EDGAR RICE BURROUGHS

 

Piraten der Venus

Erster Band der VENUS-Tetralogie

 

 

 

Roman

 

Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 12

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

PIRATEN DER VENUS 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

 

Das Buch

 

 

Für Carson Napier, den amerikanischen Astronauten, gibt es keine Rückkehr zur Erde mehr. Seine Versuchsrakete, mit der er ursprünglich den Mars ansteuern wollte, ist auf der Venus gestrandet.

Er selbst hat den Absturz seines Raumfahrzeugs nur durch einen glücklichen Zufall überlebt. Doch Carson rechnet sich keine großen Chancen aus, den tödlichen Gefahren dieses wilden Planeten, wo jeder gegen jeden zu kämpfen scheint, auf Dauer zu entgehen...

 

Der Amtor- oder Venus-Zyklus von Edgar Rice Burroughs gehört zu den bekanntesten Science-Fiction-Romanen des Tarzan-Autors. Der erste Band, Pirates of Venus (dt. Piraten der Venus) erschien 1932 im Argosy-Weekly-Magazin. 1934 folgte die Buchausgabe. Die erste Geschichte war so erfolgreich, dass der Autor 1933 im gleichen Magazin die Fortsetzung Lost On Venus (dt. Verschollen auf der Venus) folgen ließ. Anfang der 1970er Jahre lagen die ersten vier Bände des Venus-Zyklus auch in deutscher Sprache vor. In seiner Reihe APEX SF-KLASSIKER veröffentlicht der Apex-Verlag diese vier Romane aus durchgesehene Neu-Ausgabe (in der Übersetzung von Thomas Schlück).

Der abschließende fünfte Band, The Wizard Of Venus, erscheint unter dem Titel Der Zauberer von der Venus als deutsche Erstveröffentlichung ebenfalls im Apex-Verlag.

  Der Autor

 

Edgar Rice Burroughs - * 01. September 1875, † 19. März 1950.

 

Edgar Rice Burroughs war ein US-amerikanischer Schriftsteller, der bekannt wurde als als Erzähler diverser Abenteuergeschichten, die sich vor allem dem frühen Fantasy- und Science-Fiction-Genre zuordnen lassen. Die bekanntesten von ihm eingeführten - und in der Folge von anderen in zahlreichen Filmen und Comics etablierten -  Heldencharaktere sind Tarzan, John Carter, Carson Napier.

Der Sohn des Fabrikanten und Bürgerkriegsveteranen Major George Tyler Burroughs (1833–1913) und der Lehrerin Mary Evaline Zieger (1840–1920) verlebte nach dem Besuch mehrerer Privatschulen den Großteil seiner Jugend auf der Ranch seiner Brüder in Idaho.

Nach seinem Abschluss auf der Michigan Military Academy im Jahr 1895 trat Burroughs in die 7. US-Kavallerie ein. Als ein Armeearzt bei ihm einen Herzfehler diagnostizierte und er deshalb nicht Offizier werden konnte, verließ Burroughs die Armee vorzeitig im Jahr 1897 und arbeitete bis 1899 wieder auf der Ranch seines Bruders. Danach ging er zurück nach Chicago und arbeitete in der Firma seines Vaters.

Am 1. Januar 1900 heiratete Burroughs seine Jugendliebe Emma Centennia Hulbert. Das Paar bekam drei Kinder: Joan Burroughs Pierce (1908–1972), Hulbert Burroughs (1909–1991) und John Coleman Burroughs (1913–1979). Da die tägliche Routine in der Fabrik seines Vaters Burroughs nicht zufriedenstellte, verließ das Ehepaar 1904 Chicago, um abermals in Idaho zu leben. Mit seinen Brüdern, die inzwischen ihre Ranch aufgegeben hatten, versuchte er sich erfolglos als Goldgräber. Kurze Zeit später arbeitete er als Eisenbahnpolizist in Salt Lake City. Auch diesen Job gab Burroughs auf und zog mit seiner Frau wieder zurück nach Chicago, wo er eine Reihe Jobs annahm, unter anderem als Vertreter. 1911 investierte er sein letztes Geld in einer Handelsagentur für Bleistiftanspitzer und scheiterte.

Burroughs, der zu dieser Zeit an schweren Depressionen litt und, nach einigen seiner Biographen, an Selbstmord dachte, kam auf die Idee, eine Geschichte für ein Magazin zu schreiben, in dem er zuvor Anzeigen für seine Bleistiftanspitzer geschaltet hatte. Seine erste Erzählung Dejah Thoris, Princess of Mars (unter dem Pseudonym Normal Bean für das All-Story-Magazin von Thomas Metcalf geschrieben) wurde zwischen Februar und Juli 1912 als Fortsetzung veröffentlicht.

Metcalf hatte sein Pseudonym in Norman Bean geändert, und auch der Titel seiner Geschichte wurde zu Under the Moon of Mars abgewandelt. Auf Burroughs Beschwerde bezüglich der Änderungen, lenkte Metcalf ein und bot an, Burroughs nächste Geschichte unter seinem richtigen Namen zu drucken. Eine weitere Beschwerde Burroughs betraf den Zusatz For all Rights auf seinem Honorarscheck. Nach längerem Briefwechsel erreichte er, dass die 400 Dollar nur für den Erstabdruck galten.

Burroughs zweite Geschichte, The Outlaw of Torn, wurde jedoch von All-Story abgelehnt. Der große Erfolg kam mit Burroughs drittem Anlauf, Tarzan of the Apes.

Die Geschichte von Tarzan wurde ebenfalls 1912 von All-Story veröffentlicht. Burroughs schrieb in der Folgezeit immer wieder neue Tarzan-Geschichten und konnte sich - kaum zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Tarzan of the Apes - ein riesiges Stück Land in der Nähe von Los Angeles kaufen. Selbst nach Burroughs Tod im Jahr 1950 erschienen weitere Tarzan-Geschichten. Das Landstück bei Los Angeles ist heute die Gemeinde Tarzana.

In den frühen 1930er Jahren wurde sein schriftstellerischer Erfolg allerdings immer mehr von privaten Problemen überschattet. 1934 ließ er sich scheiden und heiratete ein Jahr später Florence Dearholt. Doch schon 1942 wurde auch diese Ehe geschieden. Nach der Bombardierung von Pearl Harbor begab sich Burroughs 1941 als Kriegsreporter nach Hawaii. Nach dem Krieg kehrte er nach Kalifornien zurück, wo er, nach vielen gesundheitlichen Problemen, 1950 einem Herzanfall erlag.

 

 In Burroughs Werk vermischen sich Science Fiction und Fantasy. Er etablierte Geschichten vor einem planetarischen Hintergrund in der Science Fiction. Dabei war Burroughs bewusst, dass seine Literatur bei den Kritikern nicht ankam. Er machte auch nie ein Hehl daraus, dass er schrieb, um Geld zu verdienen.

Die Helden seiner Romane und Erzählungen haben keine Alltagsprobleme. Bei den Charakterzeichnungen schwach, sprudeln Burroughs Geschichten über vor Ideen und Action. Die Helden seiner Romane haben verschiedene Merkmale gemeinsam, beispielsweise das Geheimnis um ihre Herkunft. Entweder haben die Helden nie eine Kindheit erlebt, oder können sich nicht daran erinnern, oder aber sie sind wie Tarzan und The Cave Girl Waisen. Ein weiteres Merkmal von Burroughs Geschichten ist der, wie Brian W. Aldiss es nennt, ausgeprägte sexuelle Dimorphismus. Das jeweils dominante Geschlecht ist hässlich.

Obwohl es in den Romanen und Geschichten Burroughs von schönen, nackten Frauen nur so wimmelt, werden sexuelle Beziehungen weder angedeutet noch erwähnt. Burroughs Welt scheint eine präpubertäre zu sein. Doch ist die Jungfräulichkeit immer in Gefahr (vgl. Aldiss). Fast schon zwanghaft mutet an, dass es in den Geschichten Burroughs, die zwischen 1911 und 1915 geschrieben wurden, nicht weniger als 76 Mal zu Vergewaltigungsdrohungen kommt, die natürlich alle abgewendet werden können. Zu den Bedrohern der weiblichen Unschuld gehören verschiedene Marsianer, Sultane, Höhlenmenschen, japanische Kopfjäger und Affen.

E. F. Bleiler schreibt über Burroughs, seine Texte seien „Fantasien von Erotik und Macht.“

 

Der Apex-Verlag veröffentlicht Burroughs' Venus-Romane (in der deutschen Übersetzung von Thomas Schlück) sowie Neu-Übersetzungen des Tarzan-Zyklus.

PIRATEN DER VENUS

 

  

 

  1.

 

 

  »Wenn am Dreizehnten dieses Monats um Mittemacht eine weißgekleidete Frauengestalt Ihr Schlafzimmer betritt, beantworten Sie bitte diesen Brief - andernfalls nicht.« 

  Als ich das Schreiben soweit gelesen hatte, wollte ich es schon in den Papierkorb werfen, wie ich es bei verrückten Zuschriften dieser Art zu tun pflegte, aber aus irgendeinem Grund las ich weiter.

  »Wenn Sie von der Gestalt angesprochen werden, merken Sie sich bitte ihre Worte und wiederholen Sie sie mir in Ihrer Antwort.«

  Vielleicht hätte ich das Schreiben zu Ende gelesen, wenn in diesem Augenblick nicht das Telefon geläutet und mich auf eine Vereinbarung hingewiesen hätte, um die ich mich sofort kümmern musste. Ich sprang auf und ließ den Brief in einen der Körbe auf meinem Schreibtisch fallen; zufällig war es der Korb, aus dem sämtliche Schriftstücke in die Ablage wanderten. Normalerweise wäre die Angelegenheit damit erledigt gewesen, und ich hätte niemals wieder an den Brief gedacht, wenn mich die Ereignisse des Dreizehnten nicht abrupt daran erinnert hätten.

  In den Tagen nach dem Eingang des Briefes war ich außerordentlich angespannt. Am Abend des Dreizehnten schwirrte mir der Kopf von den Einzelheiten einer schwierigen Grundstückstransaktion, und ich konnte kaum einschlafen. Meine Gedanken kreisten um notarielle Beglaubigungen, Grundstücksurkunden und Restkaufgeldforderungen. Was mich schließlich weckte, weiß ich nicht. Jedenfalls fuhr ich plötzlich auf und sah mich einer weißgekleideten Frauengestalt gegenüber, die soeben meinen Raum durch die Tür betrat. Das Erstaunliche dabei war, dass sie die Tür nicht geöffnet hatte, sondern einfach durch das Holz hereinkam.

  Es war eine mondhelle Nacht, und die vertrauten Gegenstände in meinem Schlafzimmer waren deutlich zu sehen - aber auch die geisterhafte Gestalt, die am Fußende meines Bettes zu schweben schien.

  Ich leide normalerweise nicht unter Halluzinationen. In meinem ganzen Leben war ich noch keinem Gespenst begegnet und verspürte auch nicht den Wunsch danach. Dementsprechend unvorbereitet war ich auf die Situation und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Selbst wenn die Dame nicht so offensichtlich eine übernatürliche Erscheinung gewesen wäre, hätte ich nicht gewusst, wie ich sie zu dieser späten Stunde in meinem Schlafzimmer empfangen sollte, denn bisher hatte noch keine fremde Frau diese Schwelle übertreten, da ich puritanisch erzogen worden bin.

  »Heute ist der Dreizehnte, und wir haben Mittemacht«, sagte sie mit leiser, musikalischer Stimme.

  »Stimmt«, erwiderte ich und musste plötzlich an den Brief denken, den ich vor einigen Tagen erhalten hatte.

  »Er hat Guadalupe heute verlassen«, fuhr sie fort, »und wird in Guaymas Ihr Schreiben erwarten.«

  Das war alles. Sie durchquerte den Raum und verließ ihn - nicht durch das Fenster, das sich eigentlich angeboten hätte, sondern durch die Wand. Ich saß eine Minute lang regungslos in meinem Bett und starrte auf den Punkt, an dem sie verschwunden war, und versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich geträumt hatte. Doch ich hatte nicht geträumt; ich war hellwach. Ich war sogar derart wach, dass ich eine Stunde brauchte, um mich wieder in Morpheus' Armen zu verlieren, wie es ein viktorianischer Schreiber ausgedrückt hätte.

  Am nächsten Morgen traf ich etwas früher als gewöhnlich in meinem Büro ein, und ich brauche nicht zu betonen, dass ich natürlich sofort nach dem Brief zu forschen begann, den ich um den Zehnten herum erhalten hatte. Leider konnte ich mich nicht an den Absender erinnern. Aber mein Sekretär wusste noch den Ort, an dem der Unbekannte das Schreiben aufgegeben hatte, das ungewöhnlich genug gewesen war, um seine Aufmerksamkeit zu erwecken.

  »Der Brief kam irgendwo aus Mexiko«, sagte er, und da die Unterlagen dieser Art nach Ländern geordnet waren, wurde das Gesuchte schnell gefunden.

  Sie können versichert sein, dass ich den Text diesmal sorgfältig studierte. Der Brief war am Dritten in Guaymas aufgegeben worden, in einer Hafenstadt am Golf von Kalifornien.

 

 

  Mein lieber Herr! 

  Im Zusammenhang mit der Durchführung eines Projektes von größter wissenschaftlicher Bedeutung sehe ich mich vor der Notwendigkeit, um die - nicht finanzielle - Unterstützung eines psychisch mit mir harmonisierenden Menschen nachzusuchen, der zugleich über ausreichende Intelligenz und Bildung verfügt, um die gewaltigen Möglichkeiten meines Vorhabens zu erkennen.

  Warum ich mich an Sie gewandt habe, werde ich Ihnen gern erklären, wenn Sie mir den Vorzug einer persönlichen Unterhaltung erweisen würden. Allerdings würde unser Zusammentreffen von dem Ausgehen eines Versuches abhängen, den ich Ihnen jetzt erklären möchte.

  Wenn am Dreizehnten dieses Monats um Mittemacht eine weißgekleidete Frauengestalt Ihr Schlafzimmer betritt, beantworten Sie bitte diesen Brief - andernfalls nicht. Wenn Sie von der Gestalt angesprochen werden, merken Sie sich bitte ihre Worte und wiederholen Sie sie mir in Ihrer Antwort.

  Ich darf Ihnen versichern, dass ich mich sehr freuen würde, wenn Sie mein Anliegen ernsthaft in Erwägung ziehen könnten, obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass mein Brief ziemlich ungewöhnlich ist. Ich darf Sie bitten, strengstes Stillschweigen über seinen Inhalt zu bewahren, bis eventuelle künftige Ereignisse seine Veröffentlichung gerechtfertigt erscheinen lassen. Damit verbleibe ich mit respektvollen Grüßen als Ihr

 

  Carson Napier.

 

 

  »Scheint ein ganz Verrückter zu sein«, bemerkte Rothmund.

  »Der Meinung war ich auch«, stimmte ich zu, »aber heute ist der Vierzehnte, und es sieht aus, als wären wir auf dem Weg in ein neues Abenteuer.«

  »Was hat der Vierzehnte damit zu tun?«, fragte er.

  »Gestern war der Dreizehnte«, erinnerte ich.

  »Sie wollen doch nicht etwa sagen...?«

  »Genau das will ich sagen«, unterbrach ich ihn. »Die Dame kam, ich sah, und sie siegte.«

  Ralph musterte mich beunruhigt. »Sie sollten mal wieder zum Arzt gehen.«

  »Keine ungehörigen Bemerkungen, bitte. Ich weiß, was ich gesehen habe. Bitte nehmen Sie einen Brief an Mr. Napier auf.«

  

  Einige Tage später erhielt ich aus Guaymas ein Telegramm:

 

»BRIEF ERHALTEN – STOP - VIELEN DANK - STOP - WERDE SIE MORGEN AUFSUCHEN.«

 

  »Er scheint mit dem Flugzeug zu kommen«, sagte ich.

  »Oder auf einer Wolke, in ein weißes Bettlaken gehüllt.«

  Ich muss zugeben, dass wir der Ankunft Carson Napiers mit großem Interesse entgegensahen. Ralph schien einen wildäugigen Wahnsinnigen zu erwarten, während ich nicht recht wusste, auf was ich mich gefasst machen sollte.

  Gegen elf Uhr am folgenden Morgen kam Ralph in mein Büro.

  »Mr. Napier ist da«, sagte er.

  »Na, stehen ihm die Haare zu Berge, und hat er rotglühende Augen?«, fragte ich lächelnd.

  »Nein«, erwiderte Ralph und lächelte ebenfalls. »Er sieht eigentlich recht gut aus. Aber er scheint mir doch verrückt zu sein«, fügte er hinzu.

  Einen Augenblick später führte er einen außerordentlich gutaussehenden Mann herein, den ich zwischen fünfundzwanzig und dreißig schätzte, wenn er nicht sogar jünger war.

  Er kam mir mit ausgestreckter Hand lächelnd entgegen, und ich erhob mich, um ihn zu begrüßen. Nach der üblichen banalen Gesprächseröffnung kam er sofort zum Kern der Sache.

  »Um Ihnen die Angelegenheit klarzumachen«, begann er, »muss ich zunächst von mir erzählen. Mein Vater war britischer Armeeoffizier, meine Mutter ein amerikanisches Mädchen aus Virginia. Ich wurde in Indien geboren, während mein Vater dort stationiert war, und wuchs unter der Aufsicht eines alten Hindu auf, der meinen Eltern sehr zugeneigt war. Er hieß Chand Kabi und war eine Art Mystiker, und er brachte mir viele Dinge bei, die normalerweise nicht in den Lehrplan von kleinen Jungen unter zehn Jahren gehören. Zum Beispiel die Telepathie, die er für sich derart vervollkommnet hatte, dass er sich mit einer Person, mit der er psychisch harmonierte, auf große Entfernungen unterhalten konnte, als ob er ihr gegenübersäße. Nicht nur das - er konnte auch geistige Bilder auf große Distanz projizieren, so dass der Empfänger seiner Gedankenwellen sehen konnte, was Chand Kabi vor Augen hatte oder ihm übermitteln wollte. Diese Dinge brachte er

mir bei.«

  »Und auf diese Weise haben Sie mir am Dreizehnten auch meine mitternächtliche Besucherin zugeführt, nicht wahr?«, fragte ich.

  Er nickte. »Dieser Versuch war unumgänglich, um festzustellen, ob zwischen uns eine psychische Harmonie besteht. Ihr Brief mit den genauen Worten, die ich die Erscheinung sprechen ließ, überzeugte mich schließlich davon, dass ich endlich die Person gefunden habe, nach der ich schon lange Zeit suche. Aber ich will mit meiner Geschichte fortfahren, damit Sie möglichst genau über mich Bescheid wissen und beurteilen können, ob ich Ihres Vertrauens und Ihrer Unterstützung würdig bin. Ich war noch nicht elf, als mein Vater starb und meine Mutter mich nach Amerika brachte. Wir lebten zuerst drei Jahre lang in Virginia beim Großvater meiner Mutter, Richter John Carson, von dem Sie sicherlich schon gehört haben. Als der große alte Mann starb, kamen meine Mutter und ich nach Kalifornien, wo ich zur Schule ging und später ein kleines College besuchte, das für sein hohes Niveau bekannt ist.

  Nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte, ereignete sich die dritte Tragödie meines Lebens - meine Mutter starb. Es dauerte lange, ehe ich diesen Schlag überwand, und das Leben schien einfach keinen Reiz mehr für mich zu haben. Aber obwohl mir alles egal war, brachte ich nicht den Mut auf, mich umzubringen. Zum Ausgleich ließ ich mich auf ein äußerst hektisches Leben ein. Aus bestimmten Gründen lernte ich fliegen, änderte meinen Namen und wurde Double für eine Filmgesellschaft.

  Im Grunde brauchte ich nicht zu arbeiten, denn meine Mutter hatte mir das Vermögen meines Urgroßvaters hinterlassen, das so groß war, dass nur ein ausgesprochener Verschwender die Substanz schmälern konnte. Ich erwähne diesen Punkt nur, weil mein Projekt beträchtliche Aufwendungen erfordert und ich Ihnen sagen möchte, dass ich es ohne fremde Hilfe finanzieren kann.

  Das Leben in Hollywood begann mich bald zu langweilen, und da mich in Südkalifornien zu viele Dinge an meine Mutter erinnerten, begann ich zu reisen. Ich reiste kreuz und quer über den Erdball. In Deutschland begann ich mich für Raketenwagen zu interessieren und finanzierte mehrere derartige Projekte. Hier wurde auch mein Plan geboren, der nur insoweit etwas Originelles an sich hatte, als ich ihn auch tatsächlich ausführen wollte. Ich wollte mit einer Rakete zu einem anderen Planeten fliegen.

  Meine Studien hatten mich zu der Überzeugung gebracht, dass nur der Mars für Lebewesen unserer Art bewohnbar sein kann. Dabei übersah ich nicht, dass die Chancen einer Rückkehr zur Erde, wenn ich mein Ziel erst einmal erreicht hatte, sehr gering sein würden. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass ein solches Abenteuer einen Sinn haben müsste und nicht nur dem Selbstzweck dienen durfte. Ich beschloss also, mir jemanden zu suchen, mit dem ich mich in Verbindung setzen konnte, wenn meine Reise erfolgreich sein sollte. Es fiel mir ein, dass ich hierdurch vielleicht auch die Grundlage für eine zweite Expedition schaffen könnte, die für eine Rückreise ausgerüstet war - denn ich hatte keinen Zweifel, dass es genügend abenteuerlustige Menschen auf der Erde gibt.

  Ein Jahr lang habe ich mich auf der Insel Guadalupe vor der südkalifornischen Küste mit der Konstruktion einer gigantischen Rakete beschäftigt, wobei mir die mexikanische Regierung sehr geholfen hat. Heute ist nun alles bereit, und ich könnte jederzeit starten.«

  Er unterbrach sich und verschwand plötzlich vor meinen Augen. Sein Sessel war leer; ich war allein im Zimmer. Betäubt, entsetzt sprang ich auf. War ich verrückt geworden? Der kalte Schweiß brach mir aus. Ich hob den Arm, um Ralph hereinzurufen. Wenn er mir bestätigte, dass er Carson Napier gesehen und in mein Büro geführt hatte... Welche Erleichterung würde das für mich sein! Aber ehe mein Finger den Knopf berühren konnte, kam Ralph in das Zimmer gestürzt. Verwirrt starrte er mich an. »Mr. Napier ist wieder da«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass er schon gegangen war. Ich habe ihn doch eben noch mit Ihnen sprechen hören.«

  Mit einem Seufzer der Erleichterung wischte ich mir den Schweiß von der Stirn; in meinem Wahn war ich also nicht allein.

  »Führen Sie ihn herein«, sagte ich. »Diesmal bleiben Sie aber hier.«

  Napier betrat mein Büro und blickte mich tragend an. »Ich hoffe, Sie verstehen die Situation, wie ich sie Ihnen dargelegt habe«, sagte er, als habe er den Raum überhaupt nicht verlassen.

  »Ja, aber...«

  »Einen Augenblick bitte«, unterbrach er mich. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber ich möchte mich zuerst entschuldigen und Ihnen eine Erklärung geben. Sehen Sie, bis jetzt bin ich noch gar nicht wirklich in diesem Büro gewesen; ich habe nur meinen letzten Versuch mit Ihnen angestellt. Wenn Sie der Überzeugung sind, mich auch vorhin schon gesehen und mit mir gesprochen zu haben, und wenn Sie sich an meine Worte erinnern, obwohl ich die ganze Zeit draußen in meinem Wagen gesessen habe - dann werden wir uns ebenso frei und offen verständigen können, wenn ich auf dem Mars bin.«

  »Aber«, schaltete sich Rothmund ein, »Sie waren doch schon hier! Habe ich Ihnen nicht vorhin die Hand geschüttelt und mich mit Ihnen unterhalten?«

  »Das haben Sie sich nur eingebildet«, erwiderte Napier. »Jetzt bin ich wirklich da. Wie weit waren wir gekommen?«

  »Sie sagten gerade, dass Ihre Rakete auf Guadalupe startbereit wäre«, erinnerte ich ihn.

  »Ah, ja! Ich sehe, dass Sie alles mitbekommen haben. Jetzt werde ich Ihnen so kurz wie möglich umschreiben, wie ich mit die Zusammenarbeit mit Ihnen vorstelle, falls wir zu einer Übereinkunft kommen sollten. Eigentlich führen mich mehrere Gründe zu Ihnen, von denen die wichtigsten natürlich Ihr persönliches Interesse am Mars sowie Ihr Beruf sind; die Ergebnisse meines Experiments müssen von einem erfahrenen Autor festgehalten werden. Hinzu kommt das Ansehen, das Sie genießen. Sie sehen, ich habe mir erlaubt, einige Recherchen anzustellen. Ich möchte also, dass Sie die Nachrichten, die ich Ihnen übermittle, aufzeichnen und veröffentlichen. Und ich möchte, dass Sie sich während meiner Abwesenheit um mein Vermögen kümmern.«

  »Ihr erster Wunsch wird mir ein Vergnügen sein, aber die Verantwortung für die anderen Dinge...«

  »Ich habe bereits einen Vertrag aufgesetzt, der Sie weitgehend sichert«, erwiderte Napier auf eine Weise, die jede weitere Diskussion ausschloss. Er war offenbar ein junger Mann, den kein Hindernis schreckte; tatsächlich schien es so etwas für ihn überhaupt nicht zu geben.

  »Was Ihre Entlohnung angeht«, fuhr er fort, »brauchen Sie nur Ihren Preis zu nennen.«

  Ich hob abwehrend die Hand. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte ich.

  »Die Sache mag sehr viel Zeit kosten«, schaltete sich Ralph ein, »und Ihre Zeit ist kostbar.«

  »Das stimmt allerdings«, stimmte Napier zu. »Wenn es Ihnen recht ist, werde ich mit Mr. Rothmund später über die finanziellen Aspekte sprechen.«

  Da mir geschäftliche Dinge im Grunde verhasst sind, war ich mit diesem Vorschlag einverstanden.

  »Um jetzt zu den weitaus wichtigeren und interessanteren Punkten unserer Unterhaltung zurückzukommen - was halten Sie überhaupt von meinem Plan?«

  »Der Mars ist sehr weit von der Erde entfernt«, sagte ich. »Die Venus ist fünfzehn oder sechzehn Millionen Kilometer näher - und eine Million Kilometer ist eine Million Kilometer.«

  »Allerdings Ehrlich gesagt, würde ich auch lieber eine Reise zur Venus machen«, erwiderte er. »Dieser Planet ist von Wolken umhüllt und entzieht seine Oberfläche dem neugierigen Blick des Menschen, Er birgt also ein Geheimnis, das unsere Phantasie anregt. Allerdings deutet die jüngste wissenschaftliche Forschung darauf hin, dass sich die Lebensbedingungen seht von denen unterscheiden, wie wir sie hier auf der Erde kennen. Wenn die Venus, wie einige Fachleute annehmen, der Sonne stets dieselbe Seite zukehrt - ähnlich wie es der Mond tut -, dann würden die extremen Hitzeunterschiede jegliches Leben ausschließen.

  Auch wenn man Sir James Jeans' Annahme folgt, nach der die Tage und Nächte auf der Venus ein Vielfaches länger sind als unsere Tage und Nächte, dürften die extremen Temperaturen die Bildung von Leben von vornherein verhindern.«

  »Vielleicht hat sich das Leben diesen Bedingungen aber angepasst«, wandte ich ein. »Auch der Mensch existiert bei tropischer Hitze und arktischer Kälte.«

  »Aber nicht ohne Sauerstoff«, sagte Napier. »St. John schätzt, dass die Sauerstoffmenge über dem Wolkenmantel der Venus kaum zehn Prozent des irdischen Wertes beträgt. Letztlich müssen wir uns schon dem überlegenen Urteil von Männern wie Sir James Jeans beugen, der nach den vorliegenden Beobachtungen der Meinung ist, dass die Venus neben der Erde und dem Mars zwar der einzige Planet ist, der überhaupt Leben tragen könnte, dass aber das Fehlen von Vegetation und Sauerstoff die Existenz von höheren Lebensformen unmöglich macht. Wodurch sich meine Mission auf den Mars beschränken muss.«

  Wir saßen noch lange in meinem Büro zusammen und besprachen Napiers Pläne, und es war früher Morgen, als er sich in seinem Sikorski-Boot auf den Rückweg nach Guadalupe machte.

  Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen, jedenfalls nicht von Angesicht. Auf telepathischem Wege habe ich jedoch ständig mit ihm in Verbindung gestanden und ihn in einer seltsamen, unirdischen Welt erlebt, die wie eine Fotografie auf der Retina meines geistigen Auges erstand. Auf diese Weise wurde ich zu dem Medium, durch das die erstaunlichen Abenteuer Carson Napiers aufgezeichnet werden. Aber im Grunde bin ich nicht mehr als eine Schreibmaschine oder ein Diktaphon - die Geschichte, die nun erzählt wird, ist Carson Napiers Geschichte.

 

 

 

  

  2.

 

 

  Als ich das kleine Schiff vier Stunden nach Verlassen der kalifornischen Küste in die Bucht am trostlosen Ufer von Guadalupe steuerte, erblickte ich sofort den kleinen mexikanischen Dampfer, den ich gemietet hatte, um Männer, Material und Lebensmittel vom Festland herüberzubringen. An Land warteten die Arbeiter, Mechaniker und sonstigen Helfer, die mir bei der Vorbereitung dieses Tages monatelang treu zur Seite gestanden hatten. Sie wurden um Haupteslänge überragt von Jimmy Walsh, dem einzigen Amerikaner in der Mannschaft.

  Ich machte das Boot an einer Boje Fest, während mir einige Männer in einem Boot entgegenruderten. Ich war nicht ganz eine Woche unterwegs gewesen, und von dieser Zeit hatte ich den größten Teil in Guaymas verbracht und auf den Brief aus Amerika gewartet. Doch man begrüßte mich so begeistert, dass ich mir wie ein verlorener Sohn vorkam, der aus dem Reich der Toten auferstand.

  Ich konnte die Leute verstehen; Guadalupe war eine bedrückende, trostlose Insel.

  Vielleicht war die herzliche Begrüßung auch nur eine Maske für die wirklichen Gefühle, mit denen die Männer kämpften. Wir waren mehrere Monate zusammen gewesen, und ich hatte viele Freundschaften geschlossen. Heute Nacht nun sollte die Trennung stattfinden; und die Wahrscheinlichkeit, dass ich jemals wiederkommen würde, war gering. Mein letzter Tag auf der Erde war angebrochen, und ab Morgen war ich für diese Menschen so tot, als läge ich reglos in meinem Grab und wäre von einer meterdicken Erdschicht bedeckt.

  Ich will nicht verkennen, dass mich meine eigenen Gefühle vielleicht zu Fehlschlüssen kommen ließen; ich muss offen gestehen, dass ich diesen letzten Augenblick als den schwierigsten des ganzen Unternehmens gefürchtet hatte. Die Mexikaner, die noch unverdorben waren von der amerikanischen Intoleranz und Geschäftemacherei, hatte ich sehr lieb gewonnen; daneben stellte Jimmy Walsh noch ein ganz besonderes Problem dar. Er war mir in den Monaten unserer Zusammenarbeit wie ein Bruder ans Herz gewachsen, und er hatte mir ständig auf der Seele gelegen, ihn doch mitzunehmen.

  Wir drängten uns auf die Lastwagen, die wir zum Transport von Materialien und Versorgungsgütern benutzt hatten, und fuhren über die holprige Straße zu unserem Lager, das einige Meilen landeinwärts lag. Hier erhob sich auf einer zwei Kilometer langen Schienenstrecke der gigantische Torpedo, in dem ich zum Mars fliegen wollte.

  »Es ist alles bereit«, sagte Jimmy. »Wir haben heute Morgen noch einmal alles überprüft. Mit dem Traktor haben wir das Fahrgestell dreimal auf der Laufstrecke hin und her gezogen und noch einmal jedes bewegliche Teil nachgeschmiert. Jedes einzelne Ausrüstungsstück haben wir dreifach überprüft, und wir brauchen nur noch die Raketen zu zünden. Du wirst mich doch mitnehmen, Car, nicht wahr?«

  Ich schüttelte den Kopf. »Du darfst nicht darauf bestehen, Jimmy«, sagte ich. »Ich habe ein Recht, mein Leben aufs Spiel zu setzen, aber das Leben anderer Menschen darf ich nicht riskieren. Du musst deinen Wunsch vergessen. Um dir zu zeigen, wie sehr ich deine Hilfe anerkenne, werde ich dir mein Boot überlassen.«

  Er war mir natürlich sehr dankbar, konnte seine Enttäuschung jedoch nicht verbergen. Er hätte mich zu gern begleitet.

  Die Ausrichtung der Schienenspur, auf der der Torpedo starten sollte, ging auf monatelange Überlegungen und Berechnungen zurück. Der Starttag war schon lange festgesetzt, ebenso wie der genaue Punkt, an dem der Mars in der betreffenden Nacht über den östlichen Horizont steigen würde. Bei meinen Kalkulationen waren schließlich auch die Rotation der Erde und die Anziehungskraft der nächstgelegenen Himmelskörper berücksichtigt worden. Auf

den ersten anderthalb Kilometern führte die Startbahn leicht bergab, um sich zum Schluss bis zu einem Winkel von zweieinhalb Grad aus der Horizontalen zu erheben.

  Eine Startgeschwindigkeit von etwas über sieben Kilometern in der Sekunde reichte aus, um die Erdanziehung zu neutralisieren; um sie allerdings zu überwinden, musste ich eine Geschwindigkeit von über elf Kilometern erreichen, und um ausreichend gesichert zu sein, hatte ich den Antrieb so kalkuliert, dass mein Torpedo am Ende der Startschiene eine Geschwindigkeit von zwölf Kilometern in der Sekunde hatte - eine Geschwindigkeit, die sich beim Aufstieg durch die Atmosphäre auf sechzehn Sekundenkilometer steigern sollte. Ich wusste nicht genau, wie sich mein Fortkommen gestalten würde, wenn ich das Weltall erreicht hatte; ich ging jedoch davon aus, dass sich meine Geschwindigkeit nur unwesentlich steigern konnte, bis ich den Gravitationsbereich des Mars erreichte.

  Auch den genauen Zeitpunkt des Starts hatte ich nach sorgfältigen Vorarbeiten festgesetzt. Obwohl ich meine Zahlen immer wieder überprüfte, waren so viele Faktoren zu berücksichtigen, dass ich mich der Hilfe eines bekannten Physikers und eines berühmten Astronomen versicherte, die meine Rechnung bestätigten. Demnach musste ich meinen Torpedo einige Zeit vor dem Augenblick starten, da der rote Planet über den östlichen Horizont stieg. Auf seinem Weg würde das Projekt einer sich ständig abflachenden Kurve folgen, wobei die Erdanziehung, die sich zuerst noch sehr stark auswirkte, im Quadrat zur zurückgelegten Entfernung nachließ. Der Start musste so abgepasst sein, dass der Torpedo im Augenblick des Verlassens der irdischen Gravitation direkt auf den Mars zuhielt.

  Auf dem Papier sahen diese Zahlen sehr überzeugend aus; als jetzt jedoch der Start heranrückte, fiel mir ein, dass sie nur auf theoretischen Überlegungen beruhten, und urplötzlich kam mir der Wahnsinn meines Vorhabens zu Bewusstsein.

  Die Erkenntnis raubte mir einen Augenblick den Atem. Der gewaltige, sechzig Tonnen schwere Torpedo lag dort am Ende der Startbahn wie ein riesiger Sarg - mein Sarg, in dem ich leicht vom Himmel stürzen und irgendwo im Gebirge zerschellen oder im Pazifik versinken konnte, oder in dem ich in der Leere des Alls

verloren war, wenn die Steuerung versagen sollte. Ich muss zugeben, dass ich mich in diesem Augenblick fürchtete - allerdings weniger vor dem Tode, als vor der Erkenntnis der unvorstellbaren kosmischen Kräfte, mit denen ich mich messen wollte.

  Jimmy unterbrach mein Grübeln. »Wir sollten die Kontrollen vor dem Start noch ein letztes Mal überprüfen«, sagte er, und seine ruhige Stimme verscheuchte sofort meine Bedenken. Ich hatte wieder zu mir selbst gefunden.