Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Nelly

Alle lieben Sammy

SAGA Egmont




Unser Schwarzwaldhof Zum Rössle war vor mehr als hundert Jahren eine Poststation. Damals hielten hier die Postkutscher und wechselten ihre „Rösser“. Die Kutschpferde waren nach den langen Wegen über steile Berghänge, durch Wälder und Täler müde und erschöpft und konnten im Stall des Rösslehofs ausruhen. Sie wurden getränkt und gefüttert, während die Stallknechte frische Pferde vor die Postkutschen spannten. Und in der alten Schankstube, die jetzt unsere Küche ist, gab es Bier und eine warme Mahlzeit für die Postkutscher und ihre Fahrgäste.

Das ist lange her. Aber unser Hof wird hier im Tal auch heute noch Zum Rössle oder Rösslehof genannt, so wie in alter Zeit, als es noch Postkutschen gab.

Stinksack!

Der Tag, an dem ich beschließe einen Kochkurs zu machen, ist ein Donnerstag. Es gibt allerhand Gründe dafür. Erstens sehe ich gleich nach der Schule den Zettel. Er hängt im Schaufenster von Frau Grethers Bioladen, wo ich immer die Gummibärchen kaufe. Nach Gummibärchen bin ich zur Zeit richtig süchtig.

Anfangs denke ich: Kochkurs, so ein Schwachsinn! Das ist was für langweilige Hausmöpse. Aber als ich nach Hause komme, ist wieder nichts zu essen da, nicht mal Käse. Der Kühlschrank ist praktisch leer bis auf einen Rest Milch und etwas Butter und ein angegammeltes Stück Salami. Und jemand hat vergessen das Brot einzuwickeln. Es ist steinhart. Nur Äpfel haben wir mehr als genug.

Also greife ich nach einem Apfel. Schon taucht meine Schwester Emma in der Küchentür auf. „Ich habe Hunger!“, jammert sie. „Wieso kocht hier keiner was? Hörst du, wie mein Magen knurrt?“

Ich höre es. Es klingt wie Donnergrollen.

„Warum immer die anderen?“, sage ich. „Wie wär’s, wenn du mal selbst kochen würdest?“

„Ich?“ Emma reißt ihre runden braunen Augen auf. „Wieso ich? Ich bin doch erst achteinhalb!“

Sonst mag sie es nicht, wenn man ihr vorhält, dass sie noch zu jung für dieses oder jenes ist. Aber ich kann mir schon vorstellen, was dabei herauskäme, wenn Emma kochen würde. Verkohlte Eier und angebrannte Kartoffeln, matschiger Reis und eklige Klumpen im Griesbrei.

„Mama müsste kochen“, sagt sie.

Dabei habe ich ihr schon tausendmal erklärt, dass eine Mutter nicht von Natur aus eine Köchin ist. Klar ist es toll, wenn Mütter gern und gut kochen. Aber verlangen kann man es eigentlich nicht von ihnen.

Kathi, unsere Mutter, hasst Hausarbeit. Sie malt superschöne Bilder und näht bunte Decken aus Stoffresten, aber mit der Kocherei hat sie nichts am Hut. Emma ist die Einzige in unserer Familie, die das nicht verstehen will.

Trotzdem wäre es natürlich an manchen Tagen angenehm, wenn man nach Hause käme, und es würden zum Beispiel Kartoffelpuffer in der Pfanne brutzeln. Heute ist so ein Tag.

Ich finde, im Sommer ist es nicht so wichtig, was es zu essen gibt. Da ist draußen so viel los, man denkt an ganz andere Sachen. Aber jetzt ist November. Die Tage sind kalt und grau und kurz und wir sind wieder viel im Haus. Da wäre es schon nicht übel, sich einfach an den gedeckten Tisch zu setzen und sich den Bauch voll zu schlagen. Ich liebe Kartoffelpuffer. Aber nicht dieses tiefgefrorene Zeug, das schmeckt ätzend. Von Tiefkühlkost und Dosenfutter und Spagetti mit fertiger Tomatensoße hab ich die Nase voll.

Deshalb fällt mir der Zettel in Frau Grethers Schaufenster wieder ein, während ich meinen Apfel kaue. Weil November ist und weil ich Hunger habe. Und weil ich nicht darauf warten kann, dass in unserer Familie einer zu kochen anfängt. Ich muss es schon selbst tun.

Emma futtert ein paar von den Haselnüssen, die eigentlich für Kukirol bestimmt sind.

Kukirol ist unser Papagei. Er beobachtet Emma von seinem Platz auf dem Küchenschrank aus, legt den Kopf schief und krächzt: „Stinksack!“

„Gib ihm wenigstens eine davon ab“, sage ich.

Meine Schwester klettert auf den Küchenstuhl und reicht Kukirol eine Nuss. Blitzschnell greift er mit seinen krummen Krallen danach und rollt mit den Augen.

„Kannst du nicht Pfannkuchen machen?“, fragt Emma.

„Wir haben nur noch ein Ei“, sage ich.

Emma ist ungewöhnlich hilfsbereit. „Ich geh in den Hühnerstall und sehe nach, ob jemand ein Ei gelegt hat“, bietet sie mir an.

Ich erkläre ihr, dass ein weiteres Ei wenig nützt. Um Pfannkuchen für eine Familie von fünf Leuten zu machen, braucht man jede Menge Eier. Meistens dauert es eine ganze Woche, bis Polly, Hinkelchen und Gackeleia genügend Eier gelegt haben. Und jetzt, kurz vor dem Winter, legen sie sowieso nur noch ganz spärlich.

Dann kommt Dani, unser Bruder. „Ist nichts zu essen da?“, fragt er, nachdem er den Kühlschrank aufgemacht hat.

„Nein“, erwidere ich. „Ihr könnt ja auch mal daran denken, was einzukaufen.“

„Wen meinst du mit ‚ihr‘?“

„Dich oder Emma zum Beispiel.“

„Ich habe letzte Woche eingekauft.“

„Galaktisch“, sage ich. „Das reicht dann ja wohl wieder für ein Jahr.“

Dani mustert mich. Mir fällt auf, dass er in den letzten Wochen bestimmt zehn Zentimeter gewachsen ist. Bald passt er nicht mehr durch die Stubentür. Er sieht schon richtig erwachsen aus, obwohl er erst vierzehneinhalb ist, nur knapp zwei Jahre älter als ich.

Dani ist rotblond und hat blaue Augen und sieht wie ein Wikinger aus. Oder so, wie Wikinger vielleicht ausgesehen haben. Ein paar Mädchen in meiner Klasse fangen schon an, mich nach Dani zu fragen.

„He, Nelly, was bist du so stinkig?“, fragt er.

„Ich bin nicht stinkig“, behaupte ich. Aber genau das bin ich natürlich.

Es wird erst wieder besser, als ich mit August, unserem Schäferhund, zu den Pferden gehe. Das ist immer so, wenn ich unsere graue Stute Lady und die dicke Schwarzwälder Fuchsstute Bessie sehe, das Shetlandpony Franzi und Sammeli, die Norwegerstute. Dann schlägt mein Herz schneller, und mir wird innen drin ganz warm und friedlich.

Total happy bin ich, wenn ich Sammy Langbein sehe. Er ist Sammelis Fohlen. Natürlich sind alle Fohlen schnuckelig, aber Sammy ist das absolut knuffligste Kerlchen, das man sich vorstellen kann.

Neulich sollten wir einen Aufsatz über ein Ereignis schreiben, das uns in diesem Jahr besonders wichtig war. Erst dachte ich, ich schreibe über Lady. Von ihrem linken Hinterbein, das durch Überlastung und einen Sturz so dick wie ein Elefantenfuß war. Und wie es nach der Operation wieder zu einem ganz normalen Pferdebein wurde, so dass Lady jetzt unbehindert gehen kann.

Doch dann beschloss ich, von Sammys Geburt zu erzählen. Ich habe ja alles durchs Stallfenster beobachtet und es ist erst ein paar Wochen her. Ich weiß noch ganz genau, wie es passiert ist.

Beim Schreiben habe ich gemerkt, dass ich keine richtigen Worte finde, um auszudrücken, wie lieb und schnuckelig Sammy Langbein ist. Mir fielen immer nur Worte wie „süß“ und „zum Fressen“ ein. Es ist ja nicht nur sein Äußeres. Auch seine Art herumzuspringen. Und wie er einen anschaut, so voller Unschuld und Neugier und Vertrauen.

Immerhin habe ich für den Aufsatz eine Eins gekriegt. Sogar vorlesen sollte ich ihn. Die ganze Klasse hörte gespannt zu. Es war total ruhig, während ich las. Das kommt selten vor.

Luftsprünge

In den folgenden Tagen tauchten dann fünf aus meiner Klasse auf dem Rösslehof auf, um sich Sammy anzusehen. Klar, dass sie alle ganz begeistert von ihm waren. Sogar Nina kam, ein Mädchen, das ich eigentlich nicht besonders mag. Sie denkt wohl, sie wäre was Besseres als wir anderen, weil sie reiche Eltern hat. Aber sie war richtig nett und fand unseren Hof total schön.

August ließ sich sogar von ihr hinter den Ohren kraulen, was sonst nur Leute dürfen, die er kennt. Und dann stellte Nina diese Frage, auf die ich keine Antwort wusste.

„Welches von euren Pferden magst du am liebsten?“, wollte sie wissen.

Ich habe gedacht, es ist ganz klar, dass ich Lady am liebsten mag. Denn irgendwie kommt es mir immer so vor, als wäre die sanfte graue Stute, die so krank war, als sie zu uns kam, mein Pferd.

Jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Ich liebe Lady noch genauso, das ist keine Frage. Aber den kleinen Sammy Langbein liebe ich auch, und die gutmütige alte Bessie mit der hellen Stirnlocke, die stämmige, freundliche Sammeli und das eigenwillige Shetty Franzi, das einen Kopf wie ein Bärchen hat, so dick und wollig.

„Also, du, das weiß ich echt nicht“, habe ich geantwortet, und Nina hat mich ganz verwundert angesehen.

Daran muss ich jetzt denken, während ich mit August durch den Garten gehe. Lady wiehert leise, als sie mich sieht. Sammy Langbein kommt mit seinen Staksbeinen angehüpft und macht einen Luftsprung. Er hofft sicher, dass ich mit ihm spiele. Fangen zum Beispiel, obwohl das langsam ein bisschen gefährlich wird.

Natürlich würde Sammy nie mit Absicht einem von uns wehtun, aber er weiß selbst nicht, wie stark er schon ist. Und er ist total schnell, schneller als ich oder Dani oder sonst irgendeiner von uns.

Die Stuten und Franzi sind schon zu alt, um richtig mit Sammy zu spielen. Eigentlich bräuchte er ein zweites Fohlen, denn spielen soll er. Nicht nur, weil es ihm Spaß macht, sondern auch, weil es seine Muskeln kräftigt und sein Sozialverhalten anderen Pferden gegenüber prägt. Junge Pferde müssen sich balgen und mit anderen herumtoben können, sagt mein Großvater. Und er muss es wissen, denn er ist Tierarzt.