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Jürgen Richter

Altsteinzeit

Der Weg der frühen Menschen von Afrika bis in die Mitte Europas

Verlag W. Kohlhammer

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Titelbild: Carolin Reintjes

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033676-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033677-3

epub:   ISBN 978-3-17-034410-5

mobi:   ISBN 978-3-17-034411-2

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Einführung: Eine Gebrauchsanleitung für das Buch
  2. 2 Die Anfänge der Archäologie des Paläolithikums
  3. 3 Von den ersten Menschen bis zu Homo sapiens
  4. 4 Die frühesten Kulturen in Afrika
  5. 5 Das Acheuléen: Migrationen bringen die ältesten Kulturen in die Mitte Europas
  6. 6 Methodisches Intermezzo: Wie wurden Faustkeile gemacht?
  7. 7 Das Jahrtausend-Objekt: Der Faustkeil von Salzuflen
  8. 8 Mittelpaläolithikum in Europa: Vom Heidelberger bis zum Neandertaler
  9. 9 Mittelpaläolithische Migrationen? Das Levallois- Konzept verbindet Afrika und Europa
  10. 10 Kulturen des Neandertalers: Moustérien und Micoquien
  11. 11 Neandertaler in ihrer Landschaft
  12. 12 Der so genannte Übergang: die spätmittelpaläolithischen Blattspitzen
  13. 13 Von der Savanne in die Mammutsteppe: der Weg des modernen Menschen von Afrika nach Europa
  14. 14 Angekommen: das Jungpaläolithikum in der Mitte Europas
  15. 15 »Homo migrans«: Zwei Millionen Jahre Migration
  16. Danksagung
  17. Anmerkungen
  18. Literaturverzeichnis

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Einführung: Eine Gebrauchsanleitung für das Buch

 

 

»Paläolithikum« (Ältere Steinzeit oder Altsteinzeit) bezeichnet den ältesten Abschnitt der Menschheitsgeschichte von 2,5 Millionen Jahre vor heute bis etwa 10 000 Jahre vor heute, in dem alle Menschen als wandernde Jäger und Sammler lebten. Bisher gab es im deutschsprachigen Raum noch keine Einführung, die den Fachbegriff »Paläolithikum« im Titel führt, vielleicht klang er doch zu sperrig. Das hat sich aber spätestens seit der Ausbreitung der Paleo-diet-Bewegung1 geändert. Viele Menschen sind seitdem, z. B. auch bei ihrer Suche nach einer gesunden Ernährung, auf das Paläolithikum aufmerksam geworden. Berührungsängste mit dem scheinbar sperrigen Begriff dürften also der Vergangenheit angehören.

Das Buch möchte zur Beschäftigung mit dem Paläolithikum anregen, und es liefert Informationen dazu, die ich sehr subjektiv ausgewählt habe. Dabei ist keine Faktensammlung herausgekommen, die irgendwie vollständig sein könnte. Das Buch von Anfang bis Ende durchzulesen, ist möglich, doch vielleicht nicht ausnahmslos empfehlenswert – es kann auch von hinten nach vorn oder schmökernd genutzt werden. Man kann es sich auch als eine Art Führung durch ein imaginäres Museum vorstellen, das mit seinen Räumen und Gängen den Weg, der im Untertitel angekündigt ist, einigermaßen abbildet. Gleichzeitig soll es auch als Begleitbuch zur Ausstellung 2 Millionen Jahre Migration dienen, die im Mai 2017 im Neanderthal Museum in Mettmann begann.2

Viele der angesprochenen Themen habe ich in den letzten Jahren in Aufsätzen und Buchbeiträgen behandelt, aus denen vieles übernommen und nun in den großen Zusammenhang einer »Erzählung« über die »Wege der frühen Menschen« gestellt wird.3 Der Großteil dieser Erzählung basiert aber auf den Forschungen vieler Kolleginnen und Kollegen, denen ich für ihre Ausgrabungen und Ideen meinen Dank und Respekt aussprechen möchte: es lohnt sich, ihren Forschungen nachzugehen, der Fußnotenteil öffnet hierzu die Tür!

Drei Möglichkeiten, den »Weg« nachzuvollziehen

»Der Weg des Menschen von Afrika bis in die Mitte Europas« ist dabei so zu begreifen, dass den Zielpunkt und den Mittelpunkt des Buches unser Paläolithikum in Mitteleuropa bildet, das auch am ausführlichsten behandelt wird. Mitteleuropa lag aber zumeist ganz am Rande der bewohnbaren Welt, und deshalb ist, wie ich zeigen möchte, unser Paläolithikum nur als Ergebnis zahlreicher Migrationen zu verstehen, und nur unter Einbeziehung der Quellgebiete dieser Wanderungen.

Anders gesagt: Das Buch führt uns räumlich von Afrika nach Mitteleuropa, wobei es das, was auf dem Weg liegt, stärker beleuchtet, und das, was am Wegesrand liegt, zumeist im Dunkeln lässt.

Zeitlich gesehen, erfasst dieses Buch überwiegend die Spanne zwischen der Entstehung des Menschen in Afrika (vor 2,5 Millionen Jahren) und der Ankunft der modernen Menschen in Europa (vor 40 000 Jahren). Das entspricht den Perioden »Altpaläolithikum« und »Mittelpaläolithikum« und dem allerfrühesten Teil des »Jungpaläolithikums«; das weitere »Jungpaläolithikum« und das »Spätpaläolithikum« sind demgegenüber nur kurz abgehandelt.

Neben dem räumlichen Weg und dem zeitlichen Weg soll das Buch noch zusätzlich einen methodischen Weg aufzeigen, der in den afrikanischen Kapiteln mit der Schilderung des Wissensstandes, sozusagen als Sekundärliteratur, beginnt und umso mehr ins Detail geht, je weiter der Weg nach Mitteleuropa führt. Methodische Zielpunkte sind die Kapitel zur Arbeitsschrittanalyse bei Faustkeilen und bei der Abschlagherstellung, die den neuesten methodischen Stand im archäologischen Fachkern der Paläolithforschung wiedergeben. Ich hoffe, damit auch meine Studentinnen und Studenten dafür gewinnen zu können, einmal alle Skalen der archäologischen Erkenntnis zu durchschreiten, von der kontinentalen Skala bis hinunter zum gerade noch mit dem bloßen Auge erkennbaren Retuschiernegativ.

Auf dem »Weg« des Buches liegen also Räume, Zeiten und Methoden. Im Hintergrund steht zugleich die Migrationsdebatte, die Europa seit einigen Jahren so kontrovers beschäftigt. Die Archäologie kann dazu beitragen, unser Wertesystem zum Thema »Migration« zu hinterfragen und zu ergänzen.

Migrationen als ein Motor der Menschheitsgeschichte

Migration ist ein entscheidender Faktor in der Menschwerdung (Abb. 1.1): Unsere Vorfahren wurden vor etwa 2,5 Millionen Jahren zu huftierverzehrenden Steppenläufern, die gelegentlich Werkzeuge gebrauchten. Die Konzentration auf die überwiegend karnivore (auf Fleischverzehr basierende) Ernährung begünstigte ihre stärkere Unabhängigkeit von der jeweiligen lokalen Vegetation und damit ihre höhere Mobilität: Homo habilis war deshalb in der Lage, aus Afrika auszuwandern und das menschliche Habitat bis zum Kaukasus auszudehnen. Der Mensch war also von Anfang an ein Homo migrans, ein wandernder Mensch. Unsere weitere Verwandtschaft blieb demgegenüber relativ immobil (Australopithecinen und andere Hominini) und ist heute ausgestorben. Nationalstaaten, die mit ihren künstlichen Grenzen ursprünglich auf der Vorstellung von genetisch, ethnisch, sprachlich und kulturell weitgehend deckungsgleichen »Völkern« aufbauten, passen deshalb nicht zum Menschenbild des Archäologen, der die Migrationsfähigkeit des Menschen als ein Überlebensmoment ansehen muss.

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Abb. 1.1: Die Gestalt der Erdoberfläche bestimmte die bevorzugten Wanderungsrouten menschlicher Populationen. Meerengen wirkten selten als Hindernisse, Wüsten und Hochgebirge dagegen umso häufiger.

Homo migrans verbrachte 95 % seines Daseins als Jäger und Sammler und wurde erst vor 10 000 Jahren sesshaft. Ohne Auswanderung und Rückwanderung hätten die Menschen die zahlreichen tiefgreifenden Klimaveränderungen nicht überleben können, seien es Jahrtausende lange Trockenzeiten in Afrika oder ebenso lange Perioden der Eisbedeckung im Norden Eurasiens. Die großen Vereisungen stehen uns in Kürze wieder bevor: In wenigen 1000 Jahren beginnt die nächste Kaltzeit, falls wir den Rhythmus des Erdklimas zuvor nicht durcheinanderbringen. Mehrere 100 Meter mächtige Eisschilde werden sich dann auf dem eurasischen Kontinent ausbreiten und nach einigen Jahrzehntausenden von Norden her bis Hamburg oder Düsseldorf und von Süden her bis nahe an München vordringen. Als Jäger und Sammler konnte die Gattung Homo diese Klimakatastrophen einige Male überleben, aber ob eine Industriegesellschaft damit fertig werden wird, bleibt ein Experiment. Ganz sicher werden Migrationen dabei eine Hauptrolle spielen.

Die Karnivorie führte dazu, dass Humanpopulationen in ein direktes Verhältnis zur Verfügbarkeit von steppenbewohnenden Huftierpopulationen traten, deren Verbreitung das potenzielle Habitat des Menschen bezeichnete. Die erste Migration der Gattung Homo, die um 1,8 Millionen Jahre vor heute abgeschlossen war, führte daher zu einem mehr oder weniger zusammenhängenden Siedlungsgebiet des Menschen zwischen dem südafrikanischen Kap der Guten Hoffnung und dem russischen Kaukasus, das allerdings die Regenwaldzone ausschloss. Der Übergang von der gemischten Ernährung (Omnivorie), die eigentlich unserer biologischen Ausstattung entspricht, zur Karnivorie war bereits eine sozio-kulturell gesteuerte Wahl und setzte die Nutzung von Werkzeugen offensichtlich voraus. Die Ausbreitung der Menschen, die damit einherging, folgte also der Ausdehnung der Habitate. Anders sieht es vielleicht bei der oben erwähnten, für uns Europäer noch wichtigeren Migration um 60 000 bis 40 000 Jahre vor heute aus. Wenn hier das Niltal tatsächlich die entscheidende Route war, kann es sich dabei nur um sehr kleine, stark linear und wohl auch relativ schnell wandernde Populationen gehandelt haben. Hierzu gibt es aber auch alternative Hypothesen, die auf verschiedenen möglichen Habitaten basieren (Ostsahara, ägyptische Ostwüste, arabische Halbinsel).

Diese Ausbreitung des modernen Menschen und der naturräumliche Kontext dazu ist das Thema eines Sonderforschungsbereiches der Universitäten Köln, Bonn und Aachen (SFB 806 Our Way to Europe), der seit 2009 die Regionen, die in diesem Buch vorkommen, mit rund 80 Mitarbeitern in etwa 20 verschiedenen Arbeitsgruppen aus Geologie, Geographie, Geoarchäologie, Archäologie, Ethnologie und Philosophie erforscht.4

Praktische Hinweise

Die radiometrischen Zeitangaben in diesem Buch werden in zwei verschiedenen »Währungen« dargestellt. Altersangaben über 10 000 Jahre werden in Kalenderjahren B.P. (before present, vor heute) angegeben. Wenn 14C-Daten zugrundeliegen, werden diese stets als kalibrierte Alter angegeben. Jüngere Altersangaben (ab 10 000) werden in Kalenderjahren v. Chr. und n. Chr. angegeben.

Als zweite wichtige, weil weltweit gültige Zeitskala, die indes nur ein relatives Alter angibt, dient die Sauerstoff-Isotopen-Chronologie, die auf dem Nachweis warmzeitlicher und kaltzeitlicher Ablagerungen in marinen Bohrkernen beruht und deshalb mit dem Kürzel MIS (Marine Isotopen Stadien) gekennzeichnet sind. Gerade MIS-Nummern bezeichnen Kaltzeiten (MIS 6 z. B. die Saale- oder Riß-Kaltzeit), ungerade Nummern bezeichnen Warmzeiten (MIS 1 z. B. das Holozän, in dem wir leben, MIS 9 z. B. die Holstein-Warmzeit). Hierzu gibt es wenige Ausnahmen: MIS 5e entspricht der Eem-Warmzeit, und die Würm- oder Weichsel-Kaltzeit umfasst die Phasen MIS 5d, MIS 5c, MIS 5b, MIS 5a, MIS 4, MIS 3, und MIS 2.

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Die Anfänge der Archäologie des Paläolithikums

 

 

Wissenschaftler schildern uns die Forschungsgeschichte ihres Faches oft als einen langen Weg, der immer weiter nach oben führt: Erste Entdeckungen und Experimente werden geschildert, Pioniere werden gewürdigt, an die Auseinandersetzungen der frühen Genies mit ihren Gegnern wird erinnert – und es wird gezeigt, wie Irrtümer stets mit ihrer Widerlegung endeten. Ein stetiger Wissenszuwachs wird sichtbar, der im heutigen Stand der Forschung gipfelt. Der Forschungsstand einer Disziplin erklärt sich folglich aus ihrer Entwicklungsgeschichte. Aus den Anfängen begreift sich das Übrige1. Heutige Forscher sind demnach die Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen.

Gesellschaft prägt Wissenschaft

Wenn wir heute um uns blicken, erleben wir die Entwicklung von Wissenschaft oftmals ganz anders: Die Embryonalforschung wird begrenzt, weil ethische Gründe dagegensprechen. Der Studiengang Vorderasiatische Archäologie wird an einer Universität zugemacht, weil zu wenige Studenten da sind. Ganze Forschungszweige entstehen neu, weil die Gesellschaft sie braucht, zum Beispiel die Alternsforschung. Komplette Fachgebiete werden eingemottet, wie hier und da die »Keilschriftkunde«, obwohl noch längst nicht alle sumerischen Texte entziffert sind. Die Forschungsgeschichte erklärt sich also nicht nur als ein Frage- und Antwortspiel der wissenschaftlichen Probleme und Lösungen. Sie ist viel stärker von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig, als wir wahr haben wollen.

Paradigmen: Muster der Forschung

Ein Außenseiter der Wissenschaftsphilosophie verdichtete diese Beobachtungen zu einer großen Theorie: Der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn stellte 1962 die (damals!) provokante These auf, der Forschungsprozess werde weniger durch wissenschaftliche Erkenntnis gesteuert als vielmehr durch gesellschaftlichen Wandel.2 Überzeugend hatte Kuhn dies am Beispiel der wissenschaftlichen Revolution aufgezeigt, die das Weltsystem des Nikolaus Kopernikus auslöste. »Paradigma«, ein Muster wissenschaftlicher Erkenntnis, ist dabei ein Schlüsselbegriff. Im alten Paradigma des Ptolemäus stand die Erde im Zentrum, umkreist von den Planeten: Astronomische Vorhersagen waren auf diese Weise nur mit kompliziertesten Berechnungen und anhand gewaltiger Tabellenwerke möglich. Kopernikus hatte sich nicht die Mühe gemacht, Ptolemäus zu widerlegen, sondern ersetzte dessen kompliziertes Konstrukt durch ein neues, sehr einfaches System und gewann eine Anhängerschar. Nun war es mit viel einfacheren Mitteln möglich geworden, astronomische Bahnen zu berechnen und Vorhersagen zu machen. Die Vertreter des alten Paradigmas wurden durch den Wechsel der wissenschaftlichen Akteure verdrängt, und das neue Paradigma, das kopernikanische Weltsystem, nahm so den Platz des alten ein. Die gesellschaftliche Durchsetzbarkeit eines Paradigmas ist demnach entscheidender als sein wissenschaftlicher Gehalt.

Archäologische Paradigmen

Kuhns soziologisches Wissenschaftsmodell fand ein Jahrzehnt später Eingang in die anglo-amerikanische Theorieliteratur der archäologischen Fächer. Mehrere Paradigmenwechsel wurden ausgemacht, und die archäologische Forschungsgeschichte wurde zu einer Geschichte ihrer Paradigmen.

Auch die Urgeschichtsforschung war und ist solchen Paradigmen, also Mustern des Erkennens, unterworfen. In einem langen Nacheinander spielten hier erst die Werkstoffe (Materialparadigma) eine Hauptrolle, dann die Erdschichten (Schichtenparadigma), dann die Entdeckung der Eiszeit (Katastrophenparadigma), dann der fossile Mensch (Gegen-Kreationismus), dann die Fauna als Umweltanzeiger (Umweltparadigma) und so weiter.

Das Nacheinander der Paradigmen wurde zugleich zum Nebeneinander. Denn die Blickwinkel, die jedes Paradigma mit sich brachte, blieben auch dann erhalten, wenn ein neues Muster des Erkennens die Oberhand gewann. Insofern haben wir es nicht mit kompletten Umstürzen des Wissenssystems zu tun – nicht wirklich mit »wissenschaftlichen Revolutionen«. Was an den alten Paradigmen brauchbar war, wurde weiter genutzt. Die wechselnden Muster der prähistorischen Wissensentwicklung sind also von vergleichsweise kleinerem Zuschnitt, nennen wir sie »kleine Paradigmen«. Nebenbei bemerkt, ob die Radikalität des Ptolemäus/Kopernikus-Umstiegs nicht doch ein seltener Ausnahmefall ist, bleibt dahingestellt. Mir erscheinen die »kleinen Paradigmen« als die typischeren.

Der lange Weg durch die Paradigmen begann im vorletzten Jahrhundert. Damals fand man rätselhafte, offenbar prähistorische Objekte, die sich nach den Werkstoffen zu ordnen schienen, aus denen sie gemacht waren.

Jede Zeit hat ihren Werkstoff

Die Werkstoffe Stein, Bronze und Eisen bewirkten das erste Muster prähistorischer Erkenntnis: Der Begriff »Steinzeit« stammt von Christian Jürgensen Thomsen (Abb. 2.1) 1788 geboren, wurde er Kustos der dänischen Altertümersammlung in Kopenhagen und veröffentlichte 1836 seinen berühmten Leitfaden zur nordischen Altertumskunde.

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Abb. 2.1: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): John Frere (1740–1807), Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865), Jacques Boucher de Perthes (1788–1868).

Das schmale, ohne Nennung des Autors publizierte Heftchen markiert den Beginn der prähistorischen Archäologie als Wissenschaft. Thomsen schuf das Dreiperiodensystem:

•  Steinzeit

•  Bronzezeit

•  Eisenzeit

Es bildet bis heute die Gliederung der prähistorischen Zeit. Thomsen war aufgefallen, dass in Ausgrabungskomplexen, die Steinartefakte enthielten, niemals Eisengegenstände enthalten waren – und umgekehrt. Als die Eisenverarbeitung erfunden wurde, müssen also Steinartefakte längst außer Gebrauch gewesen sein. Es muss also eine Eisenzeit gegeben haben, die jünger als die Steinzeit war. Die Menschheitsgeschichte muss also mit einer Steinzeit angefangen haben, auf die später die Eisenzeit folgte. Dazwischen gab es aber offenbar noch ein Zeitalter, nämlich eines, in dem sich keine Eisen-, jedoch Bronzegegenstände fanden. Es zeigte sich, dass hier gelegentlich Steinartefakte vorkommen konnten. In der Eisenzeit gab es hingegen keine Steinartefakte mehr, wohl aber noch Bronzegegenstände. Also musste es eine Bronzezeit gegeben haben, die zwischen der Steinzeit und der Eisenzeit lag.

Schichten der Erkenntnis

Erdschichten bestimmten ein weiteres Erkenntnismuster der prähistorischen Archäologie: Etwa zur Zeit von Thomsen begann der französische Zollkommissar Jacques Boucher de Perthes (Abb. 2.1) in den Schottern der Somme, nicht weit von dem Städtchen Abbeville, prähistorische Steinartefakte aufzusammeln. Er erkannte einen stratigraphischen Zusammenhang zwischen diesen Artefakten und den Knochen ausgestorbener Tiere. Mit dem Begriff »stratigraphischer Zusammenhang« ist gemeint, dass Artefakte und Knochen aus derselben geologischen Schicht stammen. Es haben also Menschen gemeinsam mit Tieren gelebt, die heute ausgestorben sind. Seit 1838 behauptete Boucher de Perthes immer wieder in Publikationen und Vorträgen, dass fossile Menschen existiert haben mussten. Niemand glaubte ihm. Und er wusste wohl auch nicht, dass der Brite John Frere (Abb. 2.1) schon um 1800 mit derselben Behauptung gescheitert war.

Die Thesen beider Forscher setzten gewisse geologische Methoden und Theorien voraus, die sich ganz unabhängig von der anthropologischen Fragestellung entwickelt hatten. Besonders wichtig war der Begriff der Stratigraphie (wörtlich: Schichten-Beschreibung), den der deutsche Geologe und Arzt Georg Christian Füchsel in der Mitte des 18. Jahrhunderts am Fürstenhof von Schwarzburg-Rudolstadt in Thüringen entwickelt hatte. Boucher de Perthes, das dürfen wir vermuten, kannte sich mit geologischer Literatur aus, hatte aber mutmaßlich von Thomsen und seinem Dreiperiodensystem nichts gehört.

Die Katastrophe: nicht Sintflut, aber Eiszeit

Boucher de Perthes und Thomsen waren auch einer dritten Person unbekannt, die ebenfalls zur gleichen Zeit, 1837, mit einer aufsehenerregenden These an die Öffentlichkeit trat. Es war der Schweizer Paläontologe Louis Agassiz, der vor der Schweizerischen Wissenschaftlichen Gesellschaft behauptete, es habe eine Zeit gegeben, in der die Alpengletscher erheblich größer gewesen seien als seinerzeit, eine geologische Epoche, für die er den Begriff »Eiszeit« einführte. Alexander von Humboldt soll ihm daraufhin den freundschaftlichen Rat gegeben haben, sich lieber wieder der Erforschung fossiler Fische zu widmen, um die er sich so verdient gemacht habe. Stattdessen publizierte Agassiz 1840 sein Hauptwerk Études sur les glaciers und wurde 1847 Professor an der Harvard University, wo er für seine unkonventionellen Lehrmethoden berüchtigt war. In seinen Seminaren war Lektüre verpönt, stattdessen sollte alles Wissen auf persönlicher Anschauung basieren. Kann man ihm das verdenken, angesichts einer Literatur, in der immer noch das Jahr 4004 vor Christus als das Gründungsjahr der Schöpfung galt, und in der man an die biblische Sintflut glaubte?

So entstand in nur drei Jahren, 1836 bis 1839, in dem Forscher-Dreieck Thomsen, Boucher de Perthes und Agassiz, das Fundament der Paläolithforschung, das in der Kenntnis der Stratigraphischen Methode, des Leitfossil-Begriffs, der formenkundlichen Klassifikation und der Umweltrekonstruktion aufgrund von Leitfaunen bestand. Was fehlte, war die Person, die das alles zusammenführte. Thomsen kam in Dänemark kaum mit paläolithischen Funden in Kontakt, Agassiz ging nach Amerika, und Boucher de Perthes kämpfte um seine Anerkennung.

Der fossile Mensch

Erst 1859, als der renommierte britische Geologe Charles Lyell (Abb. 2.2) mit Boucher de Perthes gemeinsam ins Gelände ging, beschloss die Pariser Akademie der Wissenschaften per Abstimmung die Existenz des fossilen Menschen.

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Abb. 2.2: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): Charles Lyell (1797–1875), Gabriel de Mortillet (1821–1898), Rudolph Virchow (1821–1902).

Lyell schrieb damals in seinem berühmten Buch den Satz:

»Die notwendige Folgerung aus allem ist die, dass die Steinwerkzeuge und ihre Verfertiger gleichzeitig mit den ausgestorbenen und in denselben Erdschichten begrabenen Säugetieren gelebt haben mussten.«3

Lyell begutachtete auch die Fundstelle des 1856 von Johann Carl Fuhlrott bei Düsseldorf gefundenen Neandertalers, dessen Bedeutung als prähistorische Menschenform allerdings noch umstritten war.

Es ist schon erstaunlich, dass Charles Darwin in seinem 1859 erschienenen Hauptwerk Die Entstehung der Arten von all diesen Vorgängen keinerlei Kenntnis nahm. Die Stichworte John Frere, Hoxne, Boucher de Perthes, Abbeville, St. Acheul kommen in seinem Werk nicht vor. Weder hatte zu jener Zeit die Steinzeitforschung auf Darwin, noch Darwin auf die Steinzeitforschung einen direkten Einfluss.

Höhlenbär, Mammut, Rentier, Auerochse

Etwa zur gleichen Zeit hatte der Autodidakt Eduard Lartet (1801 geboren) begonnen, gezielte Ausgrabungen zu unternehmen, um eine größere Anzahl von Fundstellen zu einer »vergleichenden Stratigraphie« heranziehen zu können. Nach Ausgrabungen in Aurignac am Nordhang der Pyrenäen und besonders nach weiteren Ausgrabungen im Tal der Vézère bei Les-Eyzies-de-Tayac konnte er die Steinzeit bereits 1861 gliedern in

•  eine Periode des Höhlenbären,

•  eine Periode des Mammuts,

•  eine Periode des Rentiers und

•  eine Periode des Auerochsen.

Diese Gliederung sollte sich jedoch erst später, in korrigierter Form, durchsetzen.

Wichtig an dieser Gliederung ist die Grundidee, eine Chronologie nicht anhand der archäologischen Funde selbst, sondern anhand der Begleitfauna aufzubauen.

Die Person, die 30 Jahre Forschung in den Disziplinen Archäologie, Paläontologie, Geologie, Anthropologie und Ethnologie überblickte, trat nun auf den Plan: Das Universalgenie Sir John Lubbock führte die bisherigen Forschungen in seinem Werk Prehistoric Times 1865 zusammen und gliederte Thomsens Steinzeit in ein Paläolithikum und ein Neolithikum – eine ältere Steinzeit mit geschlagenen Steinwerkzeugen und ausgestorbenen Tieren sowie eine jüngere Steinzeit mit geschliffenen Steinwerkzeugen und noch lebenden Tierarten. John Lubbock ist also der Urheber der Begriffe Paläolithikum und Neolithikum.

Was machte eigentlich Darwin?

Darwin war an diesen neuen Erkenntnissen recht wenig interessiert. Lubbocks Buch las er und widmete ihm eine halbe Seite in seiner Entstehung des Menschen von 1874. Die Archäologie, die ihm inzwischen wesentliche und zahlreiche Argumente hätte liefern können, ignorierte er weitgehend – im Gegensatz zur Ethnologie.

Merkwürdigerweise war es die Bronzezeit-Archäologie, die später Darwins Ideen aufgriff. Der schwedische Archäologe Oscar Montelius (Abb. 2.4) schrieb 1903:

»Die Entwicklung kann langsam oder schnell verlaufen, immer ist aber der Mensch bei seinem Schaffen von neuen Formen genötigt, demselben Gesetz der Entwicklung zu gehorchen, das für die übrige Natur gilt.«

Und weiter: Wir seien gezwungen, »nur Schritt für Schritt, von einer Form zur andern, sei sie auch wenig abweichend, überzugehen.«4

Dieses Entwicklungsgesetz war für Montelius die Grundlage seiner »typologischen Methode«. Formenkundliche Entwicklungsreihen bildeten für ihn hypothetische Zeitabfolgen, die mit Hilfe der Stratigraphie und der Beobachtung geschlossener Funde zu prüfen waren (Abb. 2.3).

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Abb. 2.3: Illustration von Oscar Montelius zu den Themen »typologische Reihe« und »typologisches Rudiment«.

Die Methode (so der Titel seines programmatischen Aufsatzes) zeigte den Einfluss der Entwicklungstheorie Darwins – den Einfluss, den wir in der Paläolithforschung so sehr vermisst haben.

Eiszeitliche Kunst

Seit den 1960er-Jahren hatten weitere und umfangreiche Ausgrabungen das Bild vom nunmehr so genannten Paläolithikum bedeutend erweitert. Beispiele sind die Pferdejägerstation von Solutré in Burgund, die Magdalénien-Rentierjägerstation bei der Schussenquelle nahe Schussenried in Südwestdeutschland, das Kesslerloch bei Thayingen in der Schweiz, die jungpaläolithischen spektakulären Bestattungen aus der Grotte du Prince bei Menton und zahlreiche weitere Fundstellen in Frankreich, insbesondere solche, die paläolithische Kunstwerke lieferten.

Die Mammutgravierung aus Eduard Lartets Grabungen in La Madeleine überzeugte auch die letzten Zweifler, dass es eine Zeit gab, in der Menschen mit nun ausgestorbenen Tierarten zusammen lebten, ja diese, wie das Mammut, sogar zeichneten. Auch abstrakte Darstellungen wurden bald gefunden, wie die bemalten Kiesel von der spätpaläolithischen Fundstelle Mas d’Azil.

Echt oder unecht?

Immer wieder entstand Streit um die Echtheit der paläolithischen Funde. Die Pioniere, wie Boucher de Perthes und Johann Carl Fuhlrott hatten nicht jedes Mal einen sicheren Griff bewiesen, so dass sich unter ihre Funde Pseudoartefakte (Naturprodukte, die Artefakten ähneln) mischten und ihre Entdeckungen in ein zweifelhaftes Licht rückten. Es ist bekannt, dass Rudolf Virchow den Neandertaler nicht als fossile Menschenform akzeptierte, und Virchows Ablehnung hatte sich noch verstärkt, nachdem Fuhlrott geschliffene Steinbeile vorwies, die angeblich zusammen mit den Resten des Neandertalers gefunden worden sein sollten.

War die Existenz des fossilen Menschen einmal nachgewiesen, so meinte man nun, diese gleich bis ins Tertiär ausdehnen zu können. Wenn es um die ältesten Artefakte der Menschheit geht, spielen hier – wie auch heute – immer wieder Pseudoartefakte eine Rolle. Zudem wurden Fälschungen bekannt, mit denen Experten und Museen bewusst getäuscht werden sollten.

So ist es kein Wunder, dass die ersten paläolithischen Malereien aus der Höhle von Altamira als Fälschungen angesehen wurden. Gabriel de Mortillet (Abb. 2.2) schrieb 1881 an Émile Cartailhac (Abb. 2.5):

»Ich komme nun zu der Frage der Malereien der Höhle von Santander. Ich habe mir die Kopien genau angesehen. Ich bin überzeugt, es ist eine absichtliche Irreführung in dieser Angelegenheit. Das ganze ist nichts als ein witziger Schabernack, eine wahrhaftige Karikatur, geschaffen und in die Welt gesetzt, um lachen zu können über die leichtgläubigen Prähistoriker.«5

Die Entdecker von Altamira Don Marcelino Sanz de Sautuola und seine kleine Tochter María, die ihn auf die bunten Bilder erst aufmerksam gemacht hatte (Abb. 2.4), standen quasi als Betrüger da oder wurden doch zumindest ignoriert.

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Abb. 2.4: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): Marcelino Sanz de Sautuola (1831–1888), María Sanz de Sautuola, Oscar Montelius (1843–1921).

Erst 20 Jahre später widerrief Cartailhac (Abb. 2.5) in seinem berühmten Aufsatz Mea Culpa sein Urteil. Don Marcelino war aber schon 1888 gestorben.

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Abb. 2.5: Bedeutende Forscher und Entdecker (von links nach rechts): Émile Cartailhac (1855–1921), Hugo Obermaier (1877–1946), Henri Breuil (1877–1961).

Die folgenden Jahre brachten die zahlreichen Entdeckungen der paläolithischen Höhlenkunst, die Entdeckung eines Neandertaler Friedhofes bei La Ferrassie – und vor allem die Internationalisierung der Forschungen von der Iberischen Halbinsel bis nach Osteuropa (Tab. 2).

Das erste Vierteljahrhundert wurde von zwei Priestern dominiert, den beiden befreundeten Prähistorikern Hugo Obermaier (Abb. 2.5) und Abbé Henri Breuil (Abb. 2.5). Krasse Paradigmenwechsel sind hier nicht mehr zu beobachten, wenn auch zu den zentralen Themenkreisen »Klassifikation« und »Chronologie« zahlreiche Theorien- und Methodengebiete hinzukamen.

Mortillets System von 1883: heute noch gültig

Im Zusammenhang mit Altamira fiel bereits ein weiterer Name: Gabriel de Mortillet. Mortillet, 1821 geboren, war Eisenbahningenieur, hatte sich am Widerstand gegen das zweite Kaiserreich Napoleons III. beteiligt, war deshalb in die Schweiz verbannt worden und kehrte nach einer allgemeinen Amnestie im Jahre 1863 nach Frankreich zurück, wo er sich offenbar sofort mit prähistorischen Forschungen befasste. Bereits 1869 stellte er eine formenkundliche Untergliederung des Paläolithikums auf, die jetzt auf einem System namengebender Fundorte basierte.

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Abb. 2.6: Die Untergliederung des Paläolithikums von G. de Mortillet beruhte gleichermaßen auf geologischen und paläontologischen Kriterien.

1883 erschien das Hauptwerk Gabriel de Mortillets Le Préhistorique, in dem er die bis heute gültige Grundlage der Unterteilung des europäischen Paläolithikums vorlegte. Die Gliederung Chelléen oder Acheuléen, Moustérien, Solutréen, Magdalénien hat sich bis heute als korrekt erwiesen. Neue Phasen kamen hinzu, bestehende Phasen wurden weiter unterteilt, nie aber wurde Mortillets System widerlegt, oder, im Zuge eines Paradigmenwechsels, abgeschafft. Jeder seiner Kulturbegriffe greift des Namen eines berühmten Fundortes der jeweiligen Epoche auf: Chelles an der Somme, St. Acheul an der Somme, Le Moustier im Périgord, La Madeleine im Périgord und Solutré in Burgund. Man nennt solche Fundorte auch »eponyme Fundorte« (eponym = namengebend), also Fundorte, die einem Kulturbegriff ihren Namen gaben. Die Funde aus diesen Fundorten dienen als Referenzinventare. Referenzinventare bilden eine Vergleichsmöglichkeit, um Funde aus anderen Fundorten den entsprechenden Kulturbegriffen zuzuordnen. So ist es seitdem auch immer wieder geschehen: Ergrub man zum Beispiel in der Vogelherdhöhle ein Inventar, das demjenigen von Le Moustier ähnelte, so ordnete man es dem »Moustérien« zu.

Die Entdeckung des Klimas

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Abb. 2.7: Das Aussehen des Mammuts wurde durch die Funde aus dem sibirischen Dauerfrostboden einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Hier eine frühe Rekonstruktion aus dem Museum von St. Petersburg.

Die erwähnte Gliederung des europäischen Paläolithikums durch Gabriel de Mortillet 1883 birgt für die paläolithische Archäologie ein wesentliches Problem: die Korrelation menschheitsgeschichtlicher Entwicklungen mit dem Klima, also mit den wechselnden Kalt- und Warmphasen des Eiszeitalters.

Mammut – als kaltzeitliches Tier (Abb. 2.7) – und Waldelefant – als warmzeitliches Tier – standen zunächst einmal stellvertretend für die wechselnden Umwelten des paläolithischen Menschen.

Die Entdeckung der Tiefenzeit

Doch welch weiter Weg von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man die Erde auf kaum älter als 6000 Jahre schätzte, bis zu den Mutmaßungen Mortillets, der allein schon der Menschheitsgeschichte mehr als 200 000 Jahre einräumte. Die wirkliche Zeittiefe des Eiszeitalters wurde erst später sichtbar, als Milutin Milankovich 1920 seine astronomische Strahlungskurve veröffentlichte, in der jeder Kalt- und Warmzeitzyklus etwa 120 000 Jahre einnimmt.

Wir sehen hierin die gleiche Entwicklung, die auch das Fach Paläontologie durchmachte, und die von dem amerikanischen Paläontologen, Geologen und Evolutionsbiologen Stephan Jay Gould in seinem Beststeller »Die Entdeckung der Tiefenzeit« beschrieben wurde.6

Das Fundament ist 150 Jahre alt

Kein Zweifel: Mit Thomsen 1836, Lubbock 1865 und Mortillet 1883 war vor 150 Jahren ein Fundament für die paläolithische Archäologie gelegt, an dem später und heute weiter- und angebaut werden konnte und kann. Mortillet, der 1898 starb, hat sein Denkmal in Paris sicher zu Recht.

Das neue Fachgebiet hatte einen rasanten Aufschwung genommen. Schon kurz nach der ersten Ausgrabungsserie in den 1860er-Jahren und kurz nach den Veröffentlichungen der ersten Chronologiesysteme von Lartet und Mortillet erschien die dunkle Vorzeit in so hellem Licht, dass Edgar Quinet 1870 über den prähistorischen Menschen schreiben konnte:

»Welche Zukunft beginne ich zu ahnen in diesem seltsamen Wesen, das kaum sich selber eine bessere Hütte zu schaffen weiss, als die Höhle des Bären es ist, und das doch schon ängstlich bemüht ist, seinen Toten für alle Ewigkeit Herberge zu schaffen. Hier glaube ich auf den Grundstein gestoßen zu sein, auf dem alle göttlichen und menschlichen Dinge sich aufbauen. Nach diesem Anfang begreift sich alles Übrige leicht.«7

Kultur- und Naturwissenschaft zugleich

Geologie (Schichtenbeschreibung), Paläontologie (Faunenbestimmung) und Physische Anthropologie spielten, wie wir gesehen haben, eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der paläolithischen Forschung und der Disziplin »Prähistorische Archäologie« insgesamt. Besonders die von Mortillet vertretene Forschungsrichtung folgte von Anfang an der Überzeugung, dass die paläolithische Archäologie zugleich Natur- und Kulturwissenschaft ist (Abb. 2.6).

Es sind deshalb auch bahnbrechende naturwissenschaftliche Entdeckungen, die die nächste Forschungsphase prägten. Die wichtigste unter ihnen ist die systematische Beschreibung und Deutung der Überreste der Eiszeiten.

Der Mensch im Eiszeitalter

Albrecht Penck und Eduard Brückner fassten diese Entdeckungen 1909 in ihrem Buch Die Alpen im Eiszeitalter zusammen. Sie konnten zeigen, dass bestimmte, in der Landschaft noch heute sichtbare Oberflächenformen und entsprechende Sedimente als Reste gewaltiger Eisvorstöße zu deuten sind. Zeitweise mussten die Alpengletscher viel größer gewesen sein als heute. Mächtige Eisschichten füllten die Alpentäler und bedeckten Teile des Alpenvorlandes. Die Vereisungen konnten nur während mehrerer Kaltzeiten des Eiszeitalters, also im Quartär, entstanden sein.

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Tab. 1: Kalt- und Warmzeiten im Quartär (jüngste Periode oben).

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Tab. 2: Entdeckungen aus den ersten zwei Jahrhunderten der paläolithischen Archäologie und Paläontologie.

Penck und Brückner beschrieben vier Kaltzeiten. Sie wurden nach Voralpenflüssen benannt. Das »Günz-Glazial« sollte die älteste Kaltzeit sein, gefolgt von »Mindel-«, »Riß-« und »Würm-«Glazial. Zwischen den Glazialen musste es Warmzeiten gegeben haben, ähnlich dem Holozän: jener Warmzeit, in der wir heute leben. So entstand ein Chronologieschema für das Quartär (Tab. 1).

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Von den ersten Menschen bis zum Homo sapiens

 

 

Wir Menschen bevölkern die Erde erst seit relativ kurzer Zeit. Wäre die Erdgeschichte eine Soap Opera im Fernsehen, und unser Planet wäre in der ersten Folge entstanden, träten wir erst in der 4000. Folge auf! Und auch dort erst nach der ersten oder zweiten Werbepause! Und auch das nur, wenn der Regisseur bereit wäre, in jede Folge eine Million Jahre zu packen. Erzählen wir diese Folge der Soap Opera oder, besser gesagt, Globe Opera kurz nach!

Die Stellung des Menschen in der Erdgeschichte

Die Erde entstand vor etwa 4 Milliarden Jahren. Die ältesten Gesteine auf der Erde sind etwa 3,6 Milliarden Jahre alt. Die erste Periode der Erdgeschichte (Tab. 3) nennt man Präkambrium (Erdfrühzeit). Aus seinem älteren Abschnitt stammen die ersten Fossilien. Aus seinem jüngeren Anschnitt stammt die Ediacara-Fauna, in der bereits Baupläne unterschiedlicher Tierartenstämme erkennbar sind. Die ersten skelettartigen Konstruktionen treten auf.

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Tab. 3: Gliederung der Erdgeschichte

Am Beginn des Erdaltertums (Paläozoikum), im Kambrium, erscheinen die ersten Tiere mit Rückgrat (Notochord), also die ersten Chordatiere. Im Ordovizium folgen die ersten Fische, im Silur die ersten Landpflanzen, im Devon die ersten Insekten und die ersten Amphibien, im Karbon die ersten Reptilien, bis im Perm schließlich die marine Fauna und Flora massenhaft zugrundegeht.

Das Erdmittelalter (Mesozoikum) beginnt mit der Triaszeit, in der die ersten Säugetiere und die ersten Dinosaurier auftreten. In der Jurazeit entstehen, wohl aus den Sauriern heraus, die ersten Vögel. In die Kreidezeit gehören die ältesten Primaten, und zugleich verschwinden die Dinosaurier. Mit der Kreidezeit endet das Erdmittelalter.

Die Erdneuzeit (Känozoikum) beginnt mit dem Tertiär, in dem sich die Säugetiere vermehren und ausbreiten. Im späten Tertiär, während des Miozäns, setzt die Entwicklung jener Linie ein, die später zu den Menschenaffen und Menschen führt. Im Pliozän, am Ende des Tertiärs, leben die unmittelbaren Vorfahren der Menschenaffen und Menschen und die allerersten Mitglieder der Gattung Homo.

Die letzte erdgeschichtliche Periode innerhalb der Erdneuzeit, das Quartär, bildet die Bühne für das Auftreten der Menschen. Das Quartär wird in das Pleistozän und das Holozän gegliedert. Das Pleistozän umfasst das Eiszeitalter mit mehreren Kalt- und Warmzeiten, aus dem die gegenwärtige Warmzeit, in der wir leben, unter dem Namen »Holozän« oder Jetztzeit, ausgegliedert wird.

Der Mensch im Pleistozän: Definition des Paläolithikums

In der kulturgeschichtlichen Terminologie fällt das Pleistozän mit der ältesten Periode der Menschheitsgeschichte zusammen, dem Paläolithikum, der Älteren Steinzeit oder Altsteinzeit. Das Paläolithikum umfasst etwa 95 % der Menschheitsgeschichte. Alle weiteren prähistorischen Perioden sind im Holozän angesiedelt und entsprechen damit etwa 5 % der Menschheitsgeschichte. Ganz am Schluss steht das »Anthropozän« – die letzten 200 Jahre, in denen der Einfluss der Menschen auf Klima und Umwelt dominierte.

Das Paläolithikum ist die älteste Periode der Menschheitsgeschichte. Im Paläolithikum lebten die Menschen vom Jagen und Sammeln. Man spricht von aneignender Wirtschaftsweise, weil die Menschen nur solche Nahrung verwerteten, die sie in der natürlichen Umwelt finden und erreichen konnten.

Das Paläolithikum ist die einzige menschheitsgeschichtliche Periode, in der mehrere Arten der Gattung Mensch (Homo) lebten. Die gesamte anatomische Entwicklung des Menschen spielte sich also im Paläolithikum ab. Die einzige überlebende Art der Gattung Mensch, der Homo sapiens sapiens, entstand in einem relativ späten Abschnitt innerhalb des Paläolithikums.

Wenn im Folgenden von Menschen die Rede ist, sind damit nicht nur die heutigen Menschen gemeint, vielmehr ist die gesamte Vielfalt der bisher nachgewiesenen – etwa sieben verschiedenen – Arten der Gattung Homo mit eingeschlossen.

Der Mensch ist ein Primat: die Stellung der Menschen in der Systematik der Arten

Der Mensch besitzt eine Wirbelsäule. Seine Nachkommen werden, wie bei anderen Säugern, mit Muttermilch aufgezogen und während der Embryonalentwicklung über eine Plazenta ernährt. Er ist mit 5-gliedrigen Extremitäten, einem Schlüsselbein und einem Paar Brustdrüsen ausgestattet. Seine Augen befinden sich an der Vorderseite des Kopfes; er besitzt ein binokulares Sehvermögen und ein verhältnismäßig großes Gehirn.1

Demnach gehört der Mensch zu den Chordatieren, zu den Wirbeltieren, zu den Plazentatieren, zu den Säugetieren, zu den Primaten und, gemeinsam mit den Großen Menschenaffen, zu den Anthropoidea. Die Anthropoidea gliedert man noch einmal in die Pongidae, mit Orang-Utan als einzigem Vertreter, und in die Hominidae, mit einerseits Schimpanse, Bonobo und Gorilla und andererseits fossilen und lebenden Homini.

Die Herkunft der menschlichen Linie muss also in eine Zeit zurückreichen, in der sich die Linien der Hominidae und Pongidae aufteilten. Diese Zeit war das Miozän.

Primaten in Afrika und Asien

Fossile Anthropoidea sind nur aus Afrika und Asien bekannt. Die Kontinente Australien, Nord- und Südamerika fallen also als Entstehungsgebiete der Anthropoiden aus. Primatenfunde aus der gemeinsamen Vorfahrenreihe der Menschen und Menschenaffen konzentrieren sich in einem Dreieck zwischen Norditalien, Pakistan, China, Ostafrika und Namibia, mit einem Schwerpunkt in Ostafrika.

Die jüngsten Kandidaten für diese gemeinsame Ahnenreihe sind Kenyapithecus und Sivapithecus, früher zusammen als Ramapithecus bezeichnet. Etwa gleichzeitig lebte noch eine weitere Primatengruppe, die Dryopithecinen, deren Fossilreihe noch weiter zurückgeht als die der Kenyapithecinen und Sivapithecinen, weshalb sie von vielen Autoren zusammen mit Proconsul in deren Vorfahrenreihe gestellt werden.

Funde von Kenyapithecus sind nur aus Ostafrika bekannt, Funde von Sivapithecus nur aus der Türkei, dem westlichen Himalayagebiet und aus China. Kenyapithecus wird von einigen Autoren auch als Sivapithecus africanus bezeichnet. Die asiatischen Sivapithecinen werden heute als Vorfahren der Pongiden mit der einzigen Spezies Orang-Utan angesehen, deren Entwicklung sich demnach vor etwa 12 bis 14 Millionen Jahren von jener der Hominidae getrennt hätte.

Die afrikanischen Kenyapithecinen sind demnach die Urahnen der Hominidae, also der Menschen und afrikanischen Menschenaffen. Louis B. Leakey ist der Entdecker des Kenyapithecus von Fort Ternan in Kenia, der ein Alter von rund 14 Millionen Jahren hat.