VVorwort zur gekürzten dritten Ausgabe

Ende der 1960er Jahre wurde durch einen Zufall Geert Hofstedes Interesse an nationalen kulturellen Unterschieden geweckt, und er erhielt Zugriff auf umfangreiche Daten, um diese Unterschiede untersuchen zu können. Als Ergebnis seiner Forschungsarbeit veröffentlichte er 1980 ein Buch mit dem Titel Culture’s Consequences. Es war für eine wissenschaftliche Leserschaft geschrieben, und das aus gutem Grund, denn es meldete Zweifel an an der Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Theorien in den Bereichen Psychologie, Organisationssoziologie und Führungstheorie, und so war es dazu gedacht, die theoretische Argumentation, Basisdaten und statistische Bearbeitungsmethoden offenzulegen.

Nachdem Geert dieses Thema vielen unterschiedlichen Zuhörern zu Gehör gebracht und seinen Text an verschiedenen hilfreichen Lesern ausprobiert hatte, veröffentlichte er 1991 ein weiteres Buch für den intelligenten Laien: die erste Ausgabe von Cultures and Organizations: Software of the Mind (deutscher Buchtitel damals: Interkulturelle Zusammenarbeit: Kulturen – Organisationen – Management). Das Thema „kulturelle Unterschiede“ ist nicht nur für Sozialwissenschaftler oder BWL-Studenten im internationalen Austausch von Interesse. Es dient der Praxis und betrifft jeden, der Umgang hat mit Menschen außerhalb seines eigenen eng gefassten Kreises, und in unserer modernen Welt ist das praktisch jeder. Im neuen Buch wurde, wo möglich, die Verwendung sozialwissenschaftlicher Fachsprache vermieden, wo nötig, wurde sie erklärt. Aus diesem Grund wurde ein Glossar hinzugefügt.

Politik, Geschäfts- und Gedankenwelt änderten sich zwischenzeitlich in rascher Folge. Im Jahr 2001 veröffentlichte Geert eine überarbeitete und aktualisierte Version von Culture’s Consequences, die eine Übersicht über die Anwendungsmöglichkeiten seiner Forschungsarbeit enthielt und auch Wiederholungsstudien anderer Forscher mit einbezog, die seit 1980 erschienen waren. Jeden, der mit Forschung oder wissenschaftlichen Untersuchungen zu tun hat, verweisen wir auf diese Quelle.

VIKonsequenterweise musste nun auch die Ausgabe für den interessierten Laien Cultures and Organizations: Software of the Mind überarbeitet werden. Gert Jan Hofstede kam als Koautor hinzu. Nach seinem Universitätsabschluss in Biologie und einem Lehrauftrag in Wirtschaftsinformatik an der Agraruniversität in Wageningen hatte er damit begonnen, die Forschungsarbeit seines Vaters bei seiner eigenen Lehre und Forschung einzusetzen. Schon im Jahr 2002 hatte er mit dem Titel: Exploring Culture: Exercises, Stories and Synthetic Cultures ein eigenes Buch veröffentlicht, das Beiträge von Paul B. Pedersen und Geert Hofstede enthielt. Gert Jan brachte für das vorliegende Buch seine Erfahrung im Unterrichten von Klassen mit internationalen Studenten ein; außerdem vermittelte er einen Einblick in die Rolle der Biologie bei der Entstehung von Kultur sowie in die Rolle der Kultur im elektronischen Informationszeitalter.

Hauptquelle für die kulturübergreifenden Erkenntnisse der 1980er Ausgabe von Culture’sConsequences war eine Datenbank, in der Punktwerte für Werthaltungen erfasst waren, die man über die Beantwortung von Fragebögen durch Beschäftigte in IBM-Tochtergesellschaften zusammengetragen hatte; über fünfzig Länder waren an dieser Umfrage beteiligt gewesen, und es handelte sich hierbei um den umfangreichsten und verlässlichsten Datensatz dieser Art überhaupt. In den letzten drei Jahrzehnten ist der Umfang verfügbarer kulturübergreifender Daten über Werthaltungen auf Basis von Selbsteinschätzungen enorm gewachsen. Würde Geert heute erneut mit seiner Forschungsarbeit beginnen, würde er diese neuen Datensätze mit einbeziehen. Ende der 1990er Jahre kam es zu einem Email-Kontakt zwischen Geert Hofstede und einem Wissenschaftler in Sofia, Bulgarien, der anscheinend genau das tat: er arbeitete sich durch verfügbare Datenbanken und suchte nach einer Struktur in deren kombinierten Ergebnissen. Der Name des Wissenschaftlers war Michael Minkov, der von uns auch Misho genannt wird. Im Jahr 2007 veröffentlichte Misho seine Untersuchungsergebnisse in einem Buch. Die Analyse trug den Titel: What makes Us Different and Similar: A New Interpretation of the World Values Survey and Other Cross-Cultural Data (Was uns unterscheidet und wo wir uns ähnlich sind: VIIEine neue Interpretation der World Values Survey und anderer kulturübergreifender Daten) und brachte die Erkenntnis und den Fortschritt, den wir uns erhofft hatten. Darüber hinaus sorgte Misho als Osteuropäer für Insiderwissen über eine Gruppe von Ländern, die in Geerts ursprünglichem Datensatz fehlte, die aber von großer Bedeutung ist für die Zukunft unseres Kontinents. Für die neue dritte Auflage von Cultures and Organizations: Software of the Mind aus dem Jahr 2010 schloss Misho sich uns als dritter Koautor an.

Von akademischer Seite bedanken wir uns besonders bei Marieke de Mooij, die uns in den Bereichen Marketing, Werbung und Verbraucherverhalten unterstützte, in denen Kultur eine entscheidende Rolle spielt. Verweise auf ihre Arbeit finden sich an vielen Stellen im vorliegenden Buch.

Über den Entstehungszeitraum dieses Buches ist die Anzahl der Quellen mit relevanter kulturübergreifender Information stetig gewachsen, ebenso die Anzahl der Forscher, die an der Auswertung der Daten beteiligt waren. Auch die Menge der Themen, die in der einschlägigen Literatur behandelt werden, hat sich permanent erhöht. Teile des neuen Texts der zweiten, besonders aber der dritten Ausgabe sind in erster Linie für Wissenschaftler relevant und damit weniger für den intelligenten Laien, für den die erste Ausgabe konzipiert war. Außerdem ist die Anzahl der Seiten immer größer geworden. Daher haben wir eine gekürzte Version der dritten Ausgabe verfasst, die sich auf wesentliche Punkte für Anwender aus der Praxis konzentriert und den Text auf seinen ursprünglichen Umfang zurückbringt.

Die aufeinander folgenden Ausgaben dieses Buches sind bisher in 21 Sprachen erschienen. Das englische Original wurde in die Sprachen Bulgarisch, Chinesisch, Dänisch, Deutsch, Finnisch, Französisch, Georgisch, Holländisch, Italienisch, Japanisch, Koreanisch, Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Schwedisch, Spanisch, Tschechisch, Ungarisch, Vietnamesisch übersetzt und hat damit die multikulturelle Leserschaft erreicht, für die es gedacht war.

Velp/Ede/Sofia, Sommer 2017

Geert Hofstede

Gert Jan Hofstede

Michael Minkov

11. Teil

Einführung

1. Kapitel: Die Regeln des sozialen Spiels

 11. Geschworener:

(erhebt sich) „Verzeihung, in der Diskussion …“

 10. Geschworener:

(unterbricht und imitiert ihn) „Verzeihung. Was sind Sie denn so verdammt höflich?“

 11. Geschworener:

(sieht den 10. Geschworenen direkt an) „Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie es nicht sind. Ich bin so erzogen.“

Aus: Reginald Rose , Die zwölf Geschworenen

Die zwölf Geschworenen ist ein amerikanisches Theaterstück, das in einer Verfilmung mit Henry Fonda in der Hauptrolle berühmt wurde. Das Stück wurde im Jahr 1955 veröffentlicht. Es spielt im Geschworenenzimmer eines Gerichts in New York. Zwölf Geschworene, die einander nie zuvor gesehen haben, müssen ein einstimmiges Urteil über Schuld oder Unschuld eines des Mordes angeklagten Jungen aus einem Slumgebiet abgeben. Obiges Zitat stammt aus dem zweiten und letzten Akt, als die Emotionen den Siedepunkt erreichen. Es handelt sich um eine Auseinandersetzung zwischen dem zehnten Geschworenen, dem Besitzer einer Autowerkstatt, und dem elften Geschworenen, einem gebürtigen Europäer, wahrscheinlich Österreicher, einem Uhrmacher. Der zehnte Geschworene ist verärgert über die in seinen Augen übertrieben höfliche Art des anderen. 2Doch der Uhrmacher kann sich nicht anders verhalten. Nach vielen Jahren in seinem neuen Heimatland verhält er sich noch immer seiner Erziehung entsprechend. Er trägt in seinem Innern ein unauslöschliches Verhaltensmuster.

Verschiedene Denkweisen, gemeinsame Probleme

Die Welt steckt voller Konfrontationen zwischen Menschen, Gruppen und Völkern, die unterschiedlich denken, fühlen und handeln. Gleichzeitig stehen diese Menschen, Gruppen und Völker, genau wie unsere zwölf zornigen Männer, gemeinsamen Problemen gegenüber, deren Lösung eine Zusammenarbeit erfordert. Ökologische, wirtschaftliche, politische, militärische, hygienische und meteorologische Entwicklungen machen nicht an nationalen oder regionalen Grenzen Halt. Der Umgang mit Bedrohungen wie Atomkrieg, Erwärmung der Erdatmosphäre, organisiertes Verbrechen, Armut, Terrorismus, Meeresverschmutzung, Ausrottung von Tierarten, Aids oder eine weltweite Rezession erfordert die Zusammenarbeit maßgebender Persönlichkeiten aus vielen Ländern. Diese wiederum brauchen die Unterstützung einer breiten Anhängerschaft, um die getroffenen Entscheidungen umzusetzen.

Diese Unterschiede im Denken, Fühlen und Handeln führender Persönlichkeiten und deren Anhängern zu begreifen, ist eine Voraussetzung dafür, dass weltweite und praktikable Lösungen gefunden werden. Fragen einer Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Technik, Medizin oder Biologie wurden nur zu oft unter dem rein fachlichen Aspekt betrachtet. Einer der Gründe, weshalb so viele Lösungen nicht funktionieren oder nicht umgesetzt werden können, besteht darin, dass Unterschiede in der Denkweise bei den Partnern nicht berücksichtigt wurden.

Ziel dieses Buches ist es, eine Hilfe im Umgang mit den Unterschieden im Denken, Fühlen und Handeln von Menschen auf der ganzen Welt zu bieten. Es soll zeigen, dass trotz der enormen Vielfalt von Denkweisen eine Struktur in dieser Vielfalt existiert, die als eine Grundlage gegenseitigen Verstehens dienen kann.

3Kultur als mentale Programmierung

Jeder Mensch trägt in seinem Innern Muster des Denkens, Fühlens und potentiellen Handelns, die er ein Leben lang erlernt hat. Ein Großteil davon wurde in der frühen Kindheit erworben, denn in dieser Zeit ist der Mensch am empfänglichsten für Lern- und Assimilationsprozesse. Sobald sich bestimmte Denk-, Fühl- und Handlungsmuster im Kopf eines Menschen gefestigt haben, muss er diese erst ablegen, bevor er in der Lage ist, etwas anderes zu lernen; und etwas abzulegen ist schwieriger, als es zum ersten Mal zu lernen.

Unter Verwendung einer Analogie zur Art und Weise, wie Computer programmiert sind, nennt dieses Buch solche Denk-, Fühl- und Handlungsmuster mentale Programme oder – wie der englische Untertitel lautet: Software of the mind (mentale Software). Das bedeutet natürlich nicht, dass Menschen wie Computer programmiert sind. Das Verhalten eines Menschen ist nur zum Teil durch seine mentalen Programme vorbestimmt: er hat grundsätzlich die Möglichkeit, von ihnen abzuweichen und auf eine neue, kreative, destruktive oder unerwartete Weise zu reagieren. Die mentale Software, von der in diesem Buch die Rede ist, gibt lediglich an, welche Reaktionen angesichts der persönlichen Vergangenheit wahrscheinlich und verständlich sind.

Die Quellen unserer mentalen Programme liegen im sozialen Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind und unsere Lebenserfahrungen gesammelt haben. Die Programmierung beginnt in der Familie und setzt sich fort in der Nachbarschaft, in der Schule, in Jugendgruppen, am Arbeitsplatz, in der Partnerschaft. Der europäische Uhrmacher aus dem Zitat am Anfang dieses Kapitels stammte aus einem Land und einer sozialen Klasse, wo höfliches Verhalten noch heute hoch im Kurs steht. Die meisten Menschen in diesem Umfeld würden genauso reagieren wie er. Der amerikanische Autowerkstattbesitzer, der sich aus den Slums hochgearbeitet hat, hat ganz andere mentale Programme erworben. Mentale Programme unterscheiden sich genauso stark voneinander wie das jeweilige soziale Umfeld, in dem sie erworben wurden.

4Ein gängiger Begriff für eine solche mentale Software ist Kultur. Dieses Wort hat mehrere Bedeutungen; sie sind alle aus seinem lateinischen Ursprung abgeleitet, der das Bestellen des Bodens bezeichnet. In den meisten westlichen Sprachen bedeutet „Kultur“ gemeinhin „Zivilisation“ oder „Verfeinerung des Geistes“ und insbesondere die Ergebnisse dieser Verfeinerung, wie Bildung, Kunst und Literatur. Das ist Kultur im engeren Sinne. Kultur als mentale Software bezieht sich jedoch auf eine viel weiter gefasste, unter Soziologen und – im Besonderen – unter Anthropologen1 übliche Bedeutung des Wortes: das ist die Bedeutung, die in diesem Buch ausschließlich Verwendung findet.

Sozial- (oder Kultur-)Anthropologie ist die Wissenschaft von den menschlichen Gesellschaften, insbesondere (aber nicht ausschließlich) den traditionellen oder „primitiven“. In der Sozialanthropologie umfasst der Begriff „Kultur“ all die in den vorherigen Absätzen genannten Denk-, Fühl- und Handlungsmuster. Nicht nur Tätigkeiten, die den Geist verfeinern sollen, sind hier gemeint, sondern auch gewöhnliche und niedrige Dinge des Lebens: Grüßen, Essen, das Zeigen oder Nichtzeigen von Gefühlen, das Wahren einer gewissen physischen Distanz zu anderen, Geschlechtsverkehr oder Körperpflege.

Kultur ist immer ein kollektives Phänomen, da man sie zumindest teilweise mit Menschen teilt, die im selben sozialen Umfeld leben oder lebten, d.h. dort, wo diese Kultur erlernt wurde. Kultur besteht aus den ungeschriebenen Regeln des sozialen Spiels. Sie ist die kollektive Programmierung des Geistes, die die Mitglieder einer Gruppe oder Kategorievon Menschen von einer anderen unterscheidet2

Kultur ist erlernt, und nicht angeboren. Sie leitet sich aus unserem sozialen Umfeld ab, nicht aus unseren Genen.3 Man sollte die Kultur unterscheiden von der menschlichen Natur einerseits und von der Persönlichkeit eines Individuums andererseits (siehe Abbildung 1.1), doch wo genau die Grenzen zwischen Kultur und Persönlichkeit liegen, ist unter Sozialwissenschaftlern umstritten.4

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Abb.1.1: Drei Ebenen der Einzigartigkeit in der mentalen Programmierung des Menschen

Die menschliche Natur ist das, was allen Menschen gemeinsam ist, vom russischen Professor bis zum australischen Eingeborenen: sie stellt die universelle Ebene in unserer mentalen Software dar. Wir haben sie mit unseren Genen geerbt; in Analogie zum Computer entspricht sie dem „Betriebssystem“, das unsere physische – und in den Grundzügen – auch unsere psychische Funktionsweise festlegt. Die menschliche Fähigkeit, Angst, Zorn, Liebe, Freude, Traurigkeit oder Scham zu empfinden, das Verlangen nach Gemeinschaft mit anderen, nach Spiel und Bewegung, die Fähigkeit, die Umgebung zu beobachten und mit anderen Menschen darüber zu sprechen, all das gehört zu dieser Ebene mentaler Programmierung. Was man allerdings mit diesen Gefühlen macht, wie man Angst, Freude Beobachtungen, etc. ausdrückt, wird durch die Kultur beeinflusst.

Demgegenüber ist die Persönlichkeit eines Individuums dessen einzigartige persönliche Kombination mentaler Programme, die es mit keinem anderen Menschen teilt. Sie gründet sich auf Charakterzüge, die teilweise durch die einmalige Kombination von Genen dieses Individuums ererbt und teilweise erlernt sind. „Erlernt“ bedeutet: gestaltet 6durch den Einfluss kollektiver Programmierung (Kultur) und einzigartiger persönlicher Erfahrungen.

Kulturelle Charakterzüge wurden häufig der Vererbung zugeschrieben, da Philosophen und andere Gelehrte in der Vergangenheit nicht wussten, wie sie die bemerkenswerte Konstanz in den Unterschieden bei kulturellen Mustern zwischen Gruppen von Menschen anders hätten erklären können. Sie unterschätzten den Einfluss des Lernens von früheren Generationen und des Weitergebens von selbst Erlerntem an eine folgende Generation. Eine übermäßige Bedeutung wird der Vererbung in Pseudotheorien der Rasse beigemessen, die unter anderem für den Holocaust der Nazis im 2. Weltkrieg verantwortlich waren. Rassen- und ethnische Konflikte werden häufig mit nicht haltbaren Argumenten kultureller Über- und Unterlegenheit gerechtfertigt.

In den USA hat es immer wieder wissenschaftliche Diskussionen darüber gegeben, ob bestimmte ethnische Gruppen, insbesondere Schwarze, genetisch bedingt möglicherweise weniger intelligent sind als andere Gruppen, insbesondere Weiße.5 In der Diskussion um genetisch bedingte Unterschiede wird, nebenbei bemerkt, in den USA lebenden Asiaten durchschnittlich eine höhere Intelligenz nachgesagt als Weißen. Es ist jedoch äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, kulturunabhängige Intelligenztests zu finden. Solche Tests dürften nur angeborene Fähigkeiten widerspiegeln und sollten nicht auf Unterschiede im sozialen Umfeld eingehen. In den USA sind wesentlich mehr Schwarze als Weiße in sozial benachteiligten Verhältnissen aufgewachsen, ein kultureller Einfluss, den kein uns bekannter Test umgehen kann. Das Gleiche gilt für Intelligenzunterschiede zwischen ethnischen Gruppen in anderen Ländern.

Symbole, Helden, Rituale und Werte

Kulturelle Unterschiede manifestieren sich auf verschiedene Weise. Unter den vielen Begriffen, mit denen man Manifestationen der Kultur beschreibt decken die vier folgenden zusammen genommen den Gesamtzusammenhang recht gut ab: Symbole, Helden, Rituale und Werte. In Abbildung 1.2 werden diese als Schalen einer Zwiebel 7dargestellt, womit angedeutet werden soll, dass Symbole die oberflächlichsten und Werte die am tiefsten gehenden Manifestationen von Kultur sind und Helden sowie Rituale dazwischen liegen.

Symbole sind Worte, Gesten, Bilder oder Objekte, die eine bestimmte Bedeutung haben, welche nur von denjenigen als solche erkannt wird, die der gleichen Kultur angehören. Die Worte einer Sprache oder Fachsprache gehören zu dieser Kategorie, ebenso wie Kleidung, Haartracht, Flaggen und Statussymbole. Neue Symbole entwickeln sich rasch, und alte verschwinden; Symbole einer kulturellen Gruppe werden regelmäßig von anderen nachgeahmt. Deshalb wurden die Symbole in der äußeren, oberflächlichsten Schicht in Abbildung 1.2 platziert.

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Abb.1.2: Das „Zwiebeldiagramm“: Manifestation von Kultur auf verschiedenen Tiefenebenen

Helden sind Personen, tot oder lebend, echt oder fiktiv, die Eigenschaften besitzen, welche in einer Kultur hoch angesehen sind; sie dienen daher als Verhaltensvorbilder. Selbst Fantasie- oder Comicfiguren wie Barbie, Batman oder als Kontrast Snoopy in den USA, Asterix in Frankreich oder Ollie B. Bommel (Mr. Bumble) in den Niederlanden, dienen als kulturelle Heldenfiguren. Im Zeitalter des 8Fernsehens hat das äußere Erscheinungsbild bei der Wahl von Helden heute eine größere Bedeutung als früher.

Rituale sind kollektive Tätigkeiten, die für das Erreichen der angestrebten Ziele eigentlich überflüssig sind, innerhalb einer Kultur aber als sozial notwendig gelten: sie werden daher um ihrer selbst willen ausgeübt. Formen des Grüßens und der Ehrerbietung anderen gegenüber, soziale und religiöse Zeremonien sind Beispiele hierfür. Geschäftliche und politische Zusammenkünfte, die aus scheinbar rationalen Gründen organisiert werden, dienen häufig vor allem rituellen Zwecken, beispielsweise um den Gruppenzusammenhalt zu stärken oder um den führenden Persönlichkeiten Gelegenheit zur Selbstbehauptung zu geben. Rituale beinhalten Diskurs, d.h. die Art und Weise, wie Sprache in Text und Gespräch eingesetzt wird, im täglichen Miteinander und bei der Weitergabe von Überzeugungen.6

In Abbildung 1.2 wurden Symbole, Helden und Rituale unter dem Begriff Praktiken zusammengefasst. Als solche sind sie für einen außen stehenden Beobachter sichtbar, aber ihre kulturelle Bedeutung ist nicht sichtbar; sie liegt genau und ausschließlich in der Art und Weise, wie diese Praktiken von Insidern interpretiert werden.

Den Kern der Kultur nach Abbildung 1.2 bilden die Werte. Als Werte bezeichnet man die allgemeine Neigung, bestimmte Umstände anderen vorzuziehen. Werte sind Gefühle mit einer Orientierung zum Plus- oder zum Minuspol hin. Sie betreffen:

böse

gut

schmutzig

sauber

gefährlich

sicher

verboten

erlaubt

anständig

unanständig

moralisch

unmoralisch

hässlich

schön

unnatürlich

natürlich

anomal

normal

paradox

logisch

irrational

rational

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Abb.1.3: Erlernen von Werten und Praktiken

Abbildung 1.3 verdeutlicht, wann und wo wir unsere Werte und Praktiken erwerben. Werte werden sehr früh im Leben erworben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Lebewesen ist der Mensch bei seiner Geburt nur sehr unvollständig für das Überleben gerüstet. Glücklicherweise sieht die Physiologie für uns Menschen einen Absorptionszeitraum von ca. 10–12 Jahren vor, in dem wir äußerst schnell und größtenteils unbewusst alle notwendigen Informationen aus unserer Umgebung aufnehmen. Dazu gehören Symbole wie die Sprache, Helden wie unsere Eltern und Rituale wie das Toilettentraining und – was am wichtigsten ist – unsere Grundwerte. Am Ende dieses Zeitraums gehen wir allmählich zu einer anderen, bewussten Lernweise über, die sich hauptsächlich auf neue Praktiken konzentriert.

10Kultur reproduziert sich selbst

Erinnern Sie sich an die Zeit, als Sie ein Kleinkind waren. Wie haben Sie Ihre Werte erworben? Die Erinnerung an die ersten Jahre ist weg, aber sie haben dennoch Einfluss auf Sie: Hat Ihre Mutter Sie den ganzen Tag auf dem Arm gehabt oder auf dem Rücken getragen, haben Sie bei ihr im Bett geschlafen oder mit Ihren Geschwistern? Oder wurden Sie in Ihr Kinderbett oder den Kinderwagen gelegt? Haben sich beide Elternteile um Sie gekümmert oder nur Ihre Mutter, oder andere Personen? War es laut bei Ihnen oder leise? Haben Sie schweigsame Menschen zu Gesicht bekommen, lachende, spielende, arbeitende, zärtliche oder gewalttätige? Was ist passiert, wenn Sie geweint haben?

Dann kommen die Erinnerungen. Wer waren Ihre Vorbilder, und was wollten Sie im Leben erreichen? Wahrscheinlich waren Ihre Eltern oder älteren Geschwister Ihre Helden, und Sie haben versucht sie nachzuahmen. Sie haben gelernt, was schmutzig und böse ist, und wie man sauber ist und gut. Sie haben zum Beispiel Regeln gelernt, was sauber und was schmutzig ist in Bezug auf die Körperfunktionen einschließlich spucken, mit der linken Hand essen, Nase putzen, „Geschäfte“ verrichten oder rülpsen in der Öffentlichkeit oder in Bezug auf Gesten wie das Berühren verschiedener Körperteile bzw. sie im Sitzen oder Stehen zur Schau zu stellen. Sie haben gelernt, wie schlimm es ist, gegen diese Regeln zu verstoßen. Sie haben gelernt, wie viel Initiative man von Ihnen erwartet, wie nah Sie Menschen sein sollen, und ob Sie Junge oder Mädchen sind, wer sonst noch Junge oder Mädchen ist und was es damit auf sich hat.

Dann, im Alter von 6 bis 12 Jahren sind Lehrer, Klassenkameraden, Sport- und Fernsehidole, Volks- oder religiöse Helden in Ihr Leben getreten und damit neue Vorbilder. Bald haben sie den/die eine(n) nachgeahmt, bald eine(n) andere(n). Eltern, Lehrer und andere haben Sie für Ihr Verhalten belohnt oder bestraft. Sie haben gelernt, ob es gut oder schlecht ist, Fragen zu stellen, seine Meinung zu sagen, zu kämpfen, zu weinen, hart zu arbeiten, zu lügen, unhöflich zu sein. Sie haben gelernt, wann Sie stolz sein können oder wann Sie sich schämen müssen. Sie haben sich auch, insbesondere mit 11Ihren Alterskameraden, in Sachen Politik geübt: Wie gewinnt man Freunde? Ist es möglich, in der Hierarchie aufzusteigen? Wie? Wer verdankt wem was?

Als Teenager hat sich Ihre Aufmerksamkeit auf Gleichaltrige verlagert. Sie waren intensiv damit beschäftigt, Ihre geschlechtliche Identität zu finden und Beziehungen zu Ihresgleichen aufzubauen. Je nachdem, in welcher Gesellschaft Sie lebten, haben Sie Ihre Zeit hauptsächlich in gleichgeschlechtlicher oder gemischtgeschlechtlicher Umgebung verbracht. Vielleicht haben Sie einige Ihrer Kameraden aufrichtig bewundert.

Später haben Sie wahrscheinlich unter ähnlichen Gesichtspunkten wie andere junge Leute Ihres Landes einen Partner/eine Partnerin gewählt. Vielleicht haben Sie Kinder, und dann beginnt alles wieder von vorne.

In diesem Kreislauf steckt eine enorm stabilisierende Kraft, die von Biologen als Homöostase bezeichnet wird. Bei Eltern besteht – gewollt oder ungewollt – die Neigung zur Reproduktion ihrer eigenen Erziehung. Der Technik fällt dabei nur eine bescheidene Rolle zu. Den herausragenden Anteil am Lernprozess im zarten Kindesalter haben der Körper und die Beziehungen zu den Mitmenschen. Dass gerade in diesen Bereichen intensive Tabus begründet sind, ist kein Zufall.

Viele der eigenen Werte sind dem betreffenden Menschen nicht bewusst, weil er sie so früh im Leben erworben hat. Man kann daher nicht über sie diskutieren, und für Außenstehende sind sie nicht direkt wahrnehmbar. Man kann lediglich aus der Art und Weise, wie Menschen unter verschiedenen Umständen handeln, auf sie schließen. Wenn man fragt, warum sie gerade so handeln, könnten sie zur Antwort geben, dass sie eben „wissen“ oder „fühlen“, was das Richtige ist. Ihr Herz oder das Gewissen sagt es ihnen.

Keine Gruppe kann der Kultur entkommen

Normalerweise ist Kultur beständig. Wenn Sie aber auf hoher See in einen Sturm gerieten und sich gemeinsam mit 29 anderen Ihnen unbekannten Menschen gestrandet auf einer unbewohnten Insel wiederfänden, was würden Sie tun?7 Wenn Sie und Ihre Mitreisenden 12aus verschiedenen Teilen der Erde kämen, würden Ihnen eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Gewohnheiten fehlen. Ihre erste Aufgabe wäre es, die Grundzüge einer gemeinsamen Sprache zu entwickeln und Richtlinien aufzustellen, die Verhalten, Zusammenarbeit und Führungsanspruch regeln. Rollenverteilungen zwischen jung und alt, Mann und Frau werden sich ergeben. Konflikte werden entstehen, mit denen man irgendwie umgehen muss. Wer ist verantwortlich, wenn zwei Menschen zusammenkommen? Wer kümmert sich um die Kranken, die Toten und die Kinder, die auf der Insel zur Welt kommen?

Dieses Beispiel soll zeigen, dass keine Gruppe der Kultur entkommen kann. Das Aufstellen gemeinsamer Regeln, selbst wenn sie nicht schriftlich festgehalten werden, ist Voraussetzung für das Überleben der Gruppe. Diese Gruppe von dreißig zufällig zusammengekommenen Menschen wird Pionierarbeit leisten und eine neue Kultur schaffen müssen. Die Einzelheiten dieser Kultur werden größtenteils vom Zufall abhängen, der Übernahme von bestehenden Werten besonders derjenigen Gruppenmitglieder, die sich am meisten hervortun. Ist die Kultur erst einmal festgelegt, und geht man davon aus, dass Kinder in die Gruppe geboren werden, so wird sich diese Kulture selbst reproduzieren.

Werte und der Moral-Zirkel

Während des Zweiten Weltkriegs, in den Jahren von 1940 bis 1945, waren die Niederlande von den Deutschen besetzt. Im April 1945 traten die deutschen Truppen einen ungeordneten Rückzug an und konfiszierten dabei viele Fahrräder der holländischen Bevölkerung. Im April 2009 erhielt der Kirchenvorstand der Pfarrgemeinde St. Katharina in der holländischen Stadt Nijkerk den Brief eines ehemaligen deutschen Soldaten, der sich auf seiner Flucht vor den heranrückenden Kanadiern nach Deutschland ein vor der Kirche abgestelltes Fahrrad genommen hatte. Der Verfasser des Briefes wollte Schadenersatz leisten und bat den Kirchenvorstand, den Besitzer bzw. dessen Erben ausfindig zu machen, um dem Geschädigten den Schaden zu ersetzen.813Es ist verblüffend, dass Menschen großartige Fähigkeiten besitzen, wenn es um Reflexion, Empathie und Kommunikation geht, sie aber dennoch Konflikte zwischen Gruppen mit massiven Mitteln austragen können, selbst wenn es sich nur um Kleinigkeiten handelt. Warum gibt es also immer noch Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen, wenn sie doch ganz offensichtlich so viel Zerstörung anrichten? Anscheinend legen wir für Mitglieder unserer Gruppe nicht denselben moralischen Maßstab an wie für andere. Doch wer ist denn „unsere Gruppe“? Dabei handelt es sich wohl um die Schlüsselfrage einer jeden Gruppe, und von Kindheit an lernen wir, wer zu unserer Gruppe gehört und wer nicht, und was das bedeutet. Menschen ziehen eine gedankliche Linie um die, die sie als zu ihrer Gruppe zugehörig betrachten. Nur die Mitglieder des so skizzierten Moral-Zirkels genießen sämtliche Rechte und Pflichten.9

Der deutsche Soldat in unserer Geschichte hat wahrscheinlich lange Jahre damit zugebracht, seine Kriegserfahrungen zu überdenken. Im Alter schließlich hat er sich neu definiert als Mitglied desselben Moral-Zirkels wie der Kirchenbesucher, dem er vierundsechzig Jahre zuvor das Fahrrad weggenommen hatte. Fortan betrachtet er die Beschlagnahmung des Fahrrads als Diebstahl, für den er Schadenersatz leisten möchte.

Unsere mentalen Programme sind dem Leben in einem Moral-Zirkel angepasst. Wir sind stolz auf die Leistungen unserer Kinder, wir freuen uns, wenn unsere Lieblingsmannschaft im Sport gewinnt, viele von uns singen patriotische oder religiöse Lieder mit viel Gefühl und schwören den Eid auf die nationale Fahne. Wir schämen uns für das Versagen von Mitgliedern unserer Gruppe und fühlen uns schuldig für ihre Straftaten. Zwischen den Gruppen gibt es allerdings Unterschiede in der Feinabstimmung dieser Emotionen: in manchen Gesellschaften kann eine Frau von männlichen Familienmitgliedern umgebracht werden, weil Gerüchte laut wurden, dass sie mit dem falschen Mann geschlafen hat, in anderen Gesellschaften wiederum kann ein Mann gesetzlich bestraft werden, weil er für Sex bezahlt hat. Dennoch sind moralische gruppenbezogene Emotionen allgemeingültig. Selbst bei belanglosen Dingen wie Sportveranstaltungen, Songfestivals oder Quizshows im Fernsehen hegen 14wir solche Emotionen. Der Moral-Zirkel wirkt sich nicht nur auf unsere Symbole, Helden und Rituale aus, sondern beeinflusst auch unsere Werte.

In Gesellschaften mag es unterschiedliche Meinungen darüber geben, wer in der Gruppe gut ist und wer böse. Die Politik dient dazu, den Unterschied herauszufiltern. In Gesellschaften mit pluralistischer Politik schützen die Parteien des rechten Flügels üblicherweise die starken Mitglieder, die des linken Flügels schützen die schwachen Mitglieder, grüne Parteien schützen die Umwelt und populistische Parteien brandmarken Teile der Bevölkerung als Schurken. Staatsführer wie der frühere US-Präsident George W. Bush versuchen, den inneren Gruppenzusammenhalt zu fördern, indem sie Feindbilder aufbauen: sie verkleinern den Moral-Zirkel in gleicher Weise, wie es Populisten und Diktatoren häufig tun. Die Wahrnehmung einer Drohung bringt Menschen dazu, geschlossen hinter ihrem aktuellen Führer zu stehen. Staatschefs wie US Präsident Barack Obama bemühen sich, den Moral-Zirkel zu vergrößern, indem sie Freunde schaffen, wie man es von Diplomaten und Verhandlungsführern kennt. Dabei riskieren sie allerdings einen Riss im eigenen Moral-Zirkel. Der ägyptische Präsident Anwar el-Sadat (1918–1981) und der israelische Premierminister Yitzchak Rabin (1922–1995) wurden beide von einem Täter aus den eigenen Reihen ermordet, nachdem eine Aussöhnung mit dem traditionellen Feind stattgefunden hatte.

Der Moral-Zirkel ist in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und auf unterschiedlichen Ebenen ausgehend von einer einzigen Heirat bis zur Menschheit als Ganzes der entscheidende Faktor unseres sozialen Lebens, der Kultur schafft und weiterträgt.

Grenzen des Moral-Zirkels: Religion und Philosophie

Philosophie, Spiritualität und Religion sind Möglichkeiten, den Unterschied zwischen Gut und Böse herauszufiltern. Seit 2.500 Jahren lehren Philosophen im Osten und im Westen die Goldene Regel: „Behandle andere so wie du von ihnen behandelt werden möchtest“, was sich wie eine Bestätigung des Moral-Zirkels liest.10 Religiöse Gebote 15wie z. B. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ dienen demselben Zweck. Religiöse Sekten ziehen den Moral-Zirkel gerne um die Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft. Moralische Rechte und Pflichten und die Belohnung im Jenseits werden nur Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft gewährt. Religion als solche und die wie auch immer gearteten spezifischen Überzeugungen einer einzelnen Konfession spielen eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung und Darstellung von Moral-Zirkeln.

Es kann zu einem Konkurrenzkampf zwischen Ländern und Religionen kommen, wenn beide versuchen, einen Moral-Zirkel auf Gesellschaftsebene im selben Land zu entwerfen. Das ist schon häufig in unserer Geschichte vorgekommen und passiert auch heute noch. Die Heftigkeit dieser Auseinandersetzungen zeugt davon, wie wichtig es ist, einem Moral-Zirkel anzugehören. Ebenso wird deutlich, welches Vorrecht es ist, derjenige zu sein, der seine Grenzen festlegt. Üblicherweise ergreifen neu ernannte Führer durch Besuche und Ansprachen Maßnahmen zur Neudefinierung der Grenzen des Moral-Zirkels, dem sie vorstehen.

Einige Gesellschaften und Religionen tendieren dazu, den Moral-Zirkel möglichst weit zu fassen und alle Menschen als Mitglieder einer einzigen moralischen Gemeinschaft zu betrachten. In diesem Sinne sind auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte11 und Aufrufe zur Entwicklungshilfe zu verstehen. Selbst Tiere können in den Moral-Zirkel mit einbezogen werden: Menschen gründen Verbände oder gar politische Parteien, um die Rechte der Tiere zu schützen, Haustiere erhalten ein feierliches Begräbnis. In einem derart weit gefassten Moral-Zirkel verwässern aber zwangsläufig Rechte und Pflichten. Im Laufe der Geschichte hatten Religionen mit einer toleranten Einstellung zu religiöser Vielfalt das Nachsehen gegenüber solchen, die eher nur auf sich selbst konzentriert waren. Weltreiche haben sich meist von innen her aufgelöst.

Auch die Regeln für den Umgang mit bösen Menschen und mit vermeintlichen Neulingen sind je nach Gesellschaft unterschiedlich; Beispiele dafür folgen in den nächsten Kapiteln. Wir Menschen verhandeln beständig die Grenzen unserer Moral-Zirkel und gehen je nach Kultur dabei unterschiedliche Wege. Bei der Kultur geht es darum, 16wie man ein gutes Mitglied im Moral-Zirkel wird, und zwar abhängig von den Eigenschaften, die man mitbringt oder die einem zugeschrieben werden, es geht weiter darum, was man tut, wenn Menschen böse sind und wen man fragen muss, um zugelassen zu werden.

Jenseits von Rasse und Familie

Einmal nahm Gert Jan den Nachtzug von Wien nach Amsterdam. Eine ältere Dame aus Österreich saß mit ihm im Abteil und bot ihm leckere Aprikosen aus dem eigenen Garten an. Dann betrat ein gut aussehender schwarzer junger Mann das Abteil. Die ältere Dame schien schreckliche Angst zu haben, sich plötzlich in Reichweite eines Schwarzen wiederzufinden, und Gert Jan machte sich an die Arbeit und bemühte sich, die angenehme Atmosphäre wiederherzustellen. Wie sich herausstellte, war der junge Mann surinamischer Herkunft und klassischer Balletttänzer des Holländischen Nationalballetts, der in Wien einen Auftritt gehabt hatte. Aber die Dame war immer noch außer sich vor Angst – Xenophobie – Fremdenangst im wahrsten Sinne des Wortes. Als der Tänzer und Gert Jan sich über Musik unterhielten, konnte damit ihrer Meinung nach nur Afrikanisches Tam-Tam gemeint sein. Glücklicherweise war der Tänzer ein weitgereister Mann und nahm es nicht persönlich. Nach höflichem Geplauder in Englisch trafen alle drei sicher in Amsterdam ein.

Menschen, deren Vorfahren aus den verschiedenen Teilen der Erde kommen, sehen unterschiedlich aus. Manches, was uns genetisch unterscheidet, ist von außen sichtbar, wenn auch unsere genetische Abweichung als Spezies klein ist, kleiner als z. B. bei Schimpansen. Biologen bezeichnen das menschliche Erbgut als gut durchmischt. Mit Sicherheit sind wir eine einzige Spezies, und vom moralischen Standpunkt her ist es besser zu sagen, dass wir eine menschliche Rasse sind.12 Biologisch gesehen gibt es unterschiedliche Rassen in unser Spezies, die anhand visueller und genetischer Mittel bestimmt werden können. Genetische Unterschiede sind jedoch nicht der Hauptgrund für die Abgrenzung von Gruppen. In unseren Genomen herrscht Kontinuität, nicht aber in unserer Gruppenzugehörigkeit. Millionen von Migranten leben in anderen Kontinenten als 17ihre Vorfahren. Man muss schon ein sehr erfahrener Beobachter sein, will man allein durch bloßes Anschauen sowohl die ethnische Herkunft als auch die angenommene Nationalität eines Menschen erraten. Und doch spielt das Erkennen der Gruppenidentität eine wichtige Rolle. Religion, Sprache und andere symbolische Gruppengrenzen haben für uns Menschen große Bedeutung, und wir verbringen viel Zeit damit, sie zu errichten, darüber zu verhandeln und sie zu ändern. Menschen können sich über alle möglichen Angelegenheiten einigen oder streiten: die Palette reicht von der guten alten Familienfehde bis hin zum Revierkampf, Verteidigung der Ehre als Antwort auf eine Beleidigung, oder man streitet über die Bedeutung eines Buches.

Die historische Erweiterung menschlicher Gesellschaften auf Millionen von Individuen hat die Natur von Beziehungen verändert. Viele Menschen fühlen sich heute mit anderen „verwandt“, weil sie mit ihnen die symbolische Mitgliedschaft in einer Gruppe gemeinsam haben, und nicht zwangsläufig eine genetische Beziehung mit ihnen teilen. Wir kämpfen und sterben für unser Land, manchmal sogar für unsere Fußballmannschaft. Wir finden uns zusammen in ekstatischen Massen, die Einigkeit empfinden, wenn sie gemeinsam mit Millionen anderer einem Popstar, einem fesselnden Politiker oder einem charismatischen Prediger huldigen. Wir sind aktiv in sozialen Netzwerken und tauschen uns per Computer mit Menschen aus aller Welt aus; Beziehungen, die hier entstehen, können von Bedeutung sein, selbst dann, wenn wir die Menschen noch nie persönlich getroffen haben. Wir haben Gesetze, die Menschen unabhängig von ihren familiären Bindungen Rechte und Pflichten zuweisen; Ausnahmen gibt es in speziellen Fällen wie z. B. Geburt und Erbschaft. Der Familienzusammenhalt spielt immer noch eine wichtige Rolle, und das wird zweifellos auch so bleiben, dennoch ist er Teil eines größeren gesellschaftlichen Rahmens. Wir leben in Gesellschaften, die so groß sind, dass Blutsbande nicht der einzige oder gar wichtigste Weg zur Bestimmung moralischer Rechte und Pflichten sein können. Und doch ist Blut ohne Frage immer noch dicker als Wasser, und dieser Grundsatz gilt in manchen Gesellschaften mehr als in anderen, wie wir in Kapitel 4 sehen werden.

18Wir und Sie

Sozialwissenschaftler benutzen die Begriffe Eigengruppe und Fremdgruppe. Eigengruppe bezieht sich auf das, was wir intuitiv als „wir“ empfinden und Fremdgruppe auf „sie“. Tatsächlich funktionieren Menschen auf diese einfache Art und Weise: Wir haben ständig das Bedürfnis, andere in eine von beiden Gruppen einzuordnen. Die Definition von Eigengruppe ist in manchen Gesellschaften ziemlich variabel, aber sie ist immer erkennbar. Wir nutzen sie für die Gegenüberstellung von Familie und angeheirateter Verwandschaft („die kalte Seite der Familie“), von unserer Mannschaft und den Gegenspielern, von Menschen, die aussehen wie wir und einer anderen Rasse. In einem Experiment testeten US-amerikanische Forscher, wie emotional amerikanische Probanden mit afrikanischen und europäischen Wurzeln auf Bilder reagierten, die Mitglieder ihrer eigenen oder der anderen ethnischen Gruppe zeigten.13 Sowohl bei den amerikanischen Teilnehmern afrikanischer Abstammung als auch bei denjenigen mit europäischen Wurzeln waren die Reaktionen auf emotionaler und physiologischer Ebene stärker, wenn sie Bilder von Menschen der eigenen Rasse anschauten als bei Bildern von Menschen der anderen Rasse. Emotional waren sie also stärker eingebunden, wenn es sich um Mitglieder der Eigengruppe handelte. Bei dem Experiment ergab sich eine Empathie für die Eigengruppe, eine generelle Antipathie für die Fremdgruppe wurde jedoch nicht festgestellt.

Auch das Geschlecht spielt eine Rolle bei der Wir-Sie-Dynamik, wie es nicht anders zu erwarten ist bei einer Spezies, deren Geschlechterrollen historisch sehr unterschiedlich waren, als es zur Überschreitung der Gruppengrenzen kam. Frauen kamen in der Regel als junge Erwachsene in andere Gruppen und führten ihr Leben als loyale Mitglieder der neuen Gruppe fort. Männer kamen häufig in neue Gruppen, um diese zu beherrschen oder zu bekämpfen. Sowohl Männern als auch Frauen fällt es leicht, die Furcht vor einem fremdartig aussehenden weiblichen Wesen zu überwinden, Gesichter von männlichen Wesen einer Fremdgruppe machen ihnen aber gewöhnlich weiterhin Angst.14 Natürlich hängt dies auch davon ab, 19an welche Gesichter man denkt, wenn man von Fremdgruppe spricht, und das wiederum hängt zusammen mit den Erfahrungen, die man als Kind damit gemacht hat.

In „Wir gegen Sie“ – Versuchen können neben dem Einsatz von Fragebögen physiologische Messungen vorgenommen werden, um Angst zu messen. Der menschliche Körper kann Geschichten erzählen, die für den Geist tabu sind. Diese Ergebnisse bestätigen, dass Familie in einem sehr weiten Sinn an die menschliche Sozialbiologie gekoppelt ist, und dass ethnische Merkmale sehr wichtig sind als schnelle Hilfe für eine Entscheidung, wer zu wem gehört. Menschen sind nun einmal „Wir gegen Sie“-Geschöpfe. In der frühen Kindheit können sie lernen, jeden bzw. jedes Gesicht als „Wir“ zu betrachten; doch schon nach wenigen Monaten ist dieser Wiedererkennungsprozess abgeschlossen. Danach wird es schwer für den Menschen, seine intuitiven „Wir-Sie“-Reaktionen auf Rassenmerkmale zu verändern. Physiologische Reaktionen auf eine „Wir-Sie“-Situation können allerdings auf jeglicher Art von Unterscheidung zwischen Gruppen basieren, selbst zwischen Studenten verschiedener Fachbereiche an einer Universität.15

Ideologien als Kennzeichnung der Gruppe

Was würden Sie sagen, wenn Sie die Möglichkeit hätten, drei Aussagen zu Ihrer Person zu machen? Würden Sie individuelle Merkmale wie z. B. Ihre Augenfarbe erwähnen, welchen Sport oder welches Essen Sie am liebsten mögen? Wahrscheinlich würden Sie eher Eigenschaften nennen, die Sie als Mitglied einer Gruppe kennzeichnen wie Geschlecht, Beruf, Nationalität oder Religion, welche Mannschaft Sie favorisieren, welche Rolle in der Gesellschaft Sie inne haben. Selbst wenn Sie nur persönliche Attribute nennen, so sind dies wahrscheinlich solche, die von Menschen, die ihnen etwas bedeuten, wertgeschätzt werden. Die soziale Aktivität der Menschen wird zu einem Großteil ausdrücklich dazu aufgewendet, symbolische Gruppenbindungen aufrecht zu erhalten. Die meisten Menschen sind die meiste Zeit damit beschäftigt, gute Mitglieder der Gruppen zu sein, zu denen sie gehören. Zum Ausdruck bringen sie 20dies durch ihre Kleidung, ihre Bewegungen, ihre Art zu reden, ihren Besitz, ihre Arbeit. Sie verbringen Zeit mit diesen Gruppen und pflegen Rituale, die sie stark machen: reden, lachen, spielen, berühren, singen, spielerisch kämpfen, essen, trinken …. All diese Aktivitäten zielen darauf ab, den Moral-Zirkel zu verstärken. Bewusst würden allerdings nur wenige einen solchen Blick auf unser tägliches Leben haben. Stattdessen beschreiben Menschen das, was sie tun im Hinblick auf die ideologische Rechtfertigung ihrer Aktivitäten. Sie gehen zur Arbeit, sie machen strategische Pläne, sie bilden Teams, sie besuchen Gottesdienste, sie dienen ihrem Land, sie feiern einen besonderen Anlass.

Daher sehen die meisten Menschen Unterschiede dort, wo ein Anthropologe oder ein Biologe Ähnlichkeiten entdeckt. Diese Unterschiede sind wichtig, da wir ständig festlegen und neu bestimmen, wer zu welcher Gruppe gehört und welche Rolle er/sie dort spielt. Gruppen gründen und von einer in die andere wechseln ist eine der Hauptaktivitäten im Leben der Menschen. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Regeln im Hinblick darauf, wie schlimm es ist, eine Gruppe zu verlassen und einer anderen beizutreten. Es überrascht nicht, dass viele Gruppen streng untersagen, die Gruppe zu verlassen und manchmal sogar harte Strafen androhen. Einer Minderheitenreligion anzugehören, ist zum Beispiel niemals leicht, gleich, in welchem Land man lebt. Das Ausmaß der Strafe, mit dem abweichende symbolische Identitäten und Verhaltensweisen geahndet werden, unterscheidet sich enorm in den verschiedenen Gesellschaften, wie in den folgenden Kapiteln noch ausgeführt wird.

Kulturebenen

Tatsächlich ist es so, dass jeder von uns im Laufe seines Lebens seinen Platz in vielen Moral-Zirkeln finden muss. Jede Gruppe oder Kategorie von Menschen besitzt einen Satz gemeinsamer mentaler Programme, die ihre Kultur begründen. Da fast jede(r) gleichzeitig einer ganzen Reihe von verschiedenen Gruppen und Kategorien angehört, trägt er/sie zwangsläufig mehrere Schichten mentaler Programmierung 21in sich, die unterschiedlichen Kulturebenen entsprechen, insbesondere:

Die diesen verschiedenen Ebenen entsprechenden mentalen Programme stehen nicht unbedingt miteinander in Einklang. In unserer modernen Gesellschaft stehen sie häufig teilweise in Gegensatz zueinander: so können beispielsweise religiöse Werte gegen Generationswerte stehen oder Werte des Geschlechts gegen Praktiken der Organisation. Aufgrund widersprüchlicher mentaler Programme im Innern eines Menschen ist es schwierig, dessen Verhalten in einer neuen Situation vorherzusehen.

Kulturwandel: wechselnde Praktiken, beständige Werte

Wenn Sie mit einer Zeitmaschine 50 Jahre zurück in die Zeit Ihrer Eltern oder Großeltern reisen könnten, würden Sie eine sehr veränderte Welt vorfinden. Es gäbe weder Computer noch Fernseher. Die Städte würden klein und provinziell erscheinen ohne die großen Einzelhandelsketten, und nur hin und wieder käme ein Auto vorbei. Gehen Sie noch einmal 50 Jahre zurück, und die Autos verschwinden 22