Robert Menasse

Ich kann jeder sagen

Suhrkamp

Inhalt

Beginnen

Lange nicht gesehen

Das Ende des Hungerwinters

Die blauen Bände

Chronik der Girardigasse

Der Geruch des Glücks

Die amerikanische Brille

Glück in Luxemburg

Ewige Jugend

Romantische Irrtümer

Die neuen Leiden des fremden Freunds

Aufklärung kommt vor dem Fall

Anekdoten mit Toten

Schluss machen

Alle Helden sind auch nur Söhne

Beginnen

Im Flugzeug von Wien nach Rio de Janeiro – Nein. Ich möchte neu anfangen. Als ich Eva zum ersten Mal küsste, hörten wir die Platte »Born to be wild«. Das ist sechzehn Jahre her. Als ich unlängst von der Arbeit heimkam, wehrte Eva meinen Versuch, sie zu küssen, ab, worauf ich in das Zimmer unserer Tochter schaute. Vanessa lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett und hörte »Born to be alive«. Sie öffnete nicht einmal die Augen. Ich – Nein. Ich möchte neu anfangen. Ich war ein sehr guter Student, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Es war, als steckte in mir eine bis zum Äußersten angespannte Stahlfeder. Mein Lehrer, Professor Schneider, gab mir zu verstehen, dass er von mir erwartete, das Studium mit Auszeichnung abzuschließen. Aber die Feder löste sich nicht, ich machte nicht den Sprung nach vorne, sondern verhedderte mich in Theorien. Ich studierte übrigens Wirtschaftswissenschaften. Ich schrieb eine Arbeit zum Thema »Heterodoxer Schock«. Die Methode des heterodoxen Schocks gilt als Mittel, eine darniederliegende Nationalökonomie durch eine bewusst herbeigeführte reinigende Krise zu sanieren, in der man völlig geänderte Bedingungen für einen neuen Aufschwung durchsetzt. Das war die Lehrmeinung. Ich plädierte aber dafür, diese Methode auch einmal bei saturierten, stabilen Volkswirtschaften anzuwenden, um auch diesen wieder das Gefühl von Aufbruch und Neubeginn zu geben. Diese These war ein Skandal. Am Ende musste ich froh sein, eine positive Abschlussnote zu bekommen. Seit damals – Nein. Ich will neu anfangen. Wahrscheinlich begann es schon, als ich zur Schule ging. Es war die Zeit, Ende der 60er-Jahre, als die Idee, man könne und müsse neu beginnen, alles anders und besser machen, zum allgemeinen Fetisch wurde. Dieser Zeitgeist, just wenn man in der Pubertät ist! Ich hörte »I want to hold your hand« und hielt Händchen. Ich hörte »Let’s spend the night together« und erregt – diskutierte ich über Gesellschaft, Establishment und Unterdrückung. Maria – hieß sie wirklich so? Egal, sie war die erste, mit der ich mir einen Sprung ins Leben vorstellte, in ein freies, intensives Leben. Maria wollte mich nicht küssen, aber sie fragte mich, warum ich diese seltsame Delle auf der Stirn habe. Ich versuchte nochmals, meinen Mund auf den ihren zu drücken, das heißt, ich stellte mir so intensiv vor, es zu tun, dass ich fast – Ich muss neu anfangen. Ich war ein sehr schüchternes Kind, so brav, dass man, wenn ich spielte, im Wohnzimmer das Ticken der Standuhr hören konnte. Ich habe – Nein. Ich muss neu beginnen. Die Delle. Ich war eine schwierige Geburt. Meine Mutter erzählte immer wieder, ich hätte sie fast umgebracht. Schließlich habe man eine Zange verwendet. Diese Stümper. Warum kein Kaiserschnitt? Stümper und Ignoranten, da waren sich Vater und Mutter einig, hätten ihr Leben kaputt gemacht. Und ich, an den schließlich die Aufgabe delegiert war, den sozialen Aufstieg der Familie zu schaffen, hatte nun diese Delle. Und – Nein. Ich muss neu beginnen. Wirklich am Anfang. Das hat mir meine Mutter erzählt: Genau im Moment meiner Zeugung habe mein Vater plötzlich gefragt: »Liebling, hast du auch die Standuhr im Wohnzimmer aufgezogen?« Diese Frage ausgerechnet in diesem Augenblick! Meine Mutter war schockiert und augenblicklich verkrampft. Dazu muss man die Geschichte dieser Uhr kennen, die – aber das führt zu weit. Ich müsste neu beginnen. Ich tat es. Wie viel Glas es auf einem Flughafen gibt! Das entdeckte ich erst, als ich abreiste, um neu anzufangen. Auf dem Weg zum Gate ging ich ununterbrochen auf Glaswände, auf Glastüren zu, in denen ich mich spiegelte. Jetzt, da ich wegging, traf ich endlich mich selbst. Eine Trennung ist eine abrupte Befreiung aus unproduktiven Verstrickungen, eine bewusst herbeigeführte reinigende Krise, im Grunde ein heterodoxer Schock. Im Flugzeug nach Brasilien hatte ich das Gefühl, dass eine innere Feder sich löste und dass sie es war, die den Start dieses Flugzeugs bewirkte. Meine Euphorie war so groß, dass ich meinte, mit Helium gefüllt zu sein, das mich ganz leicht machte und zugleich meine Außenwände straff nach außen drückte. Gab es da noch eine Delle, eine Beschädigung? Nein. Der Flugkapitän sagte die Flugzeit durch. Es sollte ein langer Flug werden. Aber gemessen an all meinen Anläufen würde er doch nur ein kurzer energischer Satz sein. Im Kopfhörer hörte ich dann das Lied »I’m the tiger«. Und ich dachte: Ja.

Lange nicht gesehen

Wenn ich ein abstraktes Bild sehe, sehe ich nichts als ein abstraktes Bild. Der Rorschachtest löst bei mir lediglich ein Wiedererkennen des Rorschachtests aus. Sehe ich eine schwebende Jungfrau, dann sehe ich eine Frau, die aufgrund einer Reihe von versteckten technischen Vorkehrungen des Magiers zu schweben scheint. Dafür, dass man die Vorkehrungen nicht sieht, wird der Illusionskünstler bezahlt, ich kann also auch hier meinen Augen trauen. Und im Hinblick auf die ewige Plausibilität der kleinen Welt, in der ich lebe, hat es den Affekt, dass ich wohl nicht richtig sehe, ohnehin nie geben können. Was alles möglich ist, weiß ich nicht. Aber wenn ich es sehe, weiß ich, dass es wirklich ist.

Das alles stimmt natürlich nicht, wie ich einsehen musste.

Nicht bloß deshalb, weil ich doch einmal mit eigenen Augen etwas gesehen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte. Aber damit hat es begonnen.

Wie jeden Abend machte ich mit meinem Hund eine Runde um den Häuserblock. Unzählige Male schon war ich bei meinen Abendspaziergängen an der Pik-Dame-Bar vorbeigegangen, ohne je auch nur auf die Idee gekommen zu sein, hineinzugehen. Warum ich an jenem Abend plötzlich eintrat, um ein Bier zu trinken, weiß ich nicht. Vielleicht war meine diffuse Lebenssehnsucht gerade stärker als meine Angst, die prinzipiell jede Enttäuschung einkalkuliert und sie daher vermeidet, vor allem wenn es so einfach ist wie beim Vorbeigehen an einem dubiosen Wiener Vorstadtlokal, auch wenn das Gelächter von drinnen bis auf die Straße dringt.

Ich muss den Eindruck eines Blinden gemacht haben, als ich mit meinem Hund in dem Lokal stand und hilflos mit weit aufgerissenen Augen durch die beschlagenen Brillengläser starrte. Was ich wie durch einen langsam sich lichtenden Nebel sah und ewige Augenblicke lang nicht glauben konnte, war eine Horde betrunkener und grölender Männer, die um einen Tisch herumstanden – auf dem die Lechner tanzte.

Die Lechner Maria. Ich kannte sie seit der Schulzeit als den Inbegriff des Braven und Biederen, wir waren in derselben Klasse gewesen. Nie hat sie jemanden abschreiben lassen, aus Angst, dass dies ihr eigenes schulisches Fortkommen beeinträchtigen könnte. Noch bei der Matura hatte sie zwei Zöpfe gehabt, natürlich hatte sie mit Auszeichnung bestanden. Unmittelbar nach der Maturaprüfung fuhr die halbe Klasse in die Stadt, um zu feiern. Wir waren überrascht, dass die Lechner mitkam – dann war sie die einzige, die mit der Straßenbahn nicht schwarzfahren wollte, und wir mussten endlos auf sie warten, weil sie erst irgendwo Vorverkaufsfahrscheine besorgen musste.

Getrunken hat sie dann nur Soda mit Himbeer. Verrucht ist uns die Webora vorgekommen mit ihrem ewigen süßen Martini. Die ist dann plötzlich mit dem Humer verschwunden, der hat überhaupt schon immer Ouzo bestellt.

Später habe ich die Lechner noch gelegentlich getroffen, immer nur durch Zufall, aber bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr ist sie ungebrochen das zehnjährige Mädchen geblieben, das brav seine Hausaufgaben macht. Mit vierundzwanzig hatte sie ihr Jusstudium abgeschlossen, mit fünfundzwanzig, nach dem Gerichtsjahr, die Richteranwärterprüfung bestanden und vier Jahre später die Übernahmsprüfung. Alles ist bei ihr stets glattgegangen, konfliktlos, ohne Ablenkung, im idealen Zeitplan, dann war sie Richterin, und ich hatte sie aus den Augen verloren.

Und jetzt, beinahe sechs Jahre später, sah ich sie also wieder – wie sie betrunken kreischend und lachend auf einem Tisch tanzte, von dem sie ständig herunterzustürzen drohte, während sie die Hände, die sich ihr entgegenstreckten, unter dem Vorwand, ihr Halt zu geben, verächtlich abwehrte, unter dem Vorwand, sie abzuwehren.

Die Musik, die den kleinen schummrigen Raum der Bar ausfüllte, kam aus einem Radio, wie ich merkte, denn als das Lied zu Ende war, kamen Nachrichten. Deutsche Demokratische Republik. Es sei begonnen worden, die Berliner Mauer abzureißen, sagte der Sprecher. Die Nachkriegsordnung löse sich auf. Nochmals war durch das Geschrei und Gelächter hindurch deutlich das Wort Nachkriegsordnung aus dem Radio zu hören. Maria stand auf dem Tisch, die Hände in die Hüften gestemmt. Plötzlich sah sie mich, sie lachte auf, entweder weil sie mich erkannte, oder weil die Männer, die ihr vom Tisch herunterhalfen, sie – nein, weil sie mich erkannt hatte, denn sie kam gleich zu mir. Sie hatte diesen starren, glänzenden Blick von Glasaugen, die in einer weichen Maske stecken, die jederzeit zu zerfließen droht. Sie stolperte, beinahe wäre sie mir, aufkreischend, um den Hals gefallen. Servus Holzer, sagte sie. Lange nicht gesehen.

Mein Hund begann zu bellen, ich hatte einen Schweißausbruch, die Augengläser, die beinahe wieder klar waren, liefen neuerlich an. Das müssen wir feiern, sagte sie, aber nicht hier.

An den engen rosa Pulli der Kellnerin, die plötzlich vor mir stand, kann ich mich noch erinnern, ganz kurz der Gedanke an einen gläsernen Frauenkörper, gefüllt mit Soda mit Himbeer, die große schwarze Kellnerbrieftasche, die sich wie ein dunkler Schlund öffnete, auf dessen Grund es glitzerte, ein Arm in blau-weiß gestreiftem Hemd, der von irgendwoher kam und, ich weiß nicht wie und von wem, weggeschlagen wurde, so viel Bewegung unmittelbar um mich herum, und ich war so starr.

Auf der Straße hängte sich Maria bei mir ein. Erzähl! Ich musste plötzlich lachen. Ich hatte nichts zu erzählen.

Ich habe bisher ein Leben geführt, von dem nur erwähnenswert ist, dass es in eigentümlicher Konsequenz nie einer Erwähnung wert war. Als ich einmal einen gewissen Stolz zu empfinden begann, dass ich ein aufsehenerregendes Leben führte, merkte ich allzu bald, dass der banale Anlass dieses Stolzes bloß dumme und belanglose Schülerstreiche waren. Als ich dann einmal glaubte, der Meinung sein zu dürfen, dass ich ein kämpferisches und intensives Leben beginne, merkte ich, dass ich konsequenzlose studentische Scharmützel beinahe allzu wichtig genommen hätte. Als ich mein Studium abbrach, trat ich in eine Bank ein, in der ich noch heute arbeite.

Mein Leben seitdem lässt sich erst recht in beschämend wenigen Worten vollständig beschreiben: Pünktlichkeit, Freundlichkeit und jener Fleiß, der seine Objekte in derselben harmonischen Geschwindigkeit sich vermehren sieht, wie er sie wegerledigt. Ich habe nicht den Wunsch, eine Autobiographie zu schreiben, aber der Gedanke, dass, hätte ich den Wunsch, diese schon mit dem Kauf von Papier fertiggestellt wäre, da sie füglich nur aus leeren Seiten bestehen müsste, irritierte mich sehr. Diese Unzufriedenheit ist unverständlich, denn ich habe keine Sorgen. Aber sie ist verständlich, denn ich bin nie glücklich gewesen.

Ich gerate meinem Vater nach. Er ist ein korrekter Mann, freundlich ohne Überschwang, mit einer stillen, ewig ängstlichen Frau, meiner Mutter.

Ich wäre lieber nach meinem Großvater gekommen.

Im Jahr 1968, ich war gerade vierzehn, hat er mir zum ersten Mal aus seinem Leben erzählt. Im Februar 1934 hat er als Sozialist am Arbeiteraufstand teilgenommen, später im Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden gekämpft, dann ist er in die englische Emigration gegangen und mit der British Army als Befreier zurückgekommen. Ist auch kein Sieg gewesen, hat er gesagt. Warum? Schau dich doch um. Na, du wirst schon noch sehen, was ich meine. Und angerechnet wurde uns das auch nie, die ganzen Jahre des Kampfes, nicht einmal für die Pension. Heute reicht’s gerade dazu, auf einem Parkbankerl zu sitzen. Soll ich vielleicht Tauben füttern? So grausliche Viecher.

Als Großmutter schwer krank wurde, haben sie gemeinsam eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt. Damals war ich siebzehn und bin in der Schule fast durchgefallen.

Mein Selbstgefühl habe ich in jener Zeit sicherlich aus der Verachtung bezogen, die ich für all die empfand, in deren Leben immer alles so glatt, problemlos und harmonisch ablief, dass ihnen stets die richtige Antwort, aber nie eine Frage einfiel. Ich verachtete also fast alle, natürlich auch die Lechner. Ich war überrascht, wie sehr ich das Wiedertreffen mit ihr genoss. Jetzt, mit fünfunddreißig, war sie plötzlich eine Achtzehnjährige, bei der sich das simple Hochgefühl, das man empfinden mag, wenn man schon rauchen darf, grotesk übersteigert zeigte. Aber es hatte einen Sog, von dem ich, ängstlich und verspannt, also auf unklare Weise augenblicklich erregt, mitgerissen wurde. Und als wir nach einem Lokalbummel, der meine Kräfte beinahe überstiegen hätte, zusammen ins Bett gingen, da hatte ich das Gefühl, von Maria erst zum Mann gemacht zu werden. Ich meine dies in Hinblick auf die eigentümlichen Idealbilder, die gesellschaftlich von Männlichkeit und Weiblichkeit existieren und die in der Sexualität im Ideal einer Lust kulminieren, die ich nur aus Pornofilmen kannte, die mir aber in meinem eigenen Leben unerreichbar schien. Ich wurde von Maria in einer Weise mit Lust bedient, während ich selbst die überraschendsten Ekstasen bei ihr auszulösen imstande war, dass ich – ich kann es nicht anders sagen – plötzlich ein anderer war.

Und ich sah jetzt auch die Welt mit anderen Augen. Mit Verwunderung fragte ich mich, wie es möglich war, dass sie mir so fraglos selbstverständlich werden konnte, und wie mir hatte genug sein können, was sie mir bot. Dieses Geregelte, das sich so unermüdlich in sich selbst erschöpfte, dieses glatte Funktionieren, für das man in der Regel mit keinem Genuss belohnt wurde.

Natürlich habe ich Maria gegenüber sofort ein gewisses Suchtverhalten entwickelt. Wir waren zwei in die gerade Bahn geworfene Menschen, die plötzlich entdeckt hatten, dass die lustvolle Ausgelassenheit und Narretei des Faschings, den ich auch nie lustvoll erlebt hatte, jederzeit hergestellt werden konnte. Wie viele Lokale es in der Stadt gab und wie viele Genüsse, die wir uns leisten konnten! Und wie viele Orte für die Liebe! Und nie musste man sagen: Ich liebe dich. Und nie musste man verschweigen: Ich dich nicht. Denn wir waren kein Liebespaar, sondern gewissermaßen Kollegen, die ein gemeinsames Interesse pflegten, nämlich die Herstellung von Ausnahmen.

Ausnahmen, die zur Regel wurden. Wir vereinbarten Exzesse nach dem Terminkalender, konsumierten Genüsse, die auf einem Markt angeboten wurden, der genauso durchkalkuliert war wie die Geschäfte der Bank, für die ich arbeite. Und plötzlich produzierten all diese Reize nur neue Sehnsüchte: nach einem Erholungsurlaub, nach Reformkost und Obstsäften, nach einem guten Fernsehprogramm.

Wenn ich in der Früh aufwachte, war mein Gesicht aufgedunsen, und meine Augen waren verschwollen. Zwei Aspirin gegen die Kopfschmerzen wurden mir bald zur Gewohnheit, so wie früher das Frühstücksei. Vor der Arbeit noch die Zeitung zu lesen gelang mir kaum mehr, mein Blick wanderte über die Zeilen, ohne dass ich verstand, was ich las. Wenn ich zu Fuß durch den Stadtpark zur Arbeit ging, hatte ich Erstickungsängste im Sturm der Tauben, die wie riesige graue Flocken um die alten Frauen mit ihren Futtertüten wirbelten.

Als ich Maria vergangenen Freitagabend von zu Hause abholte, wollte sie, bevor wir ausgingen, erst die Nachrichten im Fernsehen anschauen. Es ist toll, sagte sie, es passiert ja jetzt jeden Tag etwas Überraschendes. Sowjetunion, DDR, Tschechoslowakei. Schau dir das an, sagte sie. Sie wirkte müde und abgespannt. Als die innenpolitischen Nachrichten kamen, begann sie zu erzählen, was für einen unglaublichen Fall, wie sie sagte, sie heute im Gericht habe bearbeiten müssen. Eine Zumutung, sagte sie, womit sie sich herumschlagen müsse.

Es ging um ein Verfahren über die Bestellung eines Sachwalters. Ich fragte sie, was das sei. Auf deutsch gesagt, ein Entmündigungsverfahren, sagte sie. Für eine Person, die an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist und alle oder einzelne Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen imstande ist, ist auf ihren Antrag oder von Amts wegen ein Sachwalter zu bestellen. Gut, also stell dir vor: Ein neunundachtzigjähriger Mann geht immer wieder blind im ersten Bezirk herum, rempelt die Leute an, stolpert, reißt Menschen fast nieder, kurz: erregt öffentliches Ärgernis. Der Mann wurde polizeibekannt, weil es immer wieder Hinweise auf der Polizeiwachstube gab, Beschwerden, sogar Anzeigen, oder weil es auf der Straße zu Szenen kam, bei denen vorbeikommende Polizisten einschreiten mussten und so weiter. Das Problem entstand ja vor allem dadurch, dass der Mann sich nicht als Blinder kennzeichnete, etwa durch eine Blindenschleife, und auch keine Hilfsmittel verwendete, die einem Blinden ein selbständiges Bewegen auf der Straße ermöglichen, also zum Beispiel einen Blindenstock oder einen Blindenhund. So ein Blindenhund ist ja sehr praktisch, wie du weißt, du hast ja selbst einen, sagte sie grinsend. Kurz und gut, es stellt sich heraus, der Mann ist gar nicht blind. Er hat keinen Blindenausweis, und er war bei einer Einvernahme durch einen Beamten im Kommissariat Innere Stadt geständig, außer einer Altersweitsichtigkeit keine Beeinträchtigung seines Sehsinns zu haben. Er wurde abgemahnt, aber in der Folge hat er diese Vorspiegelung von Invalidität, so steht es in meinen Akten, Vorspiegelung von Invalidität fortgesetzt, was zu regelmäßigen Störungen der öffentlichen Ordnung führte. Daraufhin hat die Polizei das Gericht veranlasst, ein Verfahren einzuleiten. Da dem Mann keine Betrugsabsicht nachgewiesen werden kann, etwa Erschleichung einer Invalidenrente – er hat ja nicht einmal die Menschen auf der Straße angebettelt, im Gegenteil, er hat sie niedergerannt –, kam es natürlich zu keinem Strafprozess, und plötzlich habe ich die Akte auf meinem Schreibtisch im Pflegschaftsgericht und soll klären, ob ein Sachwalter bestellt werden muss. Mit so einem haarsträubenden Unsinn muss ich meine Zeit verbringen, sagte Maria.

Ich fragte sie, warum denn der Mann so getan habe, als ob er blind sei.

Eben, sagte sie, das habe ich auch wissen wollen. Ich habe also einen Termin für seine Anhörung gemacht, und die war heute. Der Mann ist einfach ein Querulant, glaube ich. Weißt du, was er gesagt hat? Mir ist bekannt, hat er gesagt, dass Invalidität das begehrteste Privileg in Österreich und daher das Lebensziel jedes Österreichers ist. Aber er wolle sich weder als Invalide ausgeben, noch sonst ein Privileg haben. Und schon gar keine Almosen. Aus diesem Grund habe er auch die sogenannte Ehrengabe nicht angenommen, diese viertausend Schilling, die die Republik Österreich den Überlebenden der Judenverfolgung gespendet hat. Es sei einfach so, hat er gesagt, dass er einfach nicht mehr sehen könne, was man sieht, wenn man offenen Auges durch die Straßen geht. Es sei also ein natürlicher und gesunder Reflex, dass er davor die Augen verschließe. Ich habe ihn gefragt, was denn so schrecklich an dem sei, was es zu sehen gebe. Daraufhin hat er mir elendslang sein Leben erzählt, ich habe versucht, ihn zu unterbrechen, aber er hat einfach immer weitergeredet. Er soll meine Frage beantworten, habe ich gesagt. Genau das versuche ich ja, hat er geantwortet.

Ich fragte Maria, was er denn erzählt habe.

Was weiß ich, sagte sie, er hat geredet und geredet, sein ganzes Leben wollte er mir erzählen, du kannst dir ja vorstellen, ich meine, das ist ja bekannt, dass es sehr schwierig war für diese Generation. Aber ich halte eben diese alten Männer nicht mehr aus, die heute noch so gern vom Krieg erzählen, oder vom Bürgerkrieg.

Welcher Bürgerkrieg, fragte ich. Erste Republik oder Spanien?

Wie bitte? Ach so, Spanien. Ja, von Spanien wollte er auch erzählen, glaube ich, ich weiß es wirklich nicht, viel gekämpft hat er halt, und so habe ich ihn noch einmal gefragt: Was ist denn das Schreckliche, das Sie sehen, sind das die Bilder aus der Vergangenheit, die Sie nicht losbekommen?

Der Fernsehapparat lief übrigens noch immer. Jetzt begann die Werbung zwischen dem Wetterbericht und den Kulturnachrichten. Ich war hochgradig irritiert, wollte am liebsten aufstehen und den Apparat ausschalten, befürchtete aber, Maria zu unterbrechen.

Nein, hat der Alte gesagt, es sind die Bilder der Gegenwart. Ich verstehe das nicht, habe ich gesagt, er könne doch froh sein, dass es Frieden gibt und nicht mehr diese politischen Wirren und dieses furchtbare Elend. Und dann sagte er: Na, sehen Sie es denn nicht, Frau Rat? Nein, habe ich gesagt, ich sehe nicht, was so furchtbar sein soll. Darauf er: Sehen Sie, Frau Rat, ich möchte mich jetzt, auf meine alten Tage, besser anpassen, drum mache ich eben die Augen zu, damit ich es auch nicht sehe.

Das hat er gesagt?, fragte ich.

Ja, sagte Maria, der Mann ist krank im Kopf.

Und was hast du gemacht?

Nichts. Ich hatte nur zu klären, ob die Voraussetzungen für Sachwaltschaft vorliegen. Die liegen nicht vor. Ich kann ihm ja nicht einen Sachwalter mitgeben als Blindenhund. Der Mann rennt wahrscheinlich jetzt gerade wieder als Blindgänger in der Stadt herum. Ein kleiner Spinner, was willst du machen?

Ich saß zurückgelehnt da, mit geschlossenen Augen, in meinem Kopf hallte Marias Stimme nach und dröhnte eine Waschmittelwerbung.

Können wir nicht diesen verdammten Apparat ausschalten? fragte ich.

Nein, warte, sagte sie, ich will noch die Kultur sehen.

Ich war nicht mehr imstande, ein Wort mit ihr zu reden. Sie merkte natürlich bald, dass etwas zerrissen war, auch wenn sie offenbar nicht verstand, warum.

Wir gingen essen, sprachen aber kein Wort, ausgenommen beim Bestellen. Ich trank schneller und mehr als gewöhnlich. Maria sah mich fragend an. Als sie mich schließlich fragte, was ich denn hätte, verstand ich nicht gleich. Ich hatte meine Sinne nicht beisammen. Ich hatte erwartet, eine Sprechblase zu sehen, wenn sie etwas sagt, und das Gesagte lesen zu müssen und nicht zu hören. Aber ich konnte den Satz nicht sehen. Was hast du denn?, fragte sie nochmals.

Ich gab keine Antwort. Als ein Rosenverkäufer das Lokal betrat, beugte sich Maria weit über den Tisch zu mir herüber, berührte mich am Arm und sagte: Schenk mir eine Rose und lass mich allein!

Das Ende des Hungerwinters

»Der Affe brachte uns das Essen«, sagte mein Vater, machte eine Pause, »und ein Buch.« Jetzt wie immer die längere Kunstpause. »Das war meine erste bewusste Erinnerung.« Und meine. Denn ich selbst habe keine anderen Erinnerungen als die des Vaters und der Großeltern – nach ihren Erfahrungen und Erzählungen hatte alles, was ich selbst erlebte, nie eine bleibende Bedeutung haben können. Und immer bin ich ermahnt worden, dankbar dafür zu sein, dass ich in meinem nachgeborenen Leben nichts hatte erleben müssen. »Erleben« gab es in meiner Familie immer nur zusammen mit »müssen«, und wenn man Glück hatte, dann musste man nicht.

Alle starrten meinen Vater an. Ich konnte nicht glauben, dass sie diese Geschichte noch nicht gehört hatten: wie er mit seinen Eltern das letzte Kriegsjahr überlebt hatte – versteckt im Schimpansenkäfig des Amsterdamer Zoos. So oft hatte er diese Geschichte erzählt.

Es war der Leichenschmaus nach Großvaters Begräbnis. Meine Großeltern waren bereits Anfang 1934 wegen der Nazis von Dortmund nach Amsterdam gezogen, mein Vater ist erst hier zur Welt gekommen, 1939, also war er ein gebürtiger Holländer, geboren in den damals noch freien Niederlanden. Die Großeltern hatten sich sehr schnell assimiliert und waren stolz darauf, die Landessprache perfekt zu beherrschen, auch wenn sie immer noch Heine und Schiller lasen und untereinander manchmal in der Sprache Heines oder Schillers redeten. Auch beruflich hatte Opa rasch Fuß fassen können. Er sagte immer: »Ich bin in Deutschland geboren, aber ich habe in Holland meine Heimat gefunden!«

Vater aber war im Zweifelsfall ein mof, ein Klischeedeutscher. Leichenschmaus, das ist in Amsterdam völlig unüblich. Nicht, dass ich diese Tradition schlecht fände, aber es ist nicht unsere. Als Jude hätte er zum Shiva-Sitzen einladen können, als Amsterdamer zu koffie met cake. Aber durch seine Heirat mit Karin, einer Deutschen aus Paderborn, war er endgültig im Nichts angekommen: nirgends mehr zu Hause, ein Amsterdamer jüdischer mof