Buchcover

Lothar Streblow

Raku, der Kolkrabe

SAGA




„Die Frage nach dem tierlichen Bewußtsein hat die Menschen schon immer gefesselt, weil Haus- und Wildtiere gleichermaßen unsere Bewunderung und Neugier erregen. Sie verlocken uns dazu, in ihre Haut zu schlüpfen und uns vorzustellen, wie ihr Lehen sein mag.“

Donald R. Griffin

„Gefühle sind es, die alle Kreatur dazu drängt, etwas zu tun oder, wenn es ängstliche Stimmungen sind, etwas zu unterlassen. “

Vitus B. Dröscher

Ausbruch aus dem Ei

Das weite Hügelland vor dem Bergkamm lag verborgen unter wattigem Weiß. Morgennebel schwebten über den Tälern und flachen Kuppen, verhüllten die Tiefe. Auf halber Höhe der Berghänge aber wurde es lichter, stachen einzelne Baumwipfel durch die wabernden Schwaden. Darüber leuchtete der Himmel in kristallklarer Bläue. Warm schien die Märzsonne, ließ die letzten Schneeinseln tauen. Und eine laue Brise strich durch die Zweige.

Auch der Rabenhorst im Wipfel einer hohen Kiefer wogte leise im Wind. Die Räbin stocherte unruhig im Nest, wendete immer wieder ihre vier blaugrünen, dunkel gefleckten Eier in der sauber ausgepolsterten Nestmulde. Der Wind störte sie nicht. Nur wenn sie ein wenig den Kopf hob, um nach dem Raben auszuschauen, verfing sich der Luftzug in ihrem Nackengefieder. Sie spürte Hunger. Und sie rief nach ihrem Gefährten.

Lange mußte sie nicht warten. Über der Lichtungam Waldrand tauchte ein dunkler Schatten durch die treibenden Nebelfetzen und glitt heran. Der Rabe schwang sich, deutliche Fütterlaute ausstoßend, auf den Rand des Horstes. Bedächtig öffnete er seinen mächtigen Schnabel und würgte Nahrung aus seinem Kehlsack: eine Waldmaus. Und die Räbin winselte leise und verschlang sie gierig.

Eine Weile noch hockte der Rabe am Rand, murmelte zärtliche Laute und kraulte seiner Gefährtin liebevoll das Kopfgefieder. Dann strich er ab und ließ sich mit weitgebreiteten Schwingen vom Aufwind in die Höhe tragen. Nichts entging seinem scharfen Auge. Und die Räbin wartete geduldig. Sie verließ ihre Eier nur selten und dann auch nur kurz. Der Rabe sorgte für seine brütende Gefährtin. Und er brachte ihr von seiner Beute nur die besten Happen.

Mit einemmal wurde die Räbin aufmerksam. In einem der Eier spürte sie Bewegung. Fast drei Wochen hatte sie auf diesen Augenblick gewartet. Das Junge begann mit seinem Eizahn, einem kleinen Kalkhöcker auf seinem Schnäbelchen, von innen die Schale aufzumeißeln. Doch das Kleine mußte mit dem Kopf nach unten arbeiten: Das Ei lag verkehrt. Und das war recht mühsam. Die Räbin aber erkannte die quälende Lage des Kleinen. Und sie wendete das Ei vorsichtig mit ihrem Schnabel.

Plötzlich brach der aufgemeißelte Ring. Die Eikappe hob sich langsam. Und Raku schob seinen winzigen kahlen Kopf durch die Bruchstelle ins Freie. Erschöpft ruhte er einen Augenblick von der Schwerarbeit aus. Doch als er seine Flügelchen ausbreiten wollte, ging das nicht. Sein Körper war noch im Ei gefangen. Wie wild begann er zu strampeln. Und wieder half ihm seine Mutter. Mit ihrem mächtigen Schnabel zog sie ihn ganz behutsam aus der Schale.

Naß und fast nackt hockte Raku in dem weich gepolsterten Nest. Noch sah er nichts. Seine Augen waren geschlossen, bedeckt mit klebriger Eiflüssigkeit. Nur den riesigen schwarzbefiederten Bauch seiner Mutter spürte er über sich. Und kaum hatte sie die Reste seines zerbrochenen Eigehäuses verschluckt, begann sie seinen kleinen verklebten Körper vorsichtig zu säubern. Immer wieder fuhr sie ihm mit der Spitze ihres gewaltigen Schnabels unter seine kahlen Flügelchen, tastete ihm über Rücken, Kopf und Zehen. Und obwohl sie das alles mit erstaunlicher Sanftheit tat, spürte Raku nur Unbehagen. Er schrie kläglich, als wolle sie ihn umbringen.

Seine Mutter kümmerte sich nicht um Rakus Geschrei. Über eine Stunde mußte er die Säuberung über sich ergehen lassen. Dann erst war die Räbin zufrieden. Doch noch immer gab es keine Ruhe.

Nun lockerte die Räbin sorgsam die Nestpolsterung auf, damit Raku eine weiche Unterlage bekam. Und dann steckte sie den winzigen Raku senkrecht in den flockigen Flausch, daß gerade noch seine Schnabelspitze herauslugte. So war sein zarter nackter Körper geschützt vor dem Wind. Und Raku döste ein wenig nach all der Anstrengung.

Kurz darauf mußte die Räbin sich schon wieder um das nächste Ei kümmern, in dem ein Junges nach draußen drängte. Raku merkte von alldem nicht viel: nur ab und zu mal eine Erschütterung, wenn seine Mutter sich bewegte. Er sah nicht, wie sich plötzlich ein kahler Kopf aus der Eischale hob, etwas Zappelndes von den Eiresten befreit und unter großem Geschrei geputzt wurde. Raku fühlte sich warm und geborgen in seinem Flauschpolster. Und er döste weiter, bis der Luftzug zweier rauschender Flügel ihn aufschreckte.

Der Rabe war zurückgekommen mit Fleischbrocken einer Bisamratte. Und die Räbin antwortete auf seinen Fütterungsruf. Mit einem Blick erkannte der Rabe die neue Lage: die eben geschlüpften Jungen in der Nestmulde. Und er wußte, was er zu tun hatte. Jetzt brauchten auch die Kleinen Nahrung. Ohne Aufenthalt schwang er sich wieder in die Luft. Und diesmal flog er in eine andere Richtung: am heckengesäumten Waldrand entlang zu einer sonnigen Fichtenschonung.

Raku spürte die Unruhe. Seine Mutter pickte nach dem feucht gewordenen Polstermaterial und fraß es auf. Das Fleisch der Bisamratte hatte sie längst verschlungen: Das war noch nichts für die winzigen Nestlinge. Sie brauchten zartere Kost.

Das wußte auch der alte, erfahrene Rabe. Als er das nächstemal zurückkehrte, brachte er etwas anderes: einige weiche zerquetschte Schmetterlingsraupen. Doch er flog den Horst nicht direkt an. Zuerst säuberte er auf einem nahen Ast sorgfältig seine Zehen und Krallen, bevor er sich auf dem Nestrand niederließ.

Mit einem tiefen „Gro“-Laut rief er seine Jungen zum Füttern. Dann würgte er das Raupenmus aus seinem Kehlsack hervor. Und er stopfte es in kleinen Portionen in die gierig aufgesperrten Schnäbel.

Raku schluckte zufrieden, hachelte behaglich vor sich hin und schloß seinen kleinen Rabenschnabel. Die erste Mahlzeit hatte ihm geschmeckt.

Raku im Nest

Mehr als eine Woche verging. Längst waren auch die anderen zwei Jungen geschlüpft. Die Federhüllen auf Rakus Rücken und Flügeln begannen allmählich aufzuspringen, von Tag zu Tag mehr. Raku wirkte seltsam struppig.

Kaum zeigten sich seine ersten Federchen, da putzten die Alten sein sprießendes Gefieder schon genauso wie ihr eigenes. Es ziepte mitunter, wenn sie die winzigen Federn mit ihren riesigen Schnabelspitzen sorgfältig durchzogen. Und das gefiel Raku gar nicht. Dann probierte er es ein wenig selber, allerdings noch ziemlich unbeholfen. Erst als er sein rabenschwarzes Federkleid bekam, schätzte er diese Gefiederpflege. Nun ziepte es nicht mehr. Im Gegenteil, jetzt fand er das sehr angenehm.

Inzwischen guckte Raku schon recht munter in die Gegend. Die über ihm leise im Wind schaukelnden Zweige der alten Kiefer interessierten ihn. Doch sie blieben für ihn unerreichbar. Noch war er ein Nesthocker mit spärlich befiederten Flügeln. Vom Fliegen hatte er keine Ahnung. Und das würde auch noch eine Weile dauern.

Tolpatschig krabbelte Raku in der Nestmulde herum. Er war das kräftigste der Geschwister und schon sehr neugierig.

Die Mutter putzte gerade eines der anderen Kleinen und bemerkte nichts von Rakus Ausflug. Und so ganz wohl fühlte er sich auch nicht dabei. Die Sonne verschwand mit einemmal hinter einer aufziehenden Wolkenwand. Es wurde kühl. Und aus Rakus Kehle drang ein kläglicher Laut.

Seine Mutter reagierte sofort. Sie wußte, daß ihre Kleinen jetzt vor allem Wärme brauchten. Und sie bettete die Jungen fürsorglich in die weichen Polster und wärmte sie. Das gefiel Raku. Und eine Weile hockte er ganz zufrieden unter dem dichten Gefieder seiner Mutter.

Doch Wärme allein genügte ihm nicht. Er spürte schon wieder Hunger. Gierig sperrte er seinen kleinen Schnabel auf und zeigte seinen glutroten Schlund. Nur nützte das im Augenblick wenig. Sein Vater war noch auf Nahrungssuche. Und so lange mußte Raku warten.

Ungestüm schob er seinen struppigen Kopf zwischen den Bauchfedern seiner Mutter hindurch. Es wurde hell. Ein Sonnenstrahl brach durch die treibenden Wolkenfetzen. Von einer Fichte jenseits der Lichtung klang der Gesang einer Amsel herüber. Und in der Ferne hämmerte ein Specht.

Raku horchte auf die für ihn noch fremdartigen Geräusche. Endlich ertönte das vertraute Rauschen großer Flügel.

Ein dunkler Schatten schob sich kurz vor die Sonne.

Sein Vater war auf dem nahen Ast gelandet, um sich die Krallen zu putzen. Dann sprang er auf den Rand des Horstes.

Aber noch gab es kein Futter. Der Rabe hatte am Waldsaum ein Mäusenest ausgeräumt; und die beiden Alten zerlegten die Mäusebrut kunstgerecht auf dem Horstgeflecht. Das dauerte eine Weile. Nur die zartesten Bissen waren gut genug für die Jungen.

Rakus Bettelrufe klangen immer verzweifelter. Auch seine drei Geschwister begannen zu lärmen. Nun beugte sich Rakus Mutter über seinen aufgesperrten Rachen, stopfte ihm etwas in den Schnabel. Raku spürte einen neuen Geschmack. Und der behagte ihm. Davon wollte er noch mehr. Die anderen aber gierten genauso unersättlich. Und die Räbin verteilte die Brocken fürsorglich und gerecht. Den für die Kleinen ungeeigneten Rest verschlang sie selbst, während der Rabe seine Schwingen ausbreitete und zu erneuter Futtersuche abflog.

Langsam versank die Sonne hinter dem Bergkamm. Dämmerung zog über die Wälder. Der Rabenhorst schwang leise im Abendwind. Und die Stimmen der Nachtvögel erklangen aus dem Dunkel unter den Baumwipfeln. Irgendwo im Gezweig rief ein Waldkauz. Ein Dachs wackelte grunzend durchs Gesträuch der Lichtung. Von ihnen drohte keine Gefahr. Die Räbin huderte geruhsam ihre Jungen, nahm sie wärmend unter ihre Flügel. Und sie gönnte sich ein wenig Schlaf.

Plötzlich schlich ein geschmeidiger Schatten auf die Horstkiefer zu, kletterte geschickt am rauhborkigen Baumstamm hinauf und verharrte sichernd auf einem der unteren Äste. Als es ruhig blieb, kletterte er weiter, fast lautlos. Nur einmal verursachten seine Krallen ein kratzendes Geräusch auf der rauhen Borke. So näherte er sich unaufhaltsam dem Rabenhorst.

Noch blieb es still im Nest. Die Räbin aber hob lauschend den Kopf. Sie hatte einen leisen Schlaf. Das Kratzgeräusch war ihr nicht entgangen. Und sie spürte die Gefahr.

Da erklang das Geräusch wieder, kaum hörbar, doch sehr nah: wenige Meter unter dem Nest. Jetzt wußte die erfahrene Räbin, was sich da näherte. Kein Eichhörnchen würde sich so dicht an einen Rabenhorst wagen. Es war ein Baummarder auf Beutezug, der die Jungen wohl allein im Nest glaubte.

Mit einem Kampflaut stürzte die Räbin wie ein Stein vom Nestrand auf die schlanke braunfellige Gestalt, die sich eng an den Ast drückte. Der Marder fauchte, bleckte sein scharfzähniges Gebiß. Doch er kam nicht zum Zubeißen. Kraftvoll hackte ihm die Räbin ihren dolchartigen Schnabel in den Rücken. Der Marder schrie auf. Und während die Räbin flatternd ihren Sturzflug abbremste, sprang er geschickt zu einem Ast im Wipfel einer danebenstehenden Fichte.

In diesem Augenblick kam der Rabe zurück, sah die Gefahr.

Noch bevor der Marder sich an dem Fichtenast festkrallen konnte, stieß der Rabe zu. Durch den gewaltigen Stoß glitt der Marder ab. Doch schon am nächsttieferen Ast fing er sich wieder, hielt sich sekundenlang an den Vorderpfoten. Da griff ihn die Räbin von der Seite an, jagte ihm die Spitze ihres harten Schnabels in den gelblichen Kehlfleck. Und der Marder fiel durch das Fichtengezweig krachend zu Boden.

Von alldem hatte Raku kaum etwas bemerkt. Er spürte nur die Abendkühle, als seine Mutter sich plötzlich vom Nest erhob, hörte ihren Kampfruf und das Rauschen der Flügel, den Schmerzensschrei des Marders und schließlich seinen dumpfen Aufschlag. Das dauerte nur ein paar Atemzüge. Dann fühlte er sich wieder unter dem schützenden Gefieder seiner Mutter geborgen. Und in seinem Magen meldete sich der Hunger.

An diesem Abend aber gab es noch kein Marderfleisch für die Kleinen. Sie bekamen das Mitgebrachte aus dem Kehlsack ihres Vaters. Und nach der Fütterung ihrer Jungen hielten die beiden alten Raben ein üppiges Mahl.

Duschbad

Die Aprilmitte brachte Regen und Sturm. Und es wurde kälter. Einzelne Schneeschauer peitschten gegen den Rabenhorst in der alten Kiefer. Und tagelang breitete sich naßkaltes Weiß über die Landschaft, verhüllte das sprießende Grün.

In dieser Zeit rührte die Räbin sich kaum noch von der Nestmulde, hielt Kälte und Schnee und von den Zweigen tropfendes Tauwasser von ihren Kindern ab. Nur bei der Fütterung sah Raku manchmal etwas von dem verspäteten Winter. Und er war froh, wenn der wärmende Leib seiner Mutter sich wieder schützend über ihn schob.

Doch lange währte der Kälteeinbruch nicht. Nach einer frostklaren Nacht stieg die Sonne durch den Morgendunst, leckte den Reif von Gräsern und Zweigen.

Hier am Hang des Bergkamms kam der Frühling spät. Und Tage später brachen die ersten Blüten auf, sprangen die Knospen der Laubbäume und Sträucher. Es wurde grün in den Wipfeln und am Boden zwischen den Stämmen. Bienen summten um die Haselkätzchen am Waldrand. Und Schlüsselblumen, Buschwindröschen und Waldveilchen wuchsen zwischen jungen Halmspitzen.

Der alte Rabe hatte jetzt kaum noch Mühe, geeignetes Futter für seine Jungen zu finden. Kreuzottern und Eidechsen verließen noch etwas träge ihre Winterquartiere. Käfer und Würmer krochen zwischen Wurzeln und Stengeln, an denen die ersten Heupferde saßen. Und mit sicherem Instinkt spürten die Raben jedes Mäusenest auf. Nun bekamen die Kleinen auch schon das festere Muskelfleisch, zunächst sorgsam aufgeweicht und ohne Knochen, bald aber schon unangerichtete Mäusebrut.

Raku schluckte begierig alles, was Mutter und Vater ihm in den roten Schlund stopften. Nur das Putzen nach den Mahlzeiten gefiel ihm nicht. Dann schrie er genauso wie seine Geschwister und fuchtelte aufgeregt mit seinen spärlich befiederten Flügelchen. Erst wenn das Gefiederkraulen drankam, hielt er genießerisch still.

Doch nicht nur nach jeder Mahlzeit wurde gründlich geputzt. Die Räbin sorgte unermüdlich für Sauberkeit im Nest und entfernte jedes Kotbröckchen, das die Kleinen absetzten. Und immer wieder lockerte sie die Polsterung auf, damit ihre Jungen es weich und warm hatten.

Der Rabenhorst bestand schon lange. Vor Jahren, als die damals noch junge Räbin der Werbung des Raben folgte, hatten sie beide die alte Kiefer nahe dem Waldrand ausgewählt, gemeinsam Nistmaterial herangetragen und kunstgerecht den Horst gebaut: das Außengeflecht aus fingerdicken Trockenästen, Zweigen und Halmen sorgfältig mit lehmiger Erde abgedichtet und die Mulde in der Mitte des Reisigbaus mit trockenem Gras, Flechten, Moos und Tierhaaren weich gepolstert.

Hier hatten die beiden schon manche Brut aufgezogen. Es war ein guter Platz, still und verborgen. Und der einsame Uhu, der ein Stück waldeinwärts in ihrem Revier hauste und ihren Jungen während der Nacht hätte gefährlich werden können, wußte aus Erfahrung, daß die beiden alten Raben ihre Brut nicht aus den Augen ließen.

Die Kleinen fühlten sich wohl in dem sicheren Heim. Sie wußten noch nichts von Gefahr. Selten nur verirrte sich ein Mensch an diesen abgelegenen Ort. Und doch war es nicht mehr ganz so wie früher. Saurer Regen ließ allmählich ringsum die Bäume absterben: zuerst die Tannen und Fichten und nun die Laubbäume. Auch die stattliche Horstkiefer wurde von Jahr zu Jahr lichter. Teile ihrer Nadeln vergilbten und fielen ab. Und als die Tage Ende April immer länger wurden und die Sonne heiß durch die nadelarmen Wipfelzweige brannte, wurde es den Nestlingen zu warm.

Aber die Räbin wußte, was zu tun war. Mit abgewinkelten Flügeln stellte sie sich über ihre Jungen, hielt die sengenden Strahlen ab und spendete Schatten. Und der Rabe, der auf einem Seitenast sein Gefieder geputzt hatte, hockte sich auf den Rand des Horstes und stach mit seinem starken Schnabel kleine Löcher in den Nestboden, damit von unten kühlende Luft durchwehen konnte. So wurde die Hitze im Nest erträglicher. Und die vier Jungraben genossen die nächste Fütterung mit gutem Appetit.

Gegen Mittag aber schlief der leichte Wind ein. Die Luft stand flirrend heiß und unbeweglich über der Lichtung am Waldrand. Rakus Kehle wurde trocken. Er spürte Durst, machte einen langen Hals und hechelte. Auch von seinen Geschwistern ertönten klägliche Hechellaute.

Als der Rabe das nächstemal den Horst anflog, brachte er weder Heuschrecken noch Mäusebrut. Aus seinem Kehlsack tränkte er die Jungen fürsorglich mit Wasser. Und er strich gleich noch einmal ab, um eine neue Ladung zu holen. Dann stellte er sich als Schattenspender über die Kleinen, während die Räbin ihre Schwingen ausbreitete und den schmalen Waldbach am Ende der Lichtung ansteuerte. Neugierig betrachtete Raku die riesigen Schwanzfedern seines Vaters. Und einem unwiderstehlichen Drang folgend, begann er vorsichtig daran herumzuzupfen. Dem alten Raben aber schien das weniger zu gefallen. Er wandte seinen Kopf mit dem mächtigen Schnabel und musterte streng seinen vorwitzigen Sohn.

Raku machte sich vor Schreck ganz klein und dünn, duckte sich demütig, sperrte seinen Schnabel auf und gab einige ängstliche Fistellaute von sich. Offenbar stellte den Alten Rakus kindliches Gebaren zufrieden. Er zwinkerte einmal kurz. Und Raku atmete auf.

Außerdem hatte der Rabe inzwischen die Räbin entdeckt, die sich in elegantem Flug dem Nest näherte. Er begrüßte sie schon von weitem mit eifrigen Verbeugungen und stieß ein wohltönendes „Krrooa“ aus. Dann räumte er seinen Platz.