Über Micah White

Micah White hat die Bewegung Occupy Wall Street mitgegründet. Er blickt auf über zwanzig Jahre innovativen Aktivismus zurück. Seine Essays und Interviews werden weltweit veröffentlicht. The New Yorker nannte ihn einen der einflussreichsten jungen Denker der heutigen Zeit. Micah White lebt mit Frau und Tochter in einer Kleinstadt an der Küste von Oregon.

Dr. Helmut Ettinger ist Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Er übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Gusel Jachina, Polina Daschkowa, Darja Donzowa und Sinaida Hippius, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger, Roy Medwedew, Valentin Falin, Antony Beevor, Lew Besymenski und viele andere ins Deutsche.

Informationen zum Buch

»Nahezu alles Gute in dieser Welt ist das Ergebnis von Protesten und harten Kämpfen.« Micah White.

Micah White, Mitbegründer von Occupy Wall Street, schreibt schonungslos selbstkritisch über seine Zeit in der aktiven Protestszene und zieht eine Bilanz der internationalen Protestgeschichte. Dabei stellt er fest: Protest allein kann Regierungen weder zum Zuhören noch zum Handeln zwingen. Wir brauchen eine neue Form der Rebellion. Wie das funktionieren kann, beschreibt Micah White rasant und eindrucksvoll in seinem Buch. Er liefert konkrete Strategien und Taktiken für eine erfolgreiche, weltweite Revolution. Seine Anleitung ist ein leidenschaftlicher Appell an alle Aktivisten der Zukunft.

»Micah White ist ein Stratege, eine neue Art Revolutionär.« Andy Merryfield.

»Viele Bücher sagen uns, warum wir protestieren sollen, dieses Buch sagt uns, wie.« J.B. MacKinnon.

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Micah White

Die Zukunft der Rebellion

Eine Anleitung

Aus dem Englischen von Helmut Ettinger

Für Chiara: Dein Licht hat mich verändert.

Und für all jene, die nie zweimal auf die gleiche Weise protestieren.

Danke.

Stimmen zum Buch

»Micah White liefert uns eine Draufsicht auf das Schlachtfeld dynamischer gesellschaftlicher Veränderungen, auf dem ständig Bewegung herrscht. Neue Kriege erfordern eine neue Kampfkunst, um erfolgreich zu sein.«

LUPE FIASCO, Rapper und Hip-Hop-Künstler

»Micah ist ein Genie im Durchdringen komplexer Systeme. Er ist die moralische Stimme einer denkenden Generation. Seine Schlüsse sind einfach, wahr und überraschend.«

ROSEANNE BARR, Schauspielerin

»Anhand seiner Erfahrungen mit der Occupy-Bewegung fordert Micah White kühn die Protestroutine heraus, in der viele Streiter für soziale Gerechtigkeit gefangen sind. Seine Kritik an den sozialen Bewegungen von heute drängt sie, ein höheres Niveau anzustreben, und lässt uns hoffen, dass die Revolution für eine bessere Welt bereits im Gange ist.«

PAM PALMATER, Professorin, Anwältin der Mi’kmaq-Indianer, Sprecherin und Erzieherin der Idle-No-More-Bewegung mehrerer kanadischer Indianerstämme

»Die Zukunft der Rebellion ist ein fesselndes historisches Dokument, ein Kampfaufruf, eine Anleitung und ein selbstkritischer Blick auf die Occupy-Bewegung von einem ihrer Mitbegründer. Das Buch zeichnet die Geschichte des Protests in Nordamerika nach und bietet eine neue Vision, Strategie und Taktik für die friedliche Revolution einer horizontalen weltweiten Bewegung. Eine inspirierende Pflichtlektüre für jeden Aktivisten.«

CARMEN AGUIRRE, Schriftstellerin, Autorin von Mexican Hooker #1 und Something Fierce, Trägerin des Preises »Canada Reads«

»Micah White lässt einen leidenschaftlichen Weckruf an die Aktivisten erschallen, den Protest neu zu erfinden. White stützt sich dabei auf Jahrzehnte eigener Erfahrung und die Bilanz der Geschichte. Dies ist ein ausgesprochen lesbares Buch voller Weisheit und praktischer Ratschläge, um im 21. Jahrhundert die Wirkung des Andersdenkens wiederzubeleben.«

GABRIELLA COLEMAN, Autorin von Hacker, Hoaxer, Whistleblower, Spy

»Die Zukunft der Rebellion ist ein informatives, inspirierendes Buch für Aktivisten jeder Couleur. Wie White den ›mentalen Umweltschutz‹ herausstellt, ist brillant.«

ALEX EBERT, Leadsänger von Edward Sharp and the Magnetic Zeros

»Micah White ist ein Stratege, eine neue Art Revolutionär. Er weiß, dass Widerstand nicht in erster Linie das ist, was du tust, sondern was du bist: Er durchdringt dich ganz und gar, dein innerstes Sein, deinen Glauben, deine Hoffnung auf Demokratie, deinen Hass auf die Großkonzerne, dein ganzes geistiges Umfeld. Dieses Buch ist Rules for Radicals*1 für die Weltpartei, die erst noch kommen muss.«

ANDY MERRYFIELD, Autor von The Wisdom of Donkeys und Magical Marxism

»Micah White argumentiert überzeugend, dass die heute praktizierten Protestformen sich überlebt haben. Er weist die Richtung, wie sie erneuert werden können und müssen. Sein Buch ist eine Liebeserklärung an die Aktivisten der Zukunft.«

MICHAEL HARDT, Mitautor der Empire-Trilogie (Empire, Multitude, Commonwealth)*2

»Furchtlos klar und radikal offen weist Micah White dem Protest den ihm gebührenden Platz zu – unter den stärksten Kräften, welche die Geschichte geprägt haben. Dann enthüllt er die Protestkultur als ebenso überlebt wie die Strukturen, die sie stürzen will. Sie braucht dringend eine ›rücksichtslose Erneuerung‹. Viele Bücher sagen uns, warum wir protestieren sollen, dieses Buch sagt uns, wie

J. B. MacKINNON, Autor von The Once and Future World

»Präsident Kennedy hat gesagt: ›Wer eine friedliche Revolution unmöglich macht, wird eine gewaltsame Revolution unvermeidlich machen.‹ Eine der drängendsten Existenzfragen unserer Zeit ist, wie wir auf diese Hypothese antworten. In Die Zukunft der Rebellion weist Micah White dieser Debatte die Richtung, indem er ein tiefes Verständnis für Geschichte und politische Philosophie mit einem aufregenden Sinn für die Möglichkeiten der Zukunft verbindet.«

MARIANNE WILLIAMSON, Autorin von A Return to Love*3

»Micah White vermittelt uns eine zutiefst aufrichtige, mutige und letztlich optimistische Sicht darauf, wie die Menschen eine bessere Welt errichten können und warum das noch nicht gelungen ist. Das Buch ist so voller Einblicke und Ideen, dass man einigen zustimmen und andere hinterfragen muss. Aber der Leser wird herausgefordert und dadurch klüger. Dieses Buch ist dringend nötiger Treibstoff für eine leidenschaftliche Revolution des Volkes.«

JONAH SACHS, Autor von Winning the Story Wars

»Die Zukunft der Rebellion ist nichts Geringeres als ein neues Paradigma für den Widerstand. Es wird ganz sicher eine heftige und notwendige Debatte darüber auslösen, wie gegen Unterdrückung vorzugehen ist und worin der Sieg besteht.«

DOUGLAS RUSHKOFF, Autor von Throwing Rocks at the Google Bus und Present Shock*4

Inhaltsübersicht

Über Micah White

Informationen zum Buch

Newsletter

Stimmen zum Buch

Vorwort

Einleitung: Du wirst gebraucht

Erster Teil: Heute

Die Entstehung von Occupy

Ein konstruktiver Fehlschlag

Der entscheidende Moment

Das Ende des Protests

Ich bin ein Aktivist

Der Sinn des Protests

Eine einheitliche Revolutionstheorie

Zweiter Teil: Gestern

Die nahe Vergangenheit der Rebellion

Die ferne Vergangenheit der Rebellion

Dritter Teil: Morgen

Schutz der mentalen Umwelt

Die Zukunft der Rebellion

Drei Szenarien für die nächste revolutionäre Situation

Innovation führt zum Sieg

Acht Prinzipien der Revolution

Schlussbemerkungen

Ein politisches Wunder

Eine Prophezeiung

Ein letztes Wort an jene, die nach uns kommen

Anhang

Anmerkungen

Fußnoten

Auswahlbibliographie

Dank

Impressum

»Revolutionär sein ist wie verliebt sein. Verliebte glauben, dies sei in ihrem Leben noch nie jemand anderem passiert. Daher lernen sie auch nicht von anderen und machen immer wieder die gleichen Fehler.«

Paul N. Rosenstein-Rodan, Ökonom, 1974

»All Day, All Week, Occupy Wall Street!«

Lupe Fiasco, amerikanischer Rapper, 2011

Vorwort

»Also – ihr 90 000 Erlöser, Rebellen und Radikale dort draußen … Wir wollen, dass am 17. September 20 000 Leute nach Lower Manhattan strömen, dort Zelte, Küchen und friedliche Barrikaden aufbauen und mehrere Monate lang die Wall Street besetzen.«

Mit diesem flammenden Aufruf wurde ein weltweiter Aufstand losgetreten. Das Getöse war enorm, die Stimmung ansteckend. Binnen weniger magischer Wochen des Jahres 2011 flog das Occupy Wall Street Mem in Windeseile von Stadt zu Stadt, griff von Bankenvierteln auf öffentliche Parks über: Occupy Toronto, Occupy Oakland, Occupy Vancouver, Occupy London, Occupy Sydney … In 951 Städten von 82 Ländern schossen Feldlager wie Pilze aus dem Boden. Viele empfanden es als ein überwältigendes Erlebnis: Das Event war in ihnen – sie waren das Event. Die Teilnehmer verloren jede Furcht, setzten das normale Funktionieren der Gesellschaft aufs Spiel, erschienen nicht mehr zur Arbeit, lebten ohne Atempause,*5 sich der Bedeutung des Augenblicks voll bewusst. Occupy feierte Menschen, die endlich sie selbst wurden und sich restlos hingaben. Die kollektive Kreativität der Menschheit freizusetzen war das Credo unserer Bewegung.

Occupy Wall Street war ein politisches Wunder, ein Bruch, der die Wirklichkeit neu bestimmte, die Grenzen des Möglichen weitete, die Teilnehmer das Gute und Wahre in sich entdecken ließ. Ohne Führer wurden wir alle zu Führern. Wunderbare Ideen brauchten nicht auf Genehmigung zu warten. Wenn jemand eine Volksbibliothek zu gründen wünschte, dann machte man ihm oder ihr Mut, und Buchspenden flossen. Wer eine Demo organisieren wollte, hatte das Recht dazu, und die Menschen schlossen sich an. Tausende Hungrige wurden von den freien Küchen der Bewegung versorgt. Unsere Lager zogen die Menschen an, weil sie einen Raum außerhalb der üblichen Regeln der hierarchischen Konsumgesellschaft darstellten. Viele erlebten bei Occupy zum ersten Mal radikale Demokratie. Die Freiheit war berauschend.

Eine bessere Welt schien möglich, sie war bereits im Entstehen. Die Mauer zwischen ironischer Distanz und glühender Hoffnung war endlich gefallen.

Im schwindelerregenden Fieber dieser gesellschaftlichen Erhebung glaubten wir die Revolution zum Greifen nah. Angesichts dessen sollte man unsere Naivität verzeihen.

Die Lager wurden schließlich von paramilitärischen Kräften geräumt. Occupy verflüchtigte sich, in den Bankenvierteln weltweit zog wieder Normalität ein. Und doch wird nichts mehr so sein wie früher, als die Menschen die Kraft einer globalen sozialen Bewegung noch nicht gespürt hatten.

Als der NSA-Whistleblower Edward Snowden nach seiner Meinung gefragt wurde, weshalb sich unsere Bewegung auflöste, erklärte er, Occupy habe die Grenzen unserer Art des Protests sichtbar gemacht: »Occupy Wall Street stieß an seine Grenzen, weil es den Lokalbehörden gelang, uns ein Bild davon zu suggerieren, was ziviler Ungehorsam tatsächlich ist – schlicht unwirksam.«1

Zu Recht wirft Snowden den Behörden Gegenmaßnahmen vor, durch welche die Protestierenden nur vergebliche, performative, rein symbolische Akte ausüben können. Sie müssen für Protestaktionen Genehmigungen einholen, die Organisatoren werden dazu gedrängt, bei der Vorbereitung geplanter Festnahmen mit den Behörden zu kooperieren. Redefreiheit wird dort gewährt, wohin sich keine Zuhörer verirren. Die Teilnehmer werden gezwungen, auf dem Gehweg zu demonstrieren statt den Verkehr zu blockieren. All das wurde erdacht, um den Aktionen die Wirkung zu nehmen und zu verhindern, dass Rebellion zu gesellschaftlichen Veränderungen führt.

Auch damit hat Snowden recht: Die Aktivisten müssen ihren Teil der Verantwortung dafür tragen, dass sie an gescheiterten Protestformen und überholten Theorien für soziale Veränderungen festhalten. Allzu oft greifen sie zu Taktiken, die sich über die Jahrzehnte abgenutzt haben und heute einfach scheitern müssen. Die Behörden ermutigen sie zu solchen nostalgischen Protestritualen, weil diese nach einem bekannten Schema ablaufen und leicht zu kontrollieren sind. Sie mögen früher einmal Wirkung gezeigt haben, aber die Zeiten haben sich geändert. Doch wir folgen nach wie vor einer vagen Theorie von gesellschaftlichem Wandel, den der Aktivist Peter Gelderloos einmal so beschrieben hat: »Wir protestieren, protestieren und protestieren, bis ›das Volk‹ sich schließlich erhebt und der Staat zerfällt, oder so ähnlich.«2 Der erste Schritt, um wahrhafte Veränderung zu erreichen, besteht darin, für das Scheitern des Paradigmas »Protestieren, protestieren und protestieren« Verantwortung zu übernehmen. Das beginnt mit der Einsicht, dass der Protest von heute gescheitert ist, und dem Willen, den Schaden zu beheben.

Wenn man ein wirkungsloses Paradigma überwinden will, muss man es durch ein neues ersetzen. Occupy war ein Geschenk an die Aktivisten in der ganzen Welt, die jetzt nach dem nächsten Paradigma für gesellschaftliche Bewegungen suchen. Es war ein Weckruf, sich von diesem Szenarium des Protests loszusagen und das Prinzip gesellschaftliche Veränderungen durch kollektive Aktion neu zu überdenken. Die Lehre für unsere Bewegung lag vor allem darin, endlich die Herausforderung anzunehmen, vor der bisher jede Generation von Revolutionären gestanden hat: die neue Protestform zu finden, die sich in der gegenwärtigen historischen Situation als wirksam erweist.

»Eine Revolution ist kein Theaterstück! Dort gibt es keine Zuschauer! Jeder und jede ist beteiligt, ob sie das wissen oder nicht.«

The Weather Underground, 1968

Einleitung: Du wirst gebraucht

Du sehnst dich nach einem Protest, der allen Protesten ein Ende setzt, nach der ultimativen Revolution, welche die Ungerechtigkeit beseitigt und die Gesellschaft von Grund auf verändert. Du träumst von einer besseren Welt, in der Protest nicht mehr gebraucht wird. Du willst ihn so wirksam gestalten, dass deine Ideale Wirklichkeit werden. Ein Ende des Protests bedeutet für dich die Einstellung aller Aktionen, denn deine Arbeit ist getan und das Ziel deines Kampfes erreicht. Du verstehst, dass das Ende des Protests selbst eine Revolution ist.

Dieses Buch bietet dir Werkzeuge an, um die Transformation der Gesellschaft zu beschleunigen. Da du begreifst, dass der Protest ein Mittel von vielen für soziale Veränderung ist, greife nach dem, das wirkt, und trenne dich von den übrigen.

Solltest du dich durch die Revolution bedroht fühlen, Bewegungen wie Occupy fürchten oder verachten, solltest du zu diesem Buch gegriffen haben, um den Protesten ein Ende zu setzen und jeden Widerspruch zu ersticken, dann wisse, dass es auch für dich geschrieben wurde. Der Aufstand braucht immer Menschen, die sich, aus einer Machtstellung kommend, zur Sache bekennen – Polizisten, die die Seiten wechseln, Insider, die zu Whistleblowern werden, Politiker, die die Forderungen des Volkes anerkennen. Du magst heute noch gegen uns sein, morgen schließt du dich uns an. Unsere Bewegung wird stärker, je mehr Bekehrte dazugehören. Sie begreifen die Irrwege der alten Welt, denn sie haben sie selbst verkörpert.

Du magst jene, die auf die Straße gehen, mit Skepsis betrachten und für rücksichtslos halten. Die haben wohl nichts zu verlieren; du hingegen hast so hart gearbeitet, um Stellung, Wohlstand und Ansehen zu erreichen. Vielleicht teilst du nicht ihre Wut. Vielleicht glaubst du, dass zu einer guten Gesellschaft auch ein paar Revolten gehören. Aufruhr hat in der Tat viele unangenehme Seiten. Revolutionen arten zuweilen in Gewalt aus und bringen immer Folgen mit sich, die nicht beabsichtigt waren. »In einer Gesellschaft wie unserer«, schreibt Herbert Marcuse, ein führender Gesellschaftstheoretiker und Philosoph des 20. Jahrhunderts, »in der die Befriedung einen bestimmten Punkt erreicht hat, erscheint es zunächst irrwitzig, eine Revolution zu wollen. Denn wir haben, was wir uns wünschen.« Als Rezept bietet er an: »Das Ziel besteht darin, den Wunsch selbst zu transformieren, damit die Menschen nicht mehr das wollen, was sie jetzt wollen.«3 Du wünschst dir ein Ende des Protests, aber wenn dein Wunsch in Erfüllung geht, wäre das verheerend für dich.

Wenn es gar keinen Protest gibt, ist das für eine Gesellschaft gefährlich. Protest ist ein Symptom dafür, dass es zu Veränderungen kommen muss. Die Menschen auf den Straßen sind Vorboten von mehr Demokratie. Wenn kein wirksamer Protest stattfindet, dann stehen die Zeichen auf Unruhen im Land. Ob man Protestierende unterstützt oder unterdrückt, die Geschichte zeigt, dass Widerspruch notwendig ist, damit die Gesellschaft sich entwickeln und kollektiv erneuern kann. Eine Revolution gibt uns die gesellschaftliche Freiheit, die die Menschen brauchen, um alte Gewohnheiten abzuwerfen und ihr wahres kollektives Potential zu erschließen.

Erster Teil: Heute

»Wenn eine Sache ihr Ende erreicht hat, kehrt sie zum Anfang zurück.«

Tai Gongs Sechs geheime Lehren (475–221 v. u. Z.)

»In jeder Kriegsführung spielt das Unberechenbare eine große Rolle, der Zufall, und die Beherrschung dieses dunklen Elements der Ungewissheit durch Entschlossenheit ist eine der wesentlichsten Eigenschaften des Feldherrn.«

Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst, Bd. 4, Neuzeit, 1920

Die Entstehung von Occupy

Mehrere Jahre vor Occupy Wall Street wurden bei zunehmenden Protesten überall in der Welt mehr Demokratie, mehr wirtschaftliche Gleichheit und politische Repräsentation gefordert. Der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems und das darauffolgende Ansteigen der Lebensmittelpreise aufgrund von Missernten, zum Teil verursacht durch den Klimawandel, ließen die Zahl der Proteste gegen erkennbare Missstände und mit konkreten Forderungen heftig in die Höhe schnellen. Sie wuchs von 59 im Jahre 2006 auf 80 im Jahre 2008 und auf 153 im Jahre 2011 an. In diesem Jahr wurde Occupy geboren.4 Auch der Umfang des Geschehens nahm dramatisch zu. Es kam zu den mächtigsten Protestaktionen in der Geschichte der Menschheit: Von 2006 bis 2013 fanden 37 Demonstrationen mit über einer Million Teilnehmer statt. 2010 protestierten allein in Frankreich 3,5 Millionen Menschen gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. In Portugal gingen beim ersten Generalstreik seit 22 Jahren 3 Millionen gegen die Sparpolitik der Regierung auf die Straße. Zu gewaltigen Protestaktionen kam es in Brasilien. Und überwältigende 100 Millionen Arbeiter traten am 20. Februar 2013 in Indien für niedrigere Preise, mehr Arbeitsplätze, höhere Investitionen im staatlichen Sektor und bessere Arbeiterrechte in den Streik.

Der Zyklus der Revolten, die schließlich zu Occupy Wall Street führten, begann am 17. Dezember 2010 in Tunesien, wo der 26-jährige Straßenhändler Mohamed Bouazizi sich selbst anzündete, um gegen das demütigende Vorgehen eines Polizisten zu protestieren, der seinen Obstwagen beschlagnahmt hatte. Danach war Bouazizi zum Sitz des Gouverneurs gegangen, um von ihm die Herausgabe seiner Ware zu verlangen. Als der es ablehnte, mit ihm zu sprechen, übergoss sich der junge Mann auf der Straße mit Benzin und setzte sich in Brand. Dabei rief er: »Wie, meinen Sie, soll ich meinen Lebensunterhalt verdienen?« Der politische Selbstmord entfachte den aufgestauten Zorn des tunesischen Volkes. Dieses litt unter einem Regime, das laut eines Berichts des US State Department »die Justiz einsetzt, um durch Einschüchterung, Strafverfahren, willkürliche Festnahmen, Aufenthaltsbeschränkungen und Verkehrskontrollen jede Kritik im Keim zu ersticken«.5 Bouazizis Tod hatte sofort überall im Land große Demonstrationen zur Folge, die das autokratische Regime von Ben Ali zu Fall brachten. Das löste den Arabischen Frühling aus, der auf Algerien, Ägypten, Jemen, Bahrein, Libyen und fast alle arabischen Staaten übergriff.

Bouazizis Selbstverbrennung inspirierte Aktivisten in Algerien und Mauretanien, die ihren Widerstand auf die gleiche dramatische Weise zum Ausdruck brachten. Am 18. Januar 2011 erreichte der Arabische Frühling Kairo, wo sich ein Ägypter vor dem Parlamentsgebäude in Brand steckte. Fünf weitere derartige Versuche folgten. Eine Woche später versammelten sich auf dem Tahrir-(Befreiungs-)Platz vor dem Mogamma, dem riesigen Gebäudekomplex der Zentralverwaltung des Landes, Zehntausende Ägypter zu einem »Tag des Zorns« gegen Polizeigewalt und 30 Jahre Unterdrückung durch das Regime von Hosni Mubarak. Ich habe in den Jahren vor dieser Erhebung mehrere Monate lang in der Nähe des Tahrir-Platzes gewohnt. Ich erinnerte mich daran, wie brutal die Polizei damals agierte. Als ich nun die Bilder von den Protestierenden sah, die die Straßen füllten, war mir sofort klar, dass es sich hier um eine revolutionäre Situation von historischem Ausmaß handelte. Auf dem Tahrir-Platz wurde ein Pro-Demokratie-Lager errichtet. Die Welt sah zu, wie einfache Leute öffentlich den Rücktritt Mubaraks forderten und sich dabei gegen Beschuss und vom Regime vorgeschickte Schläger verteidigten. Als Mubarak am 11. Februar 2011 schließlich sein Amt aufgab, rollte eine weitere Protestwelle durch die Welt. Von dem Erfolg ermutigt, sahen die Menschen, dass dramatische Veränderungen möglich waren.

Am 15. Mai 2011 kam es in 58 Städten Spaniens zu Protesten gegen den Sparkurs der Regierung. In Madrid versammelten sich 50 000 Menschen. Sie forderten direkte Demokratie und Mitbestimmung. Vom Tahrir-Aufstand angeregt, führten Aktivisten der 15.-Mai-(15M)Bewegung die Methode der acampadas (Zeltlager) ein, wobei sie auf öffentlichen Plätzen konsensbasierte Generalversammlungen einberiefen. Dort gaben die Menschen ihrer Forderung nach direkter Demokratie mit einer neuen Form autonomer Selbstorganisation Ausdruck. In Gruppendiskussionen und offenen Vollversammlungen mit wechselndem Konsens wurden komplexe Fragen geklärt.

Die neuen, in Tunesien, Ägypten und Spanien erfundenen Formen kollektiven Protests wurden in Occupy Wall Street zusammengefasst und auf dem gesamten Erdball reproduziert. Es war das junge, hochgebildete und bestens vernetzte Kognitariat, das sie von Stadt zu Stadt weitergab. Ein globales Netzwerk der Jugend wurde geknüpft. Soziale Netze verbreiteten online den Aufruf, offline zu handeln. Auf öffentlichen Plätzen zu kampieren war offiziell verpönt, wenn nicht gar verboten. Durch die weltweite Verbreitung dieses neuen gesellschaftlichen Verhaltens erhielten wir die Gelegenheit, unser Abweichen von althergebrachten Aktionsformen zu demonstrieren.

Als wir erlebten, wie in anderen Ländern Diktatoren gestürzt und quicklebendige demokratische Versammlungen ins Leben gerufen wurden, drängte es viele Aktivisten, die Revolution in die USA und nach Kanada zu importieren. Kalle Lasn und mir gelang das. Unser Wunsch, dass 20 000 Menschen nach Lower Manhattan strömen sollten, wurde wie durch ein Wunder wahr. Unser Mem #OCCUPYWALLSTREET erwies sich als hoch ansteckend und schlug, von der Wall Street kommend, in Bankenvierteln auf der ganzen Welt ein.

Kalle ist der Gründer von Adbusters, des kanadischen anti-kulturellen Magazins für Konsumkritik und der gleichnamigen Webseite für internationalen Aktivismus. Ich – seit jungen Jahren politisch aktiv – arbeitete bereits fünf Jahre lang als Redakteur für dieses Magazin. Als rebellischer 14-Jähriger hatte ich es zum ersten Mal gelesen, und mit Kalle zu arbeiten war für mich fortan der lang ersehnte Traumjob. In dem Jahr, in dem Occupy entstand, wirkten wir besonders eng zusammen. Die Redaktion von Adbusters saß in Vancouver in British Columbia, und ich lebte damals im kalifornischen Berkeley. Unsere Zusammenarbeit lief über E-Mail und Telefon.

In dem Jahr, bevor Kalle und mir die Idee zu Occupy Wall Street kam, hatten wir versucht, eine globale Aktionswoche gegen den Konsumwahn ins Leben zu rufen, die wir Karnevalistische Rebellion nannten. Wir widmeten Nr. 92 von Adbusters einer Reihe von Protestaktionen, als deren Auftakt am 22. November 2010 eine neue Kampagne mit dem Titel #NOSTARBUCKS geplant war. Der Boykott der Kaffeehauskette sollte über den bereits praktizierten konsumkritischen Buy Nothing Day, der jeweils am Black Friday nach Thanksgiving begangen wurde, in den USA, in Kanada, Großbritannien und anderenorts bis ins Weihnachtsgeschäft hinein fortgesetzt werden. Dass wir die Sache als Karnevalsspaß anlegten, war unser Versuch, den Geist des ursprünglichen Protests der Antiglobalisierungsbewegung, den »Karneval gegen das Kapital«, der am 18. Juni 1999 in London stattgefunden hatte, für uns zu nutzen. Bei der Karnevalistischen Rebellion probierten wir auch zum ersten Mal aus, mit Hilfe von Twitter-Hashtags eine Offline-Aktion zu starten. Kalle, die anderen bei Adbusters und ich boten all unsere Energie, unsere Überzeugung und Kreativität auf, um die Aktionswoche voranzutreiben. Wir glaubten tatsächlich, dass eine revolutionäre Situation in Reichweite sei. Doch wir waren im Irrtum. Die Karnevalistische Rebellion geriet zum Flop und der Protest verpuffte in ein paar kläglichen Aktionen, die kaum Widerhall fanden. Selbst der Buy Nothing Day fiel in diesem Jahr mittelmäßig aus. Das Scheitern war demütigend. Doch wir ließen uns nicht entmutigen. Ich kam zu der Überzeugung, dass für die Idee von einer über Hashtag verbreiteten, ansteckenden Aktion die Zeit einfach noch nicht reif war. Wir hatten Schiffbruch erlitten, weil wir zu früh waren. Ich erinnere mich an das Gefühl, dass Kalle und ich schon in der Zukunft des Aktivismus lebten. Wir waren sicher, wenn wir es wieder probierten, würden wir Anhänger finden. Also zogen wir Lehren aus der Karnevalistischen Rebellion und versuchten es 2011 noch einmal. Inspiriert vom Arabischen Frühling und den nachfolgenden Erhebungen, griffen wir zu einer erprobten Taktik, der Besetzung öffentlicher Räume, und übertrugen sie auf ein neues Feld, die Bankenviertel dieser Welt.

Außer dem Tahrir-Platz und den acampadas nutzten wir für die bei Occupy Wall Street angewandte Taktik auch Erfahrungen der Besetzung der Universitäten von London, New York, Berkeley und Dutzenden anderer Städte durch die Studenten im Jahre 2009. Gespannt hatte ich verfolgt, wie sich dort die Dinge entfalteten – in Berkeley persönlich und in anderen Fällen aus größerer Entfernung. In Adbusters feierte ich die Besetzungen als ein potentielles Zeichen dafür, dass eine revolutionäre Situation heraufzog. Während der Welle dieser Aktionen besetzten die Studenten Unterrichtsräume und Hörsäle für politische Protestaktionen. In Großbritannien wurde anfangs das Ziel verfolgt, die Universitäten zu öffentlichen Stellungnahmen gegen die anhaltende israelische Bombardierung des Gazastreifens im dreiwöchigen Krieg von 2008/09 zu zwingen. Später nutzte man die Besetzungen als Mittel des Protests gegen die ständige Erhöhung der Studiengebühren. Als die Methode auf die New Yorker New School und die staatlichen Universitäten von Kalifornien übergriff, ging das konkrete Ziel verloren. »Fordert nichts! Besetzt alles!«, wurde jetzt zur Losung des Tages. Bei der Besetzung der Wheeler Hall an der University of California in Berkeley im November 2009 war ich dabei. Als ich sah, dass sich die Studenten im obersten Stock eingeschlossen hatten und den Zuschauern unten Worte zuriefen, die kaum zu verstehen waren, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, die Besetzungsaktionen in den öffentlichen Raum zu verlegen. In geschlossenen Gebäuden waren solche Aktionen viel zu leicht zu ignorieren. Sie wirkten verzweifelt und eng, nicht attraktiv und offen genug. Ich erinnere mich an den Gedanken, Besetzungen könnten viel mehr Spaß machen und wirksamer sein, wenn sie nicht in Universitätsräumen, sondern in Parks stattfänden. Nach dem Scheitern der Karnevalistischen Rebellion wandten Kalle und ich das Mittel der Besetzung zwei Jahre später bei Occupy Wall Street an.

Die Idee, die Wall Street zu besetzen, starteten wir am 13. Juli 2011 mit einem zwei Seiten langen taktischen Briefing und einem surrealistischen Plakat – einer Ballerina, die auf dem heranstürmenden Wall-Street-Bullen, einer berühmten Skulptur in der Nähe des Bankenviertels, posiert. Über der Tänzerin schwebt die bohrende Frage: »Was ist unsere einzige Forderung?« Im vernebelten Hintergrund haben sich militante Protestierende untergehakt und scheinen auf den Beschauer zuzulaufen. Das Poster mit der Ballerina und dem Bullen war von einem Foto der Konzeptkünstlerin Joan Fontcuberta inspiriert, auf dem ein angeblicher Mujaheddin in Afghanistan auf einem Esel balanciert. Das war natürlich eine Montage, aber Kalle hatte die furchtlose, ausgelassene, revolutionäre Freude fasziniert, die Fontcubertas Arbeit ausstrahlte. Er wandelte die Idee ab, und das Kultplakat von Occupy war geboren. Den Aufruf zu Occupy verschickten wir über das Adbusters-Netzwerk, eine Liste von 90 000 E-Mail-Adressen, und druckten ihn in den 40 524 Exemplaren von Nr. 97 des Magazins ab.*6 Um der Kampagne einen letzten Anstoß zu geben, lag die bewusste Ausgabe von Adbusters schon mehrere Wochen vor dem geplanten Datum der Aktion, dem 17. September, an den Kiosken aus. Kalle hatte dafür den Geburtstag seiner Mutter gewählt.

Die Kernbotschaft unseres taktischen Briefings lautete, durch eine neue Form des Protests – die Synthese der Besetzung öffentlichen Raumes, wie auf dem Tahrir-Platz praktiziert, mit dem Modell der konsensbasierten Generalversammlungen der spanischen acampadas – werde es den Amerikanern endlich gelingen, den Würgegriff des »größten Verderbers unserer Demokratie, der Wall Street, des finanziellen Gomorrhas von Amerika« zu sprengen.6 Zwar zielte unser Mem auf New York, aber Kalle und ich riefen zu Protestaktionen der Solidarität in allen Bankenvierteln der Welt auf. Um diese Neuerung möglichst breit zu streuen, schrieben wir in dem taktischen Briefing:

»Der Geist dieser frischen Taktik, einer Fusion des Tahrir mit den acampadas von Spanien, ist in dem folgenden Zitat [von Raimundo Viejo, einem Politikwissenschaftler und Aktivisten, der in der 15.-Mai-Bewegung von Spanien mitwirkt] eingefangen: ›Die Antiglobalisierungsbewegung war der erste Schritt auf unserem Weg. Aber damals gingen wir nach dem Modell vor, das System wie ein Wolfsrudel anzugreifen. Es gab ein Alphatier, den Wolf, der das Rudel anführte, und jene, die ihm folgten. Jetzt haben wir das Modell weiterentwickelt. Heute sind wir ein einziger riesiger Menschenschwarm.‹«

Wir appellierten an unsere Adressaten, »Zelte mitzubringen«, eine Versammlung abzuhalten und »nur eine einfache Forderung in einer Pluralität von Stimmen unablässig zu wiederholen«. Die Leser von Adbusters erinnerten wir daran, dass Hosni Mubarak in Ägypten zum Rücktritt gezwungen wurde, weil die Menge auf dem Tahrir-Platz mit einer Stimme sprach. Wir riefen dazu auf, die Wall Street durch eine offene Versammlung zu besetzen, welche über die eine Forderung des Volkes entscheiden sollte. Adbusters’ Seele ist der Kampf gegen Großkonzerne und Konsumwahn. Mit dem Start von Occupy verfolgten wir das Ziel, eine Massenprotestbewegung zu schaffen, die imstande war, das Citizens-United-Urteil des Obersten Gerichts der USA von 2010 zu kippen. Dieses hatte Unternehmen und Gewerkschaften das Recht zugesprochen, Geldsummen in unbegrenzter Höhe für die Beeinflussung von Wahlen einzusetzen.*7 In den USA gewinnt in 90 Prozent der Fälle derjenige Kandidat eine Wahl, der für seinen Wahlkampf das meiste Geld ausgibt. Wenn Geld die Wahlen bestimmt, wenn Unternehmen und Gewerkschaften beliebige Summen dafür aufwenden können, dann ist klar, dass die Wahlen nicht mehr vom Volk entschieden werden. In unserem taktischen Briefing schlugen wir als die beste Forderung der Protestierenden vor: »Barack Obama soll eine präsidiale Kommission mit dem Auftrag einsetzen, den Einfluss des Geldes auf unsere Repräsentanten in Washington zu beenden.« Mit unseren Ideen trafen wir den Nerv der Aktivisten. Am ersten Tag von Occupy Wall Street folgten 5000 Menschen unserem Aufruf.

Die E-Mail, die die Occupy-Bewegung auslöste, entstand in Telefongesprächen zwischen Kalle in der Redaktion von Adbusters in Vancouver und mir in meinem Home-Office in Berkeley. Wir hofften auf einen Protest an der Wall Street, Tausende Kilometer entfernt, und der konnte nur Wirklichkeit werden, wenn es gelang, unser Mem an die Aktivisten im Raum New York zu bringen. Kalle kennt sich mit den sozialen Medien aus, nutzt sie aber selbst nicht direkt. Daher war es meine Aufgabe, das Mem online zu verbreiten. Am 4. Juli, neun Tage vor der Veröffentlichung des taktischen Briefings, benutzte ich als Erster bei Twitter den Hashtag #OCCUPYWALLSTREET, als ich vom Adbusters-Account einen Tweet verschickte, der die Amerikaner aufrief, »von einem Aufstand gegen die Herrschaft der Unternehmen zu träumen«. Den sandte ich auch an Reddit, an politische Foren im anonymisierten Deep Web*8 und an die Webseiten von Aktivisten der Anonymous-Bewegung. Ich richtete E-Mails an jeden Aktivisten, den ich kannte. Außerdem meldete ich unter @OccupyWallStNYC den ersten Account der Bewegung bei Twitter an. 24 Stunden nach Erscheinen des taktischen Briefings nahm Justine Tunney, eine Computerprogrammiererin und aktive Teilnehmerin am anarchistischen Reddit-Forum, die Idee von Occupy auf. Justine richtete OccupyWallSt.org ein und begann die Webseite zu verschlüsseln, die schließlich zum Netzknoten der Bewegung wurde. Ich wusste sofort, dass Occupy Wall Street damit in Gang kam, denn Justine und die anderen Gründer-Zuccottis (so genannt nach dem Park in New York, den sie als Erste besetzten) warteten nicht auf eine Bestätigung oder Anweisung von Adbusters. Stattdessen nahmen sie das Mem und hielten im Tompkins Square Park Organisationsmeetings ab, wo entschieden wurde, wie die Bewegung sich entfalten sollte. An diesen frühen Versammlungen beteiligten sich um die 200 Personen, die Gründer von Occupy Wall Street. Ihre Initiative inspirierte mich. Aus meiner Erfahrung als Aktivist wusste ich: Es war ein sehr gutes Zeichen, dass das Protest-Mem bereits der Kontrolle der Gründer entglitt.

Einen Monat vor der Besetzung zog das Occupy Wall Street Mem spürbare Aufmerksamkeit des Untergrunds auf sich. Die Anonymous-Bewegung verbreitete ein Video-Kommuniqué zur Unterstützung von Occupy Wall Street. Das in der Sprache unseres taktischen Briefings abgefasste Video wurde auf YouTube in kurzer Zeit 100 000 Mal angeklickt. Ich twitterte dem amerikanischen Rapper Lupe Fiasco, der sich zu meiner Überraschung der Aktion anschloss und den Tweet an seine Million Follower weiterleitete. Lupe, der später für Occupy in New York und Chicago bedeutende Summen spendete, schuf auch den Erkennungsspruch unserer Bewegung: »All Day, All Week, Occupy Wall Street!« Inzwischen schworen Aktivisten in Mailand, Valencia, Lissabon, Athen, Madison, Amsterdam, Los Angeles, in Israel und anderenorts, zum Zeichen der Solidarität Protestaktionen durchzuführen. Doch ungeachtet all der Begeisterung ignorierten die großen gemeinnützigen Organisationen, Gewerkschaften und bekannte amerikanische Aktivisten wie der Filmemacher Michael Moore, der mit Hunderten von Tweets mit der Forderung nach Unterstützung einer konzertierten Aktion vor dem 17. September bombardiert wurde, unser Mem und lehnten es ab, sich dafür zu engagieren. Erst als die Besetzung in der zweiten Woche zu einer Sensation wurde, sprangen viele dieser Leute und Organisationen auf den fahrenden Zug auf.

Als Occupy 2011 startete war Kalle, ein Kanadier estnischer Herkunft, 69 Jahre alt und ich, ein amerikanischer Aktivist, noch nicht einmal 30. Nach Lebensalter und Werdegang stand ich den jungen Leuten aus den Städten näher, die anfingen, Occupy Wall Street zu organisieren. Daher bildete ich von Anfang an die Brücke zwischen Adbusters und den Zuccottis von New York. Eine Woche vor Einrichtung des Lagers übergab ich die Kontrolle des Twitter-Accounts @OccupyWallStNYC an Marisa Holmes, eine Filmemacherin und Aktivistin, die eines der wichtigsten Mitglieder des Moderatorenteams wurde. Zu der Zeit zählte der Twitter-Account etwa 6000 Followers. Wenige Wochen später waren es bereits über 150 000. Ich hielt Telefonkontakt zu den Occupy-Gründern und nahm an deren E-Mail-Diskussionen teil. Kalle bestand darauf, keinerlei Fernsehinterviews zu geben. Daran hielt ich mich und lehnte auch die meisten Anfragen der Presse ab. Stattdessen fand ich Aktivisten vor Ort, denen Adbusters vertrauen konnte, und schickte die Reporter zu ihnen. Nach Rücksprache mit Kalle gab ich den Zuccottis gelegentlich Ratschläge. Wenn ich auch häufig mit den Gründern sprach, so vermochte Adbusters die Bewegung nicht zu kontrollieren und versuchte es auch gar nicht erst. Wir konnten nur hoffen, ihr mit den 30 taktischen Briefings, die wir während der gesamten Aktion verfassten, eine Richtung zu geben.

Am 17. September 2011 kamen 5000 Aktivisten. Etwa 300 übernachteten im Zuccotti-Park, nachdem sie geschworen hatten, das Zeltlager aufrechtzuerhalten, bis ihre vorläufig noch nicht klar definierten Forderungen erfüllt waren.

Occupy Wall Street war von Anfang an ein wunderbares Event. Bei den Versammlungen herrschte ein Geist der Gemeinsamkeit. Volksküchen gaben täglich kostenlos schmackhafte Mahlzeiten an Tausende Besetzer aus. »Ich war beeindruckt von der Organisation, die auf dem Gelände herrschte: Die Wege waren sauber, die Zelte sorgsam von Überzelten geschützt, in einer Ecke wurde hingebungsvoll gesungen, zum Abend wurde Pizza ausgegeben, die köstlich aussah, es gab ein ständig besetztes Zelt für die Medien, und in wasserdichten Containern war eine Bibliothek mit Reihen von Büchern zum Ausleihen oder Nachschlagen eingerichtet«, erinnert sich eine Teilnehmerin.7 Occupy war ein tolles Erlebnis. Viele Menschen, die nur zum Zuccotti-Park kamen, um zu sehen, was dort los war, fühlten sich angezogen und beteiligten sich zum ersten Mal an einer Protestbewegung. Wer an unseren Versammlungen vorüberging, konnte leicht von unserer Energie angesteckt werden. Leute aus der Mittelklasse bauten Zelte auf und begannen, Not leidende Obdachlose zu verpflegen. Unruhestifter starteten Störaktionen. Man ersann Wege, um Polizeiverbote zu umgehen, z. B. Fahrrad-Generatoren zur Stromversorgung oder Kommunikations-Apps für die Selbstorganisation. Unkonventionelle Einfälle wurden in Umlauf gebracht und spontan aufgenommen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten sahen sich Politiker gezwungen, auf eine lautstarke Demokratiebewegung zu reagieren.

Doch Geschichte wurde erst geschrieben, als mehrere unerwartete Geschehnisse eintraten. Das ist ein allgemeines Gesetz der Rebellion.

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Occupy Wall Street wurde weitgehend ignoriert, bis es zu einer Reihe unerwarteter Zwischenfälle, beginnend mit dem Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei, kam. Die machten die Bewegung schlagartig international bekannt. Revolutionen werden häufig eher durch Zufall als durch sorgfältig geplante Aktionen ausgelöst.

Revolutionen entstehen selten aus einer genau geplanten Aktion heraus. Viel häufiger wird der Aufstand durch einen glücklichen Zufall oder unabsichtliches Handeln ausgelöst. Zuweilen schafft geplantes Vorgehen die Gelegenheit zum Eingreifen. 1927 sagte Lyford P. Edwards, ein Priester der Episkopalkirche und früherer Revolutionstheoretiker, ahnungsvoll voraus: »Der Ausbruch einer Revolution wird in der Regel durch einen für sich genommen unbedeutenden Akt angekündigt, der zur Trennung der Unterdrücker und ihrer Gefolgsleute von den Unterdrückten und deren Gefolgsleuten führt.«8 Im Fall von Occupy Wall Street kam es zum ersten derartigen Zwischenfall während eines geplanten »Schlangenmarsches«*9 am 24. September 2011 nahe dem Union Square. Als dieser sich der East 12th Street näherte, attackierte ein Polizist zwei Frauen mit Pfefferspray, die auf die Knie fielen und vor Schmerzen aufschrien. Das wurde von Umstehenden aus verschiedenen Blickwinkeln gefilmt. Für landesweite Verbreitung der Szene sorgte der politische Kabarettist Jon Stewart, der den Täter, den New Yorker Deputy Inspector Anthony Bologna, persiflierte. Die allgemeine Stimmung blieb unbeschwert, bis sich der nächste Zwischenfall ereignete – die Massenverhaftung von 700 Occupyern am 1. Oktober auf der Brooklyn Bridge. Diese Nachricht ging um den Globus und machte Occupy als neue Protestform weltweit bekannt. Binnen vier Tagen schoss die Zahl der täglichen Artikel über Occupy von 100 auf 400 in die Höhe.9 Zugleich stieg auch die Zahl der Lager entsprechend an.

Die globale Verbreitung der Nachricht über Occupy empfanden wir als logisch, weil wir sie vorausgesagt hatten. Sie war in unser Mem eingebaut. Von Anfang an hatte Adbusters zur Besetzung der Bankenviertel in aller Welt aufgerufen, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Einfluss des Geldes die Demokratie überall stranguliert. Nach der Massenverhaftung wurden in den Finanzdistrikten von San Francisco, London, Vancouver und mehreren Hundert weiterer Städte Zeltlager aufgeschlagen. Überall schlossen sich die Aktivisten der großen Bewegung an, indem sie dem Wort Occupy den Namen ihrer Stadt hinzufügten. Jede Besetzung hatte ihr eigenes Flair, doch sie alle einte das Ideal einer partizipatorischen, konsensbasierten Demokratie. Auf dem Höhepunkt unserer Bewegung nannten sich alle Protestaktionen Occupy. Um ernst genommen zu werden, brauchten sie nur das Mem zu benutzen. Die Bewegung breitete sich umso schneller aus, als nur wenige Menschen wussten, woher die Idee kam. Für die meisten Beteiligten war Occupy wie aus dem Nichts aufgetaucht, so dass ihnen leichtfiel, das Mem für sich in Besitz zu nehmen. (Tatsächlich erschien der erste Artikel, der sich eingehender mit den Ursprüngen von Occupy befasste und auf Interviews mit Kalle und mir beruhte, erst nachdem man die Occupyer aus dem Zuccotti-Park vertrieben hatte.)10

Im ersten taktischen Briefing hatte Adbusters Occupy Wall Street darauf orientiert, eine Präsidialkommission zu fordern, die dem Einfluss des Geldes auf die Demokratie ein Ende setzen sollte. Zwar wurde die Verdrängung des Geldes aus der Politik eines der zentralen Ziele der Bewegung im weiteren Sinne, doch unsere Anregung, sich auf diese eine Forderung zu beschränken, lehnte die Generalversammlung im Zuccotti-Park ab. Occupy gehörte den Teilnehmern. Es fand seinen Weg in die kulturelle Vorstellungswelt und wurde zu einem Instrument zum Erreichen gesellschaftlicher Veränderungen bei einer Vielzahl von Themen.

Die Menschen erkannten: Wenn sie sich auf Occupy beriefen, dann zog ihr Protest sofort viele engagierte Teilnehmer und große Medienaufmerksamkeit an. Schließlich fand alles – vom Protest gegen Bauprojekte in der Nähe von Berkeley (Occupy the Farm) bis zur Organisierung von Hilfe für die Opfer des Hurrikans Sandy (Occupy Sandy) – unter dem Schirm von Occupy seinen Platz. Aus unerwarteten Zwischenfällen entstanden und zur lingua franca für eine Vielzahl von Anliegen und Vorhaben geworden, hatte unser neues Vorgehen bei gesellschaftlichen Protesten geschichtsbildendes Gewicht erlangt.

»Nimm keinen Angriff in der gleichen Richtung (oder in der gleichen Form) wieder auf, wenn der erste fehlgeschlagen ist.«

B. H. Liddell Hart, Strategie, 1954

Ein konstruktiver Fehlschlag

Die Nachricht von einer innovativen Taktik hat aufrührerische Wirkung. Überall konnten die Menschen sehen, dass die Besetzung öffentlicher Räume und das Abhalten von Versammlungen die Chance boten, gehört zu werden. Also führten sie Besetzungen durch oder unterstützten andere dabei. Protestierende in der ganzen Welt übernahmen Symbole und Methoden der Wall-Street-Besetzer – das Fingertanzen mit erhobenen Händen als Zeichen der Zustimmung*10 und das Volksmikrophon – die Sprechchöre, welche die Atomkraftgegner in den 1980er Jahren als Erste und nach ihnen protestierende Globalisierungsgegner in den 1990er Jahren als Mittel gegen das von der Polizei verhängte Verbot von Verstärkertechnik eingesetzt hatten. Dabei wurden die Worte des Sprechers von den Zuhörern einträchtig nachgesprochen, um sie hörbar zu machen. Daraus entstand ein regelrechtes Ritual. Die Menschen glaubten daran, dass das Mitwirken in einer solch aufrührerischen sozialen Bewegung es wert war, selbst eine Festnahme zu riskieren, und dass es diesmal gelingen könnte, den Status quo zu verändern.

Der Erfolg von Occupy beruhte im Grunde auf einer tiefen Überzeugung, die von vielen geteilt wurde: Das war es, eine soziale Bewegung der Massen, die alles zu verändern vermochte. Dieser Glaube stützte sich auf eine Reihe unumstrittener Thesen darüber, wie die politischen Realitäten gekippt werden könnten. Wir glaubten daran, dass man nominell demokratische Regierungen durch die historische Aktion einer urbanen, gewaltfreien, einheitlich handelnden Masse ins Wanken bringen kann. Diese vier Kriterien haben die Theorie und Praxis von Revolutionen jahrzehntelang dominiert, besonders seit den revolutionären Wellen von 1989, die den Kommunismus in Polen, Ungarn, Ostdeutschland, Bulgarien, der Tschechoslowakei und Rumänien stürzten. In unserem ersten taktischen Briefing hatten Kalle und ich diese These als unsere Vorstellung davon formuliert, wie die Besetzung der Wall Street einen fundamentalen Wandel auslösen könnte. »Sollten wir – 20 000 Menschen – Woche um Woche allen Versuchen von Polizei und Nationalgarde trotzen, uns aus der Wall Street zu vertreiben, dann kann Obama uns nicht länger ignorieren. Unsere Regierung wäre gezwungen, sich öffentlich zwischen dem Willen des Volkes und der Profitgier der Unternehmen zu entscheiden.« Mit anderen Worten, wir bestanden auf einer dem Theater entlehnten Sicht auf den Aktivismus, der Behandlung des öffentlichen Raumes als Bühne für ein politisches Schauspiel. Wir gingen davon aus, dass die Vereinigten Staaten nicht imstande waren, gegen gewaltlos protestierende Demokraten Gewalt anzuwenden und schließlich vor unseren Forderungen kapitulieren würden, weil unsere politische Aufführung vor den Augen der internationalen Gemeinschaft stattfand. Eine beliebte Losung lautete: »Die ganze Welt schaut zu!« Kalle, ich und mit uns viele Aktivisten, die zu den Lagern strömten, glaubten daran: Wenn die Welt sah, wie die Besetzer ihre Würde und ihre Forderungen gegen die Brutalität der Polizei verteidigten, dann würde die Bewegung siegen … so wie sie in Tunesien und Ägypten gesiegt zu haben schien. Der erste Teil unserer Geschichte wurde wahr. Gegen extreme Widrigkeiten hielten die Besetzer die Bewegung am Leben. Am Ende wurden in den USA über 7000 Teilnehmer von Occupy verhaftet. Durch Polizeigewalt erlitten viele schwere Verletzungen und Knochenbrüche. Besonders brutal ging die Polizei gegen Occupyer in Oakland im Staat Kalifornien vor, wo es zu zahlreichen Anzeigen gegen die Behörden kam. In einer Aktion vom 25. Oktober erklärte ein Teilnehmer der Proteste: »Als die Beamten auf einen einzelnen Mann stießen, schlugen sie ihn und brachen ihm das Knie.«11

Doch der zweite Teil unserer Geschichte der Veränderung, der Glaube, dass die brutalen Repressalien gegen die ihre Würde verteidigenden Occupyer auf die USA zurückfallen würden, erfüllte sich nicht.

Occupy Wall Street war ein konstruktiver Fehlschlag, keine totale Niederlage.