Aus dem Englischen von Doris Hummel

Impressum

Die englische Originalausgabe Broken Angels

erschien 2013 im Verlag Head Of Zeus Ltd.

Copyright © 2013 by Graham Masterton

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Umschlaggestaltung: © Designomicon | Anke Koopmann,

unter Verwendung von Motiven von iStock und shutterstock

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-576-5

www.Festa-Verlag.de

Für meine geliebte Wiescka

17. April 1946 – 27. April 2011

Für immer verehrt, niemals vergessen

»Is milis dá ól é ach is searbh dá íoc é.«

Irisches Sprichwort

»Süß schmeckt der Trank, doch bitter die Zeche.«

1

Zuerst hielt er es für einen schwarzen Müllsack, den einer der Traveller in den Fluss geworfen hatte, voll mit dreckigen Windeln oder erdrosselten Hundewelpen. »Scheiße«, fluchte er leise.

Er holte die Leine ein und watete durch das flache Wasser darauf zu, seine Angel über die Schulter gelegt. Was ihn betraf, so war der Blackwater heilig. Sein Vater hatte ihn zum ersten Mal zum Königslachsfischen mitgenommen, als er acht Jahre alt gewesen war. Seither kam er jedes Jahr zum Angeln hierher. Dies war Irlands schönster Fluss und man lud nicht einfach seinen alten Müll darin ab.

»Denis!«, rief Kieran ihm nach. »Wo willst du denn hin, Kumpel? Da drüben fängst du dir nicht mal ’ne Erkältung ein, von ’nem Lachs ganz zu schweigen!« Kierans Stimme hallte über die glasige Wasseroberfläche. Es klang, als würde er in einer riesigen Konzerthalle rufen. Der Wind rauschte durch die Bäume am gegenüberliegenden Ufer und applaudierte ihm leise.

Denis erwiderte nichts. Je weiter er sich dem Müllsack näherte, desto offensichtlicher wurde, dass es gar kein schwarzer Plastiksack war. Als er ihn erreichte, erkannte er, dass es sich um einen Mann handelte, der von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war – in die Soutane eines Priesters, wie es aussah.

»Mein Gott«, stieß Denis aus und legte seine Angel vorsichtig am Flussufer ab.

Der Mann lag auf der Seite, auf einem schmalen Kiesbett, die Beine halb ins Wasser getaucht. Seine Hände schienen hinter dem Rücken gefesselt zu sein und die Knie und Fußgelenke waren ebenfalls zusammengebunden. Sein Gesicht war von Denis abgewandt, aber das dünne silbergraue Haar deutete darauf hin, dass er wahrscheinlich Ende 50 oder Anfang 60 war. Er wirkte sehr beleibt, aber Denis konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Vater gestorben war: Er hatte fast eine ganze Woche in seiner Kellerwohnung gelegen, bevor ihn jemand gefunden hatte, und war so aufgedunsen gewesen, dass er aussah wie ein blassgrünes Michelin-Männchen.

»Kieran!«, brüllte er. »Komm sofort hierher und schau dir das an! Hier liegt ’n Toter!«

Kieran zog seine Leine ein und watete durch das aufspritzende flache Wasser. Sein errötetes Gesicht war von feurig roten Locken umrahmt und von Sommersprossen überzogen und die dicht zusammenliegenden Augen leuchteten so tiefblau, dass er beinahe wie ein Wahnsinniger aussah. Er war Denis’ Schwager und acht Jahre jünger als er. Sie hatten nicht das Geringste gemeinsam, abgesehen von ihrer Leidenschaft fürs Lachsfischen. Aber sofern es Denis anging, war das absolut perfekt. Beim Lachsfischen war höchste Konzentration gefordert – und völlige Stille.

Lachsfischen brachte einen Menschen Gott näher als jedes Gebet.

»Heilige Maria, Mutter Gottes«, stieß Kieran aus, stellte sich zu Denis neben die Leiche und bekreuzigte sich. »Das ist ’n Priester, würde ich sagen.« Er hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Der ist tot, oder?«

»Nein, Quatsch, er macht nur ’n Nickerchen im Fluss. Natürlich ist er tot, du Idiot.«

»Wir sollten besser die Polizei rufen«, sagte Kieran und holte sein Handy heraus. Er wollte gerade den Notruf wählen, zögerte dann jedoch. Sein Finger schwebte über den Tasten. »Hey … die werden doch nicht denken, dass wir ihn umgebracht haben, oder?«

»Ruf sie einfach an«, blaffte Denis ihn an. »Wenn wir das gewesen wären, würden wir sicher nicht noch hier rumhängen wie zwei Volltrottel, oder?«

»Nein, du hast recht. Wir hätten uns schon längst aus dem Staub gemacht.«

Während Kieran die Garda anrief, umkreiste Denis vorsichtig die Leiche und seine Watstiefel knirschten dabei auf dem Kies. Die Augen des Mannes waren geöffnet und er starrte aufs Wasser, als könnte er selbst nicht begreifen, was er hier machte. Es bestand jedoch nicht der geringste Zweifel daran, dass er tot war. Denis ging neben ihm in die Hocke und beäugte ihn gründlich. Er kam ihm bekannt vor, obwohl ihm nicht sofort einfiel, warum. Es waren diese buschigen weißen Augenbrauen und die rotbraunen geplatzten Adern auf seinen Wangen, aber vor allem die auffällige Spalte in der Spitze seiner Knollennase. Seine Unterlippe war aufgerissen, so als hätte ihm jemand einen sehr harten Schlag verpasst.

»Die Bullen sind unterwegs«, verkündete Kieran und hielt sein Handy hoch. »Sie meinten, wir sollen nichts anfassen.«

»Ach? Dabei hatte ich genau das gerade vor! Du solltest mal auf diese Seite rüberkommen – er fängt schon an zu verfaulen.«

»Ich hab gerade meine Sandwiches gegessen, vielen Dank. Thunfisch und Tomate.«

Die beiden standen neben der Leiche und wussten nicht recht, was sie als Nächstes tun sollten. Es erschien ihnen respektlos, einfach wieder angeln zu gehen, obwohl Denis aus dem Augenwinkel hin und wieder etwas Silbernes im Wasser aufblitzen sah. Er hatte gehofft, heute seinen ersten Königslachs der Saison zu fangen, denn die Bedingungen waren schlichtweg perfekt.

»Was glaubst du, wer ihn umgebracht hat?«, fragte Kieran. »Wer immer das auch getan hat, er hat ihm vorher ’nen ordentlichen Schlag auf den Schädel verpasst.«

Denis neigte den Kopf zur Seite, um sich das Gesicht des Mannes noch mal anzuschauen. »Weißt du was? Ich glaub, ich kenn’ den. Er ist zwar viel älter als beim letzten Mal, als ich ihn gesehen hab, wenn er’s denn wirklich ist. Aber das ist ja auch kein Wunder, ist schließlich 15 Jahre her.«

»Und was glaubst du, wer das ist?«

»Ich glaube, das ist Father Heaney. Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Seine Augenbrauen waren früher allerdings schwarz. Ich fand immer, dass sie aussahen wie zwei dieser riesigen haarigen Spinnen. Du weißt schon, wie diese Taranteln. Seine Brille hat er auch nicht auf, aber diesen Zinken würde ich überall erkennen.«

»Und woher kennst du ihn?«

»Aus der Schule. Er hat Musik unterrichtet. Er war ’n echt harter Hund, so viel ist sicher. Keine Stunde, in der er nicht jemandem ’ne schallende Ohrfeige verpasst hätte, wegen nichts und wieder nichts. Er hat immer gesagt, dass ich mich beim Singen anhöre wie ’ne knarrende Tür.«

Kieran schniefte und wischte sich die Nase mit der Unterseite seines Ärmels ab. »Sieht aus, als hätte zur Abwechslung diesmal ihm jemand eine verpasst.«

Denis erwiderte nichts, sondern stand nur im Fluss, neben der Leiche von Father Heaney, während der Wind in den Bäumen flüsterte und er das Gefühl hatte, in der Zeit zurückzureisen. Er konnte beinahe hören, wie der Schulchor das Kyrie Eleison mit süßen, durchdringenden Stimmen sang – und das Donnern von Schritten auf dem Korridor, gefolgt von Father Heaneys bellender Stimme: »Geh langsam, O’Connor! Du kommst auch nicht schneller in den Himmel, wenn du rennst!«

2

Katie machte die Augen auf und sah, dass John am Schlafzimmerfenster stand, mit einer Hand die Vorhänge mit dem Rosenmuster einen Spalt öffnete und auf die Felder hinausschaute.

Das frühmorgendliche Sonnenlicht erleuchtete seinen nackten Körper – er sah aus wie ein Gemälde eines mittelalterlichen Heiligen, vor allem, weil er sich das dunkle lockige Haar hatte länger wachsen lassen, seit Katie ihn kennengelernt hatte, und sein Brusthaar ein schwarzes Kruzifix bildete. Er war auch dünner geworden und viel muskulöser, nachdem er nun seit eineinhalb Jahren auf dem Hof arbeitete.

»Du siehst ja ziemlich nachdenklich aus«, bemerkte Katie und stützte sich auf den Ellenbogen auf.

John drehte ihr den Kopf zu und schenkte ihr ein zerbrechliches Lächeln. Das Sonnenlicht verwandelte seine braunen Augen in glänzende Achate. »Ich hab mir nur die Sommergerste angesehen, das ist alles.«

»Und was genau dabei gedacht?«

Er ließ den Vorhang wieder fallen, kam zurück zum Bett und stellte sich neben sie, als wollte er ihr etwas Wichtiges mitteilen. Als sie zu ihm hochblickte, sagte er jedoch kein Wort, sondern lächelte nur weiter zu ihr hinunter.

Sie streckte die linke Hand aus, legte sie sanft um ihn und streichelte mit der Spitze ihres rechten Zeigefingers zärtlich seinen Penis. »Diese Frucht sieht jetzt schon ziemlich reif aus«, neckte sie ihn. »Warum lässt du mich sie nicht mal kosten?«

Er grunzte amüsiert, beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie auf den Kopf und setzte sich neben sie. Sie liebkoste seinen Penis noch eine Weile, aber schließlich packte er sie zärtlich am Handgelenk und zwang sie, aufzuhören.

»Ich muss dir was sagen, Katie«, begann er. »Ich wollte es dir schon gestern Nacht sagen, aber wir hatten solchen Spaß.«

Katie sah ihn stirnrunzelnd an. »Was ist denn los? Komm schon, John, jetzt mach ich mir Sorgen. Es ist doch nicht wegen deiner Mutter, oder?«

»Nein, nein. Mam geht’s gut. Für den Moment. Die Ärzte meinten sogar, dass sie in ein, zwei Wochen vielleicht wieder nach Hause kann.«

»Und was ist es dann?«

Er wollte ihr gerade antworten, als Katies Handy die ersten drei Takte von The Fields of Athenry spielte. »Warte bitte ganz kurz«, sagte sie und streckte sich zum Nachttisch hinüber, um den Anruf entgegenzunehmen. »Superintendent Maguire hier. Wer spricht, bitte?«

»Detective O’Sullivan, Ma’am. Tut mir leid, wenn ich Sie störe. Aber wir wurden nach Ballyhooly gerufen. Zwei Angler haben eine Leiche im Fluss gefunden.«

»Wonach sieht es denn aus? Unfall, Selbstmord oder Mord?«

»Mord, daran besteht kein Zweifel. Er war wie ein Truthahn zusammengeschnürt und wurde stranguliert.«

»Wer leitet die Ermittlungen da oben?«

»Für den Moment Sergeant O’Rourke, Ma’am. Aber er findet, Sie sollten herkommen und sich das selbst ansehen.«

»Oh, verflucht noch mal. Kann er das nicht regeln? Heute ist mein freier Tag. Um genau zu sein, ist heute mein erster freier Tag seit Wochen.«

»Sergeant O’Rourke findet aber wirklich, dass Sie sich das anschauen sollten, Ma’am. Und wir brauchen jemanden, der sich um die Medien kümmert. Wir haben schon RTÉ News hier oben und Dan Keane vom Examiner. Und sogar eine Kleine vom Catholic Recorder

Katie griff nach ihrer Armbanduhr und warf einen Blick darauf. »Schon gut, Paddy. Geben Sie mir 15 Minuten.«

Sie schwang die Beine über die Bettkante.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich John.

»Die Pflicht ruft, was denkst du wohl? Irgendjemand hat im Blackwater eine Leiche gefunden. Und aus irgendeinem Grund will Jimmy O’Rourke, dass ich hinfahre und mir die Sache selbst anschaue.«

Sie schlüpfte in das weiße Hüfthöschen aus Satin, das sie gestern auf dem Lehnstuhl neben dem Bett hatte liegen lassen, und zog sich ihren BH an. »Soll ich dich hinfahren?«, bot John ihr an.

Sie streifte sich den dunkelgrünen Pullover mit Polokragen über den Kopf und ihr kurzes kupferrotes Haar stand wie ein Hahnenkamm in die Luft. »Nein, danke. Das könnte da oben Stunden dauern. Aber ich ruf dich an, sobald ich kann. Aber was wolltest du mir denn eigentlich eben sagen?«

John schüttelte den Kopf. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Das hat Zeit bis später.«

Sie knöpfte ihre enge schwarze Jeans zu und zog den Reißverschluss der hochhackigen Stiefel nach oben. Dann ging sie ins Badezimmer und starrte ihr Spiegelbild über dem Waschbecken an. »Gott, schau dir nur mal diese Tränensäcke unter meinen Augen an! Da muss ja jeder denken, ich hätte die ganze Nacht wilde Orgien gefeiert.«

»Das hast du ja auch«, erwiderte John. Er sah zu, wie sie ihr Augen-Make-up und den blassrosa Lipgloss auftrug. Er fand immer, dass sie mit ihren grünen Augen, den hohen Wangenknochen und dem leichten Schmollmund aussah, als wäre sie ganz entfernt mit den Elfen verwandt. Sie war nur 1,65 Meter groß, hatte aber eine unglaubliche Persönlichkeit. Es fiel ihm überhaupt nicht schwer, zu verstehen, wie sie es geschafft hatte, der allererste weibliche Detective Superintendent in Cork zu werden. Und er wusste auch ganz genau, warum er sich so unwiderruflich in sie verliebt hatte.

Sie kam aus dem Badezimmer zurück und gab ihm einen Kuss. »Wie wär’s mit Luigi Malone’s heute Abend, falls ich nicht zu spät fertig bin? Ich muss unbedingt mal wieder ihre berühmten Muscheln essen.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.« Aber dann dachte er: Beim Abendessen – das könnte der richtige Moment sein, es ihr zu sagen.

Er wickelte sich in seinen dunkelblauen Bademantel und folgte ihr barfuß zur Haustür. Sie drehte sich um und küsste ihn noch einmal. »Pass heute besonders gut auf dich auf«, sagte er, wie er es immer tat. Dann sah er ihr nach, während sie sich über den steil abschüssigen Hof entfernte und sein weiß-brauner Collie Aoife ihr hinterhertrottete. Sie stieg in ihren Honda und warf ihm eine letzte Kusshand zu, bevor sie davonfuhr.

3

Auf der Fahrt nach Ballyhooly lauschte Katie Guillaume de Machauts Gloria in der Version des Waisenhauschors St. Joseph von deren Album Elements. Der Gesang war so durchdringend, klar und intensiv, dass sie ihn jedes Mal wieder als unglaublich erhebend empfand. Sie sang inbrünstig mit, genauso hoch wie die Chorknaben, aber furchtbar schief. Trotz der Verbrechen, mit denen sie jeden Tag zu tun hatte – trotz der Gewalt, des Drogenhandels, der Prostitution und all der Betrunkenen –, Gloria erinnerte sie daran, dass es doch einen Himmel geben musste.

Sie folgte der Lower Main Street, bis sie die Abzweigung nach Carrignavar erreichte. Die Straße war schmal und auf beiden Seiten von mit Efeu bewachsenen grauen Steinmauern begrenzt. Sie war vollkommen verlassen und Katie begegnete nicht einem einzigen anderen Lebewesen, bis sie nach knapp fünf Kilometern einen Bauernhof erreichte. Sieben oder acht Autos und Lieferwagen standen aufgereiht auf dem Grasstreifen vor dem Tor. Auf dem Hof vor dem Haus parkten drei Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht sowie zwei Mannschaftswagen und ein Krankenwagen.

Ein Garda bedeutete ihr durchs Tor zu fahren und öffnete dann die Fahrertür für sie. Als sie gerade ausstieg, kam Sergeant O’Rourke über den Hof auf sie zu, um sie zu begrüßen. Er hielt ein Paar große grüne Gummistiefel hoch. Er war ein kleiner Mann mit sandfarbenem Haar und eckigem Schädel, der viel zu groß für seinen Körper wirkte.

»Die werden Sie brauchen, Ma’am«, verkündete er.

»Welche Größe ist das?«

»45. Aber Sie wollen doch sicher nicht in Stilettos durch den Fluss waten, oder?«

Sie setzte sich wieder auf den Fahrersitz, öffnete den Reißverschluss ihrer schwarzen Lederstiefel und zog die Gummistiefel an. Sie waren riesig und als sie damit zu gehen begann, gaben sie ein lautes, schmatzendes Geräusch von sich.

»Also, was ist hier passiert, Jimmy?«, fragte sie und folgte ihm seitlich um das Bauernhaus herum. Der Farmer stand mit seiner Frau und zwei Söhnen im Teenageralter auf der vorderen Veranda und funkelte sie zornig an. Katie winkte ihnen zu und rief: »Alles in Ordnung? Tut mir leid wegen dieses ganzen Durcheinanders!« Aber sie antworteten ihr nicht. Sie sahen aus wie eine Familie bunt zusammengewürfelter Wasserspeier-Statuen.

»Was für ein Haufen Trottel«, grummelte Sergeant O’Rourke.

»Also wirklich, Jimmy. Ein bisschen mehr Respekt für den gemeinen Durchschnittsbürger, bitte.«

Sie überquerten gemeinsam die Weide, die zum Ufer des Blackwater hinunterführte, während die Brise leise durch das hohe, schimmernde Gras flüsterte. Als sie näher kamen, konnte Katie die schwarz gekleidete Leiche erkennen, die im flachen Wasser auf der Seite lag. Zwei Gardaí von der kriminaltechnischen Abteilung hockten in blassgrünen Schutzoveralls neben ihr im Wasser und schossen Fotos. Drei weitere uniformierte Polizeibeamte sowie zwei Rettungssanitäter unterhielten sich mit einer Fernsehcrew und zwei Reportern am Ufer. Ein Stück entfernt standen zwei Männer mit Angeln rauchend neben drei kleinen Jungs.

Sergeant O’Rourke zeigte auf die beiden Angler. »Die zwei Typen da drüben haben die Leiche gefunden. Einer von ihnen sagt, er wisse, wer das ist – oder er ist sich zumindest relativ sicher.«

»Tatsächlich?«

»Er ist ziemlich sicher, dass es der Gemeindepriester aus Mayfield ist, Father Heaney. Anscheinend hat er in den 80ern Musik an der St. Anthony’s Grundschule unterrichtet.«

»Dann hat der Mann aber ein gutes Gedächtnis.«

»Das überrascht mich nicht, wenn er es wirklich ist. Father Heaney war einer der zwölf Priester aus der Diözese von Cork und Ross, gegen die vor sieben Jahren wegen sexuellen Missbrauchs ermittelt wurde. Eigentlich sollte er den Jungs Musik beibringen. Aber er hat ihnen wohl eher beigebracht, wie man auf einer anderen Flöte spielt, wenn Sie mich fragen.«

»Wurde er jemals angeklagt?«

»Ich hab O’Sullivan gebeten, das für mich zu überprüfen. Insgesamt lagen elf Beschwerden gegen Father Heaney vor. Ungebührliches Verhalten in der Dusche, solche Sachen. Aber letzten Endes hat der Generalstaatsanwalt die Sache nicht weiterverfolgt, weil das Ganze schon zu lange zurücklag.«

»Aber das ist der Grund, warum die Presse hier ist? Wegen der Sache mit dem sexuellen Missbrauch?«

»Teilweise, ja.«

»Was verschweigen Sie mir, Jimmy?«

»Wie schon gesagt, Ma’am, Sie sollten sich das wirklich selbst anschauen.«

Er trat in den Fluss hinunter und streckte eine Hand aus, um Katie zu helfen. Das Wasser fühlte sich eiskalt an, selbst durch die Gummistiefel. Sergeant O’Rourke watete voraus und Katie folgte dicht hinter ihm und versuchte zu verhindern, dass ihr die Gummistiefel von den Füßen fielen. Als sie sich näherten, erhoben sich die beiden Gardaí von der kriminaltechnischen Abteilung und machten ein paar Schritte zurück. Einer der beiden war grauhaarig und Mitte 40. Der andere sah aus, als hätte er eben erst seinen Schulabschluss gemacht.

»Na ja, er sieht aus wie ein Priester«, sagte Katie, als sie sich über die Leiche beugte. »Hat er einen Ausweis oder irgendetwas bei sich?«

»Gar nichts, Ma’am«, antwortete der jüngere Kriminaltechniker. Er hatte einen dünnen blonden Schnurrbart und so feuerrote Akne, dass er aussah, als hätte man ihm mit einer Schrotflinte direkt ins Gesicht geschossen. »Alles, was wir in seinen Taschen gefunden haben, waren ein Rosenkranz und eine Packung extrastarker Pfefferminzbonbons.«

»Jedenfalls hat er sich um das gekümmert, worauf es wirklich ankommt«, bemerkte Sergeant O’Rourke. »Seine Seele und seinen Atem.«

»Irgendeine Ahnung, was die Todesursache betrifft?«, fragte Katie. »Ohne Dr. Reidys Autopsie vorgreifen zu wollen, selbstverständlich.«

Der ältere Kriminaltechniker räusperte sich. »Da gibt es zwei oder drei Möglichkeiten, würde ich sagen. Oder es war eine Kombination aus allen dreien. Er wurde mit einem sehr dünnen Draht erdrosselt, der in seinem Nacken mit dem Griff eines Suppenlöffels ganz fest zugedreht wurde. Mit dem gleichen Draht wurden auch seine Handgelenke sowie die Knie und Knöchel gefesselt. Aber er kann auch genauso gut verblutet oder durch den Schock gestorben sein.«

Er beugte sich über die Leiche und drehte sie auf den Rücken. Der linke Arm des Priesters fiel mit einem Platschen ins Wasser. Die Techniker hatten die Drähte durchgeschnitten, mit denen die Knie und Knöchel zusammengebunden gewesen waren, und die schwarze Soutane bis zur Taille aufgeknöpft.

Der Priester trug keine Unterhose. Sein schlaffer Penis lag seitlich auf seinem dicken, weißen Oberschenkel, aber unter dem Glied – dort, wo die Hoden hätten sein sollen – war nichts als ein schwarzes klaffendes Loch.

»Mein Gott«, entfuhr es Katie. Sie lehnte sich vor und betrachtete die Wunde etwas genauer.

»Wer auch immer das getan hat, es sieht aus, als hätte er dafür eine Gartenschere benutzt«, teilte der ältere Beamte ihr mit. »Das erkennt man an dem leicht v-förmigen Schnitt in seinem Perineum. Dort, wo sich die beiden Klingen überkreuzt haben.«

»Jesus, Maria und Josef«, stöhnte Sergeant O’Rourke. »Es treibt mir das Wasser in die Augen, wenn ich nur daran denke.«

»Das ist ihm allerdings nicht hier passiert«, fuhr der Kriminaltechniker fort. »Die Totenstarre ist nicht mehr vollständig, er ist also wahrscheinlich schon seit mindestens drei Tagen tot. Ich würde vermuten, dass er woanders erdrosselt und kastriert und dann hier abgeladen wurde, möglicherweise spät letzte Nacht.«

»Was denken Sie, Ma’am?«, fragte Sergeant O’Rourke sie. »Ein Rachemord von jemandem, an dem er sich damals als Musiklehrer vergangen hat? In letzter Zeit war doch ständig irgendwas mit Kindesmissbrauch in den Medien, stimmt’s? Der Papst hat sich entschuldigt und all das. Vielleicht hegte irgendjemand schon seit Jahren einen Groll gegen ihn und hat jetzt beschlossen, es sei an der Zeit, deswegen etwas zu unternehmen.«

»Tja … damit könnten Sie recht haben«, pflichtete Katie ihm bei und richtete sich wieder auf. »Aber wir wollen keine überhasteten Schlüsse ziehen. Vielleicht hat sein Mörder ihn auch einfach bloß nicht gemocht, aus welchem Grund auch immer. Erinnern Sie sich noch an den Fall vor ein paar Jahren, oben in Holyhill? Diese junge Frau, deren Ehemann an Krebs gestorben war? Sie hat den Gemeindepfarrer mit einer Schere erstochen, weil sie der Ansicht war, seine Gebete hätten nicht funktioniert.«

»Es gibt da durchaus auch ein paar Priester, auf die ich gerne mal losgehen würde, das kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Sergeant O’Rourke.

Katie wandte sich dem älteren Kriminaltechniker zu und sagte: »Sie können ihn in die Pathologie bringen lassen, sobald Sie fertig sind. Ich glaube, ich habe alles gesehen, was ich sehen muss.«

»Bevor Sie gehen … Es gibt da noch ein recht interessantes Detail«, entgegnete er und hielt die beiden Enden des Messingdrahts hoch, mit dem die Beine des toten Priesters gefesselt gewesen waren. Beide Enden waren fein säuberlich zu einer doppelten Schlinge gedreht worden und sahen aus wie Schmetterlingsflügel.

»Das ist ziemlich ungewöhnlich, oder?«, bemerkte Katie. »Gibt’s irgendeine Berufsgruppe, die das Ende eines Drahts so aufzwirbeln würde?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber ich werde ein paar Erkundigungen einholen.«

»Okay, gut.«

Katie watete zurück durch den Fluss. Detective O’Sullivan reichte ihr eine Hand, um ihr zu helfen, wieder ans Ufer zu klettern. Sofort stürmte das Fernsehteam von RTÉ News auf sie zu: Fionnuala Sweeney, eine hübsche, rothaarige junge Frau in einer schreigrünen Windjacke, begleitet von einem unrasierten Kameramann, Dan Keane vom Examiner – rotnasig und in seinem üblichen Überzieher mit Raglanärmeln –, und einer blassen jungen Frau mit rundem Gesicht, tiefschwarzen Locken und einem auffälligen Schönheitsfleck auf der Oberlippe, von der Katie annahm, dass sie die Reporterin des Catholic Recorder war. Sie hatte sehr üppige Brüste und trug einen grauen, zeltartigen Poncho, um sie zu verbergen.

Fionnuala Sweeney hielt Katie ihr Mikrofon hin und fragte: »Superintendent Maguire! Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«

»Lassen Sie mich zuerst Ihnen eine Frage stellen«, erwiderte Katie scharf. »Wer hat Ihnen gesteckt, dass diese Leiche hier gefunden wurde?«

Fionnuala Sweeney blinzelte hektisch, so als hätte Katie sie tödlich beleidigt. »Das kann ich Ihnen auf gar keinen Fall sagen, Superintendent, das wissen Sie doch. Ich muss meine beruflichen Quellen schützen.«

»Oh, sei doch bitte nicht so scheinheilig, Nuala«, warf Dan Keane ein und zündete sich eine Zigarette an. »Ich hab denselben Tipp bekommen. Der Anrufer hat seinen Namen nicht genannt und ich hab auch seine Stimme nicht erkannt. Eigentlich könnte ich Ihnen noch nicht mal mit Sicherheit sagen, ob es eine Frau war oder ein Mann. Klang eher wie ein verfluchter Frosch, um ehrlich zu sein.«

»Na schön«, sagte Katie. »Fragen Sie mich, was immer Sie wollen. Aber ich kann Ihnen nicht viel sagen, nicht zu diesem frühen Zeitpunkt.«

Fionnuala Sweeney begann: »Ihr Zeuge dort hat den Verstorbenen als Father Dermot Heaney aus Mayfield identifiziert.«

»Kein Kommentar. Was immer der Zeuge Ihnen erzählt hat, wir wissen noch nicht mit Sicherheit, wer es ist.«

»Im Jahr 2005 war Father Heaney einer der Priester, gegen die wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs ermittelt wurde.«

»Das habe ich auch gehört. Aber soweit ich weiß, hat der Generalstaatsanwalt keine Anklage gegen ihn erhoben. Außerdem ist er es vielleicht gar nicht. Was ist Ihre Frage?«

»Ich möchte nur wissen, ob Sie es für möglich halten, dass eins von Father Heaneys Opfern ihn für das bestrafen wollte, was er getan hat. Oder vielmehr für das, was er angeblich getan hat.«

Katie hob eine Hand. »Hören Sie, Fionnuala, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Wir haben die Identität des Toten noch nicht zweifelsfrei festgestellt. Nach allem, was wir wissen, ist er vielleicht noch nicht mal wirklich Priester. Und selbst wenn es Father Heaney ist, liegen uns keinerlei Beweise dafür vor, wer ihn umgebracht hat oder was für ein Motiv der Täter gehabt haben könnte. Alles, was ich Ihnen im Moment sagen kann, ist, dass wir diese Gegend gründlich durchkämmen und jeden befragen werden, der möglicherweise etwas gesehen haben könnte. Falls irgendeiner Ihrer Zuschauer glaubt, er könnte uns bei der Identifizierung des Opfers helfen, oder falls jemand eine Idee hat, wer ihm hätte schaden wollen, dann sind wir dafür natürlich wie immer sehr dankbar.«

»Wissen Sie denn schon, was die Todesursache war?«, bohrte Fionnuala Sweeney weiter.

»Auch dabei sind wir uns noch nicht sicher. Entweder Dr. Reidy, der zuständige Pathologe, oder einer seiner beiden Assistenten wird so bald wie möglich eine Autopsie durchführen.«

Die junge Frau mit dem Schönheitsfleck meldete sich lispelnd zu Wort. »Ciara Clare, Superintendent, vom Catholic Recorder. Falls sich herausstellen sollte, dass es sich bei Ihrer Leiche tatsächlich um einen Priester handelt, werden Sie sich doch sicher an die Diözese wenden, nicht wahr? Um den Fall so diskret wie möglich behandeln zu können.«

Katie sah sie stirnrunzelnd an. »Ich bin mir nicht sicher, dass ich Ihre Frage verstehe.«

»Nun, die Kirche hat eine sehr schwierige Zeit hinter sich, nicht wahr?«, erwiderte Ciara Clare. »Der Bischof hat die Öffentlichkeit wegen diverser Fehler in der Vergangenheit um Verzeihung gebeten, wie Sie ja wissen. Ich möchte damit nur zum Ausdruck bringen, dass dies eine Zeit der Heilung ist – nicht der weiteren Skandale.«

»Verzeihen Sie, Ciara, aber haben Sie wirklich gerade das gesagt, was ich glaube?«

»Ich mache mir nur Sorgen, dass Sensationslust in diesem Mordfall eine zu große Rolle spielen könnte. Ich meine, es ist doch ziemlich wahrscheinlich, dass dieser Mann aus Rache von einem Kindesmissbrauchsopfer getötet wurde, nicht wahr? Und die Tat könnte doch durchaus dazu führen, dass andere Opfer sich berufen fühlen, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Wir wollen schließlich nicht, dass noch mehr Priester angegriffen werden, was immer sie auch in der Vergangenheit getan haben mögen.«

»Das sind alles reine Hypothesen«, entgegnete Katie. »Wie ich bereits sagte, wir werden in der Sache einen Schritt nach dem anderen machen. Auch wenn der Verstorbene ein Priestergewand trägt, beweist das gar nichts. Vielleicht war er ja auch auf dem Weg zu einem Kostümfest.«

Dan Keane nahm die Zigarette aus dem Mund und stieß ein Husten aus, das wie das Bellen eines Hundes klang. »Er wurde aber kastriert, oder? Das würde doch auf eine sexuell motivierte Tat hindeuten.«

»Es tut mir leid, Dan, aber wir müssen den Bericht des Pathologen abwarten, bevor wir genau sagen können, welche Art von Verletzungen er davongetragen hat.«

»Man braucht keinen Pathologen, um zu erkennen, wann einem Mann die Eier abgeschnitten wurden. Ihre Angler dort haben es mit eigenen Augen gesehen. Kastriert, haben sie gesagt.«

»Nun, es wäre mir lieber, wenn Sie das für den Moment noch für sich behalten würden. Das gilt auch für Sie, Fionnuala. Und für Sie, Miss …«

»Ich bin mir nicht sicher, dass ich das kann, Superintendent«, unterbrach Dan Keane sie. »Das ist schließlich das Beste an der ganzen Story, finden Sie nicht auch? ›Mann Gottes verliert Männlichkeit‹.«

»Dan …«, gab Katie zurück. »Wollen Sie, dass ich bei diesem Fall weiter mit Ihnen zusammenarbeite, oder nicht?«

Dan blies Rauch aus, hustete erneut und antwortete: »Na schön, Superintendent. Ich halte die Information für den Moment zurück. Zumindest bis Sie den Bericht des Pathologen bekommen. Aber wenn irgendwer anders eine Quelle auftut und die Geschichte bringt, dann muss ich es auch tun.«

Katie ging zu ihrem Wagen zurück und kickte die riesigen grünen Gummistiefel so schwungvoll von den Füßen, dass sie mehrere Saltos durch das Gras machten. Sie schlüpfte wieder in ihre schwarzen Lederstiefel. Sergeant O’Rourke gesellte sich zu ihr und lehnte sich gegen die Autotür. »Ich lasse die komplette Gegend nach Reifenspuren, Fußabdrücken und anderen Beweisen absuchen. Die Felder, die Wege, das Flussbett. Alles. Wir haben außerdem schon mit den Tür-zu-Tür-Befragungen in Ballyhooly und den umliegenden Gemeinden begonnen. Irgendjemand muss was gesehen haben.«

»Danke, Jimmy. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Aus irgendeinem Grund habe ich bei dieser Sache ein ganz ungutes Gefühl. Das hab ich immer, wenn die Kirche in einen Fall verwickelt ist. Man wird nie direkt angelogen, stimmt’s? Aber sie sagen einem auch nie so direkt die Wahrheit. Alles wird immer schön mit Weihrauch vernebelt.«

4

Bevor sie nach Hause fuhr, schaute Katie im Hauptrevier der Garda in der Anglesea Street vorbei. In den letzten zwei Stunden war von Südwesten eine schwere graue Wolkendecke über dem Stadtzentrum von Cork aufgezogen und hatte den Sonnenschein verschluckt. Sie parkte den Wagen, als es gerade zu regnen begann. Kein starker Niederschlag, sondern dieser feine Nieselregen, der einen Wollpullover innerhalb weniger Sekunden völlig durchnässen konnte.

Sie ging hinauf in ihr Büro und fuhr ihren Laptop hoch. Dann griff sie zum Telefon und wählte die Nummer der Staatlichen Pathologie in Dublin. Sie erreichte Dr. Owen Reidys Sekretärin Netta und bat sie, ihm auszurichten, er möge sie zurückrufen. Draußen wurde es immer finsterer und der Regen begann, gegen das Fenster zu prasseln.

Auf dem Dach des mehrstöckigen Parkhauses konnte Katie 20 oder 30 Nebelkrähen in einer Reihe sitzen sehen. Sie stand auf, trat ans Fenster und starrte die Vögel an. Draußen war es so dunkel, dass sie ihr eigenes Spiegelbild erkennen konnte. Ihr Haar stand nach allen Richtungen ab. Katie kam es fast so vor, als versammelten sich die Krähen nur dort, wenn ihr Leben eine Wendung zum Schlechten zu nehmen drohte. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Vielleicht bemerkte sie die Vögel auch bloß nicht, wenn alles gut lief.

Wie dem auch sei, sie lösten ein seltsames Gefühl der Unruhe in ihr aus, und das lag nicht nur an der Leiche des Mannes, der erdrosselt und kastriert im Blackwater lag.

Sie setzte sich wieder vor ihren Laptop und las den Bericht der Diözese Cork und Ross über Kindesmissbrauch, der 2005 veröffentlicht worden war. Gegen Father Dermot Heaney waren von insgesamt elf Parteien Anschuldigungen vorgebracht worden, vor allem von Jungen, die er nach dem Sport unsittlich in der Dusche berührt oder denen er nach dem Schwimmen beim Abtrocknen »geholfen« hatte, um sie dabei zu begrapschen. Außerdem hatte er mehrere Jungen zu Spritztouren in seinem Auto mitgenommen, an abgeschiedenen Orten geparkt und sie dazu ermutigt, sich gegenseitig zu stimulieren.

Doch trotz alledem war er bei einigen Jungen in St. Anthony’s so beliebt gewesen »wie Franz von Assisi«, besonders bei denjenigen, die ausgezeichnet in Musik waren oder aus armen oder zerbrochenen Familien stammten. In dem Bericht hieß es: »Father Heaney schenkte ihnen seine Aufmerksamkeit, seine Zuneigung und viele schöne Kleinigkeiten, die sie zu Hause nur selten bekamen. Die Hauptgründe dafür, warum sie so viele Jahre lang zögerten, eine Beschwerde gegen ihn vorzubringen, waren ihre Dankbarkeit für seine Freundlichkeit und Großzügigkeit und ihre andauernden Schuldgefühle, weil sie es ihm im Gegenzug dafür erlaubt hatten, gewisse Dinge mit ihnen zu tun.«

Katie rief John an, um ihm zu sagen, dass sie nach Hause fahren würde, sobald sie in der Anglesea Street fertig war. Er ging nicht ans Telefon und sie nahm an, dass er irgendwo draußen auf den Feldern war und das Vieh zusammentrieb. Sie lächelte. Als sie ihn kennengelernt hatte, hätte sie sich niemals vorstellen können, dass er als Farmer ein solches Naturtalent war. Schließlich war er nach dem College nach Kalifornien ausgewandert, um Irland zu entkommen, und hatte einen sehr erfolgreichen Online-Handel aufgebaut, der alternative Heilmittel vertrieb. Er war elf Jahre lang nicht mehr nach Irland zurückgekehrt. Bis sein Vater gestorben war.

Ursprünglich hatte er nur ein paar Wochen in Irland bleiben wollen, aber seine Mutter hatte angenommen, dass er den Platz seines verstorbenen Vaters als Oberhaupt der Familie Meagher übernehmen würde – und auch all seine Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen waren von derselben Annahme ausgegangen. Es war ihm einfach nicht möglich gewesen, sich ihnen zu verweigern – vor allem nicht seiner Mutter. Widerwillig hatte er daher sein Dotcomunternehmen verkauft und war zurück in die alte Heimat gezogen, um die Farm zu übernehmen.

Katie streifte ihren Regenmantel über und wollte gerade gehen, als ihr Telefon klingelte. Es war Jimmy O’Rourke, der aus dem Universitätskrankenhaus anrief.

»Es ist eindeutig Father Heaney.«

»Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig. Er hat ein Zimmer in der Wellington Road gemietet und seine Vermieterin meinte, dass sie ihn seit Sonntagmorgen nicht mehr gesehen oder gehört hat. Sie sagt, das sei sehr ungewöhnlich für ihn, weil er fast jeden Abend zum Essen nach Hause kommt und ihr immer Bescheid sagt, wenn er für ein paar Tage wegfährt. Sie hat ihn auf dem Foto erkannt, das ich mit meinem Handy gemacht hab. Wir sind mit ihr in die Pathologie gefahren und sie hat seine Leiche identifiziert. Hat geheult wie ein kleines Kind, das arme alte Mädchen.«

»Vielen Dank, Jimmy. Aber behalten Sie das vorerst noch für sich. Schauen Sie inzwischen, was Sie sonst noch über ihn ausgraben können, und rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwelche Fortschritte machen.«

»Und was ist mit den Medien?«

»Ich werde für morgen früh wahrscheinlich eine Pressekonferenz anberaumen, aber ich will sehr vorsichtig damit sein, welche Informationen wir herausgeben. Ich habe den starken Verdacht, dass hinter dieser Sache noch viel mehr steckt, als es den Anschein hat. Sie haben ja gehört, was wir laut dieser Kleinen vom Catholic Recorder tun sollten – oder besser gesagt, was wir nicht tun sollten. Ich will der Kirche nicht die Chance geben, irgendwas unter den Teppich zu kehren, bevor wir überhaupt angefangen haben.«

»Okay, Chef. Wir durchsuchen als Nächstes Father Heaneys Zimmer. Falls wir irgendwas Interessantes finden, lasse ich es Sie wissen. Für gewöhnlich finden wir Das Leben der Heiligen und Pornohefte, wenn wir die vier Wände eines Priesters durchsuchen. Und halb leere Packungen mit Kaubonbons mit Fruchtgeschmack. Aber fragen Sie mich nicht, warum.«

5

Es war schon fast dunkel und regnete stark, als Katie in die Einfahrt ihres Einfamilienhauses in Cobh einbog, das ganz in der Nähe des Hafens von Cork lag. Ihre Schwester Siobhán hatte das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet, die Vorhänge aber noch nicht zugezogen. Katie konnte sehen, dass sie auf der Couch saß und sich etwas auf dem großen Flachbildfernseher anschaute. Barney, ihr Irish Red Setter, lag vor ihren Füßen, die Ohren weit aufgestellt. Er sah aus wie Fuchur, der fliegende Drache aus Die unendliche Geschichte.

Katie schloss die Haustür auf, streifte ihren Regenmantel ab und schüttelte ihn aus. Barney trottete sofort in den Flur, um sie zu begrüßen, die Zunge aus dem Maul baumelnd. Sie kratzte ihn hinter den Ohren, klopfte ihm zärtlich die Flanke und ging ins Wohnzimmer.

»Hi, Siobhán«, begrüßte sie ihre Schwester.

»Oh, hi, Katie. Was ist denn los? Ich dachte, du verbringst den Tag heute mit John.«

Katie setzte sich auf einen der nachgemachten Regency-Sessel und öffnete den Reißverschluss ihrer Stiefel. Barney stellte sich ganz dicht neben sie, keuchte und wedelte mit dem Schwanz gegen den Beistelltisch. Katie hatte vorgehabt, das Wohnzimmer neu einzurichten, nachdem ihr Mann Paul gestorben war – 18 Monate war das inzwischen her –, bisher aber noch nicht die Zeit dazu gefunden. Entweder das, oder sie hatte alles doch noch so lassen wollen, wie es war, wenigstens für eine Weile. Paul hatte damals den Kronleuchter und die gestreifte Tapete im Regency-Stil ausgewählt, weil er fand, dass sie Klasse hatten, ebenso wie die meisten der Gemäldekopien, die in goldenen Rahmen steckten und hauptsächlich Meeresmotive und Jachten zeigten, die sich gegen den Wind lehnten.

Das einzige Bild, das er nicht ausgesucht hatte, war das eingerahmte Foto von ihm selbst, auf dem er während ihres letzten Urlaubs in einem Café auf Lanzarote saß, grinsend ein Glas mit Sangria erhob und ein Auge gegen das grelle Sonnenlicht zukniff.

»Die Pflicht hat gerufen«, erklärte Katie. »Zwei Angler haben eine Leiche im Blackwater gefunden, oben in Ballyhooly.«

»Ich dachte, du hättest heute frei. Und sie finden doch ständig Leichen im Blackwater. In dem Fluss schwimmen wahrscheinlich mehr Tote rum als Fische.«

»Na ja, diese Leiche war aber ziemlich außergewöhnlich«, sagte Katie, trug ihre Stiefel in den Flur hinaus und stellte sie in den Schuhschrank. »Zunächst mal war er Priester.«

»Ich hoffe, er hat sich selbst die letzte Ölung verabreicht, bevor er reingesprungen ist.«

»Du bist viel zynischer, als dir guttut, weißt du das? Wie dem auch sei, er ist nicht reingesprungen. Er wurde ermordet und dort abgeladen. Erdrosselt. Und ich sag dir noch was: Er wurde kastriert. Aber wehe, du erzählst das irgendjemandem.«

»Kastriert? Du meinst, man hat ihm sein Du-weißt-schon-was abgeschnitten? Ernsthaft?«

Katie nickte.

»Autsch!«, sagte Siobhán. »Das hat er sich aber nicht selbst angetan, oder? Ich hab mal gelesen, dass manche Priester das tun, weil sie die ständige Versuchung nicht länger ertragen können.«

»In diesem speziellen Fall ist das eher unwahrscheinlich. Es sei denn, er war so ’ne Art Schlangenmensch.«

»Igitt. Ich will die ganzen widerlichen Einzelheiten gar nicht wissen, vielen Dank.«

»Was zu trinken?«, fragte Katie sie.

»Nein danke. Lass mal.«

Katie ging zum Beistelltisch und schenkte sich eine großzügige Menge Smirnoff Black Label in ein geschliffenes Kristallglas ein. Sie trank einen großen Schluck und musste sich unwillkürlich schütteln.

»Und was machst du dann heute Abend?«, wollte Siobhán wissen. »Triffst du dich wieder mit John oder soll ich uns was kochen? Von gestern Abend ist noch Hühnereintopf übrig, den kann ich dir gerne aufwärmen. Oder wir könnten uns ’ne Pizza bestellen.«

Katie setzte sich neben sie auf die Couch. »Ich weiß noch nicht. Ich hab John angerufen, aber er ist wahrscheinlich noch irgendwo draußen und scheucht die Kühe.«

Siobhán war Katies jüngere Schwester, das dritte Kind in einer Familie mit sieben Kindern, alles Mädchen. Sie sah eher ihrem Vater ähnlich als ihrer Mutter. Sie war größer als Katie und etwas molliger, mit runderem Gesicht, einer wilden Mähne aus kupferroten Locken und meeresgrünen, weit auseinanderstehenden Augen. Kurz nach Pauls Tod hatte Siobhán mit ihrem Freund Sean Schluss gemacht – einem Immobilienmakler mit kaputten Zähnen, Jedward-Frisur und einer sehr hohen Meinung von sich selbst – und war bei Katie eingezogen. Das Ganze passte Katie sehr gut, da Siobhán sich dadurch um Barney kümmern konnte, während sie bei der Arbeit war, das Haus in Ordnung hielt und Besorgungen erledigte.

Außerdem bedeutete es, dass Katie als die große Schwester ein Auge auf sie werfen konnte. Siobhán war als junges Mädchen ziemlich wild gewesen und benahm sich immer noch hin und wieder daneben, beispielsweise, wenn sie aus dem Auto stieg, wenn andere Fahrer sie schnitten, und wie eine Irre an deren Fenster hämmerte. Oder wenn sie samstagabends in Kelly’s Bar zu viel trank, auf der Straße hinfiel, die Beine in die Luft streckte und aller Welt ihr schwarzes Spitzenhöschen zeigte.

»Was hast du denn gestern Abend gemacht?«, fragte Katie. »Irgendwas Schönes?«

Siobhán schwieg einen Moment und antwortete dann: »Ich hab Michael angerufen, wenn du’s unbedingt wissen willst.«

»Ich dachte, du und Michael wärt schon seit Ewigkeiten miteinander fertig. Von der Tatsache, dass er verheiratet ist, mal ganz abgesehen.«

»Trotzdem vermisse ich ihn. Und er vermisst mich. Er hätte diese Nola niemals heiraten sollen. Diese langweilige Ziege! Die benimmt sich eher wie seine Mutter und nicht wie seine Frau. Nörgelt ständig an ihm rum. Sie lässt ihn nie mit seinen Kumpels einen trinken gehen und er muss jedes Mal die Schuhe ausziehen, wenn er das Haus betritt – und den Klodeckel runterklappen. Und jetzt will sie auch noch nach Kinsale ziehen, weil sie findet, es habe mehr Klasse als Carrigaline. Na schön, hat es auch, aber das ist nicht der Punkt.«

»Tja, es gibt nichts, was du dagegen tun könntest. Du hattest deine Chance, und du hast es verbockt.«

Siobhán wickelte eine Haarlocke um ihren Finger. »Ganz ehrlich, ich glaube, er hat mir verziehen. Ich hab ihn ja auch nur einmal betrogen. Na gut, zweimal. Wie auch immer, er hat gesagt, dass er mich wiedersehen will. Nur auf einen Drink oder so.«

Katie nahm den nächsten Schluck von ihrem Wodka und zog die Augenbrauen hoch. »Deine Entscheidung, Süße. Aber du bittest damit förmlich um Ärger, wenn du meine Meinung wissen willst. Du weißt doch, wohin ein Drink führen kann, vor allem in deinem Fall. Und wenn Nola das jemals herausfindet … Sie ist nicht gerade der versöhnliche Typ, so viel kann ich dir verraten.«

Katies Handy klingelte und sie nahm den Anruf entgegen. »Hi, John! Ich versuche schon seit einer Stunde, dich anzurufen! Hast du meine Nachricht gehört?«

»Ja, hab ich. Tut mir leid. Irgendjemand hat ein Tor offen gelassen und ein halbes Dutzend dieser gottverdammten Jerseys hat sich aus dem Staub gemacht. Sie waren schon halb in Rathormac, als ich sie endlich alle eingesammelt hatte.«

»Ich hab mir schon gedacht, dass du wieder den Kühen nachjagst – stimmt’s, Siobhán?«

»Deshalb bist du auch so ein Naturtalent als Detective«, sagte John. »Hör mal, können wir uns heute Abend sehen? Wie wär’s mit diesen Muscheln, auf die du so scharf warst?«

»Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch Hunger hab. Und müde bin ich auch.«

»Oh, komm schon.«

»Das ist deine eigene Schuld, John«, scherzte Katie und zwinkerte ihrer Schwester zu. »Schließlich bin ich deinetwegen so erschöpft.«

»Bitte, Katie«, drängte er. »Ich muss dir was wirklich Wichtiges sagen. Ich hätte es dir schon gestern Nacht sagen sollen, aber dann führte eins zum anderen. Ich komme dich um Viertel nach acht abholen. Wie klingt das?«

»Na schön«, willigte Katie ein und kämmte sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich geh duschen. Das sollte mich wieder aufwecken.«

Sie legte auf und schaute Siobhán mit geschürzten Lippen und erhobenen Augenbrauen an.

»Was?«, fragte ihre Schwester.

»Er sagt, dass er mir was wirklich Wichtiges sagen muss.«

Siobhán runzelte für einen Moment die Stirn und stieß dann ein schrilles Kreischen aus. »Ich weiß, was es ist! Er wird dich fragen, ob du ihn heiraten willst! Er wird dir einen Antrag machen!«

»Oh, jetzt hör schon auf. Natürlich wird er das nicht.«

»Ich wette, das wird er doch. Denk doch mal drüber nach. Paul ist seit über anderthalb Jahren unter der Erde. Ich würde sagen, das ist eine angemessene Trauerzeit, du nicht auch?«

»Siobhán, ich bin mir sicher, dass er mir keinen Antrag machen wird. Und was sollte ich auch zu ihm sagen, wenn er es täte?«

»Na, ja, hoffe ich doch. Du weißt, dass du ihn liebst! Und er sieht wahnsinnig gut aus. Und dann dieser wundervolle amerikanische Akzent! Er klingt genau wie dieser Typ mit der richtig tiefen Stimme am Anfang von Law & Order, der sagt: ›Dies sind ihre Geschichten‹

»Ich weiß nicht. Ich bin gar nicht sicher, dass ich ihn liebe.«

»Natürlich tust du das. Und was ist schon die Alternative? Roddy Phelan vom Water’s Edge Hotel?«

»Ich mag Roddy. Er bringt mich zum Lachen.«

»Das überrascht mich nicht, Süße. Allein dieser Haarschnitt. Damit sieht er aus wie ein Eichhörnchen.«

»Wie dem auch sei«, beendete Katie die Diskussion. »Ich geh jetzt duschen. Wenn jemand anruft, bin ich nicht da, und ich komme auch nicht wieder.«

Sie stand unter der Dusche, die Augen fest zusammengekniffen, und fühlte sich mit einem Mal furchtbar allein und unerwartet verletzlich. Paul war ein Opportunist gewesen, ein Spieler, und er hatte sie mit ein paar der ordinärsten Weiber in ganz Cork betrogen. Er war bereit gewesen, für Geld alles zu tun. Seine Saufkumpane in der Ovens Bar hatten immer gesagt, er hätte auch Mäuse auf einer Straßenkreuzung gehütet, wenn man ihm nur genug dafür bezahlt hätte.

Trotzdem: Sie hatten sich seit der Schulzeit gekannt und in den Anfangsjahren ihrer Ehe war er lustig und sehr charmant gewesen. Es spielte keine Rolle, dass er sich am Ende zu einem solchen Verlierer entwickelt hatte – sie hätte sich niemals vorstellen können, dass er irgendwann einfach nicht mehr da sein würde.