Alois Prinz

Martin Luther King

Insel Verlag

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Vorwort

I have a dream

Ein Extremist der Liebe – Martin Luther King

»I have a dream« – dieser Satz fällt einem unwillkürlich ein, wenn an Martin Luther King erinnert wird. Dazu gehören die Bilder von der großen Demonstration für die Bürgerrechte der schwarzen Bevölkerung am 28. August 1963 in Washington. Die riesige Menschenmenge unterhalb des Denkmals für Abraham Lincoln. Der eher kleine, dunkelhäutige Mann mit dem runden Kopf und dem Oberlippenbart vor dem Rednerpult mit den Mikrofonen. Er war der letzte in einer langen Liste von Rednern an diesem glutheißen Nachmittag. Er wusste, dass ihm nicht nur die Zehntausende von Menschen vor Ort zuhörten, sondern Millionen vor den Fernsehapparaten. Den ersten Sätzen, die er sprach, merkte man noch seine Nervosität an. Dann wurde seine Stimme fester und steigerte sich zu jenem pathetischen Ton, der sein Markenzeichen war. »Denke daran, dass du nur ein Kanal der Wahrheit bist und nicht die Quelle«, ermahnte sich King stets, bevor er eine Predigt oder eine Rede hielt. Und in der Tat erschien es vielen so, als kämen seine Worte von woanders her und erreichten durch ihn hindurch die gebannt zuhörenden Menschen. Er beschwor eine Welt, die nicht mehr von Rassenhass zerrissen ist. Eine Welt, in der schwarze und weiße Kinder friedlich zusammenleben und nicht mehr nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden. Eine Welt, in der alle Religionen, Rassen und Nationen sich brüderlich die Hände reichen. »I have a dream« – war er ein Träumer, dieser Martin Luther King?

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1. Martin Luther King beim Marsch auf Washington, D.C., 28. August 1963

Spätestens nach der Rede auf den Stufen des Lincoln Memorial galt Martin Luther King als Wortführer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Er wurde ins Weiße Haus eingeladen, er wurde mit Auszeichnungen und Ehrungen überhäuft, und 1964 wurde ihm sogar in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen.

Das waren die glanzvollen Höhepunkte seines kurzen Lebens, eines Lebens, das eine dunkle Kehrseite hatte. Fast täglich bekam er Drohbriefe, in denen er als »dreckiger Nigger« beschimpft wurde. Er und seine Familie lebten in dauernder Angst vor Anschlägen. Weiße Rassisten warfen eine Bombe auf sein Haus. Der amerikanische Geheimdienst, das FBI, denunzierte ihn als gefährlichen »Kommunisten« und »schamlosen Betrüger«. Wenn er eine Demonstration anführte, musste er damit rechnen, von Polizeihunden gebissen, von Steinen getroffen, von Wasserwerfern umgerissen zu werden. Viele Male wurde er grundlos verhaftet, von Polizisten misshandelt, an die zwanzig Mal saß er im Gefängnis. Und schließlich wurde er im Alter von nur neununddreißig Jahren von einem bezahlten Killer erschossen.

Wie kann es sein, dass ein Mann, der sich selbst keinen Hass erlaubte und Gewalt strikt ablehnte, so gehasst wurde? Was er forderte, musste für jeden christlich oder humanistisch denkenden Menschen selbstverständlich sein: dass nämlich alle Menschen gleichwertig sind und gleich behandelt werden müssen. Das war der »Scheck«, den Abraham Lincoln ausgestellt hatte, als er die Sklaverei abschaffte. Als King vor dem Hintergrund der gewaltigen Lincoln-Statue seine berühmte Rede hielt, forderte er die Regierung dazu auf, diesen Scheck endlich einzulösen.

Zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten gehört aber auch der Glaube, dass jeder Mensch das Recht hat, sich zu wehren. Tief verwurzelt im Volk ist der Pioniergeist der ersten Siedler, die das Land erobert und ihr Recht mit Gewalt verteidigt haben. Die Bedeutung, die Schusswaffen noch heute in den USA haben, gehört zu dieser Tradition. Die Idee eines gewaltlosen Protestes steht dieser Tradition diametral entgegen. Dabei ist es für Martin Luther King eine unbestreitbare Tatsache, dass sich mit Gewalt nie ein Konflikt lösen lässt. Die Geschichte der Menschheit liefert unzählige Beweise dafür. Immer endete der Einsatz von Gewalt mit neuer Gewalt und Zerstörung. Immer zielte Gewalt darauf ab, den Gegner zu demütigen, der auf diese Erniedrigung mit neuer Gewalt reagierte. Immer schuf Gewalt mehr Probleme, als sie löste. Immer konnte man mit Gewalt einen kurzzeitigen Triumph feiern, aber nie einen dauerhaften Frieden schaffen. Immer bedeutete Gewalt das Ende von Verständigung und von Dialog.

Trotz dieser immer wieder gemachten Erfahrung hörten die Menschen nicht auf, Konflikte mit Gewalt lösen zu wollen. Philosophen und Denker erklärten diese scheinbare Zwangsläufigkeit damit, dass Gewalt in der Natur des Menschen liege. Martin Luther King weigerte sich zu akzeptieren, dass der Mensch einem naturhaften Trieb zur Gewalt ausgeliefert ist. Er war überzeugt davon, dass jeder aus dem Teufelskreis der Gewalt aussteigen kann. Jesus von Nazareth, der Apostel Paulus, Franz von Assisi, der Urwalddoktor Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi oder andere namenlose friedfertige Helden waren für ihn der Beweis dafür. Sie waren Rebellen, aber gewaltlose Rebellen. »Extremisten der Liebe« nennt King sie einmal. Der Weg des gewaltlosen Widerstands, den sie gingen, ist für King »keine Methode für Feiglinge«. Wer nur aus Angst gewaltlos ist oder wer nur friedlich ist, weil ihm die Waffen fehlen, der ist in Wahrheit nicht für diese Form des zivilen Ungehorsams geeignet. Wer Widerstand leistet, ohne Gewalt anzuwenden, nimmt Unrecht nicht passiv hin. Er ist geistig höchst aktiv, versucht, seine Feinde zu verstehen, ja zu lieben. Und er muss lernen, Demütigungen zu erdulden, Schläge hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen. Das erfordert eine Stärke, die man durch Erziehung fördern kann, die man einüben muss und die sich dann in konkreten Situationen bewähren kann. Aber nur auf diesem Weg ist für Martin Luther King ein dauerhafter Friede, wahre Verständigung und Brüderlichkeit erreichbar. War er ein Träumer?

Fünfzig Jahre nach Martin Luther Kings großer Rede stand wieder ein Afroamerikaner an derselben Stelle im Schatten des Lincoln-Denkmals. Es war der erste »farbige« Präsident der Vereinigten Staaten, Barack Obama. Er nannte King einen »Helden« und bekannte, dass man von einer Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung in Wirtschaft und Gesellschaft immer noch weit entfernt sei. Der Traum Kings müsse aber der Traum eines jeden Amerikaners, ja der Traum aller Menschen bleiben. Er erfülle sich aber nicht von alleine, sondern brauche Menschen, die im Sinne Kings daran weiterarbeiten.

Wege nach Montgomery

An einem kalten Januartag des Jahres 1954 fuhr ein junger farbiger Mann mit seinem Auto von seinem Geburtsort Atlanta im Bundesstaat Georgia nach Montgomery in Alabama. Erst vor kurzem war er fünfundzwanzig Jahre alt geworden. An der Universität Boston musste er nur noch seine Doktorarbeit fertig schreiben, dann war seine Studienzeit beendet, und er konnte sich Dr. Martin Luther King nennen. Eigentlich hieß er, wie sein Vater, Michael King. Aber sein Vater, ein Pfarrer der Baptistenkirche, war nach einem Deutschlandbesuch so beeindruckt gewesen von den Worten und Taten des Martin Luther, dass er beschloss, sich und seinen fünfjährigen Sohn nach dem deutschen Reformator zu benennen. Martin Luther King senior und junior. Sein Vater war es auch, der sich gewünscht hatte, dass sein Sohn ein Geistlicher wird, um die lange Tradition von Baptistenpredigern in der Familie fortzusetzen. Martin hatte sich lange gesträubt. Die Art, wie in der Kirche seines Vaters die Gottesdienste gefeiert wurden, war ihm zu gefühlsbetont. Zu viel Leidenschaft, zu wenig Verstand. Er wollte lieber Anwalt oder Arzt werden. Erst am Ende seiner Zeit am Morehouse College hatte er seine Meinung geändert und sich, zur Freude seines Vaters, zum Priester weihen lassen.

2. Rassismus im Alltag: getrennte Warteräume