Für Philipp


periplaneta

MASCHENKA TOBE: „Wir waren die Kosmonauten“
1. Auflage, Dezember 2017, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Cover und Illustrationen: Wiktor Dubnow
Autorinnenbild: Philipp Frei
Projektassistenz: Anne Helm, Tabea Berger
Projektleitung, Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-085-4
epub ISBN: 978-3-95996-086-1

Maschenka Tobe

Wir waren die Kosmonauten




Roman





periplaneta

Prolog

Ein Mann fällt vom Himmel

An einem frostigen Märzmorgen, die schwerfällige Frühjahrssonne ist gerade über den Horizont gekrochen, durchdringt ein kräftiger Schrei das Haus und versetzt die Familie, die darin lebt, in freudige Aufregung. Denn dieser Schrei ist der allererste Laut eines kleinen Bruders zweier Geschwister, der gerade in eine unscheinbare Bauernfamilie hineingeboren wurde. Der gerade in eine Welt hineingeboren wurde, die er schon bald ins Staunen versetzen wird. Doch das soll jetzt noch niemand ahnen.

Er soll einen bäuerlichen Beruf erlernen, so ist der Plan. Und weil das Kind einen Namen braucht, nennt man ihn ‚Bauer‘. Natürlich nicht wirklich, so nennt man Kinder schließlich nicht. ‚Georg‘ ist das altgriechische Wort für Bauer. Doch auch Georg soll er nicht heißen, denn der kleine Junge wird in Kluschino geboren, einem winzigen russischen Dorf, das außer für die Geburt des Jungen für nichts weiter bekannt ist. Der Junge braucht also einen russischen Namen und Georg auf Russisch, das ist Juri. Juri also, ein kleiner Junge, der eines Tages der erste Mensch sein wird, der die Welt, in die er geboren wurde, verlässt – lebendig.

Denn Juri interessiert sich nicht für die Bedeutung seines Namens. Er wird kein Bauer, sondern Kosmonaut. Kurz nach seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag gibt man Juri die seltene Chance, Geschichte zu schreiben.

Als erster Mensch darf er in den Weltraum fliegen. Er sieht die Sterne von nahem, schwebt weit über Ozeanen und Kontinenten und umrundet die Erde. Sein Herz springt aufgeregt in seinem Brustkorb umher, als er durch ein Bullauge den Blick nach draußen wagt. Er schwärmt von der Aussicht, die er genießt, in das Funkmikrofon und weiß um den unvermeidbaren Neid der Anderen. Auf den einmaligen Anblick der in flauschige Wolken gehüllten Erde, die aus so großer Ferne ganz friedlich aussieht. Er sieht das Schönste, das er jemals gesehen hat, ist freier, als ein Mensch es je war. Und doch muss er zur Erde zurück, muss die Schönheit der sternengespickten Unendlichkeit zurücklassen. Allerdings kehrt nur sein Körper zurück. Denn wer den Sternen einmal so nah war, der bleibt mit dem Herzen bei ihnen.

Nach ein paar technischen Komplikationen auf der Rückreise, von denen ich euch jetzt nichts Genaueres erzähle, weil ich nun mal keine Weltraumwissenschaftlerin bin, öffnet sich in der Erdatmosphäre die Raumkapsel. Juri wird hinausgeschleudert und segelt mit seinem Fallschirm, der sich wenig später öffnet, durch die Luft. Er erhält eine kleine Gnadenfrist, bevor er seine Füße wieder auf die kleine Erde setzen muss. Die Komplikationen führen dazu, dass er woanders landet, als man es zuvor berechnet hatte und so erwartet ihn kein frenetisch applaudierendes kosmonautisches Empfangskomitee.

Stattdessen landet er auf einem Feld nahe dem Dörflein Smelowka, wo eine Großmutter und ihre Enkelin ihn finden. Die beiden sammeln gerade Feldfrüchte für das Mittagessen, das sie kochen wollen, doch plötzlich fällt ein Mann vom Himmel. Die Großmutter staunt und versteht nicht, was hier vor sich geht. Ihr Leben lang hat sie auf diesem Feld gearbeitet, nach vorn geschaut, zur Seite geschaut und vor allem nach unten auf den Acker geschaut. Aber ihren Blick von der Erde abzuwenden, den Kopf in den Nacken zu legen und zu den Sternen zu schauen, das war ihr nie in den Sinn gekommen. Wo kam dieser Mann also her?

Die Enkelin hingegen springt wild lachend umher, umkreist den Mann in dem orange leuchtenden Skaphander. Seine Leuchtkraft ist so groß, als wäre er ein Stück Sonne, das beschlossen hat, in Menschengestalt zur Erde zu fallen. Sie fürchtet, sich zu verbrennen, sollte sie ihm zu nah kommen. Mit leuchtenden Augen besieht die Enkelin aufgeregt den Mann, schaut hoch zur Sonne, aus der er gerade gefallen ist, und wird ihr Leben lang nicht mehr verlernen, in den Himmel zu schauen.

Einiges an dieser Geschichte ist wahr, anderes vielleicht ist frei erfunden. Vielleicht. So ist es nun mal mit Geschichtenerzählern und ihrem Recht, ein Stückchen Wahrheit zu nehmen, umzuformen, auszuschmücken, ihm ein neues Antlitz zu verleihen und eine neue, andere Wahrheit daraus zu formen.

Und so macht es auch die Mutter, die ihrem Sohn und dessen Freundin die Geschichte vom Mann, der vom Himmel fällt, erzählt.

Sie erzählt sie gern, denn die Kinder sehen neugierig zu ihr auf, hängen an ihren Lippen und schenken ihr und ihren Worten ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie sieht das begierige Glänzen in den Augen der beiden und spürt, dass die Geschichte ihren Zweck erfüllt. Diese beiden kleinen Kinder, sie werden in die Welt hinausgehen und sie werden in den Himmel schauen. Der Erdboden wird ihnen nicht genug sein. Sie werden sich nach den Sternen strecken und selbst wie Sonnen leuchten.

Teil 1

2 Ein großer Tag für die Kinderkosmonautik

„Wir waren die Kosmonauten. Wir waren zwei gegen den Rest der Welt. Die Welt aber, die war uns bei weitem nicht genug. Wir wollten mehr! Das ganze Sonnensystem und vielleicht auch noch den Rest. Wir waren wild und frei und so voller Energie, wie wir es niemals wieder sein würden.

Wir waren die Kosmonauten. Auf gemeinsamer Mission in unserem kleinen, selbstgebastelten Raumschiff waren wir auf dem Weg zu den Sternen.

Einen alten Karton, etwas Kleber und ein paar Wachsmaler, mehr brauchte es nicht für unser interstellares Gefährt. Zusammengehalten von kindlicher Fantasie brachte es uns, wohin wir wollten. Das Leben in diesem Sommer, das Leben mit einem Raumschiff in der Garage – es war so unbeschwert!

In diesem Sommer Anfang der Neunziger waren wir in emsiger Vorbereitung unserer ersten Mission und spürten bereits, dass wir schon sehr bald Raumfahrtgeschichte schreiben würden. Eine vierbeinige Metallkugel mit dem seltsamen Namen Sputnik, ein paar Tiere und unzählige Erwachsene waren bereits ins All geschickt worden, das hatte uns deine Mutter immer und immer wieder erzählt. Aber Kinder? Kinder waren unseres Wissens nach noch nicht außerhalb der Erdatmosphäre gewesen.

Mehrere Tage schlossen wir uns in meinem Zimmer ein, das Nicht-stören!-Streng-geheime-Angelegenheit!-Schild an der Tür tat seinen Dienst und hielt unerwünschten Besuch fern. Das Einzige, was uns heraustrieb, war die Rassel, deren aufgeregter Klang sich dreimal täglich im Treppenhaus ausbreitete und bei mir zu Hause bedeutete, dass das Essen auf dem Tisch stand.

Wir nahmen gleich mehrere Treppenstufen auf einmal und rasten ungestüm ins Esszimmer hinunter. Unsere kleinen Kinderhände streiften über das kalte Treppengeländer. Der Kühle, nicht der Sicherheit wegen.

Schier ohne zu atmen, schaufelten wir das Essen von den zwiebelgemusterten Tellern begierig in unsere Münder und fragten mit vorgeschobener Unterlippe, schief gelegtem Kopf und mutterherzerweichendem Hundeblick, ob wir ausnahmsweise schon aufstehen dürften. So viel Tatendrang widerstand niemand, nicht einmal meine, sich sonst so gewissenhaft an ihren Regeln klammernde, Mutter.

In unserem Geheimbüro werkelten wir mit buntem Bastelpapier und Filzstiften, mit Bastelscheren, Kleber und Glitzerstaub. Nach drei Tagen harter Arbeit waren wir fertig und die Einladungen für unseren offiziellen Raketenstart waren bereit, in den Briefkästen all unserer Freunde auf Kenntnisnahme zu warten. Und so machten wir uns auf den Weg, die Einladung zum Ereignis des Jahres in den Briefkästen der Straße zu verteilen.

Schneller als erwartet war der große Tag auch schon gekommen. Am 5. August 1993 um Punkt 12.00 Uhr war es soweit, so steht es in der Bildunterschrift unter der Aufnahme, die diesen historischen Moment ausgeblichen und unscharf dokumentiert.

Unsere Rakete stand zum Abflug bereit. Eingeladene Gäste und ungebetene Schaulustige, Zaungäste, aus der Nachbarschaft hatten sich versammelt, um zum Abschied zu winken. Ein paar missgünstige Pessimisten waren selbstverständlich auch unter ihnen. So wie dieser Janis. Erinnerst du dich an ihn? Er war schon ein paar Jahre älter als wir. Als wir in unserer Rakete saßen, brabbelte er, wir seien Idioten und jemand solle sich mal die Mühe machen, den Glitzerstaub aus uns heraus zu prügeln. Seine dümmlichen Drohungen gingen schnell im Applaus und den zugerufenen Glückwünschen all der anderen Zuschauer unter.

Deine Mutter, Unterstützerin der ersten Stunde, hatte uns Brote geschmiert.

,Entdecken ist anstrengend und wer weiß, wie lange ihr unterwegs seid. Ihr werdet jedenfalls Proviant brauchen‘, floss ihre zuckersüße Stimme voll bedingungsloser Liebe durch die Küche, als sie dir das sorgsam geschnürte Futterpaket in die Hände legte.

Diese Erinnerungen sind allesamt so lebhaft, als wäre das alles erst gestern gewesen. Du hast die Brote genommen und in völliger Selbstverständlichkeit gegen den großen weißen Kühlschrank gepfeffert. Hast dich wutentbrannt umgedreht und bist weggestapft, ohne dich umzuschauen.

,Sei nicht albern, Mama! Raumfahrer essen Raumfahrernahrung. Aus Tuben! Keine Brote! Das weiß ja wohl jedes Kind!‘, warfst du ihr beim Gehen entgegen.

Deine Mutter stand bloß da, im durch das Küchenfenster einfallenden Sonnenschein und sah dir nach. In dem öligen Licht wirkte sie wie in Bernstein gegossen, was auch ihre Reglosigkeit erklärte. Noch immer frage ich mich, was das in ihrem Blick war. Ich konnte es mir schon damals kaum erklären, aber es erinnerte mich irgendwie an Stolz.

Du jedenfalls hast dir keine Gedanken um deine Mutter gemacht. Stattdessen hast du im Badezimmer sämtliche Zahn­pas­ta­tuben eingesackt, die du auftreiben konntest. Meine Hosentaschen waren zu dem Zeitpunkt bereits gefüllt mit Senftuben, Lachscremetuben, einer Tube Rot-Weiß, dieser ekligen Mischung aus Ketchup und Mayonnaise, und einer Tube Bastelkleber. Natürlich wusste jeder, dass Kosmonauten sich aus Tuben ernähren. Wie sollten wir schließlich noch koordiniert durch den Weltraum segeln, wenn Salatblätter, Käsescheiben und Brotkrümel auseinandergefallener Stullen durch die Schwerelosigkeit unserer Raumkapsel flogen?

Wir waren wilde Monster, ungestüme Vandalen, kleine Unruhestifter. Wir waren bereit, die Welt und alles, was sie umgab, zu erobern. Wir wollten alles, und zwar bedingungslos. Und noch niemand war gekommen und hatte uns erklärt, dass das nicht möglich sein würde.

In unserer rumpeligen Raumfahrtkiste waren nur wir zwei. Unsere vier kleinen Hände unlösbar am Lenkrad, starteten wir unsere Reise mit einem Countdown. Das machte man so, hatte uns Hollywood beigebracht.

Erst neulich habe ich übrigens gelernt, du wirst es nicht für möglich halten, dass der Raketenstart-Countdown eine dämliche Filmerfindung ist.

Erinnerst du dich an diesen Schwarzweiß-Streifen, den wir mal in diesem kleinen Off-Kino gesehen haben? Es hat in Strömen geregnet und wir haben Unterschlupf in diesem kleinen unscheinbaren Kino gefunden, wo ‚Die Frau im Mond‘ von Fritz Lang lief. Du erinnerst dich bestimmt an den Countdown vor dem Raketenstart. Den jedenfalls hat die amerikanische Raumfahrt übernommen, die Astronauten haben runter gezählt. Die Kosmonauten aber eben nicht. Waren wir etwa immer Astronauten, ohne es zu wissen? Oder waren wir die ersten Kosmonauten, die einen Countdown benutzt haben?

Das Lenkrad unserer Raumkapsel jedenfalls gehörte eigentlich zu dem Bobbycar von Anton, meinem Cousin, der dicke Kullertränen weinte, als du das Lenkrad zu demontieren anfingst.

‚Jetzt heul nicht, Anton. Dein Autochen ist ja nicht verloren! Ich brauche nur das Lenkrad, der Rest ist ja noch da‘, hattest du ihn halbherzig zu trösten versucht.

,Aber Timo‘, stimmte er schniefend und kleinlaut an, ,was bringt mir denn ein Auto ohne Lenkrad? Und die Hupe ist ja auch am Lenker dran. Ich kann nur geradeaus fahren und nicht einmal hupen, wenn mir jemand in die Quere kommt.‘

Da hast du dich neben ihn gekniet und deine Hand auf seine Schulter gelegt.

,Wir riskieren da draußen unser Leben! Wir sind Entdecker und Forscher und werden alles über den Sternenhimmel in Erfahrung bringen, was es in Erfahrung zu bringen gibt. Die Wissenschaft fordert immer Opfer‘, erklärtest du dem kleinen, verheulten Anton mit ernster Miene, während eine dicke Rotzblase aus seinem linken Nasenloch quoll. Ich bin so randvoll mit Liebe, wenn ich daran zurückdenke. Du warst doch gerade mal acht Jahre alt. Wie lächerlich ernst wir uns schon damals genommen haben.

Auch mir hast du einige Male zu erklären begonnen, warum wir dieses Risiko auf uns nehmen würden. Immer hast du deine Erklärungen mittendrin abgebrochen. Mein fester Blick, mein Vertrauen, meine Überzeugung – es war völlig unnötig, mir irgendetwas vom Sinn und Zweck unserer Reise ins All zu erklären. Mein Blick und meine Standfestigkeit verrieten dir die Überflüssigkeit deiner Erklärungen. Du sahst es deutlich und fühltest ebenso. Dein Weg würde immer der meine sein. Du warst mein Fixstern und ich war deiner.

Ach, und kurz vor dem Start unserer Rakete kam mein Vater aufgeregt angerannt, in den Händen hielt er zwei ausrangierte Motorradhelme, die er aus den Untiefen des Kellers, aus seiner draufgängerischen Vergangenheit aus Leder und Asphalt, ausgegraben hatte. Unsere viel zu kleinen Köpfe verschwanden jeweils in einem der Helme, wir winkten aufgeregt, dankten all den Zuschauern für ihr Erscheinen und die Bezeugung dieses geschichtsträchtigen Augenblicks und schlossen dann unseren Raketenkarton. Unter Rütteln und Schütteln machten wir uns auf die Reise in einen Raum ohne Limit. Irgendwann löste sich unsere Raumkapsel von der Trägerrakete und das Gerüttel war vorüber. Wir segelten durch das All, das Nichts, die Leere.

Wir waren frei. Wir waren unendlich. Es gab keine Grenzen, wenn wir sie uns nicht selbst steckten. Wir waren doch bloß zwei Grundschulkinder – wie konnten wir uns unserer Grenzen und ihrem Verschwinden nur so bewusst sein?

Vielleicht war es die Euphorie, aber ich bin fest überzeugt, dass meine Fantasie nie wieder so lebhaft war, wie an diesem Tag. Wenn ich jetzt, so viele Jahre später daran zurückdenke, habe ich die Bilder des Weltraums noch immer so klar vor Augen, als hätte ich sie gerade erst gesehen. Noch immer spüre ich die Vibration unserer Trägerrakete beim Start, vermisse das galante Schweben, während wir Planeten umrundeten und noch immer höre ich deinen schweren Atem. Nie wieder habe ich so kaleidoskopisch bunt fantasiert, realer als die Wirklichkeit taggeträumt. Als wäre meine Welt immer enger geworden, je älter ich geworden bin.

Als wir endlich gelandet waren – was ein kniffliges Unterfangen war, immerhin hatten wir völlig vergessen, eine Bremse einzubauen – befand sich unsere Rakete am gleichen Ort, an dem sie auch gestartet war. Das war unglaublich praktisch. Denn alle Besucher der Startzeremonie waren noch oder wieder da und konnten uns, den Helden, den Pionieren der Kinderraumfahrt, den Kosmonauten, applaudieren.

Nach unserer Reise war ich eine Woche lang nicht in der Schule. Ich hatte hauptsächlich vor und ein bisschen während der Reise so viel Tubeninhalt gefuttert, dass ich mich kurz nach unserer Landung mehrfach übergeben hatte und meine Eltern es für besser hielten, mich ein paar Tage daheim zu behalten. Bestimmt hatten sie mich auch vermisst, wir waren immerhin ziemlich weit weg gewesen. Während dieser Woche zu Hause, ohne dich, habe ich dich so sehr vermisst, dass es wehgetan hat. Mein Kosmonaut. Wie ich dich damals schon geliebt habe. Als wärst du ein Stück von mir.

Du bist ein Stück von mir. Wenn du es vor unserer Weltraumreise noch nicht gewesen bist, dann waren es die hohe Temperatur und der Druck beim Wiedereintritt in die Atmosphäre, die uns für den Rest unseres Lebens zusammengeschweißt haben.“

3 Der Streuner im Nebel

Ein klirrend kalter Herbstabend taucht die Stadt in kristallinen Nebel. Die Häuser sind klamm, die Fassaden feucht. Blattlose Äste strecken sich verzweifelt in den dunkelgrauen Himmel und die Vögel sitzen im Gorki Park. Die Krallen um knorrige Äste gelegt, ihre Köpfe unter die Flügel geklemmt, dicht aneinander geschmiegt. Der Herbst hat gerade erst begonnen und sie träumen schon jetzt vom nächsten Frühjahr und wärmenden Sonnenstrahlen.

Die Straßen sind leer und die Menschen längst zu Hause, aus Angst vor einer Lungenentzündung. Es wird Winter und aus der Moskwa scheint Dunst zu steigen.

Ein Mann drückt sich einer Schlange gleich um Häuserecken, aus Angst entdeckt oder gar erkannt und zu allem Überfluss später erinnert zu werden. Den Kragen seines Mantels schlägt er hoch, so dass die nasse Abendluft ihm nicht in die Kleider kriechen kann. Die wärmende Mütze zieht er sich tief ins Gesicht. Gegen die Kälte und gegen ungewollte Blicke.

Er führt etwas im Schilde und fürchtet, die Wölkchen, die er ausatmet, könnten ihn verraten. Könnten nach Geheimniskrämerei riechen und neugieriges Volk anlocken, dessen Stillschweigen er dann erpressen müsste.

In gespielter Arglosigkeit spaziert er am Fluss entlang und muss ein gekünstelt unschuldiges Pfeifen unterdrücken. Er war schon immer ein schlechter Schauspieler. Dem schlingernden Lauf der Mäander folgend beschließt er nach einer Weile, er ist mittlerweile durchgefroren und müde, es der Stadt gleichzutun und sich schlafen zu legen. Ein erfolgloser Tag soll sich dem Ende nähern und so bewegt er sich gen Norden. Er freut sich auf die heiße Dusche, die ihm die Kälte aus dem Körper waschen wird.

Er sehnt sich nach der Ruhe des weichen Bettes und will den Ausblick auf die Moskwa genießen, hinaus aus dem dreißigsten Stock des höchsten Hotels der Welt. Er blickt hinüber zu dem Hotel-Hochhaus, das man aus ganz Moskau zu sehen scheint. ‚Stalinistischer Klassizismus‘, denkt er. ‚Ein Blick in die Vergangenheit.‘

Hinter dem Mann liegt ein ganz und gar erfolgloser Tag. Er hat einen Auftrag in dieser Stadt, für den ihm nicht mehr viel Zeit bleiben wird.

‚Vielleicht ist es doch noch zu früh, um sich faul in die Laken fallenzulassen‘, redet ihm ein letztes bisschen Motivation ein. ‚Sehr wahrscheinlich sogar ist die Abenddämmerung am besten geeignet, um die Aufgabe zu erledigen.‘

Sein Zeitplan ist ein engmaschiges Netz und so beschließt der Mann, dass es noch nicht an der Zeit ist für Müßiggang und hochgelegte Beine und so biegt er ab in Richtung der Metrostation. Die Metro zu nehmen, um ins Stadtinnere zu gelangen, das kommt für ihn jedoch nicht in Frage. Die Vorstellung, sich in einem Tunnel gut fünfzig Meter unter der Erde zu befinden und mit einem Zug noch weiter in das Steinmassiv hinein zu fahren, löst in ihm seit er denken kann panische Beklemmungsgefühle und Atemnot aus.

Stattdessen flaniert er den menschenleeren Boulevard hinab und entfernt sich, dem diffusen Gefühl aufwallenden Tatendrangs folgend, von seinem Hotel, von seiner heißen Dusche und von dem watteweichen Bett. Unter seinem dicken Filzmantel knurrt und rumort es, sein Magen beschwert sich lautstark über die ausbleibende Nahrungsaufnahme. Aus seiner tiefen Manteltasche zieht der Mann raschelndes Papier, in das ihm der Metzger heute früh Brühwürste eingeschlagen hat, und beißt beherzt in eines der rosigen Fleischstücke.

Er fühlt sich verfolgt, als würden Blicke auf seinem Rücken lasten, die sich wie anklagende Zeigefinger stetig pickend in seine Muskeln bohren. ‚Blödsinn!‘, redet er sich ein. Schließlich hört er keine Schritte außer den eigenen und hat seit Stunden keinen Menschen mehr gesehen. Nur halb von der Irrationalität seines Verfolgungswahns überzeugt, beschleunigt er seinen Gang.

Das Metronom, das gleichmäßige Klacken seiner Absätze auf dem Gehweg ist zu schnell, er fühlt sich aus dem Takt geraten, wie eine tickende Bombe, die schneller und schneller wild pochend dem großen Knall entgegenfiebert.

Er erregt Aufsehen, das spürt er ganz deutlich. Das Geräusch, das sein auffallend flinker Gang verursacht, es dringt sicherlich an Ohrenpaare, die es besser nicht hören sollten, für die es nicht bestimmt ist. Es kann sich nur noch um Sekunden handeln, bis hinter den dunklen Fenstern die ersten Menschen aufwachen werden. Hinter den schwarzen Scheiben werden Lichter angehen, wie Augen einer erwachenden Bestie, die sich schlagartig öffnen. Man wird sich wundern über sein suspektes Verhalten. Über die Uhrzeit, die er sich dafür gewählt hat.

Die Aufregung droht ihn zu zerreißen, noch bevor ihn jemand entdeckt. Er spürt schon die ersten Risse in seiner Haut. Und so zählt er innerlich von zehn abwärts. Er hastet weiter – neun – nur noch – acht –, doch wenn er – sieben – bei der Null – sechs – angekommen ist – fünf –, dann wird er – vier – stehenbleiben – drei – und wird schlagartig – zwei – auf dem Absatz – eins – kehrtmachen, nimmt er sich vor. Null.

Manche Vorsätze sind zum Brechen da, doch dieser gehört nicht dazu. Er dreht sich auf dem Absatz um und schaut in ein Paar leuchtende Augen.

Diese beiden nussbraunen Knopfäuglein, fröhlich und naiv, fühlen sich von dem Blick des Mannes aufgefordert und kommen vorsichtig näher. In behutsamen Zickzacklinien setzt sich eine Pfote sacht vor die andere auf den eiskalten Gehweg des breiten Boulevards. Eine kleine weiße Hündin nähert sich dem Mann und sitzt schon bald zu seinen Füßen, wo die zutrauliche Streunerin verharrt und mit gespitzten Ohren nach der Wurst in der Hand des Mannes späht.

Der Mann will das Vieh treten oder lieber gleich in Stücke reißen. Vor Aufregung hört er sein eigenes Herz schlagen, das mit einer unglaublichen Leistung das Adrenalin durch seinen zitternden Körper jagt. Seine Anspannung verlangt ein motorisches Ventil. Im letzten Moment jedoch gewinnt die Vernunft des Mannes die Oberhand und er sinkt mit einem lauten Seufzen zu Boden. Er zupft an seinen zu engen Hosenbeinen und setzt sich in den Schneidersitz vor die Hündin. ‚Meine Nerven‘, denkt er und schiebt sich mit dem Handrücken den Schweiß, der nach Panik riecht, von der Stirn.

Er zupft ein Stück Fleisch für das gierige Augenpaar von der angebissenen Wurst in seiner linken Hand und hält es der dürren Streunerin hin. Zaghaft schnuppernd nähert sich der warme Atem des Tieres der Hand des Mannes. Der Mann sieht kleine helle Atemwölkchen, die aus den Nasenlöchern des Hundes quillen und der Duft fischigen Tieratems dringt hoch an seine Nase. Diese Hündin, sie ist noch jung, ist von kleiner und zarter Gestalt. Sie wirkt gesund und zutraulich, wiegt schätzungsweise weniger als sieben Kilo und hat weißes Fell, das in kurzen Löckchen borstig absteht. Genüsslich schmatzend verschlingt sie das Stück Wurst, leckt sich mit ihrer flinken kleinen Zunge das Mäulchen und rülpst ungeniert. Sie ist perfekt.

4 Papierfische und ein Zahn

„Ich war gestern Abend auf dem Dachboden. Unfassbar, was da oben im Staub der letzten Jahre beinah in Vergessenheit geraten ist. In meiner Bilderkiste habe ich ein Foto gefunden, von dem Tag, als wir uns kennenlernten. Darauf ist der Eingang unserer Grundschule zu sehen. In den Fenstern hängen Fische, ausgeschnitten aus buntem Bastelpapier. Über der Glastür prangt eine Girlande, Willkommen. Vor der Tür auf den Treppenstufen stehen wir. Wir alle, dreiundzwanzig aufgeregte winzig kleine Kinder, die noch nicht ahnen, dass der Schritt in dieses Gebäude der Schritt hinaus aus der Freiheit ist. Wir, die noch nicht ahnen, dass uns diese Freiheit niemand jemals zurückgeben wird. Die Klasse 1a, für den Anlass hochpoliert, in Reih und Glied.

All die anderen Kinder lächeln. Wahrscheinlich, weil jemand es uns vor dem Betätigen des Auslösers angeraten hat. Wir beide sind am linken Rand des Bildes und denken gar nicht daran, zu posieren. Dein nussbraunes Haar ist zerzaust und du trägst einen seltsamen dunkelgrauen Anzug. Dein Körper ist noch so winzig, aber der Anzug sieht schon zu klein aus. Ich kann mich nicht erinnern, dich jemals wieder in einem Anzug gesehen zu haben.

Dein Mund ist weit aufgerissen. Durch die Zahnlücke, die da ist, wo eigentlich dein linker Schneidezahn sein sollte, drückst du deine tiefrote Zungenspitze. Ich beäuge dich wie ein Kuriosum, wie eine domestizierte Bestie – fasziniert und abgeschreckt zugleich. Deinen Mund aufgerissen, die Nase krausgezogen und das linke Auge zusammengekniffen, siehst du aus wie ein brüllender Löwe. Roh, wild, ungezähmt. Auch ich schaue nicht in die Kamera, sondern in deine Richtung. Du bist ein großes Versprechen für mich. Ein Versprechen auf die große Freiheit, das Wildbleiben, das Nichtdomestizierenlassen.

An deiner Seite wird auch mich niemand zähmen können. Meine wilde Wuschelmähne wird von einer pinken Katzenhaarspange zurückgehalten und in meiner linken Hand halte ich etwas in die Kamera. Einen kleinen weißen Punkt, mehr erkennt man nicht. Es ist dein linker Schneidezahn.

Stolz stehe ich neben dir, in blauem Latzrock und grünem T-Shirt. Ich trage keine Lackschühchen und Rüschensöckchen, kein knitterfreies Kleidchen wie all die anderen zurechtgezupften Mädchen und habe auch kein kunstvoll geflochtenes Haar.