STEFAN LEHNBERG

Die Affäre Carambol

Die criminalistischen Werke des Johann Wolfgang von Goethe

Aufgezeichnet von seinem Freunde
FRIEDRICH VON SCHILLER

Impressum

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Tropen

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Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50354-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11047-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

DIE AFFÄRE CARAMBOL

Vorwort

Die Ereignisse in den letzten Septemberwochen des Jahres 1801, in welche mein Freund Goethe und ich, ohne es zu planen und ohne auch nur im Mindesten zu ahnen, was sie auslösen würden, verwickelt wurden, sind zweifelsohne die dramatischsten und für die Allgemeinheit bedeutsamsten, mit denen wir es je zu tun hatten. Wurden wir doch nicht einfach mit einer Schurkerei privater Natur confrontiert, sondern mit einem geradezu unvorstellbaren Ausmaß an Verbrechen, welche tief mit den weltpolitischen Entwicklungen jener Tage verwoben waren.

Ausgelöst durch die Schrecken des militärischen Ringens Frankreichs und Englands um die kontinentale Vorherrschaft, verfasste ich in den ersten Tagen des Jahres 1801 in tiefer Sorge um den Frieden ein nunmehr recht bekanntes Gedicht namens »Der Antritt des neuen Jahrhunderts«. Es begann so:

Edler Freund! Wo öffnet sich dem Friede

Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?

Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden –

Und das neue öffnet sich mit Mord …

Nun, da ich auf die Ereignisse, von welchen hier berichtet werden soll, zurückschaue, muten diese Zeilen schauderhaft prophetisch an.

Friedrich von Schiller – Weimar im Märzen 1803

ERSTES BUCH 
DAS PROBLEM

Erstes Kapitel 
Auf dem Wege nach Franckfurth

Es war bereits nach Mitternacht, als wir Franckfurth erreichten. Die weite Reise war beschwerlich gewesen und hatte offenkundig unter keinem guten Stern gestanden. Schon beim Besteigen der Kutsche in Weimar hatte ich Pech gehabt: Während mein Freund Goethe es so zu arrangieren gewusst hatte, dass er auf seiner Bank den begehrten Mittelplatz einnehmen konnte, so dass die beiden wohlgenährten Herren links und rechts von ihm im Falle eines Unfalles meinem Freunde als schützende Puffer dienen würden, hatte ich es – verursacht durch einen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit – nicht vermocht, es ihm gleich zu tun, sondern musste den Platz, welcher sich vis à vis meines Freundes befand, einer jungen Dame überlassen, welche sich höchst undamenhaft und nach Himbeerlikör riechend an mir vorbei drängte. Ich fand mich in mein Schicksal und hoffte auf das Beste, aber kaum, dass wir Bad Kissingen passiert hatten, war unsere Kutsche in heftigem Regen auf einer morastigen Straße umgestürzt, und man konnte es beinahe ein Wunder nennen, dass es keine ernsthaft Verletzten gegeben hatte. Mit vereinten Kräften war es uns gelungen, die Kutsche wieder aufzurichten, und Goethe erzählte mir, dass er bey einem ähnlichen Vorfall, welcher sich vor einigen Jahren bereits kurz nach seiner Abreise von Weimar zugetragen hatte, daraufhin das gesamte Vorhaben aufgegeben und unverzüglich kehrt gemacht habe. Ich lächelte über diese abergläubische Seite meines ansonsten doch so überlegen urteilenden Freundes, aber schon einige Meilen weiter sollte mir das Lachen vergehen.

Mit einem entsetzlichen Krachen brach plötzlich die Vorderachse der Kutsche entzwey, und das junge Fräulein – welches mir seit Beginn der Reise durch sein töricht hochnäsiges Geplapper, das ohne Unterlass zwischen ihren dünnen Lippen hervor rieselte, noch unangenehmer geworden war, so dass sich mein Mitgefühl im Zaume hielt – schlug sich einen Zahn aus, während ich selbst mir höchst schmerzhaft die Stirn am Wagendache stieß. Doch auch damit war des Ungemaches kein Ende. Kaum hatten wir am nächsten Morgen die Fahrt mit einer anderen Kutsche – und ohne das garstige Fräulein – fortgesetzt, brach erneut eine Achse, dieses Mal die hintere, wobey ich mir eine weitere Blessur am Hinterkopf zuzog, und kurz vor Franckfurth – kaum getraut sich meine Hand, es nieder zu schreiben – ging tatsächlich das rechte Vorderrad der Kutsche entzwey, was auch den bis dato glücklich unverletzt Gebliebenen eine Aufnahme in den Klub der Invaliden bescherte. Mit einer weiteren Kutsche – der nunmehr 4ten – erreichten wir schließlich ohne weitere Zwischenfälle das östliche Tor Franckfurths. Nachdem wir den obligatorischen Sperrbatzen für die Ankunft zur späten Stunde entrichtet hatten und unser Gepäck durchsucht worden war, rollten wir nun endlich über das Pflaster von Goethes Heimatstadt. Das Schlimmste haben wir überstanden, dachte ich bey mir.

Wie sehr ich mich doch täuschen sollte …

Zweites Kapitel 
Goethes Mutter

Goethe hatte mich gewarnt; es sey nicht ratsam, das Angebot seiner Mutter, bey ihr zu logieren, anzunehmen, da in ihrem Hause ein ständiges Kommen und Gehen von Besuchern an der Tagesordnung sey und man daher keine Sekunde zur Ruhe finden könne, und so hatten wir die Nacht im Gasthofe Weißer Schwan verbracht. Am nächsten Morgen jedoch führte uns unser erster Weg sogleich zu ihr. Das Elternhaus am Großen Hirschgraben, in welchem er seine Kindheit und Jünglingsjahre zugebracht hatte, war von der Mutter nach dem Tod ihres Mannes zu einem guten Preis veräußert worden, und nun lebte sie in dem kleineren, aber kaum weniger schönen Haus Zum Goldenen Brunnen am Rossmarkt. Goethes Mutter war die Erleichterung, ihren Sohn wohlbehalten in die Arme schließen zu können, deutlich anzusehen. Hatten wir uns doch einen ganzen Tag verspätet. Ich selbst wurde auf das Herzlichste willkommen geheißen, und bald saßen wir bey einer heißen Choccolade in der Stube beysammen, und Mutter Goethe ließ sich von ihrem Hätschelhans – eine Anrede, welche Goethe meiner Beobachtung nach mit einer Mischung aus Wohlbehagen und Pein erfüllte – das Neueste aus Weimar und seinem Leben berichten, während sie sich ein um das andere Mal eine ordentliche Prise Schnupftabak zu Gemüte führte. Mit uns am Tische saß ein langjähriger Freund der Familie, welcher sogar noch mehr an Jahren zählte als Goethes Mutter. Er war schon entsetzlich schwerhörig, und das Wenige, was er von Goethes Ausführungen noch verstehen konnte, vermochte er um keinen Preis zu glauben. Er erinnere sich schließlich so genau, als sey es just erst gestern gewesen, erklärte er unter missbilligendem Kopfschütteln, wie der kleine Johann eines Morgens die Tassen und Teller der Familie aus dem Fenster auf die Straße geworfen habe, wo sie dann Stück für Stück zerschellt waren, und nur seinem unverzüglichen Eingreifen sey es damals zu danken gewesen, dass die Rätin auf das Treiben ihres nichtsnutzigen Sohnes aufmerksam geworden war und diesem ein Ende setzen konnte, bevor auch noch die letzten Stücke des kostbaren Services zerstört worden waren. Nein, nein, mit dem Knaben würde es kein gutes Ende nehmen, das habe er schon damals prophezeit.

Ich selbst musste an mich halten, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen, aber Goethe wurde zusehends verstimmter, und schließlich drängte er abrupt zum Aufbruch.

Drittes Kapitel 
Franckfurth

Ich war über fünfzehn Jahre nicht in Franckfurth gewesen. Mein Trauerspiel Kabale und Liebe war am hiesigen Schauspielhaus uraufgeführt worden, aber ich hatte seinerzeit außerhalb der Theaterproben nur wenig Zeit gefunden, die Stadt kennenzulernen. Gleichwohl waren die Veränderungen nicht zu übersehen. Die über Jahrzehnte immer wieder kehrenden Belagerungen durch die Franzosen und teilweise auch durch die Österreicher – insbesondere die unbarmherzige Beschießung der Stadt durch General Kléber – hatten eine traurige Spur der Verwüstung hinterlassen. Über 170 Häuser waren zerstört worden. Inzwischen lag dieses Ereignis vier Jahre zurück, aber fast meinte man, den Pulverdampf noch riechen zu können, und überall sah man niedergebrannte Gebäude. Bedrückender jedoch als die Veränderung der Stadt, empfand ich die Veränderungen in den Gesichtern der Menschen selbst. Die Stadt war durch die immensen Tributzahlungen an Frankreich, die bis dato fast zehn Millionen Gulden betragen hatten und auch nach wie vor allmonatlich zu leisten waren, an den Rand des Ruins getrieben worden, und aus den Mienen der Franckfurther sprach inzwischen weniger stolzer Patriziergeist als Furcht und Sorge. Goethe musste dies sicherlich noch deutlicher aufgefallen sein als mir, jedoch versuchte er, sich seine zweifelsohne vorhandene Niedergedrücktheit nicht anmerken zu lassen, ja, ich hegte gar die Vermutung, dass er diese auch vor sich selbst zu verbergen suchte. Er war gekommen, um die Stätten seiner Kindheit wiederzusehen, und ich hatte mich aus Gründen, welche mir inzwischen entfallen sind, die mir damals aber als nachgeradezu zwingend erschienen – in Wahrheit jedoch, wie ich heute bekennen muss, weil ich im Laufe der letzten Wochen bei der quälenden Arbeit an meinem Drama Die Malteser fürchterlich tintenscheu geworden war – nur allzu gern überreden lassen, ihn auf diese Reise zu begleiten.

Nun waren wir also hier. Goethe führte mich durch die herbstlichen Straßen seiner geschundenen Heimatstadt, welche ihm bis in die verborgensten Winkel völlig vertraut war, und wurde nicht müde, mich in fast schon entrückter Verzückung mit Geschichten und Anekdoten zu überhäufen, bis es mir wirr im Kopf wurde. Er erzählte mir alles über die vierzehn Mainbrücken, die 55 Wehrtürme, und allein mehrere Stunden verbrachten wir im Kaiserdom zu St. Bartholomäus, wo Goethe mit bildhaften Worten die Krönungsfeierlichkeiten Josephs II., welche auf ihn als jungen Mann einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hatten, vor meinem inneren Auge entstehen ließ.

So vergingen einige sorglose Tage, und als sich nach einer Woche der Tag der Rückreise näherte, wurde es mir ein wenig schwer ums Herz.

Der Vorabend unserer Abreise war gekommen, und wir hatten Goethes Mutter ein letztes Mal aufgesucht, um uns zu verabschieden. Erneut fanden wir sie nicht allein, sondern in Gesellschaft eines dicklichen älteren Herrn, in dessen Gesicht sich im Laufe seines Lebens ein dauerhafter Ausdruck von empörter Überraschung eingegraben hatte und welcher uns als Stadtrat von Hilgendahl vorgestellt wurde. Er machte auf mich einen überaus betrübten Eindruck, offensichtlich war er gerade im Begriffe gewesen, sich zu empfehlen aber, ohne dass man sich’s versah, kam man ins Gespräch, und er berichtete uns, dass man in der Stadt in Trauer sey, da erst vor wenigen Tagen gleich zwei Stadträte bey tragischen Vorfällen zu Tode gekommen seyen. Wir kondolierten ihm und bemühten uns, einige Trostworte zu finden, atmeten jedoch auf, als er uns endlich verließ.

Schon bald dachten wir nicht mehr an ihn und verbrachten den Abend mit köstlichem Braten und Apfelwein. Goethe hatte einige der Gedichte mitgebracht, welche künstlerisch veranlagte Franckfurther uns in die Herberge geschickt hatten, auf dass wir diese – wie man in den bey gefügten Briefen beteuerte – critisch beurteilten sollten, wiewohl man ohne jeden Zweifel insgeheim höchstes Lob erwartete. Uns einander abwechselnd, declamierten wir drei das schauerliche Gereimsel, wobey wir alle, jedoch insbesondere Goethens Mutter, derartig von Anfällen heftigsten Kicherns übermannt wurden, dass ich fast schon um die Gesundheit der betagten Dame fürchtete.

Es war bereits spät in der Nacht – die Wachslichter auf dem Tische waren beinahe zur Gänze niedergebrannt – als mein Freund und ich uns singend auf den Weg zu unserer Herberge machten.

Viertes Kapitel 
Die Einladung

Am nächsten Morgen erwachte ich spät, mit brummendem Schädel und einem bitteren Geschmack im Munde; offenkundig hatte ich eine Bouteille mehr getrunken, als mir wohl tat, und ich war eben im Begriffe, meine Sachen zusammen zu packen, als es an die Kammerthüre klopfte und Goethe mit einem Briefe in der Hand eintrat. Seine Miene verriet einigen Verdruss. »Wir bleiben.« Mit einer unwirschen Handbewegung hielt er mir den Brief hin. Ich nahm ihn entgegen und las:

Hochgeehrte Exzellenz Geheimrat von Goethe!

Hochgeehrter Hofrat Schiller!

In einer Angelegenheit von höchster Dringlichkeit ersuche ich um Euer Erscheinen! Meine Kutsche erwartet Euch bereits.

Hochachtungsvolle Grüße

Fürst Karl Anselm von Thurn und Taxis

Überrascht ließ ich den Brief sinken und sah zu Goethe, der verächtlich die Mundwinkel verzog. »Höchste Dringlichkeit!«, knurrte er. »Ich möchte wetten, dass es sich um eine vollkommene Nichtigkeit handelt, mit der man unsere kostbare Zeit vergeuden wird.« Ich lächelte zustimmend. Den Ärger meines Freundes konnte ich gut nachfühlen, jedoch ich für meinen Teil hatte es keineswegs besonders eilig, zurück nach Jena zu kommen. Meine Arbeit an den Maltesern konnte ruhig noch etwas länger warten. Persönlich war ich dem Fürsten von Thurn und Taxis niemals begegnet, aber natürlich war mir der Generalerbpostmeister der Kaiserlichen Reichspost wohlbekannt. Nicht nur war er Herr über den größten Teil des amtlichen Briefverkehrs, sondern er hatte auch seine Gemahlin auf einem seiner Schlösser unter Hausarrest gestellt, nachdem diese wiederholt versucht hatte, ihn zu ermorden.

Das klang überaus verheißungsvoll.

»Es steht zu hoffen, dass man uns nicht allzu lange aufhält«, brummte Goethe, als wir die knarrenden Stiegen hinunter liefen. »Wenn wir es klug anstellen, bekommen wir noch die Nachmittagsfuhre aus der Stadt.«

Vor dem Hause stand, wie angekündigt, die Kutsche bereit, allerdings nicht die des Fürsten, wie ich es erwartet hatte, sondern eine ordinäre Postkutsche, wie sie der Fürst zu hunderten sein eigen nennen mochte. Goethe warf mir einen Blick zu, der eines Tantalus würdig gewesen wäre, und wir stiegen ein.

Fünftes Kapitel 
Das Problem

Bald darauf rollte unsere Kalesche durch den steinernen Torbogen auf den großen Innenhof des Palais. Der Gärtner, welcher damit beschäftigt war, Herbstlaub zusammen zu kehren, würdigte uns keines Blickes. Ein weißhaariger Diener öffnete den Wagenschlag und geleitete uns in das imposante Hauptgebäude und dann eine breite Marmortreppe hinauf. Von irgendwoher vernahm ich leise ein Spinett, welches mit schwerer Hand traktiert wurde. Nachdem wir einen prächtig vergoldeten Ballsaal passiert hatten, wandte sich der Diener nach links und blieb vor einer hohen Doppelthüre stehen. Er hieß uns warten und trat ein. »Die Herren, welche Eure Durchlaucht erwartet haben.« Ich bemerkte, wie Goethe sich zu voller Größe aufrichtete und seinen Rock glatt strich. Offenbar erfolgte von innen Zustimmung, denn mit einer Handbewegung ließ uns der Diener nun ebenfalls eintreten und schloss die Thüre sodann von außen. Wir befanden uns nun in einem hohen Saale, dessen Wände bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren. Der köstliche Geruch vergilbten Papiers hing in der Luft. In der Mitte des ansonsten vollkommen leeren Saales befand sich ein langer Tisch, der mit diversen Schriftstücken bedeckt war und an dem drei Herren saßen, welche uns mit teils besorgten, teils hoffnungsvollen Mienen entgegen sahen: Stadtrat von Hilgendahl, welchen wir bereits kennengelernt hatten, sowie zwei weitere Männer. Der Mann an der Stirnseite des Tisches – zweifellos der Fürst – winkte uns, näher zu kommen. Er mochte an die siebenzig Jahre alt sein und machte auf mich einen recht schwächlichen Eindruck. Wir traten an den Tisch heran und erwiesen ihm unsere Referenz. »Eure Durchlaucht, wir …«, hob Goethe an zu sprechen, jedoch der Fürst winkte müde ab und gebot uns mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber es schien über seine Kräfte zu gehen. Mit wässrigen Augen blickte er zu seinem Nachbarn zur Rechten, einem Mann mit hoher Stirn, humorlosen Augen und einem entschlusskräftigen Kinn, welchen ich auf etwas über fünfzig Jahre schätzte, woraufhin dieser sogleich das Wort an uns richtete.

»Meine Herren, Geheimrat von Goethe, Hofrat Schiller«, er verbeugte sich leicht in unsere Richtung, »mein Name ist Dr. Conrady. Wie auch Herr von Hilgendahl, habe ich die Ehre, dem Rat der Stadt Franckfurth anzugehören. Zuallererst lassen Sie mich Ihnen im Namen des Fürsten und im Namen der Stadt danken, dass Sie unserer Bitte um eine Unterredung so bereitwillig nachgekommen sind.« Stadtrat von Hilgendahl schien etwas einwenden zu wollen, ließ es aber bey einem mahnenden Blick zu Dr. Conrady bewenden, welcher sich auch sogleich korrigierte: »Wenn ich sage, im Namen der Stadt, dann ist dies zwar einerseits wahr, gleichwohl bitten wir darum, diese Unterhaltung als keineswegs offiziell zu betrachten. Die übrigen Mitglieder des Stadtrates wissen – aus Gründen, welche Sie gleich verstehen werden – nichts davon. Überdies müssen wir darauf bestehen, dass alles, was wir Ihnen anvertrauen, mit allerhöchster Discretion zu behandeln ist. Betrachten Sie uns daher einstweilen nur als drei Männer, welche um das Wohl der Stadt in größter Sorge sind und die sich gegenseitig vertrauen.«

Conrady dachte einen Augenblick nach, bevor er fortfuhr.

»Die Angelegenheit verhält sich durchaus compliziert, und ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll. Bitte unterbrechen Sie mich, wenn Ihnen etwas unklar erscheinen sollte.«

Dr. Conrady räusperte sich. »Nun denn, zum einen ist Ihnen beiden zweifellos bekannt, dass sich Franckfurth in überaus schwierigen politischen Zeiten befindet. Nach wie vor sind wir vollkommen abhängig von Frankreich, und obschon sich Franckfurth für neutral erklärt hat, obschon wir gewaltige Contributionen an Frankreich gezahlt haben und weiterhin zahlen, und obschon wir keinerlei Parteinahme für Österreich oder gar England erkennen lassen, ist es von Seiten Frankreichs immer wieder zu verheerenden Besetzungen gekommen. Seit dem Frieden von Lunéville, welcher im Februar geschlossen wurde, hat sich die Lage etwas beruhigt, aber es bedarf keiner Erwähnung, dass wir auf einem Pulverfass sitzen und dass schon der kleinste Funke genügen würde, damit Consul Bonaparte die Stadt erneut angreift und besetzt.« Goethe nickte voll verdrießlicher Ungeduld, wie ich es schon des Öfteren bei ihm beobachtet hatte, wenn man ihn behandelte, als könnte es etwas geben, das er nicht wisse.

»Schon der kleinste Funke würde genügen«, wiederholte Conrady, während er uns beiden abwechselnd eindringlich in die Augen sah. »Ich schicke dies voraus, damit Sie die Bedeutung des Folgenden besser verstehen können. Des Weiteren möchte ich vorausschicken, dass in unserer Stadt 26 Europastraßen aufeinander treffen, wodurch Franckfurth auf dem Continent eine centrale strategische Bedeutung zukommt, vergleichbar nur mit Rom oder Paris. Es versteht sich, dass wir deshalb um so mehr unter ständiger Beobachtung stehen. Bonaparte hat seine Leute überall, teils versteckt, teils ganz offen, und es dürfte auch unter den Franckfurther Bürgern nicht wenige geben, welche sich ihm in der einen oder anderen Weise andienen.« Er deutete mit der Hand auf den Fürsten. »Wie Ihnen bekannt sein dürfte, ist seine Durchlaucht der Generalerbpostmeister. Die Briefe halb Europas werden durch seine Kuriere befördert. Und so sind uns eine Anzahl von Depeschen zur Kenntnis gelangt, welche …« Der Fürst richtete sich auf und räusperte sich verärgert, woraufhin er sogleich zu husten begann. Conrady biss sich auf die Lippe und fuhr fort. »Ich will damit keinesfalls andeuten, dass diese Depeschen unrechtmäßig geöffnet wurden – jedoch …«, er starrte für einen Augenblick angestrengt an die Zimmerdecke, »… jedoch – sey es wie sey – wir haben von ihrem Inhalt Kenntnis.« Erneut biss er sich auf die Lippe. Ich bemerkte, wie Goethe einen verstohlenen Blick auf die Standuhr hinter den drei Herren warf und leise in sich hinein seufzte.

Conrady beugte sich vor und senkte seine Stimme. »Bevor ich nun zum Eigentlichen komme, möchte ich Sie noch einmal an die strikte Discretion erinnern, die Sie gelobt haben. Zu niemandem ein Wort davon. Zu niemandem!« Ich zögerte.

Dass ich meine Frau ins Vertrauen ziehen würde, verstand sich ohnehin von selbst, und wenn Goethe nicht bereits dabey gewesen wäre, hätte ich ihm gewiss gleichfalls davon erzählt. Und vielleicht noch diesem oder jenem, wenn es sich ergeben würde. Bevor man sich jedoch eines unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauten Geheimnisses unwürdig erweisen kann, muss man es zunächst einmal kennen. Mein Freund und ich taten also, was man in solchen Augenblicken tut. Wir nickten und versprachen es erneut.

Conrady fuhr mit ernster Miene fort. »In den bewussten Depeschen steht zu lesen, dass …«

»Man muss dazu wissen, dass es sich ausnahmslos um Depeschen handelt, welche für Bonaparte bestimmt sind«, warf Stadtrat von Hilgendahl hastig ein.

»Ganz recht«, versetzte Conrady, »das hatte ich vergessen zu erwähnen. Nun denn, in diesen Depeschen an Bonaparte wird davon berichtet, dass in den letzten 14 Tagen nicht weniger als 121 städtische Kuriere aus Franckfurth in Städte in ganz Deutschland entsandt wurden.« Conrady schüttelte den Kopf, wie um einen schlechten Gedanken zu verscheuchen.

»Was ist daran ungewöhnlich«, warf ich ein, »wenn Franckfurth Kuriere entsendet?«

Conrady holte tief Luft. »Nun zwei Dinge. Zum einen handelt es sich bei allen 121 Städten um Garnisonsstädte. Verstehen Sie, welchen Schluss Bonaparte daraus nur ziehen kann?«

Goethe nickte bedächtig. »Franckfurth zieht ein Heer gegen Frankreich zusammen.«

Conradys Stimme klang heiser. »Ganz recht. Und nur dadurch, dass es uns gelungen ist, diese Depeschen auf ihrem Wege nach Frankreich abzufangen, bevor sie ihr Ziel erreichen konnten, ist eine Catastrophe verhindert worden.«

Er zog sein Schnupftuch aus dem Ärmel und tupfte sich etwas Schweiß von der Stirne. Ich wartete, bis er damit fertig war. »Sie sprachen von einer 2ten Sache, die ungewöhnlich ist.«

Conrady blickte nervös zu Boden, bevor er antwortete. »Die andere Sache ist in der Tat sogar noch ungewöhnlicher. Diese städtischen Kuriere – sie trugen städtische Uniformen, sie führten gültige Legitimationspapiere mit sich, aber sie – handelten nicht in unserem Auftrage.«

Goethe runzelte die Stirn. »Kamen denn aus den Garnisonsstädten Antworten auf die Depeschen dieser falschen Kuriere?«

»Keine. Auch das ist überaus seltsam. Und natürlich können wir keine echten Kuriere hinterherschicken, um Erkundigungen einzuziehen, denn auch das würde man sogleich nach Paris vermelden, und wir können nicht hoffen, in der Lage zu sein, jedes Mal alle Depeschen abzufangen.

Sollten sich solche Vorfälle wiederholen – und wir haben wenig Zweifel, dass dies geschehen wird – dann befindet sich Franckfurth sehr bald schon im …«

»… Krieg mit Frankreich«, ergänzte ich.

»So ist es«, versetze Conrady düster. »Jemand will uns in den Krieg zwingen.«

»Wer?«, riefen Goethe und ich wie aus einem Munde.

»Das wissen wir nicht«, seufzte Conrady. »Die Franzosen sind es jedoch sicherlich nicht. Sie haben keine Veranlassung dazu. Wenn Bonaparte eine Region angreifen will, braucht er dafür keinen Vorwand, das hat er in der Vergangenheit vielfach bewiesen.«

»Liegen Ihnen denn nicht die geringsten Erkenntnisse vor, die Licht ins Dunkel bringen können?« Goethes Stimme ließ ungläubigen Tadel erkennen.

»Eher im Gegenteil. Die wenigen Erkenntnisse, welche wir haben, verdunkeln die Angelegenheit nur noch mehr«, erwiderte Conrady düster.

»Nennt sie uns dennoch«, forderte Goethe bestimmt.

»Nun, wie Ihr sicher wisst, haben wir genaue Kenntnis, wer die Stadt betritt und wer sie verlässt und wer wo logiert. Das Franckfurther Polizeysystem ist in diesem Punkte ungeheuer fortschrittlich. Um so verwunderlicher ist es, dass in den letzten acht Monaten über einhundert Männer in der Stadt angekommen sind, welche, zumindest nach unseren Aufzeichnungen, nirgendwo logieren, sie haben sich buchstäblich in Luft aufgelöst.«

»Genau gesagt«, meldete sich Stadtrat von Hilgendahl zu Worte, »sind es 159 an der Zahl.«

Goethe und ich warfen uns einen erstaunten Blick zu, doch bevor wir etwas erwidern konnten, ergriff erneut Stadtrat Conrady das Wort. »Überdies sind in den letzten sieben Tagen zwei unserer Stadträte verstorben.«

»Ermordet!«, ergänzte von Hilgendahl beinahe flüsternd, während er uns erregt anstarrte.

Conrady nickte. »In der Tat. Ermordet. An unterschiedlichen Abenden und an verschiedenen Orten, aber beide wurden auf offener Straße ausgeraubt und erstochen. Wenn …« Conradys Stimme begann zu zittern, aber nur einen Augenblick darauf hatte er sich wieder in der Gewalt. »Wenn dies lediglich einem Stadtrat zugestoßen wäre, würde ich an einen Raub glauben – es wäre ein außergewöhnlich brutaler Raub, wie wir ihn in der Stadt seit Jahren nicht hatten, aber es wäre denkbar. Jedoch zwei in einer Woche, und beides Stadträte, das legt die zwingende Annahme nahe, dass der Raub jeweils nur ein Vorwand für den Mord war und dass sich etwas gänzlich anderes dahinter verbirgt. Um was es sich allerdings dabey handelt – das wissen wir nicht. Doch halten wir es für möglich, dass diese beiden Stadträte etwas wussten, was unter keinen Umständen bekannt werden soll. Die Frage ist, warum sie es wussten. Weil sie selbst Teil dieser Affäre waren oder weil sie etwas entdeckten, was niemand entdecken sollte? So oder so, es legt den Gedanken nahe, dass die Ursach all dieser Vorkommnisse möglicherweise im Stadtrat selbst zu suchen ist. Nun werden Sie auch begreifen, warum wir uns nicht offiziell im Römer treffen, sondern hier und, weshalb nur wir drei mit Ihnen reden. Wir drei kennen uns seit einigen Jahrzehnten und wissen, dass wir uns vertrauen dürfen, aber wem sonst noch, das wissen wir leider nicht.«

Conrady verstummte, und während wir versuchten, das Gehörte im Geiste zu ordnen, war in der Bibliothek für eine Weile nur das Ticken der alten Standuhr zu vernehmen.

Schließlich ergriff Conrady erneut das Wort: »Begreifen Sie unsere Situation, gerade heraus gesagt, wir sind verzweifelt! Ein Krieg mit Frankreich muss unter allen Umständen vermieden werden. Schon jetzt führen die Contributionszahlungen an Frankreich zu unerträglichen Drangsalen unter der Bevölkerung. Wir sind kaum mehr in der Lage, auch das Allernötigste zu financieren. Sehen Sie nur dort.« Er wies mit müder Geste aus dem Fenster auf ein halbfertiges Gebäude in einiger Ferne. »Die Paulskirche. Wir mussten den Bau schon vor Jahren einstellen. Der Glockenturm ist nicht fertig, es gibt nur ein notdürftiges Dach und keine Fenster. Wir vermieten das Innere als billige Lagerräume. Und dieser unwürdige Zustand wird ohne Frage noch etliche Jahre fortdauern. Das ist die gegenwärtige Lage. Schlimmer darf sie um keinen Preis werden.«

Conrady schwieg und sah uns erschöpft, aber auch mit einer Art von Erleichterung an.

Goethe strich sich unbehaglich mit der Hand über das Kinn. »Ich begreife die misslichen Umstände, was ich jedoch nicht begreife ist: Wie könnten wir hier behilflich sein? Ich zweifele nicht, dass die Polizey der Stadt Franckfurth bestens in der Lage sein wird …«

»Sie verstehen nicht!«, fuhr Conrady barsch dazwischen, nur um sogleich sehr viel höflicher fortzufahren: »Unsere Polizey besteht aus guten, tüchtigen Männern, allerdings, wenn tatsächlich Mitglieder des Rates in diese Affäre verwickelt sind, würden diese von allem Kenntnis erhalten, was jene unternehmen und so jedwede Maßnahme sabotieren können. Sie beide hingegen, meine Herren, sind über jeden Zweifel erhaben. Überdies seid Ihr, Herr Geheimrat, mit den Franckfurther Verhältnissen bestens vertraut, Ihre überragende Bekanntheit und die von Hofrat Schiller wird Ihnen allseits Zugang verschaffen, ohne jedoch, dass es offiziell sein muss.«

Goethe rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum. »Wie schon gesagt, wir verstehen Ihre peinliche Situation nur allzu gut, aber ich fürchte, Sie überschätzen unsere Möglichkeiten, hier behilflich zu sein, bei Weitem. Sie werden leicht weitaus geeignetere Männer als uns für diese Aufgabe finden. Das Einzige, was ich anzubieten habe, ist ein Rat.«

Conrady stutzte, bevor er etwas widerwillig antwortete. »Wie lautet er?«

Goethe kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Wer ist hier in Franckfurth der Gewährsmann Bonapartes? Damit meine ich nicht seinen offiziellen Statthalter, sondern den Mann, welcher die Aufsicht über Bonapartes Spione hat. Mit ihm sollten Sie sprechen. Er kennt Sie, und er hat das Ohr des Consuls. Ihm müssen Sie Ihre vertrackte Lage auseinandersetzen, das ist das Klügste, was Sie tun können, denke ich.«

Conrady schüttelte unwirsch den Kopf. »Das könnten wir natürlich versuchen, aber es würde nichts ändern, wenn wir mit ihm reden würden. Sein Name ist übrigens Monsieur