Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Pferdesommer mit Lara

Saga Egmont




Das Schattenpferd

1

Ich dachte, es würde ein total langweiliger Sommer werden.

Doch immerhin konnte er nicht schlimmer sein als die beiden letzten. Damit versuchte ich, mich zu trösten. Langweilig war auch nicht das richtige Wort. Eigentlich waren die Ferienwochen zum Heulen gewesen, jeder einzelne Tag.

In diesem Jahr sollte es anders werden; ich wusste es nur noch nicht. Die Zeichen standen anfangs nicht gerade günstig. Ich glaube an Zeichen, nur täusche ich mich häufig damit. Wenn ich denke, dass sie etwas Gutes bedeuten, kann es passieren, dass genau das Gegenteil eintrifft, oder umgekehrt.

Als ich von dem Gerücht erfuhr, dass Eulenbrook verkauft worden war, bekam ich fast die Krise. Meine Eltern unterhielten sich eines Abends beim Essen darüber, kurz vor Ferienbeginn. Es war an einem Samstag, daran erinnere ich mich noch.

»Angeblich hat das alte Gemäuer jetzt einen Käufer gefunden«, sagte mein Vater und wischte sich den Bierschaum von der Oberlippe. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand verrückt genug ist, für so eine Ruine Geld hinzublättern.«

»Es ist völlig unbewohnbar«, stimmte meine Mutter zu. »Ein derart vergammeltes Haus instand zu setzen, das dreißig Jahre leer gestanden hat, ist sicher teurer, als gleich ein neues zu bauen.«

»Aber das Grundstück ist schön und sehr groß, bestimmt an die achttausend Quadratmeter, schätze ich.«

»Und was sollen das für Leute sein, die Eulenbrook gekauft haben?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist’s ja auch nur ein Gerücht.«

Ich dachte an Eulenbrook, an seine geheimnisvollen, säuerlich riechenden Räume, die zerbrochenen Fensterscheiben, die dicken Mauern aus Naturstein und an den Holzbalkon, den man längst nicht mehr betreten konnte, weil die Bretter morsch und verfault waren.

Ronja und ich hatten viele Stunden dort verbracht, besonders im »Grünen Zimmer«, wie wir es nannten, ein Raum, in dem es noch ein paar von Mäusen zerfressene Polstersessel und einen Kronleuchter gab, dessen restliche Glasperlen im Wind klimperten. Im offenen Kamin hatten wir ab und zu Feuer gemacht. Einmal war Ronja auf der Treppe zum Dachboden eingebrochen und mit dem Fuß zwischen den geborstenen Holzstufen stecken geblieben.

»Wenn sie Geld haben, könnten sie schon etwas aus dem Anwesen machen«, hörte ich meinen Vater sagen. »Es war früher ein schönes Haus, ein Gutshof, und eigentlich fand ich es immer schade, dass es so verfallen ist.«

Meine Mutter nickte. »Frau Rohrbach hat mir mal ein altes Foto gezeigt, wie es vor fünfzig Jahren ausgesehen hat. Fast wie ein Schloss. Im Garten gab’s einen Teich mit Schwänen und einem Springbrunnen.«

Ich kannte den Teich. Inzwischen war er fast zugewachsen. Wenn es viel geregnet hatte, füllte sich das Sandsteinbecken mit Wasser. Schwäne hatten wir nie gesehen, aber Frösche und Molche.

Ronja und ich hatten manchmal im Sommer nackt darin gebadet. Irgendwie war uns immer etwas unheimlich dabei gewesen, aber das machte es gerade besonders reizvoll.

Eulenbrook hatte Ronja und mir gehört. Jetzt ging ich oft allein dorthin. Es kam mir vor, als wäre sie noch immer in den verlassenen Mauern – viel eher als in ihrem Grab auf dem Friedhof, das ich kaum jemals besuchte.

Die Vorstellung, dass fremde Menschen das Haus und den Garten in Besitz nehmen und verändern würden, dass ich Eulenbrook dann vielleicht nie mehr betreten konnte, war wie ein Schlag in die Magengrube.

»Hast du keinen Hunger, Rikke?«, fragte meine Mutter.

Ich schüttelte den Kopf und schob meinen Teller zur Seite.

»Vielleicht magst du ja wenigstens etwas zum Nachtisch? Es gibt heiße Himbeeren mit Vanilleeis.«

Seit das mit Ronja passiert war, behandelte mich Mama übertrieben rücksichtsvoll. Sie versuchte, mir jeden Wunsch zu erfüllen, als wollte sie mich für etwas entschädigen. Aber es gab keinen Ersatz für Ronja.

»Danke, ich bin satt.«

Mein Vater sagte zum hundertsten Mal, ich wäre schrecklich dünn. Ich wusste, dass sie sich Sorgen machten, ich könnte magersüchtig werden, also würgte ich ihnen zuliebe die Himbeeren mit Eis hinunter. Hinterher war mir fast übel.

Ich musste dauernd an Eulenbrook denken. Eine düstere Wolke senkte sich über mich und hüllte mich ein. Die Zeichen standen schlecht. Alles deutete darauf hin, dass ich jetzt auch noch Eulenbrook verlieren würde.

2

Ein paar Tage später, an einem Dienstag, zog es mich wieder hin. Irgendwie glaubte ich, Eulenbrook müsste sich verändert haben, aber alles war wie immer: die Freitreppe aus Stein mit den beiden Säulen, die das dreieckige Vordach trugen, umgeben von Brombeersträuchern; die leeren Fensterhöhlen, das Rotkehlchen, das in einer Mauernische nistete, und das Wasserbecken zwischen Heckenrosen, Brennnesselfeldern und Farnkrautwedeln.

Ein Entenpärchen hatte den alten Teich entdeckt und sich in den Frieden des verwunschenen Gartens zurückgezogen. Ja, alles wirkte verwunschen wie das Dornröschenschloss im Märchen, so als wären Haus und Garten in hundertjährigen Schlaf versunken.

Rosenranken verhakten sich in meinem T-Shirt, und eine riesige Libelle düste mit zornigem Rascheln über mich hinweg, als ich mir meinen Weg durch das Gestrüpp bahnte. Die Brombeerzweige schlangen sich wie Fallstricke um meine Füße, Frösche quakten im Verborgenen. Irgendwo in den knorrigen Obstbäumen, die von Efeu und Geißblatt überwuchert waren, sangen Drosseln. Es roch nach fauligem Wasser und dem Vanillearoma des Geißblatts.

Eulenbrook war unverändert. Das Haus strömte noch immer seinen eigenen, unverwechselbaren Geruch aus. »Gruftig«, hatte Ronja ihn genannt. Es war, als hätte es einen kalten, modrigen Atem. Überhaupt hatte Ronja immer behauptet, es wäre lebendig, weil der Geist der früheren Bewohner noch in den Mauern sei.

Unter dem schwarzgrünen Nadeldach einer Eibe verborgen, stand der Gnom aus Sandstein auf einem Podest, das fratzenhafte Gesicht mit grauen Flechten überzogen, eine steinerne Mütze auf dem Kopf. Wie immer grinste er mich mit seinem verzerrten Lächeln an, doch etwas war anders als sonst: Der Zwerg trug ein Halstuch aus einem rot-weiß gestreiften Band unter dem Kinn verknotet.

Ich blieb stehen und starrte ihn an, als wäre er plötzlich zum Leben erwacht. Mein Herz klopfte wild. Jäh beschlich mich das Gefühl, dass sich jemand im Dickicht versteckt hatte und mich beobachtete, jemand, der den Atem anhielt und auf der Lauer lag wie eine Katze, die heimlich einem Vogel nachstellt.

Schon wollte ich losrennen, zurück zum Durchschlupf in der Mauer und hinaus auf die Straße. In diesem Augenblick hörte ich ein Geräusch.

Es war das Brummen eines Motors. Ein Wagen fuhr aufs Haus zu. Unwillkürlich duckte ich mich, obwohl das Gebüsch so dicht und hoch war, dass mich von der Auffahrt her keiner sehen konnte.

Die Reifen rollten fast lautlos über den Weg, der mit einer dicken Schicht von verrottetem Laub bedeckt war. Ab und zu knackte ein Zweig, und Blätter rauschten, wenn sie das Wagendach streiften. Der Motor schnurrte sacht. Es musste ein großer Wagen sein.

Angespannt lauschte ich. Sie hielten vor dem Haus. Dann hörte ich Wagentüren klappen und einen Moment später gedämpfte Stimmen.

Jetzt war mir klar, dass es stimmte. Ein endgültiges Gefühl sagte es mir. Eulenbrook gehörte nicht länger Ronja und mir, es gehörte Fremden, die sich hier breitmachen und alles zerstören würden.

So wie sie dem Gnom ein Halstuch umgebunden hatten, würden sie den Teich wahrscheinlich bald in einen Swimmingpool verwandeln, aus dem Haus eine protzige Villa machen und die alten Bäume umsägen lassen. Das Stallgebäude würde zu einer Garage umgebaut werden und das Gittertor schwarzgolden gestrichen, abgeschlossen und mit einem Schild versehen, auf dem »Privat! Betreten verboten!« stand.

Die Stimmen verstummten. Vermutlich waren die neuen Besitzer von Eulenbrook ins Haus gegangen. Ein günstiger Moment für mich, ungesehen zu verschwinden. Doch ich tat das Gegenteil: Verstohlen wie ein Dieb arbeitete ich mich zwischen den Sträuchern zum Haus vor, wobei ich mir Arme und Beine zerkratzte, mich an Brennnesseln brannte und mit meinen langen Haaren in allerlei dornigem Gestrüpp hängen blieb.

Der Wagen, der vor der Freitreppe stand, war zwar groß, aber kein Luxusschlitten. Er musste schon ziemlich alt sein, hatte einen verbeulten Kotflügel und Roststellen an den Türen. Das beruhigte mich irgendwie, obwohl ich keine Ahnung hatte, wieso.

Ein Flügel der Eingangstür unter den Säulen stand einen Spalt offen. Sie hatten also den Schlüssel. So lange ich denken konnte, war die große Tür versperrt gewesen. Wir waren immer durch eines der Fenster im Erdgeschoss eingestiegen, hinein in die Küche, in der es noch einen altmodischen Herd mit einem langen Ofenrohr und einen Boden aus gemusterten, schief getretenen Kacheln gab.

Ich hasste sie dafür, dass sie den Schlüssel besaßen. Die früheren Besitzer von Eulenbrook waren tot, und ich hatte geglaubt, er wäre längst verloren gegangen, doch jemand musste ihn aufbewahrt haben, jemand, den wir nicht kannten und der nur darauf gewartet hatte, das alles hier zu Geld zu machen.

Durch die zerbrochenen Scheiben klang Hundegebell. Ich hörte eine Stimme etwas rufen. Jemand lachte. Dann schob sich eine semmelblonde Nase durch den Türspalt. Ein Kopf mit Schlappohren folgte.

Rasch duckte ich mich tiefer hinter die Buchsbäume, die nach Katzenpisse rochen. Wieder rief die helle Stimme einen Namen, es klang wie »Connie« oder »Bonnie«. Der Hund, ein Labrador-Mischling, wedelte mit dem Schwanz und sprang mit ein paar Sätzen die Treppe hinunter, verschwand zwischen den Büschen und stand dann plötzlich neben mir.

Wie dem bösen Wolf im Märchen hing ihm die Zunge aus dem Maul, aber seine Augen waren freundlich, und sein Schwanz wedelte, was ich als Friedenszeichen verstand.

»Psst!«, zischte ich ihm zu. »Bitte sei still! Verrat mich bloß nicht, hast du kapiert?«

Er antwortete mit einem noch heftigeren Wedeln und einem kurzen, auffordernden Bellen. Es klang wie: He, was machst du da? Komm raus und spiel mit mir …

»Hau ab!«, flüsterte ich. »Ich kann dich jetzt nicht brauchen. Mach die Flatter!«

Wieder bellte er. Beschwörend legte ich den Zeigefinger an die Lippen. Vom Vorplatz des Hauses her rief eine Stimme: »Was ist los, Bonnie? Ich glaube, er hat einen Igel aufgestöbert! – Komm sofort zurück, verstanden?«

Bonnie spitzte die Ohren, rührte sich aber nicht von der Stelle. Ich drehte mich wieder um und spähte zwischen den Buchsbäumen durch. Unter dem Vordach stand ein junger Typ mit kurz geschnittenen blonden Haaren. Er hielt eine Hand schützend über die Augen und spähte in den Garten. Dann kam er die Treppe herunter.

Jetzt war es höchste Zeit für mich zu verschwinden. Ich versuchte, mich geduckt davonzuschleichen, doch der Hund, der Bonnie hieß, schien das als Aufforderung zum Spiel zu betrachten. Er sprang bellend um mich herum, wobei er seine Vorderpfoten tapsig durch die Luft schleuderte. Hinter mir raschelte es verdächtig im Gebüsch.

»Verdammt!«, sagte die Stimme. »Da wachsen Brennnesseln … Bonnie, zum Teufel, was machst du? Hast du einen Igel gefunden? Lass den armen Kerl bloß in Ruhe!«

Ich zwängte mich an dem Labrador vorbei, um mich im hohlen Stamm der Weide zu verstecken, da, wo Ronja und ich als Kinder so gern gespielt hatten. Gerade noch rechtzeitig, ehe der blonde Typ aus den Schilfgräsern auftauchte, flüchtete ich mich in den hohlen Baum, duckte mich, drückte das Gesicht an die Innenseite des Stammes und hoffte, dass er mich nicht sehen würde.

Wenn Bonnie nicht gewesen wäre, hätte er mich wohl auch nicht entdeckt. Ich hörte den Hund leise knurren, hörte, wie der Junge mit ihm redete und wie Zweige unter seinen Füßen knackten.

Der Schreck fuhr mir richtig in die Glieder, als plötzlich eine Stimme ganz in meiner Nähe sagte: »Hallo, was machst du denn hier?«

Sekundenlang stellte ich mich tot wie ein bedrohter Käfer. »Hallo!«, sagte die Stimme wieder. »Bist du in Ordnung?«

Ich wandte den Kopf und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Was musste dieser Junge von mir denken, dass ich mich vor ihm in einen Baum verkroch wie ein lichtscheuer Zwerg?

Er stand vor mir, hatte seinen Hund am Halsband gefasst und musterte mich mit einem verwunderten Ausdruck in den braunen Augen. Seine Stirn war gerunzelt. Er hatte einen Sonnenbrand auf dem Nasenrücken.

Das alles sah ich innerhalb von Sekundenbruchteilen. Dann sagte ich etwas, was ich gleich darauf bereute, weil es total kindisch war und nicht zu einer fast erwachsenen Person von sechzehn Jahren passte:

»Hau bloß ab, verschwinde! Ihr gehört nicht hierher!«

3

Später dachte ich noch oft, dass er wirklich cool reagiert hatte.

Ich an seiner Stelle wäre beleidigt gewesen, hätte mich umgedreht und ihm ewige Feindschaft geschworen. Er aber sah mich nur ruhig an und sagte, als hätte er alles verstanden: »Du kannst rauskommen. Keiner will dich vertreiben.«

Damit nahm er mir allen Wind aus den Segeln. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, ärgerte mich, weil er so gelassen blieb, dass ich mich so blödsinnig verhalten hatte, und auch darüber, dass mir der Ausdruck seiner warmen braunen Augen gefiel.

So würdevoll wie möglich kletterte ich aus dem Baum. Bonnie versuchte, an mir hochzuspringen, aber der Junge hielt sie zurück.

Jetzt lächelte er sogar. In diesem Moment wünschte ich, er wäre richtig ekelhaft und arrogant zu mir gewesen und hätte ausgesehen wie einer von diesen geleckten Yuppies, die ich nicht leiden konnte.

Ich sagte kein Wort, gab mir Mühe, durch ihn hindurchzusehen, und ging an ihm und dem Labrador vorbei, zwängte mich durch die Sträucher und war wie erlöst, als ich den alten Gartenpfad erreichte, der unter Efeu und Unkraut fast verschwunden war.

Er versuchte nicht, mir zu folgen. Auch der Hund lief nicht hinter mir her. Als ich wusste, dass er mich nicht mehr sehen konnte, ging ich schneller und lief dann bis zum Mauerdurchschlupf.

Zu Hause schaute ich als Erstes in den Flurspiegel. Ich sah verboten aus. Mein Gesicht war rot wie eine Tomate, meine Haare struppig und zerrauft. Meine Arme und Beine waren total zerkratzt und wirkten noch dünner als sonst. Blut tropfte von meinem rechten Knie.

Erst als ich mir das Gesicht wusch, merkte ich, dass ich einen Ohrring verloren hatte.

Eigentlich waren es Ronjas Ohrringe. Sie hatte sie zum dreizehnten Geburtstag bekommen und nur einmal getragen. Und weil sie fand, dass sie mir besser standen als ihr, hatte sie sie mir geschenkt. Dafür hatte ich ihr den schwarzen Rucksack gegeben, der ihr so gefiel. Wir hatten das öfter gemacht, Geschenke ausgetauscht.

Die Ohrringe waren neben meinem alten Bären, einer Spieldose und ein paar Zeichnungen von Ronja das Liebste, was ich hatte. Jetzt war mir nur noch einer geblieben – eine Hälfte von etwas, was zusammengehörte. Irgendwie passte das verdammt gut zu allem anderen.

Ich hielt den Ohrring in der Handfläche und sah auf ihn nieder. Es war ein Hängeohrring mit einem kleinen, tropfenförmigen Opal, einem Stein wie milchiges Glas, der seine Farbe mit dem Licht veränderte. Jetzt schimmerte er bläulich.

Ich dachte, dass ich den zweiten bestimmt nie wiederfinden würde. Wahrscheinlich hatte ich ihn irgendwo im Garten von Eulenbrook verloren, und was in dieser Wildnis versank, war wohl für alle Zeiten verschwunden.

Dann legte ich mich ins Bett und vergrub mich in den Decken. Der verlorene Ohrring ging mir nicht aus dem Sinn, und es ärgerte mich, dass ich mich so dumm benommen hatte. Dieser Typ musste mich für absolut bescheuert halten und sicher auch für potthässlich.

Irgendwann klopfte meine Mutter an die Tür, schaute herein und fragte, was ich essen wollte.

»Nichts«, sagte ich. »Ich hab keinen Hunger.«

Darauf folgte die übliche Predigt. Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten.

»Aber Kind, du musst etwas essen! Du weißt, was Doktor Hoffmann gesagt hat. So geht das einfach nicht weiter, wir machen uns solche Sorgen um dich … Wie wär’s mit einem schönen Zucchini-Nudel-Auflauf? Den hast du doch früher immer so gern gegessen!«

Allein schon der Gedanke an Zucchini-Nudel-Auflauf verursachte mir Übelkeit. »Nein, echt nicht, danke!«

»Oder Apfelstrudel?«

Weil ihre Stimme so flehend klang, und damit ich endlich Ruhe hatte, murmelte ich: »Okay, ist gut, meinetwegen.«

»Na siehst du. Bist du müde?«

»Ich möchte allein sein.«

Ich hörte sie leise seufzen. Dann schloss sie die Tür, vorsichtig, als läge ich in einem Krankenzimmer.

Nachts träumte ich von Ronja und dem Ohrring. Es war einer der seltsamsten Träume, die ich je hatte. Im steinernen Becken von Eulenbrook saß Ronja zwischen Fischen und Molchen und Seerosen im Wasser. Ihr Kopf war unter Wasser, und ihre langen dunklen Haare fluteten um sie herum wie auf einem Bild von Ophelia, das ich einmal in einem Kalender gesehen hatte.

Sie saß da und hielt den Ohrring mit dem Opal in ihrer Handfläche. Als ich mich über den Rand des Beckens beugte, sah sie zu mir auf, lächelte und zwinkerte mir zu. Ihre Lippen formten ein Wort. Obwohl ich keinen Laut hören konnte, war es doch, als würde ein Gedanke von ihr zu mir überspringen. Das Wort hieß: Komm!

Ich lehnte mich über den Beckenrand, so weit ich konnte, streckte die Hand aus und versuchte, sie zu berühren, aber es gelang mir nicht.

»Hilf mir!«, sagte ich. »Gib mir die Hand, ich ziehe dich hoch!«

Sie lächelte noch immer und hob ihre freie Hand. Unsere Finger verschränkten sich ineinander. Ich versuchte zu ziehen, aber Ronja war stärker als ich. Sie zog und zog, und ich musste mich am Beckenrand festklammern und die Knie mit aller Kraft gegen die Mauer stemmen, um nicht kopfüber ins Wasser zu fallen.

Dann, als ich merkte, wie meine Kraft nachließ und wie ich den Halt verlor, stieß ich einen Schrei aus und wachte auf.

Um mich her war es stockdunkel und stickig wie in einer Gruft. Meine Knie schmerzten. Eine Weile lag ich wie betäubt da und wartete, bis sich das Hämmern meines Herzens beruhigte.

Im Traum hatte ich Ronja so deutlich gesehen, dass mich jetzt die Sehnsucht nach ihr mit der gleichen Stärke überfiel wie in den ersten Wochen und Monaten nach ihrem Tod. Zugleich spürte ich wieder diese verzweifelte Ungläubigkeit und wilde Auflehnung, dass es nicht sein konnte – nicht gerade Ronja, die so voller Lebenslust gewesen war, viel lebendiger, übermütiger und fantasievoller als ich und alle anderen Menschen, die ich kannte.

Schließlich stand ich auf und öffnete das Fenster, das der Wind zugedrückt hatte. Die Nacht war samtschwarz, ich sah weder Mond noch Sterne. In der Ferne rief eine Eule, vielleicht im Garten von Eulenbrook. Jahre hindurch hatte ein Eulenpaar zwischen den Dachbalken des alten Gutshauses genistet; sie waren durch eines der zerbrochenen Dachfenster aus und ein geflogen. Einmal, im Spätfrühling, hatten wir ihre Jungen gesehen, drei putzige, rührende Gestalten mit uralten Gesichtern, die auf der Dachrinne aufgereiht saßen und ihre Köpfe fast um hundertachtzig Grad drehen konnten.

Ronja hatte sie »die drei Gummihälse« genannt und eine Zeichnung von ihnen gemacht. Wenige Wochen später fanden wir ein Eulenjunges tot hinter dem Schuppen und begruben es im Garten unter einem Rosenbusch.

Ich kroch ins Bett zurück. Die Leuchtziffern der Uhr zeigten auf drei. Natürlich konnte ich nicht mehr einschlafen.

Als der Morgen endlich dämmerte, fasste ich den Entschluss, noch einmal – ein letztes Mal – nach Eulenbrook zu gehen und den Ohrring mit dem Opal zu suchen.

4

Eulenbrook lag außerhalb unseres Städtchens. Von der Landstraße aus konnte man es nicht sehen, denn ein Erlengehölz verdeckte den Blick auf die Gartenmauern und das graue Dach mit den drei Kaminen.

Während des Zweiten Weltkriegs, hatte mein Großvater erzählt, waren plündernde Soldaten daran vorbeigezogen und hatten den Gutshof einfach übersehen, obwohl sie sonst jedes Haus nach Nahrungsmitteln und Wertgegenständen durchsucht hatten.

Ich überquerte den Bach auf der kleinen Brücke und radelte durch das Wäldchen, in dem Wildtauben gurrten. Was sollte ich machen, wenn sie wieder da waren? Um festzustellen, ob ihr Wagen in der Auffahrt stand, musste ich bis fast zum Haus gehen. Doch wenn Bonnie, der Hund, mich hörte oder witterte, konnte es passieren, dass alles so ähnlich ablief wie gestern. Ich wollte dem Jungen auf keinen Fall ein zweites Mal begegnen.

Während ich durch das Loch in der Gartenmauer schlüpfte, lauschte ich angestrengt, bereit, beim geringsten ungewohnten Geräusch umzukehren und mich aufs Fahrrad zu schwingen.

In einem Punkt war ich ihnen jedenfalls überlegen: Ich kannte mich hier aus, kannte jedes Versteck, jeden Pfad im Wäldchen und in Eulenbrooks Garten. In Wahrheit waren sie die Eindringlinge und ich gehörte hierher. So sah ich es damals.

Auch hier gurrten Wildtauben. Ein Frosch quakte eindringlich, Grillen zirpten. In den Blättern raschelte sacht der Wind. Sonst war es wie immer still.

Ich fühlte mich plötzlich wieder sicher, während ich mir einen Weg durchs Gebüsch bahnte und über zertretenes Gras und geknickte Efeuranken meinen Spuren vom vergangenen Tag folgte.

Ich hoffte auf die hohle Weide. Vielleicht hatte ich Ronjas Ohrring dort verloren. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, der neu war und den ich noch nicht einordnen konnte.

Noch ehe ich die Weide erreichte, hörte ich das Gewieher.

Sie waren wieder da und sie hatten Pferde mitgebracht. Das wusste ich, noch ehe ich durch die Zweige der Buchsbaumhecke spähte und sie vor dem Haus stehen sah. Vor Neugier und Überraschung vergaß ich, dass ich eigentlich weglaufen wollte.

Sie waren zu dritt: der blonde Junge, ein großer, ziemlich dünner Mann und eine Frau, die Shorts trug und lange braune Beine hatte. Hinter dem schwarzen Auto parkte ein Lastwagen mit heruntergelassener Laderampe, über die der Mann gerade ein Pferd führte.

Ein zweites Pferd, ein Apfelschimmel, stand im hohen Gras am Rand der Auffahrt. Der Junge hielt es am Zügel. Neben ihm lag die Hündin, die Bonnie hieß, und nagte an einem Stück Holz oder einem Knochen.

Eine warnende Stimme in meinem Innern riet mir zu verschwinden, solange sie mich noch nicht entdeckt hatten. Trotzdem blieb ich und beobachtete, wie der Junge den Apfelschimmel streichelte, der heftig mit dem Kopf nickte, schnaubte und mit dem Vorderhuf scharrte.

Es gefiel mir, wie er mit dem Pferd umging. Seine Bewegungen wirkten behutsam und liebevoll. Wenn wir uns anderswo begegnet wären, nicht gerade hier in Eulenbrook, hätte ich ihn sicher gemocht.

Die Frau neben der Laderampe war ein Mädchen, nicht viel älter als ich; das merkte ich, als sie sich umdrehte. Sie half dem dünnen Mann, das zweite Pferd festzuhalten. Der Rotfuchs sah sich um, warf den Kopf in den Nacken und machte plötzlich einen heftigen Sprung zur Seite.

Ich hörte, wie der Mann etwas rief. Das Mädchen rannte zu dem blonden Jungen und übernahm die Zügel des Apfelschimmels, während er zum Lastwagen lief und dem Mann half, den Rotfuchs zu beruhigen und über die Laderampe zu führen.

Es war ein ungewöhnlich großes, schönes Pferd. Die Sonne brachte sein Fell zum Glänzen. Unwillkürlich bewunderte ich seinen edlen, gebogenen Hals und die kupferrote Mähne.

Sobald es festen Boden unter seinen Hufen spürte, war es wie verwandelt. Es tänzelte ein wenig, doch die Anspannung wich aus seinem Körper, und es sah sich aufmerksam um, wobei sich seine Ohren ständig bewegten.

Aus dem Innern des Lastwagens drang dumpfes Gepolter. Sie hatten also noch ein drittes Pferd mitgebracht. Mein Blick ging zu dem Mädchen, das den Apfelschimmel hielt. Da sah ich, dass Bonnie aufgestanden war. Langsam begann sie, den Weg entlangzutrotten, genau in meine Richtung.

Ich drehte mich um und rannte den Trampelpfad zurück, über den ich gekommen war.

In meiner Panik stolperte ich über eine Wurzel, fiel ins Gestrüpp und schrammte mir die Nase auf. Mit einer Hand griff ich mitten in die Brennnesseln.

Es brannte höllisch, und ich hätte heulen können – vor allem aus Wut, weil sie mich zu einem Eindringling machten und weil ich vor ihnen flüchten musste. Sie wollten sich offensichtlich für immer hier einnisten, mit ihrem Hund und ihren Pferden.

Erst später fragte ich mich, wie sie denn in Eulenbrook leben wollten. Das Haus war praktisch unbewohnbar. Nur der Stall war in gutem Zustand. Er war vor ungefähr fünf Jahren renoviert worden, weil ein Bauer aus der Umgebung vorgehabt hatte, seine Kühe darin unterzubringen. Dann war nichts daraus geworden und der Stall war weiter unbenutzt geblieben.

Auf dem Heimweg fiel mir Ronjas Ohrring wieder ein. Die einzige Chance, ihn zu finden, war verpasst. Ich konnte nicht mehr nach Eulenbrook zurück.

Aber vielleicht war es ja richtig so, dass einer der beiden Ohrringe irgendwo in Eulenbrooks Garten verborgen lag – dort, wo mir Ronja während der letzten beiden Jahre am nächsten gewesen war. Einer für sie, einer für mich.

5

»Sie haben Pferde nach Eulenbrook gebracht«, sagte meine Mutter beim Abendessen. »Frau Pfefferle hat es mir erzählt.«

Frau Pfefferle war die Inhaberin unseres Supermarkts, bei der alle Fäden zusammenliefen. Wenn etwas Neues in unserem Städtchen passierte, wusste sie es sofort, und die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Ronja hatte sie immer »die Urwaldtrommel« genannt.

Ich sagte nicht, dass ich das mit den Pferden bereits wusste. Stumm schob ich die Fischstäbchen auf meinem Teller hin und her. »Sie haben das Anwesen übrigens geerbt, nicht gekauft«, fügte meine Mutter hinzu.

Mein Vater hob den Kopf. »Geerbt? Für eine solche Erbschaft würde ich mich aber bedanken! Sie müssen jede Menge Geld aufbringen, um das Haus einigermaßen bewohnbar zu machen.«

»Das haben sie sicher auch. Jemand, der drei Pferde hält, ist bestimmt kein armer Schlucker.«

»Nicht alle Leute, die Pferde haben, sind reich.«

Meine Eltern sahen mich überrascht an. Sie waren inzwischen so an mein Schweigen gewöhnt, dass sie es kaum glauben konnten, wenn ich mich in ihre Gespräche einmischte.

»Pferde kosten Geld, besonders ihr Unterhalt«, sagte mein Vater. »Aber vielleicht wollen sie eine Reitschule eröffnen.«

Eine Reitschule! Daran hatte ich noch nicht gedacht.

»Mit drei Pferden?«, fragte Mama zweifelnd.

»Vielleicht kommen ja noch mehr Pferde nach. Hättest du nicht Lust, Reitunterricht zu nehmen, Rikke?«

Als Ronja noch lebte, hätten wir beide unheimlich gern Reiten gelernt. Ronjas größter Wunsch war ein eigenes Pferd gewesen, doch damals mussten unsere Eltern das Haus und den Fotoladen abbezahlen und sparten an allen Ecken und Enden. Heute hätte ich ihnen vielleicht einen Gefallen getan, wenn ich wieder für irgendetwas Begeisterung gezeigt hätte.

»Nein danke«, sagte ich. »Kein Bedarf.«

Sie wechselten einen Blick. Mama unterdrückte einen Seufzer.

»Weiß man schon etwas über diese Leute?«, fragte mein Vater hastig.

»Es ist ein Mann, der Theisen heißt, mit seinem Sohn und seiner Tochter. Eine Mutter scheint es in dieser Familie nicht zu geben.«

»Vielleicht sind sie geschieden.«

Ob ich wollte oder nicht, ich stieß immer wieder auf die neuen Besitzer von Eulenbrook. Mama beobachtete mich.

»Rikke, du isst ja wieder nichts!«, sagte sie. »Und wie du aussiehst! Wie ist das eigentlich passiert, dass du vom Rad gestürzt bist?«

Ich sagte, ich hätte nicht aufgepasst und wäre im Wald über eine Wurzel gefahren.

»Du solltest nicht so allein durch die Gegend radeln. Hast du die Wunden desinfiziert?«

Ich nickte. Sie fragte nach Isabell.

»Isabell fliegt morgen nach Mallorca«, sagte ich, erzählte aber nicht, dass wir schon seit einigen Monaten einfach nichts mehr miteinander anfangen konnten. Früher waren wir mit Isabell befreundet gewesen, Ronja und ich, doch sie hatte sich verändert. Ich fand sie oberflächlich und schrill. Umgekehrt hielt sie mich wahrscheinlich für einen schnarchlangweiligen Trauerkloß. Damit war sie nicht die Einzige in unserer Schule.

»Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch kochen soll!«

Meine Mutter sah so verzweifelt aus, dass sie mir leidtat. Um ihr einen Gefallen zu tun, würgte ich zwei Fischstäbchen hinunter und kaute ein paar Salatblätter. Später hatte ich Magenschmerzen und hätte mich am liebsten übergeben, um die Fischstäbchen wieder loszuwerden.

Jetzt wo ich nicht mehr nach Eulenbrook konnte, wusste ich nicht, wohin, so als gäbe es für mich keinen anderen Ort auf der Welt. Unser eigener Garten war winzig und aufgeräumt, mit ein paar künstlich wirkenden Nadelbäumen im Miniaturformat und einer rechteckigen Rasenfläche – pflegeleicht, wie meine Eltern sagten.

Ins Schwimmbad mochte ich nicht. Da saßen sie alle in Cliquen beisammen, rauchten und machten hämische Bemerkungen über jeden, der nicht dazugehörte. Es war wie Spießrutenlaufen, im Badeanzug zum Becken zu gehen.

»Sie denkt, sie ist schön, wenn sie ihr klapperndes Gebein durch die Gegend schiebt.« Das hörte ich besonders oft von den Mädchen. Sie begriffen nichts, wussten nicht, dass es mir nicht darum ging, besonders schlank zu sein, dass ich seit der Sache mit Ronja einfach keinen Appetit mehr hatte und mich zu jedem Bissen, den ich schlucken sollte, zwingen musste.

Ungefähr eine halbe Fahrradstunde vom Städtchen entfernt gab es einen kleinen See, aber auch der war im Sommer total überlaufen. Ich wünschte, wir wären in Urlaub gefahren. Aber meine Eltern hatten einen Fotoladen und wollten sich das Geschäft mit den Touristen, die jetzt in unser altes Städtchen kamen, nicht entgehen lassen.

In der folgenden Woche unternahm ich lange Radtouren über die Hügel und durch die Felder. Dabei musste ich immer an dem Waldstück vorbei, hinter dem Eulenbrook verborgen lag.

Einmal sah ich den schwarzen Wagen aus der Zufahrt kommen, machte rasch einen Schlenker und fuhr über die Böschung zwischen die Büsche. Dort blieb ich stehen und wartete, bis sie verschwunden waren.

Inzwischen glaube ich daran, dass das Schicksal bestimmte Begegnungen für uns vorgesehen hat und dass wir ihnen nicht ausweichen können, ganz gleich, was wir auch tun. So war es mit mir und Arne Theisen.

Einige Tage später, an einem ungewöhnlich heißen Julimorgen, machte ich mich mit dem Rad auf den Weg zum Waldsee. Der frühe Morgen war die einzige Tageszeit, zu der ich den See, der eigentlich mehr ein Weiher war, für mich hatte und ein paar Runden in Ruhe schwimmen konnte.

Es war noch nicht einmal sieben Uhr, als ich über den Kiesweg radelte und das Ufer mit dem dichten Schilfgürtel erreichte. Teichrohrsänger flöteten leise irgendwo in den Binsen und eine türkisfarbene Libelle düste im Zickzackflug vor mir her.

Die Morgensonne lag mit sanftem Schimmer auf der Wasseroberfläche, in der sich die Tannen und der Himmel schwarz und golden spiegelten. Sofort umkreisten mich die ersten Mücken mit raubgierigem Sirren.

Noch während ich aus meiner Jeans schlüpfte, hörte ich gedämpftes Hufgetrappel aus der Ferne. Obwohl ich meinen Bikini bereits anhatte, zog ich die Jeans wieder hoch. Keiner sollte meine erbärmlich dünnen Oberschenkel sehen, die spitzen Knie und die schaufelartigen Hüftknochen.

Schon tauchte ein sahnefarbener Pferdekopf mit silbriger Mähne zwischen den Tannen auf. Dann sah ich den Oberkörper des Reiters. Es war der Junge aus Eulenbrook. Er hatte mich noch nicht bemerkt. Ich beobachtete, wie er das Pferd zügelte und aus dem Sattel glitt. Jetzt kam auch sein Hund angerast, mit fliegenden Schlappohren und hängender Zunge.

Der Junge führte das Pferd über den schmalen Pfad zwischen den Schilfhalmen. Der Schimmel ging langsam ins seichte Wasser, senkte die Nase und trank. Ich sah mich nach meinem Fahrrad um, das an einem Baum lehnte. Wenn ich leise war, konnte ich vielleicht unbemerkt verschwinden.

Eine Bewegung oder ein leises Knirschen meiner Sandalen auf den Steinen verriet mich. Plötzlich bellte Bonnie, der Labrador-Mischling. Das Pferd hob den Kopf. Wasser tropfte von seinen Lippen und Nüstern.

Auch der Junge sah auf. Über die Schilfhalme hinweg trafen sich unsere Blicke.

Trotzig dachte ich: Wieso soll ich eigentlich schon wieder abhauen? Ich habe das gleiche Recht wie er, hier zu sein! Der See gehört ihm nicht …

Vielleicht erkannte er mich nicht sofort. Er wandte sich ab und redete leise mit dem Hund. Dann watete er durchs seichte Wasser zu seinem Pferd und streichelte ihm den Hals.

Ich war schon beim Rad und wollte es zu einer Uferstelle auf der anderen Seite des Sees schieben, aber als ich die Hände auf die Lenkstange legte, hörte ich hinter mir ein Hecheln.

Bonnie kam auf mich zugelaufen. Der Junge folgte ihr.

Er war barfuß und trug ausgefranste Jeansshorts.

»Warum läufst du vor mir weg?«, fragte er.

Ich spürte, dass ich rot wurde. »Vielleicht möchte ich meine Ruhe haben.«

Jetzt stand er vor mir. Bonnie beschnupperte mich und drückte die Stirn gegen meine Knie. Unwillkürlich ließ ich die Hand sinken und berührte ihre Ohren. Sie waren weich wie Samt. Im Hintergrund prustete das Pferd.

»Ich will dich nicht stören, aber warte einen Augenblick. Ich hab etwas gefunden, einen Ohrring. Er hing in den Brombeerranken. Gehört er dir?«

Ich starrte ihn an. Er hatte sandfarbene, fast weiße Augenbrauen und auf seinem Nasenrücken schälte sich die Haut. Auf seinem Kinn war eine winzige halbmondförmige Narbe. Seine gebräunten Arme waren mit silbrigem Flaum bedeckt.

»Ja!«, sagte ich atemlos. »Das ist meiner! Was hast du mit ihm gemacht?«

Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Ich hab ihn weder weggeworfen noch verkauft, auch wenn du mir das offenbar zutraust. Er liegt bei meinen Sachen im Wohnwagen. Du kannst ihn dir holen.«

Ich schüttelte den Kopf. Bonnie stupste meine Hand mit der Nase an, bis ich sie streichelte. »Warum nicht?«, fragte er. »Du warst doch sicher nicht zum ersten Mal in Eulenbrook.«

Wenigstens sagte er nicht: auf unserem Grundstück. Das war ein Pluspunkt für ihn.

»Ich möchte nicht.«

»Aha. Soll ich dir den Ohrring bringen? Ich weiß allerdings nicht, wie du heißt und wo du wohnst.«

Ich murmelte: »Das brauchst du nicht. Wir können uns treffen.«

Kaum war es heraus, kamen mir schon Zweifel, ob er mich vielleicht falsch verstehen würde und dachte, ich wollte ihn anmachen. Doch er nickte und erwiderte nur: »Okay. Wann und wo?«

Ich überlegte. »Morgen um diese Zeit an der gleichen Stelle?«

»Gut. Ich hab den See erst gestern entdeckt. Bist du jeden Morgen hier?«

»Nur ab und zu. Tagsüber ist es total voll.«

»Das hab ich schon gemerkt. Schade. Es ist so ein schöner Platz.«

Eine Weile standen wir da und sahen zu, wie das Pferd fast bis zum Bauch ins Wasser ging. Bonnie lief zum Ufer und platschte ebenfalls in den See. Sie zerrte eine Schlingpflanze hoch, schleuderte sie in die Luft, fing sie wieder auf und schüttelte sie wie einen toten Fisch.

»Bonnie ist so glücklich hier«, sagte der Junge unerwartet. »Wir haben bis jetzt in einer Großstadt gelebt.«

»Mit drei Pferden?«

Er fragte nicht, woher ich wusste, dass sie drei Pferde hatten. »Sie waren in einem Reitstall untergestellt. Aber irgendwie haben sie mir immer leidgetan. Tiere gehören in die Natur.«

»Wir Menschen auch«, erwiderte ich unwillkürlich.

Er musterte mich flüchtig. »Ja, auch wenn viele das nicht mehr spüren.«

Irgendwo im Schilf quakte eine Ente. Dann durchbrachen Stimmen und laute Musik die morgendliche Stille.

»Ich hab meinen Schnorchel vergessen!«, schrie jemand. Und eine Frauenstimme übertönte das schmalzige Gedudel eines Kassettenrekorders: »Frankie, hast du den Picknickkorb mit den Spareribs dabei?«

Der Junge und ich wechselten einen Blick. »Das ist erst der Anfang«, sagte ich.