Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Nelly

Geburtstag mit Hindernissen

SAGA Egmont




Unser Schwarzwaldhof Zum Rössle war vor mehr als hundert Jahren eine Poststation. Damals hielten hier die Postkutscher und wechselten ihre „Rösser“. Die Kutschpferde waren nach den langen Wegen über steile Berghänge, durch Wälder und Täler müde und erschöpft und konnten im Stall des Rösslehofs ausruhen. Sie wurden getränkt und gefüttert, während die Stallknechte frische Pferde vor die Postkutschen spannten. Und in der alten Schankstube, die jetzt unsere Küche ist, gab es Bier und eine warme Mahlzeit für die Postkutscher und ihre Fahrgäste.

Das ist lange her. Aber unser Hof wird hier im Tal auch heute noch Zum Rössle oder Rösslehof genannt, so wie in alter Zeit, als es noch Postkutschen gab.

Heimweh nach Sammy

Sammy Langbein ist fort.

Gestern ist unser Fohlen abgeholt worden. Ich war nicht da, als es passierte. Ehrlich gesagt, bin ich bei solchen Sachen ziemlich feige. Ich wollte nicht sehen, wie Sammy in den Anhänger geführt und weggebracht wird. Wie er sich vielleicht wehrt und nicht vom Rösslehof fortwill. Und ich wollte auch nicht hören, wie ihm seine Mutter Sammeli nachwiehert.

Also bin ich in den Wald gegangen. Es gibt da einen bestimmten Platz am Eingang zu einer Höhle, hoch über dem Schwarzbach, wo ich an besonderen Tagen sitze und ins Wasser schaue. Dann höre ich einfach nur zu, wie die Vögel singen und der Wind in den Bäumen rauscht und der Bach über Felsbrocken sprudelt.

„Es war überhaupt nicht schlimm“, sagt mein Bruder Daniel zu mir, als ich wieder nach Hause komme. „Du hättest ruhig hier bleiben können. Nick war dabei. Er hat Sammy geführt und ihm Leckerlis gegeben. Da ist Sammy ohne weiteres über die Rampe in den Anhänger getapert.“

Nick ist Sammys neuer Besitzer. Sein Vater hat unser Fohlen für ihn gekauft. Die beiden passen gut zusammen, Nick und Sammy Langbein.

„Und Sammeli?“, frage ich. „War sie sehr traurig, als ihr Fohlen weggebracht wurde?“

„Wir haben sie gestreichelt und ihr Pellets gegeben. Da hat sie sich ein bisschen beruhigt.“

Pellets sind ein Fertigfutter für Pferde, auf das Sammeli, die Norwegerstute, ganz wild ist.

Eigentlich ist Sammy Langbein schon kein richtiges Fohlen mehr, sondern fast ein Jährling. Im Herbst wird er ein Jahr alt. Und ich weiß, dass er es bei Nick gut haben wird.

Abends rufe ich Jens an. Jens ist Nicks älterer Bruder. Wir sind Freunde, Jens und ich. Ich frage, wie es Sammy geht.

„Ganz gut“, sagt er. „Er steht schon bei unserem Nachbarn auf der Weide. Da gibt’s noch ein zweites Pferd, einen Schwarzwälder Fuchs. So ähnlich wie eure Bessie, nur ein Wallach. Er scheint richtig happy zu sein, dass jetzt ein anderes Pferd auf dem Hof ist. Bisher hatte er ja immer nur Kühe um sich herum.“

„Und Sammy?“, frage ich wieder.

„Er gewöhnt sich bestimmt bald ein. Natürlich ist er noch etwas unruhig wegen der neuen Umgebung. Und er vermisst seine Mutter und euch und sein altes Zuhause, das ist klar. Aber Nick ist praktisch dauernd bei ihm. Wenn’s mein Vater erlaubt hätte, würde er sogar nachts bei Sammy auf der Koppel schlafen.“

Klar, Sammy hat Heimweh. Alle sagen, dass das ganz normal ist und dass es wieder vergeht.

„In ein paar Tagen hat er sich eingelebt“, versichert mein Bruder Dani.

Ich habe auch Heimweh, obwohl ich zu Hause bin. Heimweh nach Sammy Langbein. Wenn ich auf die Koppel zu unseren Pferden gehe, und Sammy ist nicht bei ihnen, würde ich am liebsten losheulen. Ich hab nicht gedacht, dass es so schlimm sein würde.

Sammeli, die Norwegerstute, steht mit hängendem Kopf unter den Bäumen. Manchmal wiehert sie laut und durchdringend. Ich weiß, was dieses Gewieher bedeutet: Sie ruft nach ihrem Jungen.

Unsere graue Stute Lady tröstet mich. Sie merkt immer, wenn ich traurig bin. Sie bläst mir zärtlich ins Haar, beknabbert den Kragen meines Flanellhemds und schmiegt ihre samtweiche Nase an meinen Hals.

Immer wieder versuche ich daran zu denken, dass Sammy es gut hat. Er hat einen schönen Platz bei Leuten gefunden, die ihn lieb haben.

Wir hätten ihn ja auf dem Rösslehof nicht behalten können. Es hätte bestimmt immer mehr Zoff mit Franzi gegeben, dem Shetlandpony. Franzi fühlt sich als Anführer der kleinen Herde, die aus ihm und den drei Stuten Lady, Sammeli und Bessie besteht. Er hätte den kleinen Hengst Sammy sicher nicht mehr lange neben sich geduldet.

Außerdem gehörte Sammy Langbein der Familie Pflaumer. Und die Pflaumers haben schon genug Ausgaben mit Franzi und Sammeli, die beide bei uns untergestellt sind. Frau Pflaumer ist nicht gerade reich. Und Pferde kosten eine Menge Geld. Auch deswegen musste sie Sammelis Fohlen verkaufen.

Natürlich weiß ich das alles längst. Trotzdem geht es mir eine Woche lang ziemlich schlecht. In der Schule passe ich oft nicht auf.

„Du starrst ja schon wieder Löcher in die Luft, Nelly Holder!“, sagt unser Mathelehrer ein paar Mal. Er wird schnell sauer, wenn man nicht ständig aufpasst oder wenigstens so tut, als würde man aufpassen.

Meine Geschwister Dani und Emma vermissen Sammy auch. Aber sie sind längst nicht so traurig wie ich. Emma spart jetzt für ein Islandpony.

„Wenn ich genug Geld zusammenhabe, kaufe ich mir ein Pferd von Einar!“, verkündet sie.

Wir kennen Einar Björnsson erst seit kurzem. Er hat einen Bauernhof im Hotzenwald und besitzt zwei Isländer. Und jetzt auch noch Momo, das Shetlandpony. Es stand im Frühling mutterseelenallein auf einer Wiese am Rand des Bärentalwaldes. Wir haben dafür gesorgt, dass Momo wieder mit anderen Pferden zusammen sein kann. Doch das ist eine andere Geschichte.

„Da haben wir wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden“, sagt unser Vater zu Emma. „Du weißt genau, dass wir genug Tiere auf dem Rösslehof haben. Ein weiteres Pferd ist nicht drin!“

„Ausgerechnet du!“, sagt auch Dani. „Du drückst dich doch vor der Arbeit mit den Pferden, wo es nur geht.“

„Aber nicht, wenn es mein eigenes Pferd wäre“, behauptet Emma. „Für mein eigenes Pferd würde ich alles tun. Alles!“

„Ja, aber wie lange?“, sagt Kathi, unsere Mutter. „Fünf Tage vielleicht, und das war’s dann.“

Emma erklärt, dass sie ein Pferd braucht, um Verantwortung zu lernen. Das ist einer von ihren listigen Sprüchen. Wir sehen uns an und lachen. Kukirol, unser Papagei, lacht mit, obwohl er nicht weiß, worum es geht. Es klingt heiser und schadenfroh.

Emma droht ihm mit der Faust. „Von mir kriegst du keine einzige Nuss mehr, da kannst du machen, was du willst!“, sagt sie.

Ich bin wetterwendisch

Am Samstag will ich Sammy Langbein besuchen, aber Dani meint, es wäre noch zu früh.

„Er muss sich erst richtig eingewöhnen“, sagt er. „Wenn er dich jetzt schon wieder sieht, ist er vielleicht unglücklich.“

Natürlich will ich nicht, dass Sammy meinetwegen unglücklich ist. Ich rufe Jens an. Er findet auch, dass ich noch etwas warten soll.

„Sammy springt schon ganz übermütig auf der Weide herum und düst hinter den Wildkaninchen her“, erzählt er. „Davon gibt’s hier einige. Und stell dir vor, unser Nachbar wird vielleicht noch einen Jährling auf den Hof nehmen. Das wär natürlich prima für Sammy.

Ich atme auf. Wenn Sammy mit einem gleichaltrigen Pferd auf der Koppel sein könnte, mit dem er spielen und toben kann, das wäre echt klasse!

Jens sagt, dass sich das mit dem anderen Pferd noch vor den Sommerferien entscheiden wird. Dann fragt er mich, ob ich mit ihm zu einem Fest gehen möchte.

Eine Schulfreundin von ihm hat Geburtstag und will eine Gartenparty machen.

Dazu hat sie Jens eingeladen und gesagt, dass er noch jemanden mitbringen kann. Und da hat er ausgerechnet an mich gedacht!

Erst bin ich verlegen und weiß nicht, was ich sagen soll. Dabei freue ich mich unheimlich. Trotzdem tue ich ganz cool.

„Okay, warum nicht?“, sage ich. „Wann ist die Party denn?“

„Nächsten Freitag. Ich kann dich abholen und wieder nach Hause fahren.“

„Gut. Was soll man mitbringen?“

„Am besten was zu futtern. Du kannst doch diese spitzenmäßigen Käseplätzchen backen.“

Meine Familie wundert sich, dass ich plötzlich so munter bin. Ich pfeife und singe und koche abends einen Auflauf aus Nudeln, Tomaten und Käse.