Unicorn Rise (1).




Roman



Digitale Originalausgabe



 

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Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2018
Covergestaltung: Rica Aitzetmüller
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2018

ISBN: 978-3-401-84050-5

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Prolog

 

Die Nacht hatte sich bereits über das Silberne Königreich gesenkt, als das feindliche Horn ertönte und die angespannte Stille mit seinem durchdringenden Klang durchzog. Pellegrier Advena blickte vom Wehrturm auf die Hauptstadt Melliaro hinab, aus der Rauchschwaden in den Himmel stiegen. Mittendrin ein schwarzes Heer, das in Richtung Palast marschierte. Noch nie hatte sich ihm ein solcher Anblick geboten. Tausende kampfbereiter Männer in scheppernden Rüstungen, die sich im Gleichschritt auf den Mittelpunkt des friedlichen Landes zubewegten. Angetrieben von ihrem Kommandeur überrannten sie die stolze Stadt, als wäre sie nichts weiter als ein Erdbeerfeld.

Inmitten des Rauches zog der Feuervogel Fayx seit der Dämmerung seine Kreise. Dem Blick des beeindruckenden Tiers entging nichts.

»Wir sind umzingelt«, wisperte Pellegrier, der durch die goldenen Augen des Phönix sehen konnte, als wären es seine eigenen. Nun, da er die vorrückenden Streitkräfte rund um Melliaro wusste, bestimmten erstmals Angst und Verzweiflung die Gefühle des erfahrenen Feldherrn. Das Gold, das auch seine Augen erfüllt hatte, verschwand. Pellegrier hatte genug gesehen. Im Angesicht der Übermacht des Feindes war er gezwungen, seine Position zu verlassen und den König aufzusuchen. Die Luft war von Schreien durchzogen, dazwischen mischte sich das Geräusch schneidender Klingen. Vor den Palastmauern hatten die Gefechte bereits begonnen. Immer weiter rückten die feindlichen Kämpfer zu den weißen Türmen vor, auf denen die Bogenschützen in Stellung gingen.

»Schießt, sobald sie das Tor erreicht haben«, befahl Pellegrier den Soldaten, dann hastete er über die Burgmauern ins Palastinnere. Schweiß perlte von seiner Stirn, während er an die bevorstehende Begegnung mit seinem Herrn dachte. Sollte er die Wahrheit sagen? Nein, die war so grausam, so hoffnungslos, dass er sie nicht über die Lippen brächte. Der Verrat am Silbernen Königreich reichte tief. Pellegrier wusste, dass sich Erabazs’ schlimmste Befürchtungen bewahrheitet hatten. Der Schwarze Löwe war gekommen und er hatte nur ein Ziel vor Augen: das Haus der Unicorns zu vernichten.

Ein ohrenbetäubender Knall ließ Pellegrier auf seinem Weg in den Thronsaal innehalten. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Erschrocken wandte er den Blick zur opulenten Kuppeldecke, von der Staub hinunterrieselte. Eilig setzte er sich wieder in Bewegung, rannte durch die zweiflügelige Tür aus weißem Alabaster. »Sie kommen!« Seine Stimme war nur ein Ächzen, als er völlig außer Atem vor dem König auf die Knie sank. »Sie sind ganz nah!«

Erabazs wandte sich seinem ältesten Freund zu und seufzte. »Ich weiß.«

Mit sorgenvoller Miene schaute er auf. »Mein Herr, wir müssen Euch von hier fortbringen.«

»Nein. Ich werde nirgendwo hingehen.«

Pellegrier starrte ihn entsetzt an.

Ein dumpfer Schlag erschütterte den Thronsaal. Doch das brachte den König nicht aus der Fassung, er lächelte sogar ein bisschen. »Ich habe die anderen Erben der Totems bereits in die Menschenwelt entsandt. Für uns bleibt nur noch eines zu tun.« Er hob den Saum seines Ärmels und legte das sternförmige Mal frei, das weiß an seinem Handgelenk leuchtete.

Pellegrier stockte der Atem. Er wusste, was diese Geste des Königs zu bedeuten hatte, denn Erabazs hatte ihn darauf vorbereitet. Vor langer Zeit hatte er ihm gesagt, dass sie vielleicht einmal notwendig sein würde. Doch jetzt, da es soweit war, traf es ihn wie ein Schwerthieb. Er war unfähig, etwas zu sagen. Nie zuvor hatte das Silberne Reich Ambarr einen größeren, gütigeren König gesehen. Pellegrier rang um Fassung, denn es war jene Güte, die letztlich auch das Ende seiner Herrschaft bedeuten würde.

Das Mondlicht, das durch die hohen Fenster schien, umriss die Silhouette des Totems, das seit jeher die Herren vom Reich der Silbernen Flüsse repräsentierte. Ein leises Schnauben entwich dem Einhorn, während es seine perlweiße Mähne schüttelte. Als der König seinen Unterarm drehte, fiel Mondlicht darauf und brachte es zum Glitzern.

»Wie Ihr wünscht.« Pellegrier verneigte sich vor dem Mann, dem er ewige Treue geschworen hatte, und vor dem reinsten aller magischen Tiere, das an den König gebunden war. Im nächsten Augenblick öffnete sich die zweiflügelige Tür ein weiteres Mal und die Frau des Feldherrn betrat den Saal. In ihren Armen wiegte sie einen schlafenden kleinen Jungen. Ihr langes rotes Haar wehte hinter ihr her, als sie schnellen Schrittes bis zum König vortrat. »Werden wir nicht fortgebracht?«, fragte sie mit zitternder Stimme an ihren Mann gewandt. Dieser senkte den Kopf. Kurz darauf sah er zum König auf, der fest entschlossen schien. Pellegriers Frau bemerkte, wie Erabazs die Hand sinken ließ. »Was hat das zu bedeuten?« Sie erkannte das Mal des Königs, das dieser gerade wieder mit seinem Ärmel verdeckte.

»Ich werde mein Totem an einen sicheren Ort bringen«, erklärte er endlich.

Pellegriers Frau tat einen Schritt zurück. »Aber, Herr, ohne die Macht des Einhorns sind wir verloren.«

»Wir haben den Kampf bereits verloren! In dieser finsteren Stunde müssen wir die Zukunft Ambarrs beschützen: unsere Kinder!« Er bedachte den schlafenden Jungen in ihren Armen mit einem bangen Blick.

»Es ist der einzige Weg, Neone«, pflichtete ihm Pellegrier bei, während er seiner Frau liebevoll die Hand auf die Schulter legte. Schluchzend klammerte sie sich an ihren Sohn. Sie strich ihm eine Locke aus der Stirn und schlug die Decke enger um den Kleinen.

Ein Donnern erschütterte den Thronsaal. Es folgte ohrenbetäubende Stille, die fast genauso schlimm war. Unmerklich nickte Neone dem König zu. Erabazs tat es ihr nach.

»Nun kommt!« Der König warf sich seinen silbern glänzenden Mantel um die Schultern und hastete durch eine Seitentür aus dem Saal, den langen Gang hinauf bis zum Kinderzimmer, in dem die kleine Prinzessin friedlich in ihrer Wiege schlief. Meffid, ihre Kinderfrau, hatte sie und Neones Sohn mit einem einfachen Schlummerzauber belegt. Ein magisches Schlaflied, das die beiden Babys von den Klängen des Aufruhrs abschottete. Sanft strich der König seiner Tochter über die fast schneeweiße Wange. Ihr Gesicht war so rein, so makellos schön, wie das Einhorn, das mit dem König den Raum betreten hatte.

»Hoffentlich gelingt es«, murmelte er.

»Sie werden sich an nichts erinnern«, versprach Meffid, die an der Wiege der Herrin von Ambarr wachte. Seit drei Generationen diente die Zwergin dem Königshaus und war Erabazs eine liebgewonnene Vertraute. Er wusste, dass Ambarrs Zukunft bei ihr in guten Händen war. In weiser Voraussicht hatte er sie deshalb gebeten, sämtliche Vorbereitungen zur Rettung der Nachkommen zu treffen. Und wie immer hatte sie seinen Auftrag gewissenhaft ausgeführt.

»Der Schleier des Vergessens wird sie vor ihren Feinden bewahren, bis ihre Zeit gekommen ist, sich gegen sie zu erheben.« Erabazs betrachtete sein einziges Kind. Liebe lag in seinem Blick und die uneingeschränkte Bereitschaft, sich für seine Tochter zu opfern.

Meffid zog sich ihre blaue Spitzenhaube über den Kopf. »Ich werde dafür sorgen, dass es ihnen gut geht.«

Der König nickte ihr dankend zu, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Wiege richtete. Der größte Schatz seines Reiches schlummerte friedlich darin – nichts ahnend von dem Angriff auf sein Zuhause. Erabazs war, als würde ihm jemand ganz langsam das Herz zermalmen.

»Sie ist noch so klein!«, klagte er.

»Sie wird schnell wachsen.« Meffid trat an seine Seite. »Und in einer anderen Welt heranreifen, um Ambarr in eine sichere Zukunft zu führen.« Erabazs schluckte schwerfällig, dann nahm er die winzige Hand seiner Tochter und bettete sie auf das sternförmige Mal, das sich oberhalb seines Handgelenks abzeichnete. Es begann abermals zu leuchten und silbern glitzernder Staub ging von ihm aus, der sogleich beide umgab – König und Prinzessin. Der Staub sammelte sich um das Mädchen und floss in ihren leicht geöffneten Mund. Für einen Moment wirkte es, als würde erst ihr Gesicht, dann ihr Hals und zuletzt ihr Arm von innen heraus silbern leuchten. Als der glitzernde Staub schließlich in ihr verglomm, erschien das Mal des Königs auf ihrer Haut.

»Von nun an soll Amaris dir gehören«, flüsterte Erabazs und küsste seine Tochter auf die Stirn. Die Prinzessin gab ein leises Brabbeln von sich und fiel dann wieder in einen tiefen Schlaf. »Träum schön, mein Stern!«

Ein weiterer Donnerschlag ließ das Gebäude erbeben und die Geräusche des Kampfes drangen deutlicher zu ihnen vor. Schon bald würde er auch im Palast toben.

»Die Zeit drängt«, merkte Meffid an und bedeutete Neone, den Jungen neben die Prinzessin zu legen.

»Ich werde immer bei dir sein«, hauchte sie, während sie Meffids Anweisung befolgte. »Nichts kann uns trennen. Nicht einmal der Tod.« Weinend presste sie die Lippen zu einem Kuss auf die Wange ihres Kindes, dann löste sie sich von ihm, damit Pellegrier ihm das Mal des Phönix schenken konnte. Anders als bei der Königstochter, tanzten diesmal keine silbern glitzernde Staubpartikel, sondern rot-goldene Funken durch die Luft. Kurz darauf glühte die Flamme des Feuervogels am Handgelenk des Jungen. »Möge er dir Freund und Helfer sein, mein Sohn.« Pellegrier strich ihm über den Schopf. Dann zog er seine Frau sanft an sich und Meffid übernahm das rollende Bettchen.

»Wartet!« Erabazs beugte sich noch einmal über die schlafenden Kinder, die so eng aneinandergeschmiegt lagen, dass sich die Male der beiden berührten. Der Stern leuchtete silbern, die Flamme golden. Das Licht der beiden vermischte sich miteinander und rot-blaue Funken stoben knisternd empor.

»Wie außergewöhnlich«, raunte Neone ergriffen.

»Sie gehören zusammen!« Erabazs fasste in das Bettchen und legte die Hand seiner Tochter in die des Jungen, die sich daraufhin um die der Prinzessin schloss.

»Verbunden, um sich gemeinsam zu erheben.« In Erabazs’ Augen glitzerten Tränen, als Meffid die Kinder durch das schimmernde Tor aus buntem Glas fuhr. Das weiß glitzernde Einhorn folgte ihnen. Kurz bevor es hindurch war, drehte es sich noch einmal zum König um. Er nickte ihm zu, woraufhin das Einhorn den Kopf senkte. Ein letztes Mal. Dann wandte es sich ab und verschwand durch das Tor.

Kurz bevor es sich schloss, erklang ein gellender Schrei. Flügelschlagen war zu hören. Wie ein roter Pfeil schoss der Phönix zwischen ihnen hindurch, drehte eine letzte Abschiedsrunde um Pellegrier und verschwand dann ebenfalls durch das Tor. Alles, was von ihm zurückblieb, war eine lange rote Feder, die in Pellegriers ausgestreckte Hände segelte.

Der König wusste, dass dies ein Abschied für immer war. Er würde Amaris und seinen Stern nie wiedersehen, genauso wenig wie Pellegrier seinen Sohn und den Phönix.

Die letzte Unicorn würde fern von ihrer Heimat aufwachsen und, wenn ihre Zeit gekommen war, wiederkehren, um den Thron ihrer Familie zurückzuerobern.

 

Blut besprenkelte die Mauern der Silbernen Stadt, tauchte das majestätische Melliaro in die Farbe des Verrats. Und mit den Unicorns verschwand auch der Mond und die dunkle Macht des Schwarzen Lords flutete das Land.

Kapitel eins


Vernunft und Abenteuer

 

Der Becher glitt aus Marybells Hand, streifte die gläserne Tischplatte und landete polternd auf dem Teppich. »Shit!« Marybell ging in die Hocke, zückte ein Päckchen Taschentücher und presste gleich fünf auf einmal auf den Karamell Latte Macchiato, der im Begriff war, sich tief ins teure Knüpfwerk zu fressen. »Fuck!«

Ich hatte das Unheil von der Tür aus beobachtet und schielte nun zum regenbogenfarbenen Schopf meiner Freundin, den ich zwischen zwei antiken Anrichten ausmachte.

»Alles okay?«, fragte ich und musste mir ein Grinsen verkneifen.

Marybell warf ihre Haare nach hinten. »O ja, alles bestens.« Ironie schwang unverkennbar in ihrer Stimme mit. Ich versuchte mir den Schreck nicht anmerken zu lassen, während ich eine Kundin verabschiedete. Endlich verließ die ältere Dame mit einer Tiffanylampe unter dem Arm und einem zufriedenen Lächeln das Geschäft. Nachdem die Tür mit der Aufschrift At Abernessy’s hinter ihr ins Schloss gefallen war, huschte ich in die hintere Ecke des Ladens und lugte über Marybells Schulter – auf das Schlimmste vorbereitet. »Nicht schon wieder«, entfuhr es mir.

»Ich habe alles im Griff.«

»Auch den handgewebten Orientteppich aus dem siebzehnten Jahrhundert?« Ich stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Schmeiß die mal eben weg, ja?« Marybell drückte mir die triefnassen Tücher in die Hand und richtete sich auf.

Erst jetzt sah ich die Spuren des Kaffee-Unfalls deutlich: ein hässlicher, untertassengroßer Fleck inmitten der beigefarbenen Musterung. Umgeben von einem Kranz aus fiesen dunklen Sprenkeln. Vereinzelte kleinere Kleckse hatten sogar die Fransen am Ende verfärbt. Ich stieß ein Schnauben aus. »Wie soll ich das Miss Abernessy erklären?«

»Ach, das fällt doch keinem auf. Außerdem, die Leute, die hier reinkommen, wissen ja wohl, dass die Sachen gebraucht sind. Da wird ihnen so ein klitzekleiner Fleck sicher nichts ausmachen.«

»Antik. Nicht gebraucht! Und: Doch, dass macht sehr wohl etwas aus.«

Kurz sah ich dabei zu, wie Marybell den Teppich malträtierte. Dabei rieb sie munter weiße Taschentuchfussel hinein. Mir blieb ein entsetzter Aufschrei in der Kehle stecken. »Du machst es nur noch schlimmer!«

Sie stoppte ihren wohlgemeinten Reinigungsversuch und sank auf ihre Fersen. »Mist«, murmelte sie mit hängenden Schultern, während sie sich stirnrunzelnd ihr Missgeschick besah. »Na ja, könnte doch auch ein antiker Kaffeefleck sein. Vielleicht von einer berühmten Person. Ein königlicher Kaffeefleck. Mensch, die Abernessy kann vielleicht gleich das Doppelte dafür verlangen.« Schalk blitzte aus den Augen meiner Freundin, als sie mir fröhlich zuzwinkerte.

»Du bist echt unmöglich!« Eingeschnappt wandte ich mich ab und marschierte hinter die Verkaufstheke, wo ich die tropfenden Tücher in den Papierkorb warf.

»Okay, okay, tut mir leid!« Marybell folgte mir. »Es war keine Absicht. Ich schwör’s!« Sie schmiss den leeren Becher ebenfalls in den Müll und hob zwei Finger in die Höhe.

»Ich weiß, dass es keine Absicht war. Aber du hättest den Kaffee gar nicht erst mit hineinnehmen sollen.« Ich rieb mir gestresst die Stirn. »Eins steht fest: Wenn Miss Abernessy das sieht, macht sie mich einen Kopf kürzer. Du weißt doch, dass Essen und Trinken hier strikt verboten sind.«

»Ja, ja. Womöglich hatte ich es für einen kurzen Moment vergessen.« Marybell setzte ihren Unschuldsblick auf - den beherrschte sie perfekt. »Kannst du mir nochmal verzeihen?« Sie machte einen Schmollmund.

»Wahrscheinlich schmeißt mich die Abernessy im hohen Bogen raus.«

»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd. Die wird dich schon nicht gleich feuern. Dafür bist du viel zu gut in deinem Job. Ich kenne niemanden, der sich derart mit altem Zeug auskennt wie du. Das weiß auch deine Chefin.« Sie nahm eine Schneekugel aus dem Regal und schüttelte sie so heftig, dass mir ganz übel wurde.

»Würdest du die bitte wieder zurückstellen? Die ist aus Paris«, kreischte ich, nahm ihr die Schneekugel ab und stellte sie zurück, so vorsichtig, als wäre sie ein rohes Ei.

»Ehrlich, Tara, ich kann nicht verstehen, was du an diesem Kram findest. Es ist alles so …« Verbissen suchte sie nach dem richtigen Wort, während sie ihren Blick schweifen ließ, »… verstaubt! Die Menschen, denen das mal gehört hat, sind alle längst tot.« Sie schüttelte sich. »Das ist so frustrierend.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Alle Sachen hier erzählen eine Geschichte, wir müssen ihnen nur zuhören.«

Sie sah mich fragend an. Auf einmal wurde sie sehr ernst. »Kann es sein, dass du insgeheim hoffst, auch deine Geschichte zu finden?«

Ich seufzte und strich über die Spieluhr mit den einander zugeneigten Porzellanschwänen. »Schon möglich.«

»Dann glaubst du immer noch, dass deine Eltern etwas vor dir verheimlichen?«

»Ganz ehrlich? Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich glaube. Aber da ist dieses Gefühl. Es kommt von hier.« Ich tippte mir auf die Brust, dort, wo mein Herz schlug. »Das lässt sich einfach nicht abstellen.«

»Hattest du etwa wieder einen dieser Träume?«

Marybell kannte mich zu gut. Zögernd nickte ich.

»Du solltest mit jemandem drüber reden, der sich mit so was auskennt.«

»Mit so was? Du meinst einen Seelenklempner? Nein, danke. Der wird denken, ich spinne, wenn ich ihm von meinen Träumen erzähle. Ich spüre, dass da mehr ist, dass es keine normalen Träume sind. Aber das wird so jemand nicht verstehen. Niemand versteht das.«

»Doch, ich. Natürlich glaube ich dir, du bist meine beste Freundin.«

Dankbar griff ich ihre Hand und drückte sie fest.

»Ernsthaft, und deine Eltern würden das auch. Ich kenne sie doch. Vielleicht solltest du doch einfach mal mit ihnen darüber sprechen?« Sie blickte stirnrunzelnd neben mich ins Leere.

»Und was sollen sie dann machen? Sie können sie doch auch nicht ausstellen. Sie würden sich außerdem nur Sorgen machen.«

»Mh. Wenn du meinst. Irgendwie spooky diese ganze Sache.«

»Was soll ich da sagen?« Ich nickte seufzend. »Diese Träume sind so surreal, so dunkel. Es ist, als wäre ich in einem Märchen gefangen, das sich zu einer Horrorgeschichte entwickelt. Und sie wird immer lebendiger. Als käme ich mit jedem neuen Traum ein kleines Stück weiter. So langsam denke ich, mit mir stimmt etwas nicht.«

»Da bin ich mir sogar ganz sicher! Wer würde sonst zwischen diesem ganzen alten Kram sitzen und auch noch Spaß dabei haben?« Sie stieß mich in die Seite und ich musste unwillkürlich grinsen. Marybell wandte sich mir zu, mit einem Mal war sie ganz ernst. »Ne, wirklich Tara. Mit mir kannst du immer reden, das weißt du, oder?«

»Und wie ich das weiß!« Lächelnd umarmte ich sie. Marybell mochte tollpatschig und exzentrisch sein, aber hinter ihrer knalligen Fassade verbarg sich ein Mensch mit einem riesengroßen Herzen. Ich wusste, dass ich auf sie zählen konnte, wenn es ernst wurde.

»Also, ich bin sicher, mit dir ist alles in bester Ordnung«, versicherte sie mir. »Du wirst schon sehen, das wird sich alles klären.«

»Hoffentlich.«

»Na klar. Solange bleibst du einfach meine etwas schräge Freundin mit den durchgeknallten Träumen.« Sie kicherte.

»O-k-a-y.« Ich konnte nicht anders und musste mitlachen. Marybells gute Laune und ihre unerschütterliche Art waren einfach ansteckend. Dankbar wuschelte ich ihr durch die Regenbogen-Haare und sah mir schmunzelnd die glitzernden Einhorn-Ohrringe an, die an ihren Ohrläppchen baumelten. Sie war wirklich verrückt nach Einhörnern, sogar auf ihrer Handyschale klebte eine Einhorn-Silhouette aus Kristallen. Es wunderte mich, dass sie sich noch kein Einhorn-Tattoo hatte stechen lassen. »Ich bin also von uns beiden die Schräge, ja?«

Sie nickte knapp. »So ist es!«

»Dann ist ja gut.« Ich prustete erneut los. Marybell grinste und wechselte das Thema. Offensichtlich wollte sie mich ablenken, was ihr sogar gelang. »Miss Abernessy ist also weg?«

»Ja.«

»Wo ist sie hin?«

»Sie ist für eine Woche in Cornwall und besucht ihre Schwester.«

»Na also, bis dahin ist noch Zeit genug diesen Fleck unsichtbar werden zu lassen. Das schaffen wir schon. Wird ein Klacks.«

»Wir?« Ich hob fragend die Augenbrauen.

»Okay, okay. Ich.«

»Du hast den Teppich schließlich auch versaut.«

Sie kaute laut schmatzend ihren Kaugummi. »Ich geb ja schon auf! Kommst du denn jetzt mit auf das Konzert heute Abend?« Sie legte ihre Tasche neben die Kasse und kramte darin herum.

»Ich weiß es noch nicht. Die Band ist eigentlich nicht so mein Fall.«

»Die Black Fires? Och, die sollen echt super sein. Die Neuentdeckung des Jahres.«

»Ist das so?«

Sie nickte und machte eine Kaugummiblase, die sie mit dem Fingernagel zum Platzen brachte. »Brian hat die Karten besorgt. Ich hab dir doch von Brian erzählt?«

Ich spitzte die Lippen und machte schmale Augen. »Nicht dass ich wüsste.«

»Also ich kack gleich ab.« Marybell holte den abgenutzten Kaugummi aus ihrem Mund. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, ihn unter die Verkaufstheke zu kleben, indem ich ihr den Papierkorb hinhielt. Mit einem Augenrollen ließ sie ihn hineinplumpsen.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass du vergessen hast, wer Brian ist.«

»Der Rothaarige? Der mit den Tattoos?« Ich dachte angestrengt nach. Sich an Marybells Bekanntschaften zu erinnern, war eine Herausforderung, an der ich nicht zum ersten Mal scheiterte. Schließlich kamen bei ihr ständig neue hinzu. Ich riet weiter: »Der aus dem Yachtclub?«

Sie schüttelte energisch den Kopf, während sie sich einen neuen Kaugummistreifen zwischen die Lippen schob.

»Jetzt weiß ich’s! Der Typ, der in dieser Arztserie mitgespielt hat?«

»Auch nicht.« Jetzt war es an ihr, die Augenbrauen zu heben. »Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«

»Sorry!« Ich versuchte mich an einem der Unschuldsblicke, die sie so gut beherrschte. »Nicht die Geringste.«

»Es ist der Computerfreak.«

»Hast du nicht gesagt, der wäre nicht an Frauen interessiert?«

»Nein! Ich habe gesagt, er kommt so rüber, als wäre er es nicht. Aber ich sag dir: Da lag ich ja so was von daneben.« Zwinkernd lehnte sie sich vor. »Ich muss unbedingt herausfinden, ob das mit ihm was werden kann.«

»Und dazu brauchst du mich?«

»Gib dir einen Ruck. Du warst schon seit einer Ewigkeit nicht mehr aus. So lernst du nie jemanden kennen.«

»Vielleicht will ich das ja auch gar nicht«, erwiderte ich.

»Stimmt, das war wohl nicht der richtige Köder.« Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Du sparst dich ja für Mister Right auf. Message received. Aber ganz ehrlich, wann hatten wir beide das letzte Mal so richtig viel Spaß? Ich kann mich schon gar nicht mehr dran erinnern. Tu’s für mich, bitte!« Sie blinzelte. »Es ist der letzte Auftritt der Black Fires in Dublin. Wer weiß, wann sie jemals wieder herkommen?«

»Schön«, stimmte ich etwas widerwillig zu. »Aber dafür hab ich echt was gut bei dir!«

»Alles, was du willst!«

»Und du lässt diesen Fleck verschwinden.«

»Auf jeden Fall!«

Mir war nicht nach Feiern zumute, aber womöglich hatte Marybell recht und ich musste aufhören, mich zu verkriechen. Vielleicht würde mir dieses Konzert wirklich guttun und mir helfen, meine unheimlichen Träume für einen Moment zu vergessen. Mittlerweile suchten mich die schrecklichen Traumbilder auch schon tagsüber heim. Sie waren in meinem Kopf und der brauchte wohl dringend Ablenkung. Ich wollte diesem Abend eine Chance geben, der Band und Marybells neuster Eroberung.

Kapitel zwei

Dunkelheit

 

Die Dämmerung färbte das alte Fabrikgelände orange-rot. Ich sah, wie die Sonne hinter einer der leerstehenden Hallen unterging, in denen früher Wollfäden versponnen wurden, und fragte mich, was aus den Menschen geworden war, die dort einmal gearbeitet hatten.

»Hast du Feuer?«, ertönte eine Stimme hinter mir. Ich wandte mich ihr zu und schaute in das Gesicht eines ziemlich großgewachsenen jungen Mannes mit schulterlangem grau-weißem Haar. Offenbar war auch er dem Haarfärbe-Trend gefolgt, den Marybell so tatkräftig unterstützte. Mit ihren Haaren war sie aktuell das beste Aushängeschild für den Friseursalon, in dem sie ihre Ausbildung machte. Ihre Chefin wusste ja nicht, dass Marybell schon immer verrückt nach Einhörnern gewesen war, die schon vor Jahren überall mit Regenbogen-Mähne abgebildet worden waren. Wäre es nach meiner besten Freundin gegangen, hätte sie sich die blonden Haare schon als Kind knallbunt gefärbt.

Der Mann starrte mich derweil unverhohlen an, als hätte er soeben einen Riesenpickel auf meiner Nase entdeckt.

»Nein! Und jetzt zieh ab«, antwortete Brian für mich. Empört sah ich Marybells neueste Errungenschaft an. Warum mischte sich der Typ einfach ein? Seit wir uns bei Marybell getroffen hatten, ging er mir mit seiner angeberischen Art auf die Nerven. Wieso suchte sich Marybell nur immer so merkwürdige Typen aus?

»Ich rauche nicht«, sprach ich nun selbst für mich und lächelte dem Mann entschuldigend zu. Mittlerweile war die Schlange ein wenig geschrumpft, sodass ich bereits den Türsteher sehen konnte. Ein hagerer, glatzköpfiger Kerl mit grimmiger Miene.

»Warum dauert das so lange?« Marybell blickte mich über ihre Schulter hinweg an und schnaubte genervt.

»Woher soll ich das wissen?«, gab ich zurück. »Vielleicht wurden mehr Karten verkauft, als Leute in der Halle Platz haben?« Ich versuchte, nicht so zu klingen, als hoffte ich darauf.

»Das wär ja noch schöner!« Marybell warf ihrem Begleiter einen auffordernden Blick zu, als warte sie auf Unterstützung. Brian reagierte nicht.

»Ach, halb so schlimm«, warf ich schnell ein. »Dann gehen wir halt woanders hin. Ich hätte auf jeden Fall nichts dagegen.«

»Ich kack gleich ab!« Marybell sah aus, als wäre sie kurz davor ein Demo-Schild zu basteln oder in den Sitzstreik zu treten. »Und ob wir da reingehen. Wir haben schließlich für die Karten bezahlt.«

»Genau genommen hat Brian die Karten geholt. Ist doch so, Brian, oder?«

Brian ließ lediglich ein Brummen hören. Ich hatte den Eindruck, dass auch er nicht besonders versessen darauf war, auf dieses Konzert zu gehen. Ich kannte ihn jedoch nicht gut genug, um abschätzen zu können, ob seine Gleichgültigkeit Teil seines Charakters war. Seit wir uns bei Marybell getroffen hatten, hatte er kaum mehr als drei Worte mit mir gesprochen.

Endlich waren wir an der Reihe. Marybell hielt dem Türsteher die Karten unter die Nase und wollte schon weitergehen, als dieser sie zurückhielt. »Was soll das sein?«

»Wie sieht es denn aus? Das sind unsere Eintrittskarten!«

»Püppchen, das sind Fälschungen. Und nicht einmal gute. Sieht doch jeder! Macht, dass ihr verschwindet.« Der Türsteher schob Marybell, Brian und mich beiseite, um für die nachfolgenden Besucher Platz zu machen.

»Na toll!« Wütend drückte Marybell Brian die gefälschten Tickets in die Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo hast du die denn her?«

Brian zuckte die Schultern und betrachtete die Karten erstaunt.

»Du musst doch wissen, wo du sie her hast!«

»Sie waren ein Geschenk«, gab er mit leiser Stimme an.

»Ein Geschenk! Aha. Und von wem?«

Brian war nicht unbedingt mein Fall, aber jetzt tat er mir fast schon leid. Erst recht, als Marybell mich an der Hand wegzog und ihn einfach stehen ließ, nachdem er ihr zum wiederholten Mal mit einem Schulterzucken geantwortet hatte. Vom Angeber war nicht mehr viel übrig geblieben. Offensichtlich war er von den gefälschten Karten genauso überrascht wie wir.

»Das war nicht besonders nett«, kommentierte ich unseren Abgang.

»Stimmt. Aber was war das auch bitte für ’ne Aktion? Gefälschte Karten! Und dann sagt er noch nicht mal was dazu. Das war wohl mal wieder ein Griff ins Klo.« Sie schnaubte und zog mich zu sich heran. »Folgt er uns etwa? Schau mal unauffällig nach.«

Ich spähte vorsichtig über meine Schulter und sah, dass Brian noch genau da stand, wo wir ihn verlassen hatten. »Nein. Sollte er?«

»Bloß nicht! Gefälschte Karten. – Das ist doch echt das Letzte!« Marybell kriegte sich gar nicht mehr ein, während ich versuchte meine Erleichterung nicht zu offensichtlich zu zeigen.

Wir stoppten am hohen Maschendrahtzaun, der die Glasfabrik, in der das Konzert stattfinden sollte, von einer alten Weberei trennte.

»Ich dachte, du magst ihn.«

Sie wühlte in ihrer Jackentasche und holte ihre knallpinke E-Zigarette hervor. »Ja, das dachte ich auch kurz. Aber mal ehrlich, der Typ ist so einfühlsam wie ein Maulesel. Und scheinbar auch ähnlich intelligent.«

Dem konnte ich nichts hinzufügen. Ich wusste ja, wie gern Marybell redete. Gegensätze sollen sich ja bekanntlich anziehen, aber ein zu ruhiger Mann würde neben ihr schlichtweg untergehen. Nein, Brian war definitiv nichts für sie, so viel stand fest. Das sah Marybell nun offenbar genauso. Angespannt inhalierte sie tief und pustete daraufhin eine Rauchwolke in die Luft, die im matten Licht der Straßenlaternen pink schimmerte.

»Was mache ich nur verkehrt?« Kopfschüttelnd schaute sie in Richtung des Türstehers, der gerade die letzten Konzertbesucher einließ. Von Brian war keine Spur mehr zu sehen. »Irgendwie gerate ich immer an solche Typen.«

Mir stieg ein intensiv künstlicher Geruch in die Nase und ich musste husten. »Sei froh, dass du es so schnell gemerkt hast.«

Sie zuckte eine Achsel. »Kann sein.«

»Du solltest auf jemanden warten, der dir ähnlich ist. Jemand Besonderen.«

»Und wann kommt Mister Glänzende-Rüstung endlich auf seinem Schimmel angeritten?«

Ich wedelte mit einer Hand die Zigarettenrauchwolke aus meinem Gesichtsfeld. »Vielleicht, wenn du aufhörst, dir dieses Zeug reinzuziehen.«

Marybell blickte verwirrt auf ihre elektrische Zigarette. »Sehr witzig!« Trotzdem schaltete sie das Ding aus und vergrub es wieder in ihrer Tasche.

»Was ist das überhaupt wieder für eine widerliche Geschmacksrichtung?«

»Himbeer-Vanille.«

Ich hob die Brauen. Der Platz, der kurz zuvor noch brechend voll gewesen war, lag nun menschenleer vor uns. Mittlerweile war auch die Sonne hinter einer der Lagerhallen verschwunden und im Innern der alten Glasfabrik begann die Band zu spielen. Heavy Metal. Eine schrille Stimme tönte zu harter Gitarrenmusik aus den Boxen. Für mich war es kein Problem, dass ich die Band nicht aus nächster Nähe erleben konnte, doch ich sah Marybell die Enttäuschung an. Sie zwirbelte an ihrem Nasenpiercing und stierte vor sich hin, so wie sie es immer tat, wenn sie richtig deprimiert war.

Wie aus dem Nichts trat jemand an uns heran. Als das Licht der Straßenlaternen sein Gesicht traf, erkannte ich den jungen Mann mit den grau-weißen Haaren, der mich zuvor nach Feuer gefragt hatte.

»Ihr seid nicht reingekommen, was?«

Gleichzeitig schüttelten Marybell und ich den Kopf.

»Das ist Mist!«

»Und du?«, fragte Marybell forsch, während sie einen Schritt auf ihn zutrat und ihm ihr charmantestes Lächeln präsentierte.

»Ich komme überall rein, wenn ich will.« Er bedachte mich mit einem durchdringenden Blick, bei dem es mir eiskalt den Rücken runterlief.

Ich musste zugeben, dass er ziemlich gut aussah, doch die Art und Weise mit der er mich anschaute, löste bei mir Unbehagen aus. Und das, obwohl ich es gewohnt war, dass mich die Leute anstarrten. Aber dieser beinahe glühende Blick war anders. Er wanderte nicht über meine leuchtend weißen Haare. Bestimmt dachte er, die Farbe käme aus der Tube, so wie bei seinen eigenen Haaren.

Seit ich klein war, hatten mich die Menschen wegen meiner zierlichen Statur, der hellen, fast weißen Haare, meinen leuchtend blauen Augen und der blassen Haut kritisch betrachtet. Auf einige hatte ich befremdlich gewirkt, auf andere außergewöhnlich. Ich hatte Begriffe gehört, wie umwerfend schön oder atemberaubend, genauso wie widernatürlich und sonderbar. Sie alle hatten eins gemein: Sie verunsicherten mich. Ich wusste weder etwas mit ihnen, noch mit den mitunter extremen Reaktionen anzufangen, die ich auslöste.

Und es hatte Tage in meinem Leben gegeben, an denen ich mich am liebsten vor der Welt versteckt hätte. Manchmal wollte ich einfach sein wie alle anderen. Nicht hervorstechen, nicht auffallen. Einfach jemand unter vielen sein. Trotzdem hatte ich noch nie ernsthaft in Erwägung gezogen, mir meine Haare zu färben, denn irgendwie gehörten sie zu mir.

»Du kommst also überall rein, ja? Na, das ist ja interessant!« Marybell störte sich offensichtlich nicht daran, dass es der Fremde mit den grauen Augen auf mich abgesehen hatte, und machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ohne den Blick von mir zu lösen, nickte er. Ich wich dem Blick aus, suchte nach etwas in der Umgebung, auf das ich mein Augenmerk richten konnte.

»Heißt das, du kannst uns da rein bringen?« Marybell deutete mit dem Daumen hinter sich auf die Halle, in der gerade das Konzert stattfand.

»Kein Problem.« Unsere neue Bekanntschaft grinste verschwörerisch.

»Cool!« Marybell hüpfte freudig von einem auf das andere Bein, dann hakte sie sich bei mir unter.

»Ich kenne einen geheimen Eingang. Aber dazu müssen wir zuerst auf die andere Zaunseite. Mir nach.« Er ging voran und deutete uns mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen.

»Ist das genial, oder was? Wie aufregend!« Marybell kicherte.

»Sollen wir das wirklich machen?« Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, gab aber nach, als Marybell mich weiterzog.

»Na klar. Was soll schon passieren?«

Der Mann verschwand durch ein schmales Loch im Zaun. Marybell kletterte nach ihm hindurch. Ich zögerte.

»Komm schon!« Sie winkte mich zu sich. »Wovor hast du Angst?«

Ich warf einen Blick durch die Maschen des Zauns hinüber auf die andere Seite. Die alte Weberei lag auf einem düsteren, brachliegenden Gelände. Genau der richtige Ort, um zwei Frauen zu überfallen - oder Schlimmeres.

»Na ja, lass mich kurz überlegen«, meinte ich mit gesenkter Stimme. »Wir kennen diesen Typen überhaupt nicht. Könnte doch sein, dass er uns da drüben ausraubt.« In meiner Vorstellung kamen noch viel grausamere Dinge infrage, die ich jedoch nicht aussprechen wollte.

»So ein Unsinn!« Marybell zupfte an den Spitzen ihrer kinnlangen Haare. »Was du nur immer denkst.«

»Wäre doch möglich«, murmelte ich, weiterhin besorgt.

»Wenn er uns wirklich ausrauben will, zieh ich ihm mit meiner Handtasche eins über. Versprochen!«

Marybells Tonfall hörte ich an, dass sie sich ohnehin nicht vom Gegenteil überzeugen lassen würde.

»Also gut.« Immer noch skeptisch kämpfte ich mich durch das Loch. Drüben angekommen spähte ich an Marybell vorbei zu dem jungen Mann, der sich gegen ein Schild lehnte. »Wie war noch mal sein Name?«, fragte ich Marybell leise.

In mir wehrte sich alles dagegen, ihm weiter zu folgen. Entweder, weil ich kein Fan der Black Fires war, oder weil ich von Natur aus eine gewisse Vorsicht gegenüber dunklen, einsamen Orten im Zusammenhang mit Fremden hegte.

Marybell blickte kurz zu dem jungen Mann, dann wandte sie sich wieder zu mir. »Keine Ahnung.«

»Du willst doch nicht wirklich mit jemandem mitgehen, dessen Namen du noch nicht mal kennst!«

»Das können wir ändern!« Marybell drehte sich zu dem Unbekannten herum, der geduldig vor einer Graffiti besprühten Wand auf uns wartete. Über ihm, auf dem Dach der leerstehenden Weberei, stand die meterhohe Aufschrift Lavendar’s. Als ich noch klein war hatte sie geleuchtet, heute war sie nur noch ein blasser Zeuge des irischen Wirtschaftswunders. »Hey, du!«, rief sie.

Er schaute auf.

»Wie heißt du?«

»Gerrit.«

Sie zwinkerte mir zu. »Und schon ist er weniger fremd.« Dann zog sie mich zu ihm hinüber. »Gerrit? Cooler Name! Ich bin Marybell und meine blasse Freundin hier heißt Tara.« Im fahlen Licht sah ich, dass er uns zunickte.

»Und?« Marybell stupste mich an. »Fühlst du dich jetzt besser?«

Ganz ehrlich? Nein! Ich sagte jedoch nichts und Marybell nahm mich an die Hand.

»Es wird schon nichts passieren. Wie denn auch, ich bin ja bei dir!«, flüsterte sie mir ins Ohr und stieß mich sanft an.

Ich schickte meinen Blick in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und sehnte mich schon jetzt danach, wieder zurück durch das Loch im Zaun zu schlüpfen. Es war, als würde er das Gelände spalten. Die Dunkelheit schien auf mich zu lauern wie ein Löwe auf seine Beute. Eins war klar, Marybell würde sich nicht davon abhalten lassen, Gerrit zu folgen. Sie mit ihm alleine zu lassen, kam nicht in Frage. Also gab ich nach und ließ mich von ihr über den gespenstischen Platz führen.

Der Wind frischte auf. Er wirbelte mir das Haar um die Schultern. Unter seiner kühlen Berührung zuckte ich zusammen. Es war, als wäre sie nicht das Resultat eines harmlosen Wetterumschwungs, sondern käme von einem unsichtbaren Angreifer, in dessen Netz ich mich soeben bereitwillig begeben hatte.

Vor uns zeigte sich eine schmale Gasse, geschaffen von den dicht gegenüberstehenden Hallenwänden, durch die ein normalgroßer Mensch gerade so passte. Bestimmt das finsterste Fleckchen auf dem gesamten Gelände. Mir stellten sich die feinen Armhaare auf, als mir klar wurde, dass wir direkt darauf zugingen. Auch Marybell hielt einen kurzen Moment inne.

»Kommt ihr?« Gerrit, der schon in der Gasse verschwunden war, trat aus dem Schatten.

»Klar doch!« Marybell strahlte ihn an, als hätte sie ihn nicht eben erst kennengelernt. Flott setzte sie sich in Bewegung. Bevor sie ihm in die Gasse folgte, schaute sie mich über ihre Schulter hinweg an. »Und? Kommst du jetzt mit, oder was?«

Ich nahm einen tiefen Atemzug, warf einen letzten Blick hinter mich, sagte aber nichts mehr, sondern zwang mich, mein Unbehagen hinunterzuschlucken. Immerhin war das der letzte Auftritt der Black Fires in Dublin und Marybell wollte sie unbedingt sehen. Also Augen zu und durch. Gemeinsam tauchten wir in die Dunkelheit und ich begann, leicht zu zittern.

Mein Herzschlag ging so schnell, dass er mir in den Ohren dröhnte. Ich stolperte, aber Marybell hielt mich und verhinderte so, dass ich auf dem Boden landete. »Pass auf«, mahnte sie mütterlich. Ich dachte nicht darüber nach, dass sie mich im stockfinsteren Gang nicht sehen konnte und nickte. Die Gefühle, die dieser Ort in mir wachrief, erstickten meine Stimme. Hier war es so bedrückend eng, dass es mich an einen Kerker erinnerte.

Ohne Vorwarnung fühlte ich mich in einen meiner Albträume katapultiert, in denen ich durch eine Festung floh, gejagt von der Dunkelheit, getrieben von dem Wunsch zu überleben, von der Hoffnung auf eine sichere Zukunft.

Aber das hier war kein Traum, was vor allem der dumpfe Schmerz verdeutlichte, den ich spürte, jedes Mal, wenn ich rechts oder links gegen die Außenwände der Hallen stieß. Sie waren kalt und feucht. Wasser tropfte von oben an ihnen hinunter. Es sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem Pflaster, durch die wir unfreiwillig wateten. Meine halbhohen Stiefeletten hatten sich nach kurzer Zeit vollgesogen, sodass ich mit jedem meiner Schritte quietschte wie eine Badeente. Ganz großartig.

»Da wären wir!«, verriet Gerrit schließlich. Wir hatten die Gasse fast bis zum Ende passiert. Endlich drang das Abendlicht wieder zu uns vor.

»Da hoch?«, krächzte ich und sah die an der Wand befestigte Leiter hinauf, vor der Gerrit wartete. Sie reichte bis aufs Dach der Halle.

»Genau!«, entgegnete er unerschrocken und erklomm auch schon die ersten Sprossen.

Marybell und ich tauschten kurz unschlüssige Blicke.

»Das sind locker zwanzig Meter«, schätzte ich.

»Eher etwas mehr.« Marybell biss sich nachdenklich auf ihre Unterlippe.

»Du willst jetzt aber nicht da raufgehen?« Ich betrachtete sie flehend, in der Hoffnung sie würde endlich einsehen, dass wir endgültig den Rückweg antreten sollten. Wir hatten hier nichts verloren!

Doch Marybell zuckte lediglich mit den Schultern. Wild entschlossen griff sie nach dem Geländer und zog sich hoch.

»Was ist das überhaupt für eine Leiter?« Das Gestell sah wackelig aus und ich hatte entschiedene Zweifel, ob es unser Gewicht tragen würde.

»Bestimmt eine Feuerleiter.« Hochkonzentriert nahm Marybell jede Stufe seitlich, um ein Verkeilen ihrer Pfennigabsätze in den Stahlrinnen zu umgehen.

»Keine Sorge, sie hält. Ich bin schon oft genug hier hochgeklettert«, rief Gerrit, der inzwischen auf dem Dach angekommen war und den Kopf über die Kante reckte. Oben reichte er Marybell die Hand, damit sie unbeschadet zu ihm übersetzen konnte.

»Na dann«, brummte ich, ergab mich meinem Schicksal und krallte mich am Geländer fest. Auf keinen Fall würde ich sie mit diesem Kerl da oben alleine lassen. Also blieb mir keine Wahl. Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen und bemühte mich hinaufzuschauen, dorthin, wo meine Freundin mit Gerrit wartete.

Während ich hochkletterte, verselbstständigten sich meine Gedanken. Ich fragte mich, wie es dazu hatte kommen können, dass ich einem Wildfremden gefolgt war. Das stand in einem krassen Gegensatz zu sämtlichen Vorsätzen, die ich hatte. Jetzt sah ich mich einer Schocktherapie ausgeliefert. Seit meiner Kindheit bereiteten mir zwei Dinge Probleme. Neben der Dunkelheit hatte ich Schwierigkeiten mit Höhen. Nun wurde ich in nur einer Nacht mit beidem konfrontiert. Mein Puls raste. Jetzt nur nicht runterschauen, bekämpfte ich den ersten Impuls.

»Sie ist eher der ängstliche Typ«, hörte ich Marybell sagen, woraufhin Gerrit ein deutliches »Mhm« entfuhr.

»Ängstlich«, wiederholte ich Marybells Beschreibung so leise, dass nur ich es hörte. »Vorsichtig, umsichtig, vernünftig trifft es wohl eher.«

Auf einmal nahm ich Schritte unter mir wahr, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. Ich warf einen entsetzten Blick zurück und sah, wie sich uns ein furchteinflößender Schatten näherte. In einem Anfall von Panik wand ich mich die Treppe schneller empor, klammerte mich dabei so fest an das kalte Metall, dass ich das Gefühl hatte, meine Hände würden sich nie mehr von diesen rostigen Eisenstäben lösen lassen. Auf dem leicht abfallenden Blechdach angekommen, schlug mein Herz wie verrückt. Ich fasste mir an die Brust und spürte meinen galoppierenden Puls. Marybell grinste zufrieden. »Siehst du, war doch gar nicht so schlimm.«

»Schlimm genug«, murmelte ich, nachdem ich wieder zu Atem gekommen war. Vorsichtig spähte ich über den Rand des Daches und hielt nach dem Schatten Ausschau. Dort, wo die Gasse aufhörte, dachte ich, ein großes Tier zu erkennen, das an den gegenüberliegenden Mauern vorbeischlich. »Was ist das?«

»Was denn?«, fragte Marybell und kam zu mir, doch der Schatten war schon verschwunden.

Gerrit sah ebenfalls über den Rand des Blechdachs, das durch den harten Bass in der Halle unter uns leicht vibrierte. »Sicher nur ein streunender Hund.«

»Muss ja riesig sein!«, raunte ich kleinlaut. Für mich hatte das Tier eher die Größe eines Ponys gehabt. Ich schluckte schwerfällig, wandte mich Marybell zu und stutzte. Erleichtert darüber, dem unheimlichen Schatten entkommen zu sein, nahm ich die Höhe nun relativ abgeklärt hin. »Also. Jetzt sind wir oben. Was kommt als Nächstes?« Gerrit hatte wieder die Führung übernommen. Er steuerte direkt auf ein Dachfenster neben dem Schornstein zu. Fahler Lichtschein drang heraus. Marybell und ich sahen einander verdutzt an.

»Was, wenn uns die Polizei erwischt?«, fragte ich. Marybell hob kurz die Schultern. »Wir müssen uns einfach beeilen. Das merkt garantiert niemand.«

Ich dachte nur ungern daran, wie es meine Eltern aufnehmen würden, wenn sie nach ihrem Wochenende im idyllischen Glenveagh erfuhren, dass mich eine Polizeistreife nach Hause begleitet hatte.

Meine Freundschaft zu Marybell hatte mich schon in so manche Schwierigkeiten gebracht. Andererseits hatte sie meinem sonst eher farblosen Leben, in dem ich ständig das Gefühl hatte, etwas zu vermissen, ohne zu wissen, was es war, auch das eine oder andere Abenteuer verschafft. Ich zwang mich zur Gelassenheit, was mir angesichts unseres Vorhabens nicht unbedingt leichtfiel.

»Wirst schon sehen«, versprach sie. »In Nullkommanix sind wir drin und dann wird Party gemacht, bis die Sonne aufgeht.«

Gerrit war mittlerweile am Fenster angekommen und zog ein Taschenmesser hervor. Gekonnt hebelte er damit das Fenster auf. Verblüfft sah ich Marybell an, die mindestens genauso erstaunt war. »Das macht der nicht zum ersten Mal!«

»Worauf du einen lassen kannst!« Sie seufzte angetan. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, was das bedeutete. Ihr verklärter Gesichtsausdruck sprach Bände. Bestimmt war ihr Verstand längst fernab von möglichen Gefahren. Der mysteriöse Gerrit fiel genau in ihr Beuteschema.

»Was für ein Typ!« Als wir ebenfalls zu dem Dachfenster gingen, lächelte Marybell verzückt.