Anthony Horowitz

Die Morde von Pye Hall

Roman

Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff

Insel Verlag

London, Crouch End

Eine Flasche Wein. Eine Familienpackung Nachos und ein Glas Salsa Dip, extra scharf. Dazu noch ein paar Zigaretten (ich weiß, ich weiß). Der Regen, der an die Scheiben prasselt. Und ein Roman.

Was kann es Schöneres geben?

Die Morde von Pye Hall waren Nummer acht in der vielgeliebten Reihe der Atticus-Pünd-Krimis, die auf der ganzen Welt Bestseller waren. Als ich sie an diesem nassen Augustabend in die Hand nahm, existierten sie nur als Manuskript, und es war meine Aufgabe, sie zu redigieren, bevor sie gedruckt wurden. Aber erst einmal wollte ich die Lektüre genießen. Ich erinnere mich, dass ich zuerst in die Küche ging, als ich nach Hause kam. Ich holte ein paar Dinge aus dem Kühlschrank und packte sie auf ein Tablett. Dann zog ich mich aus und ließ die Sachen einfach da liegen, wo sie zufällig hinfielen. Die Wohnung war sowieso ein einziges Chaos. Ich duschte, trocknete mich ab und streifte mir das riesige Maisie-Mouse-T-Shirt über, das mir jemand auf der Messe in Bologna geschenkt hatte. Es war zu früh zum Schlafengehen, aber ich wollte mich zum Lesen aufs Bett legen, auch wenn die Laken noch von letzter Nacht verkrumpelt waren. Ich lebe nicht immer so, aber mein Freund war seit sechs Wochen weg, und wenn ich die Wohnung für mich allein hatte, ließ ich mich gern mal ein bisschen gehen. So ein Chaos ist manchmal ganz tröstlich – vor allem, wenn keiner da ist, der sich beschwert. 

Eigentlich hasse ich diesen Ausdruck: »mein Freund«. Besonders wenn es sich um einen zweimal geschiedenen zweiundfünfzigjährigen Mann handelt. Eine gute Alternative wüsste ich allerdings auch nicht. Andreas war nicht mein Lebenspartner. Dafür sahen wir uns nicht häufig genug. Mein Liebhaber? Meine andere Hälfte? Bei so etwas zucke ich immer zusammen – aus den verschiedensten Gründen. Andreas stammte aus Kreta und lehrte Altgriechisch an der Westminster School. Er hatte eine Wohnung in Maida Vale gemietet, gar nicht so weit von mir. Wir redeten immer mal vom Zusammenziehen, aber wir hatten Angst, dass wir damit unsere Beziehung ersticken könnten. Und so hatte ich zwar einen Kleiderschrank voller Sachen von ihm, aber ihn hatte ich durchaus nicht immer. Und jetzt war wieder mal so eine Zeit. Andreas war für die Sommerferien zu seiner Familie nach Kreta geflogen. Seine Eltern, seine verwitwete Großmutter, seine beiden halbwüchsigen Söhne und der Bruder seiner Ex-Frau wohnten alle zusammen in einem Haus. (Das war eines dieser komplizierten Arrangements, wie es die Griechen zu lieben scheinen.) Er würde erst am Dienstag zurückkommen, einen Tag vor Unterrichtsbeginn, und vor dem nächsten Wochenende würde ich ihn nicht zu Gesicht kriegen.

Da stand ich also in meiner Eigentumswohnung in Crouch End. Sie erstreckte sich über das Souterrain und das Erdgeschoss eines viktorianischen Hauses in der Clifton Road, ungefähr fünfzehn Minuten entfernt von der U-Bahn in Highgate. Sie war vermutlich das Vernünftigste, was ich mir jemals gekauft hatte. Ich wohnte gern da. Es war behaglich und ruhig. Den Garten teilte ich mir mit einem Choreographen, der im ersten Stock wohnte, aber praktisch nie da war. Ich hatte natürlich zu viele Bücher. Bei weitem zu viele. Die Regale waren bis auf den letzten Quadratzentimeter gefüllt. Die Bücher stapelten sich übereinander, bis sich die Bretter bogen. Das Gästezimmer hatte ich zu meinem Arbeitszimmer gemacht, obwohl ich versuchte, so wenig wie möglich zu Hause zu arbeiten. Andreas benutzte es mehr als ich – wenn er denn da war.

Ich machte den Wein auf. Ich schraubte das Glas mit dem Salsa Dip auf. Ich steckte mir eine Zigarette an. Ich begann das Buch zu lesen – so wie Sie jetzt. Aber ehe Sie damit anfangen, muss ich Sie warnen.

Dieses Buch hat mein Leben verändert.

Wahrscheinlich haben Sie so was schon öfter gelesen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich diesen Spruch gleich auf den Umschlag des ersten Buchs drucken ließ, das ich jemals betreut habe, einen ziemlich gewöhnlichen Spionage-Thriller. Ich weiß gar nicht mehr, woher ich das hatte, und dieses Buch hätte das Leben wohl auch nur dann für irgendjemand verändert, wenn es ihm aus dem dritten Stock auf den Kopf gefallen wäre. Kommt dieses »Leben verändern« denn überhaupt jemals vor? Ich erinnere mich, wie ich als junges Mädchen für die Brontë-Schwestern und ihre Welt geschwärmt habe: Die melodramatische Handlung, die wilden Landschaften, die ganze schauerliche Romantik. Man könnte sagen, dass ich meine Karriere als Cheflektorin Jane Eyre zu verdanken habe – was in Anbetracht dessen, wie es dann weiterging, ziemlich kurios ist.

Es gibt eine Menge Bücher, die mich sehr berührt haben: Ishiguros Alles, was wir geben mussten, McEwans Abbitte. Ich hab’ auch gehört, dass viele Kinder wegen Harry Potter plötzlich ins Internat wollten, und im Lauf der Geschichte hat es immer wieder Bücher gegeben, die unsere Einstellungen gründlich verändert haben. Lady Chatterley ist ein typisches Beispiel, 1984 ein anderes. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es wirklich so wichtig ist, was wir lesen. Unser Leben verläuft eigentlich immer in den vorgegebenen Bahnen. Die Bücher erlauben uns allenfalls einen Blick auf die Alternativen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir sie schätzen.

Die Morde von Pye Hall allerdings haben alles für mich verändert. Ich wohne jetzt nicht mehr in Crouch End, und meinen Job habe ich auch nicht mehr. Ich habe die meisten meiner Freunde verloren. Als ich mich an diesem Abend niederließ und die erste Seite des Manuskripts las, hatte ich keine Ahnung, was für eine Reise damit beginnen würde, und ich wünschte, dass ich mich nie in diese Sache hätte hineinziehen lassen. Schuld an alledem ist dieser Bastard Alan Conway. Ich habe ihn von Anfang an nicht gemocht, obwohl ich zugeben muss, dass ich seine Bücher immer geliebt habe. Ich finde, ein guter Krimi ist nicht zu schlagen: die überraschenden Wendungen, die Spuren und falschen Hinweise und schließlich die Auflösung, bei der uns in allen Einzelheiten erklärt wird, was eigentlich los war, und man sich wundert, warum man nicht selber darauf gekommen ist. Das war es, was ich erwartete, als ich mit der Lektüre begann. Aber die Morde von Pye Hall waren ganz anders.

Ich hoffe, ich muss nicht noch deutlicher werden. Im Gegensatz zu mir sind Sie zumindest gewarnt worden.

MORDE VON PYE HALL

Ein Atticus-Pünd-Krimi

Von Alan Conway

Über den Autor

Alan Conway wurde in Ipswich geboren. Nach dem Besuch von Chorley Hall, einem privaten Internat, studierte er englische Literatur an der Universität Leeds. Nach dem Examen begann er ein Zweitstudium für kreatives Schreiben an der Universität von East Anglia. Vor seinem ersten großen Erfolg mit Atticus Pünd ermittelt im Jahre 1995 arbeitete er sechs Jahre lang als Lehrer. Das Buch stand achtundzwanzig Wochen auf der Sunday Times-Bestsellerliste und wurde mit dem Gold Dagger der Crime Writers’ Association ausgezeichnet. Seitdem sind aus der Atticus Pünd-Serie weltweit mehr als achtzehn Millionen Bücher in fünfunddreißig Sprachen verkauft worden. Für seine Verdienste um die englische Literatur wurde Alan Conway im Jahr 2012 mit dem MBE ausgezeichnet. Er hat einen Sohn und wohnt in Framlingham, Suffolk.

Weitere Titel aus der Atticus Pünd-Serie:

Atticus Pünd ermittelt

Nachts kommt das Böse

Atticus unterwegs

Gin & Zyankali

Rache ist bitter

Atticus Pünd feiert Weihnachten

Morgenstund hat Blei im Mund

Und das sagt die Presse:

»Alles, was Sie von einem englischen Krimi erwarten. Elegant, unvorhersehbar und gewitzt.« Independent

»Hercule Poirot muss sich warm anziehen! Ein schlauer kleiner Ausländer ist in der Stadt und tritt in seine Fußstapfen.« Daily Mail

»Ich bin ein bekennender Atticus Pünd-Fan. Er führt uns zurück in die goldene Zeit des Kriminalromans und erinnert uns daran, wo wir alle einmal angefangen haben.« Ian Rankin

»Sherlock Holmes, Lord Peter Wimsey, Father Brown, Philip Marlowe, Poirot – die wahrhaft großen Detektive kann man wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Aber seit es Atticus Pünd gibt, braucht man wahrscheinlich noch einen Extra-Finger!« Irish Independent

»»Deutschland hat einen neuen Botschafter. Und der Krimi seinen größten Detektiv.« Der Tagesspiegel

»Alan Conway verhilft seiner inneren Agatha Christie zum Durchbruch. Nur zu! Mir hat es gefallen.« Robert Harris

»Halb Grieche, halb Deutscher und liegt immer richtig? Der Name ist Pünd – Atticus Pünd.« Daily Express

DEMNÄCHST ALS FERNSEHSERIE der BBC!

EINS

Leid

1

23. Juli 1955

Es stand ein Begräbnis bevor. Die beiden Totengräber, der alte Jeff Weaver und sein Sohn Adam, waren in der Morgendämmerung aufgestanden, und jetzt war alles fertig. Das Loch entsprach den genauen Maßen, und die ausgehobene Erde war ordentlich daneben aufgetürmt. Die St.-Botolph-Kirche in Saxby-on-Avon hatte nie tröstlicher ausgesehen, und die Morgensonne spiegelte sich in den Fenstern aus farbigem Glas. Die Ursprünge der Kirche reichten zurück bis ins 12. Jahrhundert, aber sie hatte natürlich mehrfach wieder neu aufgebaut werden müssen. Das neue Grab lag auf der Ostseite, bei den Überresten der alten Kanzel, wo das Gras, die Gänseblümchen und der Löwenzahn zwischen den zerbrochenen Steinbögen wild wuchern durften. Die Straßen des Dorfes waren noch still und verlassen. Der Milchmann hatte seine Kunden bereits beliefert und war mit den klappernden Flaschen auf seinem Wägelchen wieder verschwunden. Die Zeitungsjungen hatten die Runden gemacht. Es war Samstag, niemand würde zur Arbeit gehen, und es war noch zu früh für die ewigen Garten- und Renovierungsarbeiten der Hausbesitzer. Der Dorfladen würde um neun Uhr aufmachen, und aus der Bäckerei daneben drang schon der Duft frischen Brotes. Die ersten Kunden würden bald eintreffen. Sobald das Frühstück vorbei war, würde sich ein Chor von Rasenmähern erheben. Es war Juli, und die fleißige Armee der Gärtner von Saxby-on-Avon hatte alle Hände voll zu tun. Das Erntefest stand bevor, und überall wurden die Rosen geschnitten und Kürbisse nachgemessen. Am Nachmittag um halb zwei sollte es ein Cricket-Match auf dem Gemeindeanger geben. Ein Eiswagen würde bereitstehen, die Kinder würden im Gras spielen, und die Besucher würden auf dem Rasen vor ihren Autos sitzen und ihre Picknickkörbe auspacken. Das kleine Café würde Tee und Scones anbieten. Ein perfekter englischer Sommertag.

Aber so weit war es noch nicht. Es schien, als ob das Dorf noch respektvoll den Atem anhielte und auf den Sarg wartete, der in Bath seine Reise antrat. Jetzt gerade wurde er auf den Leichenwagen geladen, umringt von seinen Begleitern – fünf Männern und einer Frau, deren Blicke sich auswichen, als ob sie nicht wüssten, wohin sie schauen sollten. Vier der Männer waren professionelle Sargträger von dem hochangesehenen Bestattungsunternehmen Lanner & Crane. Die Firma bestand schon seit dem 19. Jahrhundert, war damals allerdings noch eine Schreinerei gewesen. Die Särge und die Beerdigungen bildeten zunächst nur einen Seitenzweig, eine Art Anhängsel. Aber kurioserweise hatte gerade dieser Teil des Geschäfts überlebt. Lanner & Crane bauten längst keine Möbel und Häuser mehr, ihr Name war vielmehr ein Markenzeichen für den respektvollen Umgang mit Toten.

Das heutige Ereignis war allerdings nur die »einfache Erdbestattung mit kleinem Blumenschmuck«. Der Leichenwagen war ein älteres Modell. Es gab keine schwarzen Pferde oder teuren Kränze. Der Sarg war poliert, bestand aber doch nur aus minderwertigem Holz. Eine einfache, dünn versilberte Plakette trug den Namen der Verstorbenen und die Lebensdaten:

Mary Elizabeth Blakiston
5. April 1897-15. Juli 1955

Ihr Leben war nicht so lang gewesen, wie es schien. Es überspannte zwar zwei Jahrhunderte, war dann aber überraschend beendet worden. Die bisher eingezahlten Raten für den Bestattungsvertrag hätten bei weitem nicht ausgereicht, um die Kosten zu decken, und die Versicherung musste einspringen, aber es würde alles so ablaufen, wie es sich die Verstorbene wohl gewünscht hätte.

Der Leichenwagen begann die acht Meilen lange letzte Reise der Toten genau in dem Augenblick, als der Zeiger der Uhr auf halb zehn sprang. Beim angemessen geruhsamen Tempo würde er die Kirche pünktlich zur vollen Stunde erreichen. Wenn Lanner & Crane ein Motto gehabt hätten, wäre es vielleicht »Nie zu spät« gewesen. Obwohl die beiden Trauergäste, die mit dem Sarg reisten, sie vermutlich gar nicht beachteten, hatte die Landschaft nie lieblicher ausgesehen. Die Wiesen hinter den niedrigen Steinmauern neben der Straße fielen sanft zum Avon ab, der sie den ganzen Weg begleitete.

Auf dem Friedhof von St. Botolph betrachteten die beiden Totengräber ihr Werk. Man kann viele Dinge über eine Beerdigung sagen, nachdenkliche, tiefsinnige und philosophische Dinge, aber Jeff Weaver traf es genau richtig, als er sich auf seinen Spaten lehnte und sich eine Zigarette zwischen den lehmigen Fingern drehte. »Wenn du stirbst«, sagte er zu seinem Sohn, »kannst du dir keinen schöneren Tag wünschen.«

2

Am Küchentisch im Pfarrhaus nahm Reverend Robin Osborne noch letzte Verbesserungen an seiner Predigt vor. Sechs Schreibmaschinenseiten lagen vor ihm auf dem Tisch, aber die säuberlich getippten Blätter waren jetzt schon mit zahllosen Korrekturen und Ergänzungen in seiner fahrigen Handschrift bedeckt. War sie zu lang? Es hatte in letzter Zeit ein paar versteckte Bemerkungen aus der Gemeinde gegeben, dass sich seine Ausführungen recht lange hinzögen, und bei der Pfingstsonntagspredigt hatte der Bischof sogar gegähnt. Aber heute war es doch etwas anderes. Mrs Blakiston hatte ihr gesamtes Leben im Dorf verbracht. Jeder kannte sie. Die Gemeinde konnte doch wohl eine halbe Stunde – oder vielleicht sogar vierzig Minuten – ihrer Zeit aufbringen, um sich von ihr zu verabschieden?

Die Küche war ein breiter, freundlicher Raum, in dem ein großer gusseiserner AGA-Herd das ganze Jahr behagliche Wärme verbreitete. Töpfe und Pfannen hingen an den Wänden, und in den Regalen standen Gläser mit frischen Kräutern und getrockneten Pilzen, die das Ehepaar Osborne gesammelt hatte. Im oberen Stockwerk gab es zwei Schlafzimmer mit gemütlichen Wollteppichen, handbestickten Bettbezügen und neuen Oberlichtern, die erst nach langen Beratungen mit der Kirche eingebaut worden waren. Aber das Schönste am Pfarrhaus war seine Lage am Rand des Dorfes, von wo aus man über eine bewaldete Senke hinausblickte, die allgemein Dingle Dell genannt wurde. Erst kam eine wilde, im Frühling und Sommer stets blumengesprenkelte Wiese, dann ein Waldstreifen, der vor allem aus Eichen und Ulmen bestand und den Park von Pye Hall verbarg – den See, die Rasenflächen und das Herrenhaus selbst. Jeden Morgen, wenn er erwachte, stand Robin Osborne vor einem Ausblick, der ihn immer wieder entzückte. Manchmal dachte er, dass er in einem Märchen lebte.

Das Pfarrhaus war nicht immer so gewesen. Als sie das Haus und die Diözese vor Jahren von dem alten Reverend Montagu übernommen hatten, war es das Haus eines alten Mannes gewesen, kalt, feucht und ungastlich. Aber Henrietta hatte gezaubert. Sie hatte die Möbel, die ihr zu hässlich und unbequem waren, hinausgeworfen und so lange in den Secondhand-Läden von Wiltshire und Avon herumgesucht, bis alles auf ideale Weise ersetzt war. Ihre Energie verblüffte ihn immer wieder. Dass sie bereit gewesen war, einen Pfarrer zu heiraten, war an und für sich schon erstaunlich genug, aber sie hatte sich mit einer Begeisterung auf ihre Pflichten gestürzt, die sie vom ersten Tag an beliebt gemacht hatte. Die beiden waren sehr glücklich in Saxby-on-Avon. Allerdings bedurfte das Kirchengebäude noch einiger Aufmerksamkeit. Die Heizung war dauernd kaputt, und das Dach war nicht dicht. Aber der Bischof war mit dem Gottesdienstbesuch mehr als zufrieden, und viele der Gemeindemitglieder konnten sie mittlerweile als Freunde betrachten. Es wäre ihnen im Traum nicht eingefallen, irgendwo anders hinzugehen.

»Sie war ein Teil unseres Dorfes. Gerade heute, wo wir von ihr Abschied nehmen, sollten wir uns daran erinnern, was sie uns hinterlassen hat. Mary hat Saxby-on-Avon für alle ein bisschen schöner gemacht. Ob es darum ging, am Sonntag die Kirche mit Blumen zu schmücken, sich um die Alten und Kranken in Ashton House und im Dorf zu kümmern, Spenden für den Vogelschutzbund zu sammeln oder Besucher in Pye Hall zu begrüßen – sie war immer im Einsatz. Ihr selbstgebackener Kuchen war stets ein Höhepunkt bei unserem Dorffest, und ich kann Ihnen auch verraten, dass sie mich oft genug in der Sakristei mit ihren Mandelplätzchen oder einem Stück Victoria Sponge Cake überrascht hat.«

Osborne versuchte sich die Frau noch einmal vorzustellen, die ihr Leben als Haushälterin von Pye Hall verbracht hatte. Klein, dunkelhaarig und entschlossen, war sie praktisch immer in Eile gewesen, wie auf einem persönlichen Kreuzzug. In seiner Erinnerung sah er sie mit einer gewissen Distanz, denn genau genommen waren sie im Lauf der Jahre nie lange im selben Raum gewesen. Bei ein, zwei gesellschaftlichen Anlässen waren sie aufeinandergetroffen, aber viele waren es nicht gewesen. Die Leute in Saxby-on-Avon waren keine richtigen Snobs, hatten aber doch ein gut entwickeltes Standesbewusstsein, und während ein Pfarrer in jeder Gesellschaft als passende Zutat betrachtet wurde, konnte man das von jemandem, der letztlich nur eine bessere Putzfrau war, natürlich nicht sagen. Vielleicht hatte sie das gespürt. Sogar in der Kirche hatte sich Mary meist auf eine der hinteren Bänke gesetzt. Und die Art, in der sie anderen half, hatte etwas Unterwürfiges, so als glaubte sie, dass sie dazu verpflichtet wäre. Oder war es viel einfacher? Wenn er über sie nachdachte und las, was er geschrieben hatte, fiel ihm nur ein einziges Wort ein: Wichtigtuerei. Es war nicht fair, und er hätte es sicher nicht laut gesagt, aber er musste zugeben, dass es auch nicht ganz falsch war. Sie war die Sorte Frau, die überall mitmischte, nicht nur beim Kuchenteigrühren. Sie hatte Wert darauf gelegt, sich mit jedem im Dorf zu befassen. Irgendwie war sie immer da, wenn man sie brauchte. Das Dumme war, dass sie manchmal auch da gewesen war, wenn man sie nicht brauchte.

Osborne erinnerte sich, dass er sie vor kurzem sogar hier in seiner Küche angetroffen hatte. Er ärgerte sich über sich selbst. Er hätte damit rechnen müssen. Henrietta hatte sich schon mehrfach darüber beschwert, dass er die Haustür immer offen ließ, als ob das Pfarrhaus nicht ihre Privatwohnung, sondern Teil der Kirche wäre. Er hätte auf seine Frau hören sollen. Mary hatte unverhofft in der Küche gestanden und eine kleine Flasche mit einer grünen Flüssigkeit hochgehalten wie einen mittelalterlichen Abwehrzauber gegen Dämonen. »Guten Morgen, Herr Pfarrer! Ich habe gehört, Sie haben Ärger mit Wespen. Ich habe Ihnen eine Flasche Pfefferminzöl mitgebracht. Das wird sie vertreiben. Meine Mutter hat darauf geschworen!« Es stimmte. Es hatte Wespen im Pfarrhaus gegeben – aber woher hatte sie das gewusst? Osborne hatte nur mit Henrietta darüber gesprochen, und die hatte es bestimmt nicht weitererzählt. Andererseits – in einer Gemeinde wie Saxby-on-Avon konnte man wohl nichts anderes erwarten. Auf unergründliche Weise wusste jeder alles über jeden; und wenn man im Badezimmer mal niesen musste, erschien gleich jemand mit einem Taschentuch.

Als er sie da stehen sah, hatte Osborne nicht gewusst, ob er gerührt oder ärgerlich sein sollte. Er hatte ein paar Dankesworte gemurmelt, aber er hatte auch auf den Tisch gestarrt. Und da lagen sie, mitten zwischen seinen Papieren. Wie lange war diese Frau schon in der Küche gewesen? Hatte sie sie gesehen? Sie hatte nichts weiter gesagt, und natürlich wagte er nicht, sie danach zu fragen. Er hatte die Frau so rasch wie möglich hinausgedrängt, und das war das letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen hatte. Er und Henrietta waren in Urlaub gewesen, als sie gestorben war. Sie waren gerade rechtzeitig zurückgekehrt, um sie zu beerdigen.

Er hörte Schritte und hob den Kopf, als Henrietta hereintrat. Sie kam frisch aus der Badewanne und trug noch ihren Morgenmantel aus Frottee. Sie war Ende vierzig, aber immer noch sehr attraktiv. Ihr kastanienfarbenes, üppiges Haar krönte eine Figur, die man in Modezeitschriften wahrscheinlich als »vollschlank« bezeichnet hätte. Als jüngste Tochter eines reichen Bauern kam sie aus einer anderen Welt. Ihr Vater besaß tausend Morgen Land in West Sussex, aber kennengelernt hatten sie sich in London, bei einem Vortrag in der Wigmore Hall. Sie hatten sofort eine große Nähe empfunden. Sie mussten ohne Zustimmung ihrer Eltern heiraten, aber das hatte sie nur noch fester zusammengeschmiedet. Ihr einziger Kummer war, dass ihre Ehe nicht mit Kindern gesegnet war, aber das war natürlich Gottes Wille und sie hatten sich damit abgefunden. Sie waren einfach froh und glücklich, zusammen zu sein.

»Ich dachte, die Predigt wäre längst fertig«, sagte sie. Sie hatte Butter und Honig aus der Speisekammer geholt und schnitt sich eine Scheibe Weißbrot ab.

»Nur noch ein paar Ideen in letzter Minute.«

»Also, ich würde nicht zu lange reden, Robin. Es ist schließlich Samstag, und die Leute haben noch etwas anderes vor.«

»Wir treffen uns hinterher in den Queen’s Arms. Um elf.«

»Das ist schön.« Henrietta brachte den Teller mit ihrem Frühstück zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. »Hat Sir Magnus eigentlich auf deinen Brief geantwortet?«

»Nein, aber ich bin sicher, er kommt.«

»Na ja, er lässt ganz schön auf sich warten.« Henrietta beugte sich über den Tisch und las eins der Blätter. »Das kannst du unmöglich sagen.«

»Was?«

»Herz und Seele von jeder Gesellschaft.«

»Warum nicht?«

»Weil sie das nicht gewesen ist. Ich fand sie immer sehr zugeknöpft und geheimniskrämerisch, wenn du’s genau wissen willst. Es war nicht einfach, mit ihr zu reden.«

»Auf der Weihnachtsfeier war sie doch sehr unterhaltsam.«

»Sie hat bei allen Liedern mitgesungen, das meinst du. Aber man wusste nie genau, was sie dachte. Ich kann nicht sagen, dass ich sie sehr gemocht hätte.«

»Red nicht so über sie, Henny. Jedenfalls nicht heute.«

»Ich wüsste nicht, warum. Das ist es, was ich an Beerdigungen nicht leiden kann. Sie sind so ungeheuer verlogen. Jeder sagt bloß, wie fabelhaft der Verstorbene war, wie nett und wie großzügig, auch wenn sie tief im Innersten wissen, dass es nicht stimmt. Ich hab’ Mary Blakiston nie gemocht, und ich werde jetzt nicht anfangen, Loblieder auf sie zu singen, bloß weil sie es geschafft hat, die Treppe runterzufallen und sich den Hals zu brechen.«

»Du bist ziemlich unfreundlich.«

»Ich bin bloß ehrlich, Robby. Und ich weiß, dass du genau dasselbe denkst – auch wenn du dir etwas anderes einzureden versuchst. Aber mach dir keine Sorgen! Ich werde dich schon nicht vor der Trauergemeinde blamieren.« Sie verzog das Gesicht. »So, ist das traurig genug?«

»Musst du dich nicht umziehen?«

»Liegt alles schon oben bereit. Schwarzes Kleid, schwarzer Hut, schwarze Perlen.« Sie seufzte. »Wenn ich sterbe, will ich kein Schwarz tragen. Das ist so freudlos. Versprich’s mir. Ich möchte in Rosa begraben werden, mit einem dicken Begonienstrauß in den Händen.«

»Du wirst nicht sterben. Jedenfalls nicht so bald. Jetzt geh hoch und zieh dich an.«

»Schon gut. Schon gut. Hetz mich nicht, du alter Antreiber!«

Sie beugte sich über ihn, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken, und er spürte ihre warmen Brüste an seinem Hals. Sie rannte nach oben und ließ ihr Frühstücksgeschirr auf dem Tisch stehen. Osborne lächelte, als er zu seiner Predigt zurückkehrte. Vielleicht hatte Henny ja Recht. Ein, zwei Seiten konnte man wirklich streichen. Noch einmal überlas er, was er geschrieben hatte.

»Mary Blakiston hatte kein einfaches Leben. Kurz nachdem sie nach Saxby-on-Avon gekommen war, traf sie ein schweres persönliches Unglück, das sie leicht hätte erdrücken können. Aber sie hat sich dagegen gewehrt. Sie war eine dieser zupackenden Frauen, die es mit dem Leben aufnehmen und nicht zulassen, dass es sie überwältigt. Und wenn wir sie heute neben ihrem Sohn zur Ruhe legen, den sie so geliebt und auf so tragische Weise verloren hat, finden wir vielleicht in dem Gedanken Trost, dass sie jetzt endlich wieder zusammen sein werden.«

Osborne las den Absatz gleich zweimal. Wieder sah er sie hier in der Küche gleich neben dem Tisch stehen. »Ich habe gehört, Sie haben Ärger mit Wespen.« Hatte sie etwas gesehen? Hatte sie es gewusst?

Die Sonne schien hinter einer Wolke verschwunden zu sein, denn plötzlich fiel ein Schatten auf Osbornes Gesicht. Er streckte die Hand aus, zerriss die ganze Seite und warf sie in den Müll.

3

Dr. Emilia Redwing war früh aufgewacht. Sie hatte noch eine Stunde im Bett gelegen und gehofft, dass sie vielleicht wieder einschlafen würde, dann war sie aufgestanden, hatte ihren Morgenmantel übergezogen und sich ihren Tee gemacht. Seitdem hatte sie in der Küche gesessen und zugesehen, wie die Sonne über dem Garten aufging und die Ruinen von Saxby Castle hell aufleuchten ließ, einer Burg aus dem 13. Jahrhundert, die zwar die Fantasie der Amateurhistoriker beflügelte, aber leider jeden Nachmittag einen tiefen Schatten über ihr Haus warf. Mittlerweile war es halb neun, und die Zeitung war vermutlich schon durch den Türschlitz gefallen. Aber stattdessen beschäftigte Dr. Redwing sich mit den Patientenakten, die sie herausgekramt hatte, um sich von dem abzulenken, was der Tag bringen würde. Normalerweise war die Praxis am Samstagmorgen geöffnet, aber wegen der Beerdigung blieb sie heute geschlossen. Nun ja, vielleicht war das eine gute Gelegenheit, um mit dem Papierkram ein bisschen weiterzukommen.

In einem Dorf wie Saxby-on-Avon gab es nicht viel zu behandeln. Wenn es etwas gab, was die Bewohner von dieser Erde hinwegtrug, dann war es Altersschwäche, und dagegen konnte auch Dr. Redwing nicht allzu viel ausrichten. Sie warf einen müden Blick auf die Krankengeschichten der letzten Zeit. Miss Dotterel, die im Dorfladen half, hatte eine Woche mit Masern im Bett verbracht. Der neunjährige Billy Weaver hatte einen hässlichen Keuchhusten gehabt, war aber mittlerweile auf dem Wege der Besserung. Sein Großvater, Jeff Weaver, hatte Arthritis, aber die hatte er nun schon seit Jahren, und sie wurde weder besser noch schlimmer. Johnny Whitehead hatte sich in die Hand geschnitten. Henrietta Osborne, die Frau des Pfarrers, war in einen Giftstrauch getreten und aus irgendeinem Grund hatte sich dadurch ihr gesamter Fuß entzündet. Ansonsten schien der warme Sommer der Gesundheit des Dorfes nicht weiter geschadet zu haben.

Nun ja, es waren nicht alle unbeschädigt davongekommen. Nein. Es hatte einen Todesfall gegeben.

Dr. Redwing schob die Akten beiseite und begann, den Frühstückstisch für sich und ihren Mann zu decken. Sie hatte Arthur schon oben rumoren hören, und als er sich sein Bad einließ, hatten wie immer die Wasserrohre gejault und gerasselt. Das Haus war mindestens fünfzig Jahre alt, und die Leitungen beschwerten sich jedes Mal heftig, wenn sie zur Arbeit gezwungen wurden, aber sie funktionierten zumindest. Arthur würde gleich herunterkommen. Dr. Redwing schnitt vier Scheiben Toast ab, füllte einen Topf mit Wasser und stellte ihn auf den Herd, holte die Milch und die Cornflakes.

Arthur und Emilia Redwing waren seit dreißig Jahren verheiratet; eine glückliche und erfolgreiche Ehe, dachte sie, auch wenn nicht alles so verlaufen war, wie sie gehofft hatten. Vor allem war da Sebastian, ihr einziges Kind. Er war jetzt vierundzwanzig und wohnte in London bei diesen Beatniks. Wie kam es nur, dass er so eine Enttäuschung war? Wann genau hatte er sich von ihnen abgewandt? Seit Monaten hatten sie nichts mehr von ihm gehört, sie wussten nicht mal, ob er noch lebte. Und dann Arthur selbst. Er war Architekt gewesen – ein ziemlich guter. Für einen seiner Entwürfe an der Kunstakademie hatte er sogar die Sloane-Medaille des Royal Institute of British Architects erhalten. Er hatte bei verschiedenen der neuen Bauten mitgearbeitet, die nach dem Krieg errichtet worden waren. Aber eigentlich war seine große Liebe die Ölmalerei, vor allem Porträts, und vor acht Jahren hatte er seine Karriere aufgegeben, um freier Künstler zu werden. Emilia hatte ihn dabei sehr unterstützt.

Eins seiner Werke hing im Esszimmer neben der Anrichte. Es war ein Porträt von Emilia, das er vor zehn Jahren gemalt hatte. Sie musste immer lächeln, wenn sie es ansah, und an das anhaltende Schweigen denken, als sie – umgeben von wilden Blumen – für ihn gesessen hatte. Arthur redete nie bei der Arbeit. Es war ein langer, heißer Sommer gewesen, und sie hatten fast ein Dutzend Sitzungen dafür gebraucht. Es war Arthur gelungen, die Hitze, die dunstige Nachmittagssonne und den Wiesenduft einzufangen. Sie trug ein langes Kleid und einen Strohhut »wie ein weiblicher van Gogh«, hatte sie einmal im Spaß gesagt. Aber die üppigen Farben und groben Pinselstriche erinnerten tatsächlich an den niederländischen Maler. Sie war keine schöne Frau. Das wusste sie. Ihr Gesicht war zu streng, ihre breiten Schultern und das dunkle Haar zu männlich. Ihre Haltung war gouvernantenhaft, sie glich einer Lehrerin, und die Leute fanden sie immer zu förmlich. Nur Arthur hatte die Schönheit in ihr entdeckt. Wenn das Bild in London in einer Galerie hängen würde, könnte niemand daran vorbeigehen, ohne ein zweites Mal hinzuschauen.

Aber es hing nicht in London. Sondern hier. Die Galerien in London waren an Arthur und seiner Arbeit nicht interessiert. Emilia konnte das nicht begreifen. Sie hatten die Sommerausstellung der Royal Academy zusammen besucht und die neuesten Bilder von James Gunn und Sir Alfred Munnings betrachtet. Auch ein umstrittenes Porträt der Königin von Simon Elwes war gezeigt worden. Aber im Vergleich zum Werk ihres Mannes sah das alles sehr gewöhnlich und ängstlich aus. Warum erkannte bloß niemand das Genie Arthur Redwings?

Sie nahm drei Eier und legte sie vorsichtig in den Topf mit dem kochenden Wasser – eins für sie, zwei für ihn. Eins davon platzte sofort, und Dr. Redwing musste wieder einmal an den zertrümmerten Schädel von Mary Blakiston nach ihrem Sturz denken. Sie konnte es nicht unterdrücken. Auch jetzt noch schauderte ihr bei dem Gedanken an diesen Anblick. Warum das so war, konnte sie sich allerdings nicht erklären. Es war ja nicht die erste Leiche, die sie gesehen hatte, und bei ihrer Arbeit während der deutschen Luftangriffe auf London hatte sie Verletzte mit weitaus schlimmeren Wunden behandelt. Was war in diesem Falle so anders?

Vielleicht lag es daran, dass sie sich nahegestanden hatten. Die Haushälterin und die Ärztin hatten zwar fast keine Gemeinsamkeiten. Aber irgendwie hatte sie die Frau doch als Freundin betrachtet. Begonnen hatte es damit, dass Mary Blakiston ihre Patientin geworden war. Sie hatte monatelang unter einer Gürtelrose gelitten, und Dr. Redwing war sowohl von ihrer Leidensfähigkeit als auch von ihrem gesunden Menschenverstand sehr beeindruckt gewesen. Sie schätzte sie als Gesprächspartnerin. Allerdings musste sie vorsichtig sein. Sie durfte ja ihre ärztliche Schweigepflicht nicht verletzen. Aber wenn sie etwas beunruhigte, konnte sie sich immer darauf verlassen, dass Mary eine gute Zuhörerin war, die ihr vernünftige Ratschläge gab.

Und dann dieses Ende: An einem ganz gewöhnlichen Morgen vor einer Woche kam plötzlich ein Anruf von Brent, dem Gärtner von Pye Hall.

»Dr. Redwing, können Sie bitte rasch kommen? Mrs Blakiston liegt unten an der Treppe im Haupthaus. Ich glaube, sie hat einen Unfall gehabt.«

»Bewegt sie sich?«

»Ich glaube nicht.«

»Sind Sie bei ihr?«

»Ich komme nicht rein. Die Türen sind abgeschlossen.« Brent war Anfang dreißig, ein zerknitterter junger Mann mit schmutzigen Fingernägeln und trotziger Gleichgültigkeit in den Augen. Er kümmerte sich um die Blumenbeete, pflegte den Rasen und verscheuchte gelegentlich Leute vom Grundstück, die dort nichts zu suchen hatten. Genauso wie vor ihm sein Vater. Zum Park von Pye Hall gehörte ein See, und die Kinder liebten es, im Sommer dort zu baden – aber nicht, wenn Brent in der Nähe war! Er war ein Einzelgänger, unverheiratet, und lebte allein in dem Haus, das seinen Eltern gehört hatte. Die Leute im Dorf mochten ihn nicht besonders, er galt als verschlagen. In Wirklichkeit war er bloß ungebildet und möglicherweise ein bisschen autistisch, aber die kleine Landgemeinde hatte längst ihre eigenen Schlüsse gezogen. Dr. Redwing sagte ihm, er solle am Haupteingang warten, griff nach ihrer Notfalltasche und sagte der Sprechstundenhilfe, sie solle etwaige andere Patienten vertrösten. Dann rannte sie zu ihrem Auto.

Pye Hall lag auf der anderen Seite von Dingle Dell, fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt. Mit dem Auto brauchte man fünf Minuten. Das Gutshaus war immer schon da gewesen, so lange wie das Dorf jedenfalls, und obwohl es ein architektonischer Mischmasch aus mehr als einer Epoche war, gab es in der ganzen Gegend kein nobleres Herrenhaus. Es hatte sein Leben als Nonnenkloster begonnen und war erst im sechzehnten Jahrhundert privater Besitz geworden. Danach war es praktisch in jedem Jahrhundert umgebaut und restauriert worden. Herausgekommen war dabei ein langgestrecktes Gebäude mit einem sehr viel später hinzugefügten achteckigen Turm. Die meisten Fenster stammten noch aus der elisabethanischen Zeit, sie waren schmal und durch einen Mittelpfosten geteilt. Aber es gab auch Anbauten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, die sich unter dichtem Efeu versteckten, als ob es ihnen peinlich wäre, dass sie überhaupt da waren. Hinter dem Haus lag ein geräumiger Hof mit den Überresten des Kreuzgangs. Die Stallungen wurden jetzt als Garage benutzt. Aber das Beste am Gutshaus war seine Umgebung: ein großes Tor mit zwei von steinernen Greifen gekrönten Pfeilern, eine breite, gekieste Allee, das Pförtnerhaus (in dem jetzt Mary Blakiston wohnte) und eine elegant geschwungene Auffahrt, die vor dem Haupteingang mit seinem gotischen Spitzbogen endete. Die Blumenbeete des Gartens waren von schönen Hecken umschlossen und so bunt wie die Farbtupfer auf einer Malerpalette. Der Rosengarten enthielt angeblich mehr als hundert verschiedene Sorten. Der Rasen erstreckte sich bis hinunter zum See, auf dessen anderer Seite das Dingle-Dell-Wäldchen lag. Der ganze Park war von Laubwald umgeben, der sich im Frühling mit blauen Hyazinthen füllte und das Haus vor der modernen Welt schützte.

Die Reifen knirschten auf dem gekiesten Weg, als Dr. Redwing den Wagen zum Stehen brachte und den Gärtner entdeckte, der sie ängstlich zu erwarten schien und dabei die Mütze in seiner Hand drehte. Sie stieg aus, griff nach ihrer Tasche und ging zu ihm hinüber.

»Gibt es irgendwelche Lebenszeichen?«, fragte sie.

»Ich hab’ nicht nachgesehen«, murmelte er. Dr. Redwing war verblüfft. Hatte er der armen Frau nicht zu helfen versucht?

Als er ihren Gesichtsausdruck sah, ergänzte er: »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht reinkann.«

»Ist die Haustür abgeschlossen?«

»Ja, Ma’am. Die Küchentür auch.«

»Haben Sie keinen Schlüssel?«

»Nein, Ma’am. Im Haus hab’ ich nichts zu suchen.«

Dr. Redwing schüttelte verärgert den Kopf. In der Zeit, die sie für die Anfahrt gebraucht hatte, hätte er längst etwas unternehmen können. Zum Beispiel eine Leiter holen. Dann hätten sie in eins der oberen Fenster einsteigen können. »Wie haben Sie mich denn angerufen, wenn Sie nicht ins Haus konnten?«, fragte sie scharf.

»Es gibt ein Telefon im Stall.«

»Jetzt zeigen Sie mir endlich, wo sie liegt.«

»Sie können durchs Fenster schauen.«

Das fragliche Fenster lag an der Seite, die zu den neueren Teilen des Hauses gehörte. Man konnte in die Eingangshalle hineinsehen, von der eine breite Treppe ins obere Stockwerk hinaufführte. Und tatsächlich: Da lag Mary Blakiston ausgestreckt auf dem Teppich. Der eine Arm war leicht angewinkelt und verdeckte den Kopf. Schon beim ersten Blick war Dr. Redwing sich ziemlich sicher, dass die Frau tot war. Irgendwie war sie die Treppe hinuntergefallen und hatte sich das Genick gebrochen. Sie rührte sich nicht, und der Körper lag in einer so unnatürlichen Haltung, dass die Sache recht eindeutig schien. Mary Blakiston lag da wie eine zerbrochene Puppe, und das war genau das Bild, das Dr. Redwing aus ihren Medizinbüchern kannte.

Aber nicht immer waren die Dinge so, wie sie aussahen. Man durfte sich nicht bloß auf seinen Instinkt verlassen.

»Wir müssen da rein«, sagte sie. »Die Haustür und die Küchentür sind vielleicht abgeschlossen, aber es muss ja noch einen anderen Weg geben.«

»Wir könnten die Stiefelkammer versuchen.«

»Wo ist die?«

»Hier entlang, bitte …« Brent führte sie zu einer Tür auf der Hinterseite des Hauses. Sie hatte ein kleines Glasfenster, und obwohl sie fest verschlossen war, sah Dr. Redwing, dass auf der Innenseite ein Schlüssel im Schloss steckte. Und an dem Schlüsselbund, der daran herunterhing, waren noch zahlreiche weitere Schlüssel befestigt.

»Wem gehören die?«, fragte sie.

»Das müssen wohl ihre sein.«

Die Ärztin fasste einen Entschluss. »Wir müssen das Fenster einschlagen.«

»Da wird Sir Magnus sich aber nicht freuen«, murmelte Brent.

»Das geht auf meine Verantwortung«, sagte sie. »Sir Magnus kann sich an mich wenden. Soll ich die Scheibe einschlagen, oder tun Sie das?«

Der Gärtner war nicht glücklich darüber, aber er suchte sich einen Stein und schlug damit eine der beiden Scheiben ein. Dann schob er die Hand hinein und drehte den Schlüssel im Schloss. Die Tür ging auf, und sie konnten ins Haus.

Während sie auf die Eier im kochenden Wasser starrte, erinnerte sich Dr. Redwing genau an die Szene. Sie war gestochen scharf – wie eine Fotografie.