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Reclaim Autonomy

Selbstermächtigung in der
digitalen Weltordnung

Herausgegeben von Jakob Augstein

Suhrkamp

Inhalt

Vorwort von Jakob Augstein

 

Grußwort von Martin Schulz

 

 

I. Demokratie im digitalen Zeitalter

 

Yvonne Hofstetter
Soziale Medien: Wer Newsfeeds auf Werbeplattformen liest, kann Propaganda erwarten, aber nicht die Wahrheit

 

Saskia Sassen
Wenn bewundernswerte sozio-technische Fähigkeiten handfeste Brutalitäten hervorbringen

 

Primavera De Filippi
»In Blockchain We Trust«: Vertrauenslose Technologie für eine vertrauenslose Gesellschaft

 

 

II. Die Macht digitaler Konzerne

 

Constanze Kurz und Frank Rieger
Autonomie und Handlungsfähigkeit in der digitalen Welt: Crossing the »creepy line«?

 

Evgeny Morozov
Big Tech und die Krise des Finanzkapitalismus

 

Wolfgang Hoffmann-Riem
Re:claim Autonomy: Die Macht digitaler Konzerne

 

 

III. Wie Technologie unser Denken beeinflusst

 

Jan Kalbitzer
Angst und Wut im Internet als Entfesselung der Impulse durch die Moderne

 

Daniel Suarez
Wie die Technik unser Denken verändert: Unser Geist in den sozialen Medien

 

Shoshana Zuboff
Auf der Suche nach dem autonomen Selbst

 

Nachwort von Gerhart Baum
Autonomie – Überlebensfrage der Demokratie

 

 

Über die Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort

Jakob Augstein

Es wäre ein Irrtum, das Zeitalter der Globalisierung ausschließlich für eines der Grenzüberschreitung zu halten. Es ist im selben Umfang ein Zeitalter neuer Grenzziehungen. Grenzen sind kein Phänomen des Raumes, sondern eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die im Raum erscheint. Wir teilen die Welt ja immerzu ein. In Gläubige und Ungläubige. In Kommunisten und uns. Oder, neueste Variante, in Autoritäre und Liberale. Wenn man unsere Geschichte auf diese Weise erzählt, dann stehen auf der einen Seite die Furchtsamen und auf der anderen die Freien, hier die Feindlichen, dort die Friedlichen, und wer sich als Menschenfreund begreift, weiß, wo sein Platz ist. Die Seiten Gut und Böse sind klar verteilt, und die Bösen stehen drüben.

Der große Konflikt der Gegenwart handelt also von Grenzen. Es gibt gute Grenzen und gute Gründe, Grenzen einzureißen, und es gibt schlechte Grenzen und schlechte Gründe, Grenzen zu halten. Was eine gute und was eine schlechte Grenze ist, entscheidet sich danach, was aus welchem Grund eingeschlossen und was aus welchem Grund ausgeschlossen wird. Denn das ist ja das Wesen der Grenze, einschließen und ausschließen. An der Antwort bemessen sich nach wie vor unsere Identität und Integrität.

Zum Nachdenken über die Grenze gehört die Erkenntnis, dass Grenzüberschreitung nicht an sich gut ist. Und Grenzschutz – um das schlimme Wort zu benutzen – nicht an sich schlecht. Der Gedanke fällt schwer. Er widerspricht einem dem Westen eigenen Prinzip: dem Universalismus. Grenzen sind mit dem Universalismus schwer zu vereinbaren. Ein Nonplusultra darf es eigentlich nicht geben. Wer liberal denkt, wähnt sich darum in einem natürlichen Bündnis mit den Kräften der Grenzüberschreitung, mit den Kräften des Internationalismus. Aber die können sich als gefährliche Verbündete erweisen.

Die größte Grenzüberschreitung der Gegenwart ist die Digitalisierung. An sie knüpfte sich einst die Utopie von Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit. Es besteht immer noch und zu Recht eine große Faszination für die ungeheure Leistungsfähigkeit der Maschinen, für die schier grenzenlosen Möglichkeiten ihres Einsatzes. Denn die Fantasie kennt buchstäblich keine Grenzen und keinen Horizont für diese Leistungsfähigkeit und für diese Einsatzmöglichkeiten.

Es gibt immer noch diesen Sog der Zukunft, den Rausch des Wandels, das Brausen aus Zerstörung und Schöpfung. Aber es geht dabei nicht mehr um den großen emanzipatorischen Traum vom Netz. Der ist ausgeträumt. Hoffnung birgt die Digitalisierung nur noch für jene, die ihr Portefeuille mit den Aktien der Technologiekonzerne gefüllt haben. Die anderen beobachten sie mit Furcht – oder ertragen sie mit Gleichgültigkeit. Es ist zu spät, vor den Gefahren zu warnen. Sie sind bereits eingetreten.

Nun geht es um die zunehmend bange Frage: Was wird aus dem Menschen, wenn die Maschinen das Denken übernehmen? Was wird aus uns? Die Zeit für Gegenwehr ist gekommen. Wird sie erfolgreich sein? Und vor allem: Welchen Charakter wird sie haben?

Die Beiträge, die in diesem Buch versammelt sind, behandeln diese Fragen. Das Buch geht auf eine Tagung der Rudolf-Augstein-Stiftung im Herbst 2016 zurück. Sie war dem Andenken des zwei Jahre zuvor gestorbenen Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher gewidmet. Freunde und Weggefährten versammelten sich in einer zum Kongresszentrum umgewandelten Kirche und sprachen einen Tag lang über das, was auf dem Spiel steht. Die Informatikerin Constanze Kurz war dabei, der Wissenschaftshistoriker Evgeny Morozov, der frühere Minister Gerhart Baum, der spätere Kanzlerkandidat der SPD Martin Schulz und noch viele andere, denen gemeinsam war, dass sie zu Frank Schirrmachers weitem Kosmos der Dritten Kultur gehörten: jenem intellektuellen Großprojekt einer Universalanalyse der Gegenwart, das durch Schirrmachers frühen Tod jäh unterbrochen wurde.

Schirrmacher erkannte früher als andere, dass der Totalitarismus der Digitalisierung und ihrer Protagonisten eine ebenso universelle, allumfassende Antwort verlangt. Darum machte er sein Feuilleton zur intellektuellen Werkbank der Kritik der digitalen Moderne. Das war ein zutiefst politisches Projekt – vielleicht zu seinem eigenen Erstaunen. Schirrmacher war kein Linker. Aber im Angesicht des versagenden Liberalismus war sein Projekt der Verteidigung der menschlichen Autonomie und der Rückeroberung des Politischen ein linkes Projekt.

Im Spiegel wurde er einmal gefragt: »Würden Sie es als Beleidigung empfinden, wenn man Sie heute als links bezeichnet?« Schirrmacher antwortete: »Beleidigung? Darauf käme ich sowieso nicht. Ich finde auch nicht, dass ich mich verändert habe. Ich bin wie wir alle nur Zeuge eines Denkens, das zwangsläufig in die Privatisierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung von Schulden führte.«

Die schiere Amoralität des modernen Kapitalismus ließ Schirrmacher nicht so sehr zu einem Kritiker dieses Kapitalismus werden – sondern am eigenen Konservatismus zweifeln: »Die Krise der sogenannten bürgerlichen Politik, einer Politik, die das Wort Bürgertum so gekidnappt hat wie einst der Kommunismus den Proletarier, entwickelt sich zur Selbstbewusstseinskrise des politischen Konservatismus«, schrieb Schirrmacher.

An anderer Stelle diagnostizierte Schirrmacher einmal:

 

Die Verschmelzung der militärischen und ökonomischen Sphären hat eine neue gesellschaftliche DNA geschaffen, in der private Wirtschaftsunternehmen mit militärischer Rationalität und Präzision Daten produzieren können und militärische und geheimdienstliche Bürokratien sie nach privatwirtschaftlichen Effizienz- und Risikokriterien verwerten dürfen.

 

Als die Finanzkrise auf ihrem Höhepunkt war, zitierte Schirrmacher einen britischen Konservativen, der gerade die Stärke der linken Analyse für sich entdeckt hatte. So fanden unerwartete Worte Eingang in die mit Cordsamt verkleideten Gedankengänge der ehrwürdigen Frankfurter Allgemeinen, dass nämlich die Linken

 

verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern. »Globalisierung« zum Beispiel sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen.

 

Jede Zeit hat ihre Moderne. Unsere ist durch die Kräfte des Finanzkapitals und der Digitalisierung geprägt. Schirrmacher wusste um deren wechselseitige Abhängigkeit. In seinem Buch Ego zitierte er den konservativen Unternehmer und Publizisten George Gilder, der im Jahr 1998 – für einen Amerikaner eher ungewöhnlich – eine Rede im Vatikan gehalten hatte. Der Text hieß »The soul of silicon«, die »Seele des Siliziums«. Darin rechnete Gilder mit der alten linken Idee ab, der Reichtum sei etwas Materielles, etwas Greifbares, Begrenztes, Endliches. Reichtum bestehe heute nicht in den Dingen, sondern in den Gedanken:

 

Ein Unternehmer schöpft Wert heute nicht mehr aus einem neuen Produkt oder einer Ölquelle oder dem Design eines neuen Computers. Er schafft Wert, wo vorher Wertlosigkeit war. Und dieser Wert entspringt seinen eigenen Werten – seinem Mut, seinem Erfindungsreichtum, seiner Sorgfalt, seinem Glauben. Die wertvollsten Produkte unserer Gegenwart bestehen aus Ideen von ungeheurer Komplexität, die in Mikrochips aus Silizium geschrieben sind. Wenn es Wissenschaftlern gelingt, ganze neue Welten in Sandkörner einzuschreiben, dann schrumpft der Wert gegebener Territorien und Ressourcen. Heute mehr als jemals zuvor in der Geschichte ist Reichtum metaphysisch, nicht mehr materiell.

 

Man versteht, warum der Mann in den Vatikan eingeladen worden war – er erklärte dem Klerus, dass der Materialismus eines Karl Marx im digitalen Zeitalter ein für alle Mal erledigt sei. Digitalisierung bedeutet Entmaterialisierung – und das bedeutet, die Macht verteilt sich neu.

Saskia Sassen beschreibt in ihrem Text, wie die Finanzindustrie es mit ihren raubtierähnlichen Instrumenten schafft, ihren Wirkungskreis immer weiter auszudehnen und unter Einsatz der Werkzeuge, die sie sich in Silicon Valley hat schmieden lassen, in Gebiete vorzudringen, die ihr in der Vergangenheit verschlossen waren. Die Kräfte, die dabei freigesetzt werden, verändern die Gesellschaften ebenso, wie die schier unaufhaltsame Mechanik der großen Datenmonopolisten die Bedingungen der individuellen Integrität untergräbt.

Frank Schirrmacher hat einmal einen Artikel über den Ausbruch des isländischen Vulkans mit dem unaussprechlichen Namen geschrieben. Das war im Jahr 2010. Da war der Himmel über Europa plötzlich so blau wie lange nicht. Es flog nämlich über dem gesamten Kontinent kein Flugzeug mehr. Warum? Wegen einer Computersimulation aus einem Rechenzentrum in Großbritannien. Dort war man zu dem Schluss gekommen, nach dem Vulkanausbruch treibe eine besondere Art von Staub in der Atmosphäre herum, der den Flugzeugmotoren gefährlich werden könne.

Es gab dafür keinen Beweis. Keine Messungen. Es gab nur die Simulation. Es war also eigentlich nicht eine Wolke aus Asche und Staub, die den Flugverkehr lahmlegte, sondern ein Wolke von Daten.

Nun will niemand die Verantwortung für einen Absturz tragen, klar. Und Simulationen können zweifellos sehr nützlich sein. Aber es war bemerkenswert zu erleben, dass sie so sehr als Tatsachen gehandelt wurden, dass Entscheidungsabläufe erzwungen wurden, die keinen Raum mehr für Erfahrung, Intuition, sagen wir: den gesunden Menschenverstand ließen.

Plötzlich wurden alle zu Zuschauern: die Fluggäste, die Piloten, die Airlines, der Wetterdienst, die Behörden. Die human response, die menschliche Antwort auf die Maschine, ist nicht mehr möglich, weil auch in den menschlichen Entscheidungsgruppen ein Programm von Befehlen, Verordnungen und Routinen abläuft.

Eine einzige Simulation genügte, um in die Schicksale von Millionen von Menschen einzugreifen. Simulationen produzieren nämlich ihre eigenen sozialen Algorithmen. Der tatsächliche Ermessensspielraum lag für alle beteiligten Behörden bei null. Es waren Menschen, aber im Grunde mussten sie handeln wie Algorithmen.

Schirrmacher hatte erkannt, dass dieser Fall ein besonders eindringliches Beispiel für ein Phänomen der digitalen Moderne war: Es gibt weder Schicksal noch Freiheit – nur möglichst genau vorherberechnete Wahrscheinlichkeiten. Und im Zweifel hat die Maschine immer recht. Wenn der Mensch gegen die Maschine steht, entscheidet sich der Mensch für die Maschine.

Computer berechnen mittlerweile Dinge, die auch die brillantesten Mathematiker nicht mehr überprüfen können. Daraus erwächst ein neuer Autoritarismus: Erkenntnisse werden zum »Zuschauersport«, wir können sie nur beklatschen oder ausbuhen, aber wir können sie nicht mehr nachvollziehen, weil wir nicht mehr verstehen, wie der Computer zu seinen Ergebnissen gekommen ist.

Im Finanzsektor kann Digitalisierung die Lebensumstände der Menschen gefährden – aber der Vulkanausbruch zeigte, dass es um viel mehr geht: um den Menschen an sich, seine Autonomie, seine Identität. »Reclaim Autonomy«, die Rückeroberung des Selbst, so lautete darum das Motto der Tagung, aus der dieses Buch entstanden ist – und so lautet die Herausforderung für jeden Einzelnen, für die Gesellschaft, für die Politik.

Der damalige Justizminister Heiko Maas veröffentlichte im Jahr 2014 in der Zeit seine Version einer Charta digitaler Grundrechte. In der Präambel heißt es:

 

Die Digitalisierung ist zu einem Totalphänomen geworden. Kein Lebensbereich, der nicht von ihr erfasst wird. Das Internet ist einst mit hehren Zielen gestartet: freie Informationen für alle, dezentral, ohne Kommerz und Hierarchien. Inzwischen steht die Digitalisierung für die Herrschaft der Kennzahlen, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche.

 Weil die Digitalisierung mit dem Neoliberalismus einherging, wurde viel zu lange auf eine demokratische Regulierung verzichtet. Eine Technikgestaltung durch Recht fand kaum statt.

 

In Artikel 4 dieser Charta heißt es:

 

Kein Mensch darf zum Objekt eines Algorithmus werden. In Zeiten von Big Data werden aus Analysen vergangenen Verhaltens Prognosen für die Zukunft erstellt. Aber der Mensch ist mehr als sein Datenprofil, und menschliches Verhalten lässt sich nicht wertneutral berechnen. Jeder Algorithmus basiert auf Annahmen, die falsch oder gar diskriminierend sein können. Wir brauchen deshalb einen Algorithmen-TÜV, der die Lauterkeit der Programmierung gewährleistet und auch sicherstellt, dass unsere Handlungs- und Entscheidungsfreiheit nicht manipuliert wird. Maschinen haben keine eigene Ethik und empfinden keine Empathie. Nachteilige Entscheidungen dürfen daher nicht allein von Algorithmen getroffen werden. Wir dürfen nicht blind auf Statistiken und Big Data vertrauen, denn eine richtige Entscheidung muss nicht nur effizient, sondern auch gerecht sein.

 

Hier sprach kein Journalist, kein Aktivist, keine NGO – sondern der Justizminister eines der größten Länder der Europäischen Union. Bis zu diesem Grad der öffentlichen Entmachtung durch die digitalen Konzerne ist es schon gekommen.

Die Politik hat kapituliert. Längst hätte sie die Kontrolle über die digitalen Massenvernichtungswaffen beanspruchen müssen. Aber weder an die Banken noch an die Daten-Konzerne – noch übrigens an die Geheimdienste – hat sich die Politik herangewagt. Warum? Es kann sein, dass das für die meisten unserer Politiker alles schlicht eine Nummer zu groß ist. Weil das Internet eben, wie die Kanzlerin gesagt hat, Neuland darstellt.

Schirrmacher hat schon vor Jahren Wege der Redemokratisierung vorgeschlagen: Europa könnte eigene Netzsysteme aufbauen, die sich der Dominanz der großen US-Konzerne entziehen. Das wäre eine Vision, so groß wie seinerzeit die Mondlandung. Billiger und einfacher wäre es freilich, amerikanische Firmen zur Einhaltung europäischer Gesetze zu zwingen. Die EU-Kommission könnte das.

Dann könnten zwar die amerikanischen Geheimdienste weiterhin europäisches Recht ignorieren – aber die Netzgiganten Google, Apple, Amazon und Facebook, die mit einer halben Milliarde Europäer Geld verdienen wollen, die müssten deren Gesetze befolgen. Und wenn sie etwa bei der unerlaubten Weitergabe von Daten erwischt werden, müssten sie Strafe zahlen. Zum Beispiel zwei Prozent des weltweiten Umsatzes. Das wäre sehr viel Geld. Es gibt in der Kommission längst solche Ideen. Vor Kurzem machte der Vorschlag die Runde, die großen Tech-Konzerne nach ihrem Umsatz in Europa zu besteuern. Aber – bislang ist nichts geschehen.

Eine Rück-Ermächtigung der Politik hat nicht stattgefunden. Warum? Evgeny Morozov gibt in seinem Essay eine Antwort: Die Politik kann es sich buchstäblich nicht mehr leisten, den Kampf gegen die Digitalmonopolisten aufzunehmen. Morozov beschreibt in seinem Aufsatz, wie mit der enormen Ausdehnung der digitalen Industrie ein gleichsam privates Wohlfahrtssystem entstanden ist. Die Industrie subventioniert mit ihren kostenlosen oder sagenhaft preisgünstigen Dienstleistungen und Produkten unser Leben. Im Gegenzug nähren sich die großen Technologiekonzerne von unseren Daten. Und die Finanziers der Start-ups, die Milliardenverluste vor sich herschieben, verrechnen ihre kurzfristigen Einbußen mit der Hoffnung auf künftige Dominanzpositionen.

Morozov zeigt, dass die großen Daten-Konzerne seit der Finanzkrise nicht aus purem Zufall so dramatisch gewachsen sind. In dem Maße, in dem sich gebeutelte Städte und Gemeinden von öffentlichen Aufgaben zurückziehen, können die großen Konzerne in die entstehenden Lücken schlüpfen: Wer kein Geld mehr hat für seinen öffentlichen Personennahverkehr, der tut gut daran, Uber den Weg freizumachen.

Und die nächste Revolution steht schon bevor: Der massenhafte, alltägliche Einsatz künstlicher Intelligenz wird weitere Wirtschaftszweige und Lebensbereiche umpflügen: Erziehung, Versicherung, Energieverbrauch – es gibt keine Grenze. Umso notwendiger ist es, dass wir der Digitalisierung Grenzen setzen. Sie bedroht unsere Freiheit. Aber diese Grenzen dürfen nicht verwechselt werden mit jenen des antiliberalen Abwehrkampfes. Ob es sich um eine gute oder eine schlechte Grenze handelt, eine schützende oder eine abwehrende – der Schlagbaum sieht immer gleich aus.

Grußwort

Martin Schulz

Die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag liegt hinter uns. Die Politik schaltet wieder vom Kampagnen- in den Regierungsmodus. Das ist gut und wichtig, denn es stehen eine Reihe von wichtigen Weichenstellungen an, die darüber entscheiden werden, wie unsere Zukunft und die unserer Kinder aussehen wird. Wenn wir weiterhin in Freiheit leben wollen, wenn wir die Teilhabe möglichst vieler am gesellschaftlichen und demokratischen Leben bewahren wollen, wenn wir auf die gleichen und gerechten Chancen für alle bestehen, dann müssen wir jetzt die politischen Weichen auf Zukunft stellen.

Wir müssen handeln als nationaler Gesetzgeber, in den europäischen und auch internationalen Institutionen und als Gesellschaft insgesamt. Jeder und jedem Einzelnen kommt eine besondere Verantwortung zu. Am besten wird dies bei der Debatte um die Digitalisierung deutlich. Jeder User hat mit seinem täglichen Verhalten im Netz direkt Einfluss auf die Wirkungskräfte des Netzes. Frank Schirrmacher wusste um alle Dimensionen dieses epochalen Wandels, dem häufig noch das Adjektiv »disruptiv« an die Seite gestellt wird. Weil Frank Schirrmacher als einer der Ersten in Deutschland und Europa über die Folgen der Digitalisierung öffentlich nachdachte, ist er völlig zu Recht als großer Visionär und als wichtiger Humanist bezeichnet worden.

Die Digitalisierung ändert schon heute sichtbar und spürbar unsere Lebensrealität. Ihre Veränderungen betreffen dabei jeden Bereich des Lebens, der Wirtschaft und Politik, der Arbeit genauso wie der Kultur, sie betreffen das soziale Leben genauso wie die internationalen Beziehungen. Sie stellt eine neue Phase der Vernetzung dar, die immer konkreter wird. Auch die ökonomische Globalisierung, die für die meisten Menschen in den vergangenen Dekaden eher ein abstrakter Begriff war, wird inzwischen vermehrt direkter auch von den Einzelnen wahrgenommen. Und schließlich kann man die politische Globalisierung und die Globalisierung der weltweiten Herausforderungen – sei es durch den internationalen Terrorismus, die globalen Flüchtlingsströme oder den sichtbaren Klimawandel – kaum noch leugnen.

Es sind Zeiten, in denen man die Orientierung verlieren kann und alte Gewissheiten bröckeln. Es entstehen neue Herausforderungen und sicher auch Probleme. Wir erleben in diesen Tagen, wie manche deshalb versuchen, in alte Zeiten zurückzukehren. Die anstatt Vernetzung und Austausch den Weg der Abschottung und des Nationalismus wählen und eine vermeintliche Homogenität der eigenen sozialen Gruppe erreichen wollen. Sichtbarer Ausdruck eines solchen Ansatzes sind die Aufstiege von Donald Trump in den USA, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei oder Viktor Orbán in Ungarn. Sie alle suggerieren, dass man im 21. Jahrhundert Probleme lösen könne, indem man sie schlicht negiert oder Grenzen hochzieht. Das erinnert ein bisschen an das Kinderspiel, sich unsichtbar zu machen, indem man die Augen schließt.

Aber die Herausforderungen unserer Zeit lassen sich eben nicht durch Wegschauen bewältigen. Eher schafft diese Strategie neue Probleme. Die Resultate der Politik der Zuspitzung sind real. Und durch sie werden keine der drängenden Herausforderungen unserer Zeit gelöst. Gerade die Gestaltung der Digitalisierung, die unsere Gesellschaften in einer großen Totalität herausfordern, wird mit einer Politik, die auf alte und simplifizierte Rezepte zurückgreift, sicher scheitern.

Bedingung für eine erfolgreiche Gestaltung der Digitalisierung ist zunächst das Anerkennen dieses gewaltigen Umbruchs in seiner Gänze. Im Bundestagswahlkampf habe ich zu oft die Erfahrung gemacht, dass manche die Gestaltungsaufgabe bei der Digitalisierung primär im Bereitstellen von Infrastruktur sehen. Es geht aber nicht zuvorderst um die Frage, wie wir schnellere Netze organisieren, sondern es geht – ganz im Sinne Schirrmachers – um die Anerkennung der Komplexität der Herausforderung als gesellschaftliche Aufgabe: Wie wollen wir Arbeit 4.0 organisieren und welche Folgen hat das für unser traditionelles Verständnis von Arbeit? Wie können wir einen durchsetzbaren rechtlichen Rahmen im Netz schaffen, damit dort keine rechtsfreien Räume entstehen, in denen sich alleine der Stärkere und Brutalere durchsetzt? Wie können wir Pluralität als wesentliche Bedingung für eine freie Gesellschaft und eine faire Marktwirtschaft bewahren? Wo sind die Grenzen dessen, was zwar technisch möglich, aber gesellschaftlich nicht erwünscht ist?

Es gibt eine Unzahl vitaler Fragen, die wir als Gesellschaft im 21. Jahrhundert beantworten müssen und bei denen es im Kern immer darum geht, wie wir zukünftig leben wollen. Dafür müssen wir den richtigen Diskursrahmen setzen.

Im Juni 2016 war ich in Berlin zu Gast im Axel-Springer-Haus bei der Noah-Konferenz, wo ich mit einem klugen Wissenschaftler, der sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, diskutiert habe. Er war gerade aus dem Silicon Valley zurück nach Deutschland gekommen, weil er die europäische und deutsche Infrastruktur unter der kalifornischen Sonne zunehmend vermisst hatte: ein berechenbares politisches System, eine gute Bildungskultur, stabile Stromnetze, eine ausreichende Wasserversorgung, eine solidarische Zivilgesellschaft und eine funktionierende öffentliche Verwaltung und Infrastruktur. Ich war dankbar für seinen Erfahrungsbericht, denn zu oft habe ich in den vergangenen Jahren bei der Diskussion um den Erfolg des Silicon-Valley-Modells diese entscheidenden Aspekte für eine nachhaltige Erfolgsstrategie bei Innovation und Wachstum vermisst. Oder zugespitzt formuliert: Die Ideologie des neoliberalen Staatshasses, die häufig mit der Beschwörung des amerikanischen Modells einhergeht, vernachlässigt völlig die sozialen Folgeschäden, die auch in den USA zu sehen sind, die die amerikanische Gesellschaft gespalten und die zu dem politischen Erdbeben geführt haben, das Trump zum Präsidenten gemacht hat.

Natürlich können wir vieles von den Vereinigten Staaten lernen, etwa den amerikanischen Optimismus oder die Kultur der zweiten und dritten Chance, in der ein Scheitern nicht das Ende bedeutet, sondern einen Ansporn, es noch einmal zu versuchen. Auch im Bereich der finanziellen Förderung von innovativen Ideen sind uns die USA um Längen voraus.

Aber die Digitalisierung darf nicht zum Rennen um die besten Plätze verkommen, bei dem die mit den spitzesten Ellenbogen gewinnen. Was wir brauchen, ist ein gesellschaftlicher Dialog darüber, wie wir diesen Umbruch zu einem Gewinn für alle machen. Dabei müssen wir unseren sozialen Zusammenhalt und unsere öffentliche Infrastruktur als Stärke und Wettbewerbsvorteil wertschätzen.

Neben dem Schaffen der Diskursräume, in denen wir über die Zukunft sprechen wollen und neben dem Aufrechterhalten einer guten öffentlichen Infrastruktur ist mir wichtig, dass wir auch unser Wertegerüst für die Welt des 21. Jahrhunderts auf die Höhe der Zeit bringen. Aus diesem Grund habe ich zusammen mit Wissenschaftlern, Datenschützern, Publizisten, Künstlern und Netzaktivisten im vergangenen Jahr an einem Entwurf einer Grundrechtecharta für die digitale Welt gearbeitet. Auch diese Idee hatte ich zunächst mit Frank Schirrmacher diskutiert. Als Gruppe haben wir unseren Entwurf in die öffentliche Diskussion gebracht und er ist strittig diskutiert worden. Ich bin davon überzeugt, dass – bei allen Konflikten, die es über einzelne mögliche Bestimmungen geben mag – wir eine Diskussion über den Grundrechteschutz für diese neue Welt brauchen. Eine solche Diskussion muss ihrem Wesen nach europäisch, besser global geführt werden, weil auch das Netz keine Grenzen kennt.

Das Leben, das wir kennen und lieben, verteidigen wir in einer freien Welt nicht, indem wir uns wegducken und einigeln. Bleiben wir passiv, entscheiden früher oder später andere für uns oder gar über uns. Wir erleben einen epochalen Umbruch, der nur durch einen mutigen Aufbruch zum Erfolg für unser Land werden kann. Die Herausforderungen unserer Zeit bergen einen Gestaltungsauftrag, den wir als gesamte Gesellschaft ernst nehmen müssen: Nicht lustlos die Vergangenheit verwalten, sondern entschlossen die Zukunft gestalten. Darum geht es.

I. Demokratie im digitalen Zeitalter