Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Nelly

Das einsame Pony

SAGA Egmont




Unser Schwarzwaldhof Zum Rössle war vor mehr als hundert Jahren eine Poststation. Damals hielten hier die Postkutscher und wechselten ihre „Rösser“. Die Kutschpferde waren nach den langen Wegen über steile Berghänge, durch Wälder und Täler müde und erschöpft und konnten im Stall des Rösslehofs ausruhen. Sie wurden getränkt und gefüttert, während die Stallknechte frische Pferde vor die Postkutschen spannten. Und in der alten Schankstube, die jetzt unsere Küche ist, gab es Bier und eine warme Mahlzeit für die Postkutscher und ihre Fahrgäste.

Das ist lange her. Aber unser Hof wird hier im Tal auch heute noch Zum Rössle oder Rösslehof genannt, so wie in alter Zeit, als es noch Postkutschen gab.

Eine Spinne im Karton

Es war mein Bruder Daniel, der das einsame Pony entdeckte.

Er sah es an einem Sonntag auf einem seiner Streifzüge. Eigentlich suchte er ja nicht nach Ponys, sondern nach Spinnen. Spinnen sind Danis neueste Leidenschaft.

Fast jeden Abend erzählt er uns etwas über sie. Er redet von Dornfingerspinnen und Listspinnen, von Wolfsspinnen und Zebraspringspinnen, von Radnetzspinnen und Wasserspinnen.

Emma, unsere jüngere Schwester, findet die Spinnenvorträge ätzend. „Du spinnst ja mit deinen Spinnen!“, sagt sie. „Du hast doch eine Spinne im Karton!“

Dani ist nicht so leicht zu beleidigen. Ich höre ganz gern zu, wenn er erzählt, was er von Spinnen und anderen Insekten weiß. Gerade mit kleinen Tieren kennt er sich besser aus als die meisten Erwachsenen. In jeder freien Minute kriecht er auf den Wiesen, in den Wäldern und im Gestrüpp herum und beobachtet sie. Das, was er beobachtet hat, schreibt er auf. Er macht auch tolle Fotos.

„Spinnen sind ekelhaft“, behauptet Emma.

„Sind sie nicht! Sieh dir bloß mal ihre Netze an! Das sind echte Kunstwerke, die wir Menschen nie nachmachen könnten. Die feinen Fäden sind stärker als Seile.“

Jedenfalls, Spinnen hin oder her, an diesem ersten Sonntag im Mai fand Daniel das Pony.

Er kurvte mit seinem Rad durch den Bärentalwald. Und als er nach ungefähr einer Stunde über einen Bach kam, sah er auf einer Wiese ein braunweiß geschecktes Shetlandpony stehen.

„Es war total allein“, erzählt er. „Und es hat mir echt Leid getan. Es stand da so traurig herum, hat nicht mal den Kopf gehoben, als ich zum Zaun ging und mit ihm redete. So ein einsames Pferd irgendwo in der Landschaft, das ist doch auch Tierquälerei. Man muss sich mal vorstellen, wie wir uns fühlen würden, wenn wir mutterseelenallein in der Pampa leben müssten, ganz ohne andere Menschen oder Tiere.“

Unser Vater hebt den Kopf von seiner Fachzeitschrift. „Lasst euch nur nicht einfallen, noch ein Pferd auf den Hof zu bringen!“, sagt er.

Wir haben schon fünf Pferde auf unserem Rösslehof. Nur eins davon gehört uns, nämlich Lady, die graue Stute. Bessie, die große alte Schwarzwälder Fuchsstute, haben Nachbarn bei uns untergestellt.

Dann sind da noch das knubblige Pony Franzi und die Norwegerstute Sammeli mit ihrem Fohlen Sammy. Die drei gehören den Pflaumers, einer Familie, die in unserer Nähe wohnt und ihre Pferde selbst versorgt.

„Fünf Pferde sind mehr als genug!“, verkündet jetzt auch Kathi, unsere Mutter.

Heimlich mache ich Dani ein Zeichen. Wir gehen zusammen in die Küche. „Wo war das genau?“, frage ich leise. „Die Weide, auf der das Pony stand, meine ich.“

Er erklärt es mir. „Es hat mir so Leid getan“, wiederholt er. „Du hättest es mal sehen sollen! Es war so schrecklich gleichgültig, als wäre ihm alles egal. Es stand nur da und ließ den Kopf hängen. Seine Augen waren ganz trüb.“

„War es vernachlässigt?“, frage ich. „Mager und elend?“

„Nein, das nicht. Es hatte einen ziemlichen Kugelbauch – vielleicht hat es ja zu viel frisches Gras oder Klee gefressen. Das Fell sah struppig aus. Aber es war eben völlig vereinsamt, verstehst du? Da gab’s weit und breit keinen, der mit ihm geredet hätte, und vor allem kein anderes Pferd … Wer weiß, wie lange es da schon abgestellt ist …“

Mein Herz schmilzt vor Mitleid. Das ist so bei mir, wenn ich höre, dass es einem Tier schlecht geht. „Ist ein Haus in der Nähe?“

Dani schüttelt den Kopf. „Ich hab keins gesehen.“

„Wir sollten mal nachschauen“, flüstere ich. „Pass auf, wir radeln morgen hin und bringen ihm was Gutes. Vielleicht finden wir auch heraus, wem es gehört, und können mit den Besitzern reden, damit das Shetty nicht mehr so allein bleiben muss.“

Jetzt kommt Emma in die Küche. Sie hat ihren neugierigen Glitzerblick. „Was flüstert ihr da?“, fragt sie.

„Wir flüstern nicht“, sage ich kühl. „Wir besprechen nur etwas.“

„Was denn?“

„Das ist Geheimsache.“

Emma macht ein Geräusch wie die Stute Bessie, wenn sie schnaubt. Sie hasst es, wenn man Geheimnisse vor ihr hat. Aber im Grund ist sie selbst schuld. Keiner vertraut ihr mehr etwas an, weil sie den Schnabel nicht halten kann.

Kaum hat man ihr etwas erzählt, weiß es schon der halbe Schwarzwald.

„Mann, seid ihr ätzend! Richtig gemein!“, jammert sie.

„Ist mir doch egal“, sage ich.

Alle unsere Pferde

Am nächsten Tag ist Montag. Ein total stressiger Tag. Ich habe Schule bis um halb drei, weil mittags noch Sport angesagt ist. Schulsport kann ich nicht leiden, obwohl ich eigentlich ganz gut im Klettern, Radfahren und Rennen bin. Aber auf Befehl mag ich mich einfach nicht durch die Gegend hetzen lassen.

Dann versorgen wir die Pferde. Das ist meistens schön, aber manchmal auch anstrengend. Daniel ist nicht da, weil er sich mit zwei Freunden auf eine besonders knifflige Matheprüfung vorbereitet. Und Emma drückt sich vor der Arbeit mit den Pferden, wo sie kann. Zum Glück kommen Mick, Jonas und Jenny Pflaumer, wie jeden Tag.

Sie sind sehr zuverlässig. Eigentlich müssten sie sich nur um ihre Ponys kümmern – das Shetty Franzi, die Norwegerstute Sammeli und Sammy, das Fohlen. Aber weil ich heute ganz allein bin, helfen sie mir auch mit Lady und Bessie.

„Ich hab gedacht, Toni kommt regelmäßig und schaut nach seiner Bessie?“, fragt Jenny.

Toni war früher unser Nachbar. Er ist ein alter Bauer, dem die Schwarzwälder Fuchsstute gehört.

„Zur Zeit geht es ihm nicht so gut“, erkläre ich. „Er hat am Samstag angerufen und gesagt, dass er nach Sankt Blasien zum Arzt muss.“

Zu viert kommen wir gut voran. Wir füttern die Pferde. Nur Franzi bekommt jetzt in den Sommermonaten fast kein Zusatzfutter, da Shetlandponys nicht zu viel fressen dürfen, wenn sie auf der Weide sind. Dann bürsten wir Sammy und Franzi mit der Wurzelbürste ab. Sie haben sich mal wieder in einer Schlammkuhle gewälzt und sehen wie Erdferkel aus.

Das Shetty hat eine Leidenschaft für Dreck. Und das Fohlen Sammy Langbein ist in dem Alter, in dem man jeden Blödsinn nachmachen muss, auch als Pferd.

Er ist jetzt sieben Monate alt und ein richtiger „Halbstarker“, wie mein Vater das nennt. Sammy ist voller Übermut und tobt oft wie ein Wilder herum. Er hat jetzt schon eine Menge Kraft. Im März haben wir noch mit ihm gespielt, aber inzwischen ist das zu gefährlich. Er weiß ja nicht, wie stark er ist – stärker als wir Menschen. Wir müssen aufpassen, dass er uns nicht über den Haufen rennt oder versehentlich mit den Hufen tritt.

„Sammy bräuchte dringend jemanden zum Spielen“, sagt Mick. „Ein Fohlen im gleichen Alter, das wär’s! Die Stuten mögen ja nicht mehr toben, und mit Franzi gibt’s in letzter Zeit nur noch Zoff.“

Ich denke, dass es wohl nicht mehr lange gut gehen wird mit Sammy und Franzi. Das Shetlandpony ist zwar ein Wallach, aber es fühlt sich als Anführer unserer kleinen Herde und ist eifersüchtig auf den kleinen Sammy. Denn Sammy ist ein Hengstchen. Wenn Sammy eine Stute wäre, gäbe es bestimmt keine Schwierigkeiten.

Lange wird Sammy nicht mehr bei uns bleiben können. Rasch schiebe ich den Gedanken daran zur Seite. Es tut richtig weh, wenn ich mir vorstelle, dass Sammy Langbein, der Kobold unter unseren Pferden, eines Tages nicht mehr auf dem Rösslehof sein wird.

Aber ich habe ja Lady, die sanfte graue Stute. Zärtlich streichle ich ihre Nase, während wir unter den Apfelbäumen stehen, die gerade voller Blüten sind. Lady schnuppert an meinen Haaren. Dann knabbert sie vorsichtig am Ärmel meines Flanellhemds.

Ich betaste ihr linkes Hinterbein. Die lange Narbe sieht man noch, aber sonst ist ihr Bein wieder ganz in Ordnung. Keiner würde glauben, dass es noch im letzten Frühling dick und klumpig geschwollen war wie ein Elefantenfuß.

„Ist die Narbe noch empfindlich?“, fragt Mick, der gerade mit der Bürste über Ladys Rücken fährt.

„Nein, sie zuckt jetzt nicht mehr zusammen, wenn ich darüber streiche. Ich glaube, die Narbe tut ihr nur manchmal noch weh, wenn sich das Wetter ändert.“