cover

Julia E. Dietz

Glitzernde Nächte

Image - img_02000001.jpg

 

 

 

 

Tobias

Wie in der Luft schweben. Dieses Gefühl, wenn man verliebt ist. Wie ertrinken, wenn dir das Herz gebrochen wird. Ein ätzendes Gefühl. Lässt sich nur mit viel Alkohol ertragen. Mir wurde das Herz gebrochen. Am letzten Wochenende vor dem Schulbeginn. Meinem letzten Schuljahr. Von meinem ersten Freund. Er hieß Tobias und war 19. Er hatte sich auf so einen Typen eingelassen, weil es ihm bei mir wohl nicht schnell genug ging. Dabei war ich der erste Junge, mit dem er rumgemacht hatte. Vorher war er hetero. Zumindest hatte er sich das eingeredet und dann traf er mich. Timo, 17 Jahre alt, schwul. Schon immer. Auch wenn ich mir das lange nicht eingestehen wollte. Tobias war nicht der erste Junge, aber der erste mit dem ich zusammen war. Ich war richtig verknallt. Drei Monate. Und dann zerplatzte die Seifenblase. Ich war einer von diesen Jungs, die an die Liebe glaubten. Davon gab es ja nicht so viele. Ich hätte es einfach wie mein bester Freund Sebastian machen sollen. Er glaubte nicht an die Liebe. Sebastian sagte immer, Mädchen stehen auf Arschlöcher. Und irgendwie hatte er auch recht. Er konnte sie noch so mies behandeln, sie wollten trotzdem mit ihm schlafen. Er war mein einziger Freund. Tobias hatte per Telefon mit mir Schluss gemacht. Wahrscheinlich hätte er sich gar nicht mehr gemeldet, wenn ich ihn nicht angerufen hätte. Er brauchte seine Freiheit, versuchte er mir zu erklären. Und nur, weil er diesen Typen kennengelernt hatte. Ich fühlte mich leer. Liebe - was für ein beschissenes Gefühl.

 

Sebastian und ich lagen auf dem angewärmten Teerdeich an der Nordsee. Der Wind wehte hier etwas stärker als in der Kleinstadt, in der wir wohnten, aber es war ein warmer angenehmer Wind. Die Sonne stand noch hoch über dem Meer und das Wasser schwappte gleichmäßig gegen die Buhnen. Wir hatten zwei Flaschen Bier dabei, genau das richtige bei Kater und prosteten uns zu. Die Möwen kreischten laut, wenn ein Kutter durch die Schleuse fuhr und umkreisten ihn, immer in der Hoffnung, etwas vom Fang abzubekommen. Ich habe das Meer immer geliebt. Es ist so weitläufig und grenzenlos. Wie lange man wohl schwimmen müsste bis man ans nächste Festland kam? Für einen kurzen Moment überlegte ich einfach loszurennen zum Wasser hin, einzutauchen und nie wieder zu kommen. Ob ich jemals hier wegkommen würde? Sebastian lag neben mir und hatte die Augen geschlossen. Ich beobachtete ihn einen Moment. Er sah gut aus und er wusste das. Ich fand mich eher so mittelmäßig.

Gestern Abend waren Sebastian und ich in unserer Stammdisko. Clubs, so wie in der Großstadt, gab es hier nicht. Hier gab es nur Diskotheken mit dem Charme einer dieser Hitparaden-Sendungen aus den Siebzigern oder superfuturistisch mit Lasershow und Nebelkanone. Basti war der beste Weggefährte, den ich mir zu dem Zeitpunkt vorstellen konnte. Wir hatten den ganzen Abend getanzt und gesoffen, bis ich Tobias vergessen hatte und irgendwann kotzen musste. Dann kam der Filmriss und die Party war vorbei. Und jetzt lagen wir hier in der Sonne am Meer, an diesem Spätsommernachmittag, und ich wünschte mir, dass die Zeit stehen blieb, zumindest für eine Minute, dass morgen nicht der erste Schultag war und Tobias sich aus meinen Gedanken verpisste.

 

Als ich am nächsten Morgen mit meinen Eltern am Küchentisch saß, fühlte ich mich unfähig, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Scheiß Liebeskummer.

„Hast du schlecht geschlafen, mein Schatz?“, fragte meine Mutter. Ich nickte nur und schwieg. „Du solltest zumindest ein bisschen was essen“, schob sie hinterher. Aber ich hatte keinen Hunger und schüttelte den Kopf. Meine Mutter war eine von diesen Hausfrauen, die nicht arbeiten mussten, weil ihre Männer so viel Geld verdienten, dass sie nicht wussten, wohin damit. Sie putzte den ganzen Tag die Wohnung, wenn ihr langweilig war oder sah sich diese schrecklichen Doku-Soaps im Fernsehen an. Oder sie ging zum Golfen mit anderen gelangweilten Hausfrauen. Ich war nur einmal mit ihr auf dem Golfplatz und fand es furchtbar. Meine Mutter gackerte mit den anderen Frauen um die Wette und flirtete mit ihrem Golflehrer. Mein Vater las in seiner Zeitung. Er war Chefarzt der Chirurgie im Krankenhaus. Als ich noch kleiner war, habe ich ihn kaum gesehen, weil er die ganze Zeit gearbeitet hat. Nun war er öfters zu hause, zumindest am Wochenende und ging dann mit meiner Mutter Golfen oder Tennis spielen. Ich fühlte mich wie das Krebsgeschwür in dieser Familie. Der schwule Sohn, der gerne Schwänze lutschte. Meine Mutter wusste es. Sie hatte mich und Tobias überrascht. Ich traute mich danach eine Woche lang nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie wollte es nie wahrhaben, auch jetzt nicht. Mein Vater wusste es nicht. Ich habe mich bisher nie getraut, es ihm zu sagen. Und ich war mir sicher, dass meine Mutter das Thema noch nie bei ihm angesprochen hatte. Es machte mir nicht gerade Mut, mich zu öffnen.

 

Ich hatte verdammt schlechte Laune, als ich beim Schulgebäude ankam, und sah Sebastian schon von weitem vor der Eingangstür zur Pausenhalle. Missmutig schlurfte ich auf ihn zu. Wozu sollte ich überhaupt heute zur Schule gehen? Erster Tag nach den Ferien im neuen Schuljahr und es hätte nicht schlimmer beginnen können. Sebastian erwartete mich im Eingangsbereich.

„Hi, wie geht’s?“, fragte er mich eher obligatorisch. An meinen Augenrändern erkannte er, wie mies es mir ging.

„Schlecht! Ich habe keine Sekunde geschlafen“, murmelte ich.

„Ich habe gehört, wir bekommen einen Neuen.“

„Aha“, sagte ich gelangweilt. „Ich glaube von heute an auch nur noch ans Ficken. Scheiß auf Liebe!“

Sebastian rollte mit den Augen. „Glaubst du etwa immer noch daran? Timo, Liebe ist ... aua!“

Ich knuffte ihn hart in die Seite. „Halt einfach die Klappe!“

Die erste Stunde war Mathe und ich hatte keine Lust darauf. Ich hasste Mathe. Das würde ich später eh nicht brauchen. Wofür sollte ich es dann lernen? Müde und traurig legte ich den Kopf auf meine Arme auf den Tisch, zog meine schwarze Mütze, die ich eigentlich so gut wie immer trug, über die Ohren und verfluchte die anderen um mich herum, dass sie so einen Lärm machten. Wäre ich doch bloß einfach zuhause geblieben, in meinem Bett, für den Rest meines Lebens. Eigentlich wollte ich gar nicht hinhören, aber die Mädchen hinter mir tuschelten so laut, dass ich nicht weghören konnte. Der Neue war wohl im Anmarsch. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Noch jemand, der sich gegen mich verschwören und mir das Leben schwermachen könnte. Darauf konnte ich im Moment echt verzichten. Hoffentlich setzte er sich nicht neben mich. Neben mir wollte sonst auch niemand sitzen. Die Mädchen unterhielten sich völlig aufgeregt über sein Aussehen. Ein bisschen neugierig war ich ja schon. Ich drehte meinen Kopf so, dass ich mit den Augen Richtung Tür sehen konnte. Da stand er und wirkte so, als würde er gar nicht hierher passen. So anders als die anderen. Er war dünn. Seine Haare waren blond und kurz. Er hatte eine dunkle schmale Jeans an und trug ein weißes Shirt mit Streifen, das ihm zwei Nummern zu groß war. Der war ganz sicher ‘ne Hete. Der Neue sah zum freien Platz neben mir und dann zu mir. Seine Augen waren eisblau. Das fiel mir sofort auf. Er musterte mich kurz und ging dann an den anderen vorbei. Ich sah ihn nicht weiter an, schaute sogar bewusst in eine andere Richtung.

„Ist hier noch frei?“, fragte er mit angenehm kratziger Stimme. Ich sah flüchtig zu ihm. Sein Gesicht war sehr hübsch und sein Kinn zierten ein paar Bartstoppeln. Ich nickte nur kurz und sah dann alibihalber auf mein aufgeschlagenes Heft. Er legte seine Tasche ab und setzte sich neben mich.

„Ich bin Lennart“, begrüßte er mich kurz.

„Timo“, gab ich mürrisch zurück. Dann kam unser Lehrer, Herr Lorenz, herein und es wurde ruhiger. Er wünschte uns einen guten Morgen. Ich fragte mich immer, wie es für einen Lehrer sein musste, die erste Stunde am Montagmorgen zu unterrichten. Die Stunde, auf die niemand Bock hatte, vor allem nicht die Schüler. Herr Lorenz genoss es wahrscheinlich so richtig. Er konnte ein echter Sadist sein. Wenn irgendjemand die Aufgabe nicht lösen konnte, bohrte er noch zwei- und dreimal in die Wunde. Bei mir bohrte er besonders gerne. Wie ein Zahnarzt, nur ohne dieses schrecklich quietschende Geräusch vom Bohrer. Obwohl seine Stimme dem schon sehr nahekam.

„Wie ihr sicherlich mitbekommen habt, haben wir einen neuen Schüler. Er heißt Lennart Radowitz. Lennart, vielleicht kannst du kurz etwas über dich erzählen?“, startete Herr Lorenz die Vorstellung. „Und Timo, du kannst jetzt auch gerne deine Mütze abnehmen. Wir haben Sommer“, beendete er sie. Alle kicherten, bis auf den Neuen, während ich die Augen rollte und die Mütze widerwillig vom Kopf zog.

„Ich bin 18 Jahre alt, komme aus Berlin und werde bis zum Abi hierbleiben“, sagte Lennart. Sein Blick schweifte durch den Raum, blieb an einigen Mitschülern hängen. Dann traf sein Blick wieder mich. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Wenigstens lenkte mich seine Anwesenheit für einen Moment von Tobias ab.

Die Stunde schleppte sich voran. Mein Ex war in meinem Kopf und ich konnte mich nicht wirklich konzentrieren. Der Neue neben mir machte es nicht besser. Seine Anwesenheit nahm den ganzen Tisch ein. Er hatte eine wahnsinnige Ausstrahlung. Ich sagte kein Wort zu ihm. Schon kurz bevor die Stunde zu Ende war, holte er seinen Tabak aus der Hosentasche und drehte sich eine Zigarette. Es klingelte, als er gerade mit seiner Zunge über das Paper strich. Raucher zogen andere Raucher an. Florian Hagemann kam an unseren Tisch. Sein abwertender Blick traf mich von der Seite, als ich gerade meine Sachen zusammenpackte. Florian war bereits 18 Jahre alt und hatte einen Führerschein. Er hatte dunkelblondes Haar, das er sich immer wie eine Tolle nach hinten kämmte und trug immer die neusten und angesagtesten Klamotten. Er nahm den Neuen im Schlepptau zur Raucherecke mit. Wenn ich einen Feind haben sollte, dann war es wahrscheinlich Florian Hagemann. Niemand konnte mich weniger leiden als er, aber das Thema hatte ich für mich bereits abgeschlossen. In der großen Pause verzog ich mich an die Aschebahn. Hier hatte ich meine Ruhe. Außer mir war nur ein einzelner Jogger, ein älterer Mann, anwesend, der hier täglich seine Runden lief. Ich folgte ihm mit meinen Augen und es wirkte fast meditativ, wie er sich langsam und gleichmäßig vorwärts bewegte. Ich überlegte kurz, auch einfach loszulaufen, ließ es dann aber doch bleiben, um nicht zu verschwitzt in die nächste Stunde zu gehen. Obwohl mir sehr danach war wegzulaufen. Die einzige Stunde, auf die ich mich heute freute, war Sport. Immerhin etwas, das ich wirklich gut konnte. Und heute stand auch noch Basketball auf dem Stundenplan. Mein Lieblingssport. Das erste Mal am heutigen Tag, dass ich wirklich gute Laune hatte. Ich war der erste in der Halle, noch vor Sebastian und schnappte mir gleich einen Ball, machte Tricks, dribbelte und warf den Ball vom Mittelstreifen aus in den Korb. Ich hörte schlagartig auf, als die ersten Mitschüler nach mir in die Halle kamen. Es war mir unangenehm, wenn sie mir zusahen. Sebastian kam herüber und wir warfen uns den Ball hin und her.

„Wir wärmen uns erst in zweier Gruppen auf, danach spielen wir noch ein Spiel. Und Timo, gib den anderen wenigsten einmal die Chance den Ball zu bekommen, ok?“

Ich versuchte, den letzten Satz zu überhören, aber einige Schüler kicherten blöd bei der Bemerkung von unserem Sportlehrer, Herr Nielsen. Herr Nielsen war ein kleiner stämmiger Mann mit angegrautem Haar, der früher Zehnkampf betrieben hatte und dessen Muskeln sich im Laufe der Zeit in Fett umgewandelt hatten. Eigentlich mochte ich Herrn Nielsen, aber den Spruch hätte er sich sparen können. Wir liefen drei Runden zum Aufwärmen um die Halle. Danach teilte Herr Nielsen die Schüler in zweier Teams ein, um zu verhindern, dass sich immer die gleichen in Gruppen zusammenfanden. Er steckte mich und Lennart in ein Team. Der Blonde lächelte, kam auf mich zu und begrüßte mich kurz.

„Hi“, antwortete ich angebunden und würdigte ihn nur einen kurzen Blick.

„Der Ärmste!“, kommentierten einige andere.

Ich versuchte es zu ignorieren. Mit einer Kopfbewegung deutete ich Lennart an, mir zu folgen. Wir suchten uns einen freien Platz.

„Pass auf, dass er dich nicht mit dem Ball einen Kopf kürzer macht“, riefen ihm einige hinterher.

„Wo der Freak hinwirft, wächst kein Gras mehr“, brüllte Florian Hagemann lachend. Lennart konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, hörte aber sofort auf, als er meine versteinerte Miene sah. Wir sollten den Ball dem anderen zuspielen und ihn dabei einmal auf den Boden aufkommen lassen. Der andere sollte den Ball ohne auftippen zurückwerfen. Ich warf den Ball fest in Richtung Lennart und ließ ihn mittig auf den Boden tippen. Der hatte mit der Wucht des Balls nicht gerechnet und ließ ihn vor Schreck los. Der Ball kullerte durch die Halle.

„Ich hab’s ja gesagt!“, kommentierte Florian den Wurf.

„Konzentrier’ dich lieber auf deine Würfe, Hagemann!“, rief Herr Nielsen und Florian war sofort still.

Lennart hatte den Ball bereits geholt. „Du hast einen ziemlich harten Wurf“, sagte er und warf ihn zu mir zurück. Ich schwieg und ließ den Ball wieder mit voller Wucht auf dem Boden auftippen. Lennart fing ihn vor seinem Bauch und musste dabei hörbar ausatmen. Er versuchte ebenfalls härter zurückzuwerfen, doch ich fing ihn spielend leicht ab.

Als ich den dritten Ball so hart zu ihm warf, hatte er keine Lust mehr.

„Ich weiß nicht, warum du so aggressiv bist, aber ich hab dir nichts getan. Ich bin nicht derjenige, der blöde Sprüche reißt“, zischte er.

„Aber du hast gelacht!“, antwortete ich blitzschnell.

„Es tut mir leid, ok? Ich hab gelacht, weil der Spruch so dämlich war. Könnten wir jetzt bitte einfach spielen?“, antwortete er genervt.

Ich sah ihn abschätzend an. Dann warf ich den Ball nicht mehr so fest zu ihm.

Unter der Dusche stellte ich mich mit dem Gesicht Richtung Wand. Ich brauchte jetzt absolut keine nackten Penisse in meinem Blickfeld und schon gar nicht wollte ich diesen Lennart nackt sehen. Ich schloss die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken. Die Jungs grölten herum. Zum Glück hatten die meisten Angst vor mir. Ich war nicht gerade klein und auch nicht gerade schwach. Das hielt mir zumindest die Idioten vom Leib. Als ich kurz die Augen öffnete, um mir Duschgel auf die Hand zu geben, sah ich im Augenwinkel Lennart neben mir duschen. Ich konnte es mir dann doch nicht verkneifen einen kurzen Blick auf ihn zu werfen. Lennart war dünn, aber nicht dürr. Eher drahtig. Jedenfalls nicht so spackig wie einige der anderen Mitschüler. Das Wasser lief ihm aus den Haaren über sein Gesicht und tropfte von seinem Kinn hinunter. Mir fiel die Kurve an seinem Hals auf, wie sie auf seiner Schulter endete, wenn er den Kopf zur anderen Seite bog. Weiter hinunter sah ich lieber nicht. Ich schloss die Augen und versuchte wieder an etwas anderes zu denken. Verdammt, hätte ich bloß nicht geguckt.

Abends beim Basketball-Training versuchte ich alles zu geben, aber der Schlafentzug machte sich bemerkbar. Sebastian war fast genauso gut wie ich und nahm mir jeden Ball ab. Er veralberte mich, dass ich so verplant war und ich versuchte ihn zurück zu ärgern. Wenigstens lenkte es mich ab. Zuhause saß ich dann vor meinem Schreibtisch und tippelte mit dem Stift auf dem Papier herum. Ich dachte die ganze Zeit an Tobias und konnte mich nicht auf meine Hausaufgaben konzentrieren. Ich holte ein Foto von ihm hervor, aber sobald ich sein Gesicht darauf sah, zerknüllte ich es und warf es quer durch den Raum. Meine Augen wurden feucht. Er war so ein Mistkerl und verdiente es wirklich nicht, dass ich für ihn auch nur noch eine weitere Träne vergoss. Sie liefen trotzdem über meine Wangen. Dass Tobias mit einem anderen geschlafen und deshalb Schluss gemacht hatte, tat verdammt weh. Aber es war gar nicht mal die Tatsache, dass er jetzt nicht mehr da war. Es war viel mehr die Tatsache, dass er DAS mit jemand anderem als mir geteilt hatte. Warum ich mich damals in ihn verliebt hatte, erschien mir jetzt auf einmal so abwegig. In meinem Bett zog ich die Decke über mich und wollte die Nacht am liebsten überspringen. Ich würde eh nicht schlafen können. Liebe, was war das denn schon? Eine Kettenreaktion von Synapsen, weil man durch die Pheromone eines anderen Menschen angezogen wurde. Eigentlich total banal. Aber warum war es dann so verdammt kompliziert? Es war einer dieser Momente, in denen ich nichts mehr hasste, als dass ich schwul war. Warum ich? Warum konnte ich nicht auf Mädchen stehen, wie alle anderen Jungs auch? Es wäre alles so viel einfacher. Ich könnte mich in jedes Mädchen verlieben und wäre mir sicher, dass sie auf Jungs steht. Und anders herum? Wenn ich irgendeinem Jungen gestehen würde, dass ich ihn mag, würde ich wahrscheinlich eher verprügelt werden, als dass es ihm ähnlich gehen würde. Dass ich in diesem Kaff wohnte, machte es auch nicht besser. Von irgendwoher kam mir der Neue in meine Gedanken. Lennart, der Hipster aus Berlin. Ich hasste ihn jetzt schon. Dabei hatte er mir eigentlich gar nichts getan. Aber er hatte gelacht bei dem Kommentar von Florian Hagemann. Außerdem war ich neidisch, dass er neu in die Klasse kam und trotzdem sofort bei allen beliebt war. In all den Jahren hatte ich immer gekämpft, dass die anderen mich mochten, bis ich irgendwann aufgab und mich in meiner Scheiß-Egal Haltung einnistete. Ich schlief schlecht. Immer wieder wurde ich von meinen Träumen und Gedanken wachgehalten. Ich träumte von Tobias, wie er mit einem anderen rummachte. Und von Lennart. Ich wachte mitten in der Nacht völlig durchgeschwitzt auf. Dann konnte ich gar nicht mehr einschlafen, wälzte mich umher und blieb liegen bis mein Wecker klingelte.

 

Unser Haus lag nicht weit von der Schule entfernt, also fuhr ich wie jeden Morgen mit dem Fahrrad dorthin, schloss es am Fahrradständer an und lief über den Parkplatz zum Schulgebäude. Und wie jeden Morgen standen die Raucher am Rand des Parkplatzes, weil sie auf dem Schulgelände nicht rauchen durften und fixierten mich mit ihren Blicken, als ich an ihnen vorbeiging.

Dritte Stunde Geschichte. Und obwohl es schon nach zehn war, war ich immer noch so müde, dass ich dem Unterricht kaum folgen konnte. Der Lehrer redete vor der Klasse und kritzelte Wörter auf die Tafel. Mit dem Stift malte ich in meinem Block herum. Ich ließ meinen Blick durch die Klasse schweifen. Alle schrieben in ihre Hefte. Mein Blick wanderte unbewusst zum Neuen. Er saß mir fast gegenüber. Er schien zu merken, dass ich ihn ansah, denn er blickte von seiner Schreibunterlage auf und mir direkt in die Augen. Mein Herz rutschte in meine Hose. Er richtete sich leicht auf und ließ mich nicht aus seinen Augen. Ich konnte nicht wegsehen, aber ich wusste nicht warum. Als unser Geschichtslehrer mich aufrief, um eine Frage zu beantworten, wurde ich aus meiner Schockstarre gerissen. Ich konnte sie natürlich nicht beantworten und stammelte herum. Die anderen kicherten dämlich.

„Vielleicht solltest du dich lieber auf den Unterricht konzentrieren, als in die Luft zu gucken“, sagte er.

Mir stieg das Blut in den Kopf. Wie peinlich. Ich hoffte, die anderen hatten nicht mitbekommen, dass ich Lennart so angestarrt hatte. Ich sah wieder auf meinen Schreibblock. Mein Blick huschte noch mal kurz zu ihm herüber, aber der Neue folgte wieder dem Unterricht. Ich ärgerte mich über mich selbst, aber noch mehr ärgerte ich mich über Lennart. Als die Stunde zu Ende war, beeilte ich mich mit dem Einpacken meiner Sachen. Ich hatte keine Lust, dass mich einer der anderen noch darauf ansprach und versuchte, Blickkontakt mit allen zu vermeiden. Ich verließ als erster das Klassenzimmer und erschrak, als Lennart hinter mir herlief und mich bat, auf ihn zu warten. Ich hatte kein gutes Gefühl, aber es war keiner außer ihm in der Nähe.

„Ich wollte dich vorhin nicht ablenken“, sagte er entschuldigend. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Schon okay“, winkte ich ab, aber ganz tief in meinem Inneren, war ich sehr überrascht, dass er sich dafür extra beeilte, um mir hinterher zu kommen.

„Rauchst du?“, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Sorry wegen gestern. Ich mag’s nur nicht, wenn man über mich lacht“, entgegnete ich.

„Kann ich verstehen. Entschuldigung angenommen“, antwortete er und es klang ehrlich.

„Kommst du mit raus? Ich würde gerne eine rauchen.“ Er schien ungeduldig und holte bereits seinen Tabak aus der Tasche.

„Ich denke, ich bleibe drin.“ Ich hatte nicht wirklich Lust, mich zu den anderen Rauchern zu stellen.

„Okay, wir sehen uns.“ Lennart lächelte noch mal kurz und ging Richtung Ausgang. Er ließ mich perplex zurück. Den Rest des Tages beobachtete ich Lennart heimlich. Ich sah ihn mit Florian zusammen, wie sie zum Rauchen gingen, sich in der Pausenhalle unterhielten und lachten. Meine Gedanken kreisten um das Gespräch vor der Klasse. Ich konnte Lennart nicht einschätzen. Was er sich davon versprach, wie er tickte, ob ich ihm vertrauen konnte. Dass er mit Florian herumhing, machte es mir bei meiner Entscheidungsfindung nicht leichter. Es war nicht so, dass ich Florian schon immer nicht leiden konnte. Wir verstanden uns sogar früher einmal richtig gut, waren befreundet. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal bewusst bemerkte, dass ich Jungs interessanter fand als Mädchen. Das war in der 7. Klasse. Keiner wusste es, ich war mir ja selber nicht mal sicher. Von einem Tag auf den anderen redete Florian nicht mehr mit mir. Ich weiß bis heute nicht warum. Vielleicht hatte er eine Veränderung an mir bemerkt. Irgendwann sah ich ihn ein Mädchen küssen. Dann fingen die Lästereien über mich an. Es kamen allerhand Gerüchte dazu, dass ich ein Freak wäre, eine Schwuchtel, ein Asexueller und noch anderer Quatsch. Ich wusste, dass es Florian war, der diese Gerüchte streute. Und alle glaubten ihm. Er war beliebt. Vor allem bei den Mädchen. Seitdem hielt ich mich von allen fern.

 

In der Nacht zuhause in meinem Bett bekam ich wieder kein Auge zu. Ich dachte an Lennart, wie er mich angesehen hatte im Unterricht. Und wie er sich danach bei mir entschuldigte. Warum war er so nett zu mir und hing gleichzeitig mit Florian ab? Wollten die beiden mich fertigmachen? Oder war er wirklich einfach nur nett? Aber niemand aus meiner Klasse war einfach nur nett zu mir. Und dann dachte ich wieder an Tobias. Er fehlte mir gerade jetzt. Ich holte mir einen runter. Kurz vor dem Höhepunkt schweiften meine Gedanken zu Lennart. Ich ließ es zu. In meinen Kopf konnte ja keiner schauen. Dann lag ich wieder da, meinen Gedanken schutzlos ausgeliefert und versuchte zu schlafen.

 

Am Ende der Woche hatte ich so wenig geschlafen, dass ich fast nicht aus dem Bett kam. Meine Mutter rief mich und zerrte mir irgendwann die Decke weg. In der Schule ging es mir nicht besser. Ich nickte im Unterricht fast ein und konnte keine einzige Frage beantworten. Die Lehrer hatten mich mal wieder auf dem Kieker. So mies hatte ich mich noch nie gefühlt. Sebastian versuchte mich in der Pause aufzumuntern und schlug mir vor, heute Abend in unseren Lieblingsclub zu gehen. Ich willigte ein. Von weitem sah ich Lennart wieder vom Rauchen zurückkommen. Neben ihm gingen Florian und noch ein paar andere Jungs. Die beiden unterhielten sich. Während ihres Gesprächs entdeckte Lennart mich, wie ich mit Sebastian auf der Bank vor dem Gebäude saß. Er ließ mich nicht aus den Augen. Auch Sebastian entging sein Blick nicht.

„Hab ich was verpasst?“, fragte er neugierig.

„Du weißt genau so viel wie ich. Keine Ahnung, warum er zu uns herüber sieht“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Es war nicht das erste Mal, dass er zu mir herübersah. Vielleicht hatte er bemerkt, dass ich ihn beobachtete. Sein Blick war aber nicht abwertend, eher neugierig und neutral. Manchmal war auch er es, der wegschaute, wenn ich bemerkte, dass er mich ansah. Es war jedenfalls nicht unangenehm.

Man sah Lennart an, dass er nicht von hier kam. Er fiel auf. Auch mir und nicht nur, weil er hübsch war. Mal lief er in engen Hosen herum mit schreiendbuntem T-Shirt, Cap und Sonnenbrille, dann wieder in einer weiten Hose mit Tanktop und Trainingsjacke. An einem anderen Tag trug er einen bedruckten Jogginganzug mit Comicfiguren drauf. Mir gefiel sein Stil. Ein bisschen schräg und exzentrisch. Auf jeden Fall nicht so langweilig wie die anderen Jungs. Aber er war distanziert mir gegenüber. Bis auf die Unterrichtsstunden, in denen wir nebeneinandersaßen, redeten wir nicht sehr viel miteinander.

 

Im Club war es laut und stickig. Sebastian und ich saßen in einer der Sitzecken und tranken Bier. Ich war angetrunken und sinnierte über mein Leben als Schwuchtel.

„Jetzt vergiss’ diesen Penner doch mal!“ Sebastian rollte genervt mit den Augen, als ich auch noch von meinem Ex anfing. Ich sah Sebastian an und mein Gesicht wurde heiß. Ich drehte meine Flasche zwischen meinen Händen. Vielleicht sollte ich den ganzen Beziehungskram an den Nagel hängen und es so machen wie Sebastian.

„Sei froh, dass du dich nicht mit so ‘nem Scheiß beschäftigst. Beziehungen sind einfach nur Müll“, kam es aus meinem Mund, aber ich war mir noch nicht ganz sicher, ob ich es auch selber glaubte.

Sebastian lachte und strich mir über die Wange. Ich war froh, dass er mein bester Freund war. Er hatte keine Berührungsängste, schlief sogar neben mir in einem Bett. Aber manchmal gab es Dinge, über die konnte ich nicht mit ihm sprechen, die er nie verstehen würde. Ein Mädchen kam zu uns herüber. Sebastian hatte sie schon die ganze Zeit im Auge.

„Hi, ich bin Lena“, stellte sie sich prompt vor und ich fragte mich, wie er es sogar schaffte, ohne von seinem Platz aufzustehen. Die Mädchen flogen zu ihm wie die Motten zum Licht. Sebastian schaute mich etwas unsicher an und wollte sie gerade wegschicken, doch ich winkte ab. Unser Gespräch war beendet. Er sollte noch ein bisschen seinen Spaß haben. Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Kaum war ich vor der Tür, rutsche mir das Herz in die Hose. Da stand er. Tobias. Ich hörte auf zu atmen. Er stand dort mit einer jungen Frau und wartete auf den Einlass. Dann sah er mich und zögerte. Ich drehte mich um und rannte weg. Ich hörte Tobias meinen Namen rufen, aber ich wollte nur weg hier. In meinem betrunkenen Zustand war ich nicht gerade schnell. Er holte mich ein.

„Jetzt warte doch mal“, rief er und packte meinen Arm. Ich versuchte mich loszureißen, hatte aber keine Kraft. Ich wollte ihn nicht sehen. Er zog mich an sich und hielt mich fest in seinen Armen. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen.

„Du bist so ein Scheiß Wichser!“, fuhr ich ihn an.

Tobias ließ mich los.

„Timo, es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun“, flehte er um Entschuldigung. Jetzt, wo er hier vor mir stand und sich entschuldigen wollte, spürte ich nichts mehr für ihn. Ich erwiderte nichts. Die junge Frau stand irgendwo weiter hinten am Eingang und wartete wohl auf ihn. Dann zog ich Tobias an mich und küsste ihn. Er war erst ziemlich überrascht, erwiderte dann aber den Kuss. Seine Zunge fuhr in meinen Mund wie früher. Ich gab mir richtig Mühe und wollte, dass er sich für immer an diesen letzten einen Kuss erinnerte. Sanft zog ich mit meinen Zähnen an seiner Unterlippe bis sie mir entglitt. Ich ließ ihn los und ging ein paar Schritte zurück.

„Fick dich!“, spuckte ich ihm ins Gesicht. Dann drehte ich mich um und ging nach Hause. Er folgte mir nicht. Das war das letzte Mal, dass ich ihm begegnete.

 

Am nächsten Tag kam ich nicht aus dem Bett. Meine Mutter verdonnerte mich gegen Abend dazu, einkaufen zu gehen und doch noch mal das schöne Wetter zu genießen. Ich wollte kein schönes Wetter. Von mir aus hätte es in Strömen regnen können. Im Supermarkt packte ich die Lebensmittel ein und schlurfte nach draußen. Ich lief durch die Einkaufsstraße, vorbei an der Autobrücke, ging durch den Fußgängertunnel unter den Bahngleisen hindurch, dann sah ich ihn von weitem. Lennart stand an der Wand gelehnt und lachte. Vor ihm stand ein anderer Mann. Er sah älter aus. Vielleicht Ende zwanzig. Ich kannte ihn nicht. Sie schienen vertraut. Lennart trug ein Tanktop und Shorts. Auf der Nase trug er eine Sonnenbrille, obwohl es hier unten im Tunnel nicht gerade hell war. Er sah in meine Richtung und beobachtete, wie ich auf ihn zu kam. Auch der andere Mann drehte sich zu mir. Sie hörten auf zu reden.

„Hi“, rief mir Lennart zu, als ich auf seiner Höhe war.

„Hi“, sagte ich zurück und ging weiter. Die beiden schienen beschäftigt, da wollte ich nicht stehenbleiben. Außerdem hatte ich keine Lust, mich zu unterhalten. Ich war gerade aus dem Tunnel raus und lief über den Parkplatz unter der Brücke durch, da hörte ich jemanden von hinten angelaufen kommen. Ich drehte mich um. Es war Lennart.

„Soll ich dir tragen helfen?“, fragte er freundlich.

„Danke“, antwortete ich zurück und hielt ihm eine von den Tüten hin.

Wir liefen schweigend nebeneinander her. Irgendwie mochte ich seine Anwesenheit.

„Du kommst echt aus Berlin?“, durchbrach ich die Stille.

„Ja.“

„Wie ist es da so?“ Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte und versuchte ein bisschen Smalltalk.

„Gut. Schöne Stadt. Manchmal ein bisschen laut und unruhig, aber man gewöhnt sich dran.“ Er lächelte und sah mich über seine Sonnenbrille hinweg an.

„Krasse Nacht gehabt?“, fragte er.

„Naja, so in etwa.“ Ich sah auf den Boden.

„Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten. Du sahst nur die ganze Woche schon so müde aus“, sagte er und wirkte unsicher, als ich nichts weiter dazu sagte. Ich wusste nicht, woher mein plötzliches Vertrauen zu ihm kam, aber ich hatte das Gefühl, dass ich es ihm sagen konnte.

„Ich hab gerade ‘ne Beziehung hinter mir.“

Lennart sah mich fragend an. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, wo doch immer herumerzählt wurde, dass ich kein Bock auf Mädchen hätte.

Er biss auf seine Unterlippe. „Das ist hart, ich kenne das. Tut mir leid für dich.“ Er fragte auch nicht weiter nach. Lennart folgte mir bis nach Hause.

„Hier wohnst du also.“

Ich nickte und überlegte einen Moment, ihn herein zu bitten, ließ es dann aber doch bleiben. Es war zu schnell für meinen Geschmack. Ich nahm ihm die Tüte ab und er zog seinen Tabakbeutel hervor und drehte sich eine Zigarette. Eigentlich wollte ich schon Richtung Tür gehen, aber irgendetwas hielt mich ab. Er machte auch keine Anstalten zu gehen. Als würden wir uns gegenseitig beschnuppern, um zu sehen, wie der andere tickte. Ich schmunzelte, als er sich die Zigarette in den Mund steckte und sie anzündete. Lennart schob die Sonnenbrille auf den Kopf und blies den Rauch aus seinen Lungen.

„Scheiß Angewohnheit, oder? Teuer und total ungesund. Aber ich kann’s mir nicht abgewöhnen.“

Ich lächelte still. Seine Augen fixierten mich.

„Warum die Mütze, auch wenn es so warm ist? Du trägst sie jeden Tag.“

Unbewusst fasste ich mir an den Kopf und rückte sie zurecht.

„Meine Haare sind schrecklich. Ich hasse sie. Obwohl sie glatt sind, stehen sie zu allen Seiten weg.“

Ich nahm die Mütze ab und spürte, wie die Haare wirr von meinem Kopf abstanden.

„Seitdem mich jemand mal Struwwelpeter nannte, habe ich immer irgendetwas auf dem Kopf.“ Warum verriet ich ihm das? Etwas, das schon lange her war und mich damals sehr verunsichert hatte. Seitdem trug ich tatsächlich immer eine Mütze oder ein Base-Cap. Mich vor jemand anderem ohne zu zeigen, tat ich eigentlich nur beim Sport oder wenn wir vertraut miteinander waren. Mit ihm war ich alles andere als vertraut. Ich kannte ihn ja gar nicht wirklich und doch schaffte er es, dass ich ihm Einblicke in mein Inneres erlaubte.

Lennart lächelte sanft und nahm einen Zug von seiner Zigarette.

„Ich finde, es macht dich sympathisch. Als wärst du gerade erst aufgestanden.“

Ich schnaubte sanft und behielt die Mütze in meinen Händen.

„Ich muss weiter. Meine Tante will, dass ich ihr noch im Garten helfe. Unkraut jäten.“

Er trat die Zigarette aus.

„Danke noch mal für’s Tragen helfen.“

„Das nächste Mal fahr ich mit dem Roller vor, wenn du wieder so schwer schleppen musst.“

Er drehte sich um, hob noch mal die Hand zum Abschied und ließ mich an der Einfahrt zurück. Die Tüten waren verdammt schwer und ich war froh, dass er mir hinterhergelaufen war. Zufall oder Schicksal? Ich konnte mich noch nicht so wirklich entscheiden. Als ich die Auffahrt hinauflief, sah ich meine Mutter am Fenster stehen. Ich ging schnell weiter zur Tür, schloss auf und fragte mich, ob sie Lennart und mich beobachtet hatte. Sie stand in der Küche und schaute immer noch aus dem Fenster und tat so, als hätte sie mich nicht bemerkt. In ihrer Hand hielt sie ein Glas Wein. Vor ihr stand die Flasche. Sie war zu dreiviertel leer. Ich stellte die Tüten auf den Tisch und fing an, die Lebensmittel einzuräumen.

„Wer war das?“, fragte sie, als ich gerade das Gemüse ins unterste Fach legte.

„Das war der Neue aus meiner Klasse. Ich hab ihn unterwegs getroffen und er hat mir beim Tragen geholfen.“

Sie nickte abwesend, füllte ihr Glas auf. Dann kam sie zu mir herüber und streichelte meine Wange, während ich gerade in den Tüten wühlte.

„Du bist so ein hübscher Junge. Genau wie dein Vater.“ Ihre Augen waren glasig vom Alkohol. Ich konnte sie nicht länger ansehen und holte die Produkte eins nach dem anderen aus dem Beutel. Sie streichelte mir über meinen Kopf, schlang dann ihren Kaschmirmantel fester um ihren Körper und schwebte ins Wohnzimmer. Ich sah ihr hinterher. Meine Mutter trank, meistens, wenn sie sich mit meinem Vater gestritten hatte. Sie stritten oft, wegen allem, auch wegen mir. Mittlerweile trank sie auch, wenn sie sich nicht stritten. Ich hatte Schuldgefühle, schon länger, aber seit sie mich mit Tobias gesehen hatte, waren sie echt heftig.

 

In der Schule ging Lennart mir nicht aus dem Weg, aber so aufgeschlossen wie an dem Samstag war er dann auch nicht mehr. Er grüßte mich. Wir tauschten ein paar Sätze aus, er schob mir im Unterricht seine Ergebnisse herüber, wenn er gerade neben mir saß und ich mal wieder ein Brett vorm Kopf hatte. Aber er hing nach meinem Geschmack zu viel mit Florian Hagemann herum. Ich war vorsichtig, was ich ihm sagte. Sebastian meinte, ich hätte Paranoia und dass nicht jeder so ein Arsch wäre wie Florian. Lennart hätte sich sicher schon sein eigenes Bild von mir gemacht. Trotzdem zögerte ich, ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken und meine Gedanken preiszugeben. Lennart kam in der großen Pause zu uns herüber und fragte, ob er sich zu uns setzen dürfe. Sebastian und ich saßen in der Sonne und nickten.

„Heute gar nicht in der Raucherecke?“, fragte ihn Sebastian, während Lennart sich eine Zigarette drehte.

„Da ist mir die Luft gerade zu dicke“, meinte er nur und leckte über das Paper. Dann steckte er sie in seinen Mund und zündete sie an.

„Du weißt schon, dass man auf dem Schulhof nicht rauchen darf, oder?“, fragte ich.

„Es wird sich bestimmt jemand melden, wenn’s ihn stört“, antwortete er, zwinkerte mir zu und hielt mir die Zigarette hin. Ich lehnte dankend ab, aber Sebastian nahm einen Zug.

„Du kommst also aus Berlin? Was macht jemand aus Berlin in seinem letzten Jahr so kurz vor dem Abi hier in Kaltenbüttel?“, fragte Sebastian. Lennarts Augen huschten nur kurz zu uns herüber. Er lächelte stumm.

„Ich wette, du hast ein richtig fettes Ding gedreht und musstest vor der Polizei flüchten und da hast du ans allerletzte Kaff von Deutschland gedacht“, beantwortete Sebastian seine eigene Frage.

Lennart lachte. „Ganz genau so war’s. Und jetzt bin ich hier.“ Mehr sagte er nicht.

Ich beobachtete ihn von der Seite und fragte mich, warum er wirklich hierhergekommen war. Er lehnte sich an die Wand.

„Von dir hört man auch interessante Sachen, Sebastian.“

„Hört man das? Glaub denen bloß kein Wort“, gab Sebastian lachend zurück.

„Und? Wie viele sind es bisher?“

„Keine Ahnung, hab irgendwann nicht mehr mitgezählt.“

„200!“, sagte ich. Sebastian und Lennart starrten mich an. „Was denn? Sebastian ist ein Herzensbrecher“, sagte ich in die Runde. Sebastian haute mir mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und lachte. Lennart beobachtete mich. Unsere Blicke trafen sich. Mein Herz schlug eine Frequenz schneller, als ich in seine blauen Augen sah.

„Ein Herzensbrecher“, wiederholte er und schmunzelte nachdenklich. „Sammelst du auch Mädchen?“, fragte er mich.

Ich sagte nichts und sah verlegen zu Boden. Wenn er wüsste.

„Timo sammelt keine Mädchen. Er glaubt noch an die Liebe“, antwortete Sebastian für mich und streichelte mir über den Kopf.

„Die Liebe kann mich mal!“, murmelte ich nur, lehnte mich zurück gegen die Wand und schmollte. Auch Lennart lehnte seinen Kopf zurück. Er schloss die Augen und rauchte seine Zigarette bis zum Filter herunter, drehte sich kurz darauf noch eine.

„Bist du nervös?“, fragte ich und es war eigentlich scherzhaft gemeint.

„Warum fragst du?“, schoss es zurück. Er fixierte mich mit seinen Augen.

„Das war nur ein Witz, wegen der Zigarette.“ Ich biss mir auf die Lippen.

Lennart lachte leise und erleichtert, schnippte die Asche ab. Er sah in den Himmel und schien ganz weit weg zu sein. Er ließ nicht in sich hineingucken. Das lernte ich als erstes von ihm kennen.