihre Einwanderungsgesetze faktisch oder per Gesetz lockerten, z. B. durch die Ermöglichung doppelter Staatsbürgerschaften, will Deutschland noch lange nicht auf die Homogenität seiner Gesellschaft verzichten, die es von der Zugehörigkeit zur deutschen Nation abhängig macht (Hess und Moser 2009). Problemlos deutsch hingegen werden laut Gesetzeslage die Nachfahren der zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ausgewanderten Volksdeutschen in den Ostsiedlungen, deren Nachfahren nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler und bis heute Spätaussiedler – insgesamt mehr als 15 Millionen – nach Deutschland einwanderten. Auch sie sind Migranten, die sich mit ihren unterschiedlichen Lebensweisen, Sprachen, Religionen, Kopftüchern und sonstigen Gebräuchen sehr von der Aufnahmegesellschaft unterscheiden.

Erst 2014 wurde ein Gesetz verabschiedet, das in Deutschland geborenen Kindern und Enkelkindern von Migranten aus Ländern außerhalb der EU, die meisten von ihnen aus türkischen »Gastarbeiterfamilien«, uneingeschränkt die deutsche oder, je nach Fall, auch die doppelte Staatsangehörigkeit erlaubt. Eine restriktive Ausländerpolitik erschwerte lange Zeit die Eingliederungsbemühungen der türkischmuslimischen Bevölkerung in Deutschland, und die zunehmende Problematisierung des Islam unterstützte einen Prozess, der viele junge Menschen aus muslimischen Familien nicht in der Mitte der Gesellschaft ankommen ließ. Dies wiederum begünstigte die Konstruktion »sich abschottender, gewaltbereiter Parallelgesellschaften« (Hage 2009) und die Idee von nicht integrierbaren Muslimen. Mit diesen Vorurteilen sind heute die jungen Geflüchteten, viele von ihnen aus islamischen Gesellschaften, konfrontiert.

Dabei geht Hoerder (2010) aufgrund seiner historischen Analysen davon aus, dass sich Zuwanderer der verschiedensten Ethnien, Religionszugehörigkeiten und Herkünfte in ihrem Integrationsverhalten kaum voneinander unterscheiden. Als bedeutsamer für den Integrationserfolg schätzt er die Kontexte, die Angebote und Möglichkeiten ein, welche im Einwanderungsland den Migranten zur Verfügung gestellt werden:

»Migranten geben am Ziel ihre alltägliche Lebensweise, ihre materielle Kultur nicht auf. Sie assimilieren sich nicht bedingungslos, sondern beginnen einen schrittweisen Prozess der Akkulturation, einer Annäherung an die neue Gesellschaft. Sie ändern Gewohnheiten und Praktiken, erlernen die neue Sprache oder zumindest die für sie relevanten Sprachregister in einem Prozess des Aushandelns von notwendigen oder geforderten Veränderungen. Sie sind bereit zu einer (teilweisen) Eingliederung […], wobei die Empfängergesellschaft die Möglichkeiten zu Integration und/oder Inkorporation bieten muss. Ohne diese beiderseitige Bereitschaft erfolgt eine Selbstsegregation3 oder Ausgrenzung. Die volle Teilhabe an der neuen Gesellschaft wird prozesshaft über – meist – drei Generationen erreicht. Die Rhetorik des ›Kulturverlustes‹ belastet den Prozess, das Einbringen von Eigenheiten und Arbeitskraft, die die neue Gesellschaft ihrerseits verändern, bereichern ihn« (ebd., S. 12).

Genau genommen, heißt das, dass Menschen sich mehr oder weniger selbstorganisiert innerhalb von drei Generationen integrieren, wenn ihnen keine Stolpersteine in den Weg gelegt werden. Es hat hiernach wenig Sinn bzw. ist zu kurzsichtig, die Ursachen problematischer Verhaltensweisen oder eine zu bemängelnde Integrationsmotivation junger Migranten auf ihre Persönlichkeit, Religionszugehörigkeit oder Ethnie zu schieben. Die gesellschaftlichen Bedingungen, Repressionen, Asylgesetze, die drohende Abschiebung wie auch diskriminierende kollektive Erzählungen und »Mixophobien«, wie Zygmunt Bauman (2016) die Angst vor dem Unbekannten und Fremden nennt, haben direkt oder indirekt negative Auswirkungen auf das Lebensgefühl und das Selbstbewusstsein junger Migranten.

Diese Kontextfaktoren sollten nicht übersehen werden, auch wenn Professionelle in psychosozialen oder pädagogischen Handlungsfeldern keinen Auftrag haben, an diesen Verhältnissen Veränderungen vorzunehmen. Ihr Fokus ist der Mensch mit allen Gefahren der Sozialpädagogisierung und Psychologisierung der beim Individuum beobachteten Folgen sozialer Bedingungen, kollektiver Problemsysteme und Rassismen. In der psychosozialen Arbeit mit Geflüchteten lassen sich aus den beobachteten scheinbar persönlichen oder kulturell-ethnischen Phänomenen selten einfache Erklärungen konstruieren. Was ist Ursache, was Wirkung, wer trägt die Verantwortung und hat Einfluss, was ist hilfreich oder ungewollt schon wieder diskriminierend? Hier stellt sich auch die Frage: Was ist eigentlich Integration? Welche Wege halten die verschiedenen Integrationslandkarten in Abhängigkeit von den politischen Zeitgeistern als gangbare bereit? Und schließlich: Warum ist Integration etwas, das sich nicht einseitig herstellen lässt?

Integration – Diskurse, Rassismen und die Entdeckung neuer Möglichkeiten

»Auf dem Weg zu einem selbstbewussten Einwanderungsland ist Integration ein Projekt für alle«, schreibt die Soziologin Annette Treibel in ihrem Buch Integriert Euch! und fordert ihre Leser auf, Deutschland »ohne Wenn und Aber als Einwanderungsland zu betrachten« (2015, S. 157). Treibel plädiert für eine Gesellschaft, die sich als Ganzes integriert. Ginge es nach dem Karikaturisten Gerhard Mester, könnten wir uns die neuen, in dieses Konzept passenden Integrationskurse ungefähr so vorstellen: Eine muslimische Kursleiterin unterrichtet in Lektion 1 wichtiges Basiswissen: Migranten sind integrationswillig, wollen arbeiten, bereichern unsere Kultur und sind friedlich und tolerant.

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© Gerhard Mester

Das auf diese Weise vermittelte Wissen hätte sehr wahrscheinlich mehr mit der Realität und der Integrationspraxis von Einwanderern zu tun als das Heraufbeschwören von Parallelgesellschaften, die Zweifel an der Respektierung »deutscher« Werte durch Eingewanderte oder die Zuschreibungen und Rassismen gegen vor allem junge männliche Muslime. Letztere stehen in Westeuropa unter Generalverdacht. Das hat Auswirkungen: Der Islam kann zum »Schutzraum für Rassismus werden« (Hage 2009), wenn multikulturelle Gesellschaften sich nicht effektiver mit Rassismus auseinandersetzen und ihre Bewohner nicht vor Diskriminierung schützen. Islamistische Gruppierungen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) finden ihre Kämpfer nicht zuletzt in westlichen Großstädten, in denen jungen Muslimen Anerkennung und gesellschaftliche Zugehörigkeit verweigert wird.

Selbst Gutgemeintes kann verdeckte Rassismen und Ressentiments enthalten oder einfach (Macht-)Zusammenhänge verbergen, die in das Verstehen von Verhaltensweisen und Interaktionen junger Zuwanderer mit einbezogen werden sollten. Wir sprechen z. B. schnell von Unterschieden in der Kultur, verknüpfen die damit einhergehende Begrifflichkeit mit nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit und übersehen dabei die Bedeutung der Kontexte und Umwelten, in denen junge Menschen handeln, sich anpassen, von denen sie abweichen, gegen die sie Hass entwickeln oder durch die sie unregierbar werden.

Ähnlich ist es mit dem unbelastet erscheinenden Begriff »Integration«. Schauen wir genauer hin, sehen wir, dass die in politischen, psychosozialen oder in der Mehrheitsbevölkerung seit den 1970er-Jahren genutzte Begrifflichkeit immer auch eine mal mehr, mal weniger repressive Forderung nach Assimilation an oder Eingliederung in eine scheinbar homogene deutschsprachige Kultur beinhaltet und in der Regel eine Einbahnstraße beschreibt, die nur von draußen nach drinnen gegangen werden kann. Mit der einseitigen Ausrichtung bestehender Integrationskonzepte und rechtlicher Ausformulierungen auf Sprache und Kultur werden gravierende Unterschiede in der Aufnahmegesellschaft – nicht alle Einheimischen sind Frauenrechtler, teilen die gleichen Werte oder haben gleiche Chancen – weggewischt. Zum anderen wird Integration zur Bringschuld erklärt und als Sonderleistung betrachtet, die einseitig von Migranten erbracht werden muss (Hess u. Moser 2009).

Der Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) e. V. weist in seinen Veröffentlichungen im Internet4 auf die Problematik der einseitigen und defizitären Nutzung des Integrationsbegriffes hin und schlägt Partizipation – gesellschaftliche, politische und soziokulturelle Teilhabe und Beteiligung – als Garanten und Bedingung für Integration vor:

»Gerade junge Flüchtlinge fühlen sich aufgrund ihrer rechtlichen Situation von gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen. Selbst in Bereichen, die unmittelbar ihre Lebenswelt betreffen, haben sie kaum Mitsprachemöglichkeiten. Umso wichtiger erscheint es dem Bundesfachverband UMF, bestehende Formen der Beteiligung auf die in dieser Hinsicht vernachlässigte Gruppe der jungen Flüchtlinge anzuwenden und in diesem Prozess neue Formen zu erschließen.

Für eine erfolgreiche Beteiligung müssen die Jugendlichen entsprechend qualifiziert werden. Hierzu gehört das Trainieren unterschiedlichster individueller, sozialer, fachlicher, kultureller und politischer Kompetenzen. Durch den Erwerb von neuen vielfältigen Kompetenzen, das Herstellen gesellschaftlicher Bezüge für Minderheiteninteressen und die Mobilisierung von Aktivitäten, die für den individuellen Integrationsprozess wichtig und förderlich sind, wird soziales Kapital gebildet, das am Ende einen Mehrwert für die gesamte bundesrepublikanische Gesellschaft darstellt.«5

Ein solcher Blick stellt einen Paradigmenwechsel dar: Junge Geflüchtete werden nicht länger – und das nahezu ausschließlich – als Opfer oder Schutzbedürftige angesehen, sondern als handlungsfähige Akteure wahrgenommen, die ihre Zukunft gestalten wollen und können. Integration kann, so gedacht, nicht länger eine einseitige Forderung sein, sondern ein Ergebnis, an dem gemeinschaftlich gearbeitet wird. Dies fordert von der deutschsprachigen Gesellschaft, dass sie eine Willkommenskultur kreiert, die weit über den ersten Moment der Begrüßung oder des Spracherwerbs hinausgeht und soziale und berufliche Räume schafft, die Teilhabe auch tatsächlich ermöglichen.

Bei meinen Recherchen zu diesem Sammelband beeindruckte mich der von Althusser geprägte und von Zygmunt Baumann (2016) und Ghassan Hage (2009) verwendete Begriff der »Anrufung« besonders. Ähnlich wie Eltern mit ihren Vorbereitungen und Planungen ihrem zukünftigen Kind einen symbolischen Raum zur Verfügung stellen, den es nur noch einnehmen muss, so Hage, verfahre auch die Gesellschaft:

»Sie verfügt bereits über zugewiesene symbolische Strukturen, Positionen und Orte, etwa ›Arbeiterin‹ oder ›Arbeiter‹, die eine Person anrufen, auf dass sie oder er den bereits existierenden Platz einnimmt. Der Moment der Anrufung, der Moment, da eine Person eine bestimmte Position besetzt, wird zu dem Moment, der dem Leben dieses Menschen Sinn verleiht« (Hage 2009, S. 80 f.).

Hage warnt vor »falschen Anrufungen«, die missverstanden werden können. Sie sind z. B. gegeben, wenn wir junge Muslime auffordern, sich einzugliedern und anzupassen, ihnen dann aber die gesellschaftlichen Räume – Ausbildungsplatz, Arbeitsstelle –, die ihrem Leben und ihrer Zukunft einen Sinn geben, nicht oder nur widerwillig zur Verfügung stellen:

»Das gleiche ideologische Muster, das sie auffordert, Teil der Nation zu werden, weist sie ab, und zwar durch die kleinen und nicht so kleinen Akte der Ausschließung« (ebd., S. 81).

Das Bild der Anrufung ist deswegen so interessant, weil es sich auf gesellschaftliche Prozesse insgesamt übertragen lässt. Wie rufen wir die Menschen in unseren Gesellschaften an, und welche Plätze zum Leben und Arbeiten stellen wir ihnen tatsächlich zur Verfügung? Zygmunt Baumann beispielsweise kritisiert die westlichen modernen Gesellschaften, in denen »die Anrufung der Mitglieder in erster Linie auf deren Leistung abstellt«, während die wirtschaftlichen Leitideen dieser Gesellschaften ihnen gleichzeitig keinen ausreichenden Schutz durch Arbeitsverträge oder andere Sicherheiten gewähren und sie für ihre Misserfolge selbst verantwortlich machen (2016, S. 107). In der prekären sozialen Lage und zunehmenden Armut immer größerer Bevölkerungsteile Westeuropas sieht er eine der wesentlichen Ursachen für die Angst vor den Fremden, die Panikmache und die Ressentiments gegenüber Migranten.

Über das Konzept der Anrufung wird deutlich, wie sehr die einen und die anderen, die Einheimischen wie auch die Fremden, miteinander verbunden sind und was sie als Menschen brauchen, um ihr Leben und die Herausforderungen in einer modernen und globalen Gesellschaft souverän zu bewältigen. Eine »richtige« Anrufung wie auch die Folgen einer »falschen« erfordern nicht nur psychosoziale und/oder pädagogische Lösungen, sondern eine Verzahnung von Hilfen und Maßnahmen mit politischem Handeln.

Solidarität ist ein altes kämpferisches Wort, das mir bei meinen Recherchen zu diesem Buch immer wieder, wenn auch manchmal nur in Nebensätzen, begegnete. Die Kulturanthropologin Regina Römhild spricht beispielsweise von neuen Formen der Solidarisierung über alle Grenzen hinweg und sieht in der Migration »die treibende Kraft in der (Um-)Gestaltung Europas« (2009). Solidarität als Kraft, die starke Verbindungen zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft und Sprachen schaffen kann, ist vielleicht auch die wiederentdeckte Haltung, die überraschend viele Deutsche und Europäer in der »Migrationskrise« zu Flüchtlingshelfern machte und viele von ihnen an die vergessenen Migrations-, Flucht- und Vertreibungsgeschichten in ihren eigenen Familien erinnerte. Solidarität als politische Haltung braucht es nach Ansicht der Herausgeberin auch in psychosozialen und pädagogischen Kontexten, in denen mit jungen Geflüchteten und ihren Familien gearbeitet wird. Diese Haltung geht über die an das Individuum und seine Kollektive gerichteten systemischen oder therapeutischen Haltungen hinaus und berücksichtigt auch diejenigen Kontexte, die wir möglicherweise nur in der politischen Auseinandersetzung verändern können.

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© Gerhard Mester

Psychosoziale und pädagogische Arbeit mit jungen Geflüchteten – die Themen dieses Buches im Suchdurchlauf

Psychosoziales Handeln mit jungen Geflüchteten findet in schwierigen und oft als repressiv erlebten Kontexten – Aufenthaltsstatus, drohende Abschiebung etc. – statt. In diesem Sammelband werden die aktuelle Gesetzeslage und politische Entscheidungen nur am Rande Erwähnung finden können, sie sollten aber als wichtige Einflusskriterien immer mit einbezogen werden.

Die Problemlagen junger Geflüchteter im Aufnahmeland können zusammen mit der Konstruktion kultureller Unterschiede psychosozialen Helfern6 überbordend erscheinen und die Angst vor Fehlern erhöhen. Die Psychologin Esther Kleefeldt plädiert in ihrem Text »Wissen vom eigenen Nichtwissen – Herangehensweisen, Handlungsmöglichkeiten und Hürden in Beratung und Therapie junger Flüchtlinge« dafür, das eigene Nichtwissen, neugieriges Fragen und experimentierfreudiges Kennenlernen zur Ressource im Beratungsprozess zu machen. Anhand anschaulicher Beispiele und der Benennung vieler Lebensfragen, die in der Arbeit mit jungen Geflüchteten auftauchen, zeigt sie auf, wie eine geduldige und konsequent wertschätzende und ressourcenorientierte Haltung und die Nutzung systemischer Basisinterventionen, z. B. Reframing und zirkuläres Fragen, den jungen Menschen helfen, ihren Alltag in der Fremde zu bewältigen, sich als selbstwirksam zu erleben und Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

In vielen deutschen Städten gibt es Initiativen, die gemeinsam mit jungen Menschen Theaterstücke, Konzerte oder andere Kulturprojekte entwickeln, bei denen die persönliche Betroffenheit der Geflüchteten zum Thema gemacht wird. Zuflucht Kultur e. V. aus Stuttgart z. B. kreierte mit Zaide. Eine Flucht eine Friedensoper7 zur Integration politisch Verfolgter. In dem Dokumentarfilm Cloud making machine der Filmemacherin Susanne Dzeik (2016; burning dox, Susanne Dzeik & Armin A. W. Eichhorn GbR) finden junge geflüchtete Neuberliner in einer Theatergruppe die Wärme einer Familie und offenbaren in bewegenden Videobriefen ihre Erlebnisse und Gefühle den Angehörigen und Freunden in ihren kriegsgeschüttelten Heimatländern. Der Traumatherapeut Alexander Korittko macht in seinem Beitrag »Flucht, Trauma und Chancen der Genesung« deutlich, wie sehr solche Projekte, die positiv konnotierte Gemeinschaftserlebnisse fördern oder Bewegung und körperliche Aktivität nahelegen, das Erleben von Selbstwirksamkeit erhöhen und so eine Stabilisierung von jungen Geflüchteten und Traumatisierten bewirken können. Er gibt einen guten Überblick über die aktuelle Traumaforschung und Beachtenswertes in der Traumapädagogik und beschreibt, wie Einrichtungen zum »Naturschutzgebiet für die Seele« werden können. Dabei bleibt die Selbstfürsorge der Helfer nicht unberücksichtigt: Den Gefahren einer sekundären Traumatisierung und Möglichkeiten der privaten wie auch der professionellen Psychohygiene widmet Korittko einen eigenen Abschnitt.

Die Jugendämter in Deutschland haben die uneingeschränkte Verpflichtung, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in ihre Obhut zu nehmen. Viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben geschützt in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. In vielen Kreisen und ländlichen Gebieten mussten infolge des Zustroms von Kindern und Jugendlichen zusätzliche Möglichkeiten der Inobhutnahme geschaffen werden. Der Pädagoge und Systemtherapeut Benjamin Bulgay thematisiert in seinem Beitrag »Mit Herz und Hirn – Systemische Arbeit mit unbegleiteteten minderjährigen Asylbewerbern (UMAs) im Rheingau-Taunus-Kreis« die Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit im Rheingau-Taunus-Kreis die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in einem ehemaligen Hotel zu organisieren. Der Autor, der selbst als Kind türkischer »Gastarbeiter« einen Migrationshintergrund hat, beschreibt Erfahrungen und Experimente der ersten Monate und das, was ihm und seinen Teams aus systemischer Perspektive am Herzen lag. Gelebte Integration durch starken Einbezug der dörflichen Nachbarschaften oder interkulturelle Kompetenztrainings durch Polizisten, Lehrer oder ehemalige Asylbewerber gehören zum Standardprogramm seiner Einrichtung.

In einem weiteren Text, »Systemisch-interkulturelle Arbeit mit Flüchtlingsfamilien«, beschreibt Benjamin Bulgay die kulturellen Besonderheiten von (vor allem) muslimischen Flüchtlingsfamilien. Hierzu gehören die hierarchischen Familienstrukturen, die Geschlechterrollen wie auch der Stellenwert von Bildung und Erziehung in diesen Familien. Interkulturelles Wissen und eine hohe Sensibilität werden von den Fachkräften eingefordert. In der Arbeit mit diesen Familien bewährt sich eine wertschätzende, geduldige und neugierige Haltung. In aufschlussreichen Beispielen werden typische Problemlagen in der sozialpädagogischen Arbeit und Möglichkeiten des Handelns aufgezeigt. Vom Ablauf eines erfolgversprechenden Hausbesuchs über den Umgang mit Tabuthemen bis hin zu Verhaltens- und Gesprächsanweisungen für Lehrer wird langjähriges systemisches Erfahrungswissen weitergegeben.

Laut Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) nutzen immer mehr Kommunen die Möglichkeit, junge, schutzbedürftige Flüchtlinge in Gast- oder Patenfamilien unterzubringen. Die Unterbringung im familiären Kontext bietet Chancen, sie unterliegt aber immer auch hohen Anforderungen und Standards, die unbedingt berücksichtigt werden sollten.8 Peter Bünder, Annegret Sirringhaus-Bünder und Bernhard Schumacher informieren in ihrem Beitrag »Auf einem guten Weg – Integrationsmöglichkeiten für minderjährige Flüchtlinge durch engagierte Paten- und Pflegeeltern. Ein Erfahrungsbericht«, wie in der kleinen Stadt Brühl im Rheinland versucht wurde, bei der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen neue Wege in der Jugendhilfe zu gehen: Eine besondere Kooperation des Brühler Kinderhauses Schumaneck mit zwei ehrenamtlichen systemischen Supervisoren ermöglichte den Start eines Projektes mit sechs Patenfamilien. Die Autoren beschreiben den Prozess des Ankommens der jungen Menschen und das gemeinsame interkulturelle Lernen und Verstehen in den Familien. Es wird erlebbar, wie die professionelle supervisorische Begleitung zu einem lebendigen, respektvollen und konstruktiven Umgang mit Gegensätzen und Unterschieden führt und so den individuellen und kollektiven Erfolg der Integrationsbemühungen für die jungen Geflüchteten unterstützen kann.

Thomas Hegemann und Nicolas Grießmeier