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Eckard H. Krause, Klaus Douglass

Aufbruch zum ICH

Wie Sie mit den Ich-Bin-Worten Jesu zu sich selbst finden





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorwort

Wie kann man Jesus wirklich verstehen? Gibt es eine Möglichkeit, ihm nahezukommen? Das scheint ja gerade dann schwierig, wenn man - was den Glauben betrifft - noch ziemlich unsicher ist, Zweifel hat, bisweilen große Angst verspürt, sich in theologischen Erklärungsmustern zu verlieren, und dringend wissen möchte, wie man denn geistliche Aussagen im Alltag umsetzen kann? Der einfachste Weg ist bei einer solchen Fragestellung oft der Beste: Wir lassen Jesus selbst zu Wort kommen. Und versuchen zu entdecken, was das alles mit uns zu tun hat.

Wenn Jesus sich in seinen sieben „Ich bin“-Worten beschreibt, dann spricht er nicht nur über seine einmalige Aufgabe, den Menschen die Liebe Gottes so nahe zu bringen, dass sie davon ergriffen werden - er sagt auch etwas über das Menschsein an sich. Gott taucht in Jesus Christus in unsere Wirklichkeit ein, und da, wo er als gesegneter Mensch Aussagen über seine menschliche Gestalt fällt, redet er über uns.

Darum bergen die „Ich bin“-Worte gleich mehrere Geheimnisse: Sie sind ein Schlüssel zu Gott, zu Jesus und zu uns. Dieses Buch lädt zu einer abenteuerlichen Reise ein! Forschen Sie in den liebevollen Worten Jesu nach sich selbst! Es ist aufregend, wenn man feststellt, dass seine Sätze wie ein Spiegel der Seele sind, in dem man etwas von dem Menschen sieht, der man gern sein möchte und der so viele ungeahnte Möglich­keiten in sich hat.

Die Selbstaussagen Jesu sind immer eingebettet in Begegnungen mit Menschen, in Geschichten, die dem Leben der Betroffenen entsprungen sind. Sie gewinnen dort ihre Kraft, wo man sich auf sie einläßt, sie mit offenen Augen und Herzen betrachtet und ihnen den Raum gibt zu wirken. Das Volk Israel war von Anfang an in die orientalische Tradition des Erzählens eingebunden, und die Form der hier vorliegenden „narrativen Türen“ zu den „Ich-bin“-Worten will daran anknüpfen.

Eckard Krause ist einer der großen modernen „Erzähler“ des Abendlandes. Wenn er spricht, verstrickt er seine Zuhörer in das Geschehen und nimmt sie mit in eine Welt voller Wunder, in der ein Gott handelt, den er aus ganzem Herzen liebt. Wir haben versucht, die Atmosphäre dieses Bilderjongleurs zwischen und mit den Buchstaben einzufangen: sein Lächeln, seine Gesten, seine leuchtendes Gesicht und seine Leidenschaft. Wenn man beim Lesen die Augen schließen könnte, dann sollten Sie es tun.

Am Anfang, als es noch keine schriftlichen Zeugnisse von Jesus gab, zogen die Apostel umher und erzählten auf den Markplätzen, in den Synagogen und überall, wo Menschen auf der Suche nach Gott und sich selbst waren, von dem, was sie mit diesem so ganz anderen Rabbi aus Nazareth erlebt hatten. Insofern lässt Eckard Krause eine urkirchliche Tradtion wiederaufleben. Genießen Sie seine Geschichten, die gut tun - auch wenn Sie uns bisweilen in schmerzhafter Form herausfordern.

Eingeleitet werden die „Erzählungen“ von einer Auslegung des Jesu-Wortes „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ durch Klaus Douglass, der damit auch eine Einführung in die Gesamtthematik gibt. Vor jedem Beitrag stimmt eine Kurzmeditation Sie auf die Schwer­punkte des jeweiligen Themas ein. Für die Andreasgemeinde in Niederhöchstadt, in der Eckard Krause diese Vorträge zum ersten Mal gehalten hat, waren sie ein Segen. Das sie das für Sie als Leserinnen und Leser ebenfalls werden, wünscht Ihnen

 

 

Fabian Vogt

"Ich bin der Weg"

Von wichtigen Glaubensschritten und der Suche nach einem Ziel

 

In diesem Kapitel begegnen wir Jesus! Dem Mann, der ziemlich tollkühn einen beinah unglaublichen Anspruch an sich, an die Welt und an uns Menschen stellt, einen Anspruch, mit dem einige Leute - auch unter den Frommen - ziemlich leichtfertig umgehen. Welche ungewöhnlichen Traditionen Jesus damit aufgreift und vollendet, was für ihn „Leben“ bedeutet und warum er letztlich nicht mit Mutter Theresa verglichen werden kann, ist genau so entscheidend für ein gelungenes Da sein wie die Frage, was eine Wegbeschreibung von einem Freund unterscheidet.

 

Meditation

 

Loslaufen! Aber wohin?

Davonlaufen! Aber wohin?

 

Ich igele mich ein in der Unzufriedenheit,

gewöhne mich daran, im Nebel zu leben

und ahne doch tief in mir,

dass da irgendwo Licht ist,

dass da irgendwo die Freiheit wartet.

 

In die Enge getrieben,

in die Angst getrieben,

fehlt mir der Mut, den ersten Schritt zu gehen,

fehlt mir das Ziel, den ersten Schritt zu gehen.

 

Die Gewohnheit klammert sich an mich,

flüstert mir ihre hohlen Versprechungen ins Ohr:

„Bleib hier - bei mir. Geh nicht!

Wer aufbricht, läuft Gefahr, sich zu verlaufen.

Eigentlich ist es doch gut, wie es ist.

Anderen geht es ja noch schlechter.“

 

Und ich wiege mich in Sicherheit,

und ich wiege mich in Verlogenheit.

 

In die Enge getrieben,

in die Angst getrieben,

fehlt mir der Mut, den ersten Schritt zu gehen,

fehlt mir das Ziel, den ersten Schritt zu gehen.

 

Wenn ich könnte, wie ich wollte,

wenn ich würde, wie ich wollte,

wäre das Da sein wundervoll,

Ich weiß, wenn ich vor der Angst fliehen könnte,

träfe ich mich endlich so an,

wie es sein soll.

 

Loslaufen! Aber wohin?

Davonlaufen! Aber wohin?

 

Wo ist der Weg? Wer ist der Weg?

 

Fabian Vogt

 

 

Jesus spricht: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“

  

Das ist eines der gewaltigsten Worte, die uns aus dem Munde Jesu berichtet werden. Angeblich ist es der meistzitierte Vers des Neuen Testamentes. Der jüdische Philosoph Martin Buber sagt, dass dieser Satz die Bruchstelle markiert, an der sich das Christentum vom Judentum trennt. Es ist Stelle, an der Jesus neben den einen Gott gestellt wird und es nicht mehr nur einen, sondern eben zwei Götter gibt.

Ich habe im Internet ein wenig nach diesem Vers geschaut, und bin erschrocken, wie oft er zitiert wird, um damit ein „Rechthaben“ zu begründen. Unzählige Gruppierungen schreiben: „Hört zu, wir haben die Wahrheit – und wenn ihr nicht daran glaubt, dann müsst ihr ‘dran glauben’.“ „Wir haben Recht, ihr habt Unrecht.“ Dieser Vers, so kann man unisono lesen, begründet den Absolutheitsanspruch des Christentums. Ich möchte gerne mit Stück für Stück an diesem Vers entlang­gehen. Und ganz am Schluss kommen wir auf die Frage nach dem Absolutheitsanspruch zurück.

 

„Jesus spricht“

 

Wir wollen uns in diesem Buch intensiv mit den sieben sogenannten „Ich-bin“-Worten Jesu auseinandersetzen. Ich möchte deshalb zuersteinmal kurz erklären, worum es dabei geht. Sieben mal sagt Jesus im Johannes-Evange­lium einen Satz, der mit diesen beiden Worten beginnt: „Ich bin ...“ Die Zahl Sieben spielt bei Johannes eine besondere Rolle. So berichtet er beispielsweise nur von sieben Wundern Jesu. Die anderen Evangelisten überliefern viel mehr Wunder. Das heißt: In diese Auswahl ist eine bestimmte Theologie eingepackt, eine bestimmte Zielrichtung. Johannes war unter den vier Evangelisten der theologisch reflektierteste. Er wollte nicht einfach nur die Geschichte Jesu aufschreiben – das hatten die anderen drei ja schon gemacht, und jeder kannte diese Erzählungen. Johannes erzählt und deutet dabei gleichzeitig.

 

Die große Frage, die ihn bewegt, lautet: „Wer ist dieser Jesus?“ Und in den sieben „Ich-bin“-Worten liefert er sozusagen seine Antwort. Wir wollen in sieben Schritten dieser Antwort nachspüren: „Wer ist dieser Jesus?“ Ich habe vor Jahren die Konfirmandinnen und Konfirmanden einmal eine Umfrage machen lassen: „Wer ist Jesus für Sie?“ Und die meisten Antworten, die dabei herauskamen, gingen etwa in die Richtung: „Ein guter Mensch, ein bedeutender Sittenlehrer, ein großes Vorbild usw.“ Und „Vorbild“ ist für viele Leute das große Stichwort. Es begegnet mir auch immer wieder in Diskussionen. „Ach, wissen Sie,“ sagen die Leute dann, „Jesus ist für mich nicht Gottes Sohn. Aber Jesus ist für mich ein Vorbild.“ Ich bin mir sicher, dass Sie das auch schon einmal gehört haben. Aber das mit dem Vorbild ist ja so eine Sache. Wenn jemand sagt: „Jesus ist für mich ein Vorbild“, dann müsste man eigentlich zurückfragen: „Inwiefern ist er für sie ein Vorbild?“ Und ich vermute mal, dass man auf diese Frage in der Regel eine sehr, sehr wachsweiche Antwort bekommen wird. Der eine wird hier auf die Wohlanständigkeit Jesu verweisen, der andere auf dessen soziale Einstellung und der dritte auf eine fast ökologische Gesinnung. Nahezu jeder Mensch hat irgendwelche Werte, die er wichtig findet, und die er gerne bereit ist, auf Jesus zurückzu­führen. Jesus gilt dann als der Begründer der bürgerlichen Moral oder gerade als Beispiel für gelebten Widerstand; „Jesus, der erste Pazifist“ oder „Jesus, der Frauenfreund“. Besonders viel Spaß macht die Sache dann, wenn man dann den anderen, die diese Gesinnung nicht haben, vorwerfen kann, sie seien keine oder doch zumindest schlechtere Christen. Schließlich hat Jesus ja so gedacht wie man selber.

 

Aber ein Vorbild ist ja eigentlich viel mehr. Ein Vorbild ist nicht einfach jemand, den ich mir als schmückende Feder an den Hut stecke, sondern jemand, an dem ich mich wirklich orientiere. Und wenn jemand sagt: „Jesus ist für mich ein Vorbild“, würde ich - gerade weil Jesus mir auch wichtig ist - schon gerne nachfragen: „Ist das wirklich so? Wann haben Sie sich das letzte mal in einer Ihrer Taten davon beeinflussen lassen, was Jesus an Ihrer Stelle tun würde?“ Denn das erwarte ich von jemandem, der sagt: „Jesus ist mein Vorbild“: Dass er sich in seinem Handeln ganz stark an dem orientiert, was Jesus an seiner Stelle tun würde. Es ist schon eine merkwürdige Tatsache, dass es zwar viele Leute gibt, die Jesus als Vorbild bezeichnen, aber nur wenige, die sich in ihrem Tun und Handeln wirklich an der Person Jesu orientieren. Übrigens ist Jesus da nicht allein. Er teilt dieses Schicksal mit vielen sogenannten „Vorbildern“, etwa mit Mutter Teresa.

Platte Sprüche über Vorbilder höre ich oft. Und wenn man nachhaken würde, bekäme man immer die gleiche Reaktion. Das können Sie sich sicher vorstellen:

 

„Die katholische Kirche mag ich zwar nicht, aber die Mutter Teresa ist für mich ein Vorbild!“

„Ach, Sie wollen auch nach Indien?“

„Äh, nein!“

„Sie meinen, Sie kümmern sich hier um Sterbende?“

„Naja ...“

„Haben Sie sich wenigstens mal ausführlich mit ihrem Leben beschäftigt?“

„Eigentlich nicht.“

„Dann habe ich, glaube ich, etwas nicht ganz richtig verstanden: Worin genau ist Mutter Teresa Ihr Vorbild?“

 

Sie verstehen, was ich meine. Was soll das Gerede vom „Vorbild“? Ein Vorbild ist jemand, dessen Taten ich nach­eifere und nicht nur jemand, dessen Taten ich dann gut finde, wenn es mich gerade nichts kostet. Ein Vorbild ist auch nicht jemand, den ich immer nur dann zitiere, wenn er zufällig mal meiner Meinung ist. Sagen Sie nie, jemand sei Ihr Vorbild, wenn Sie sich nicht wirklich an dieser Person orientieren! Von daher ist die Aussage: „Jesus ist für mich ein Vorbild“ bei vielen Menschen einfach eine Ausflucht. Sie wollen oder können nicht anerkennen, dass Jesus Gottes Sohn war, kön­nen sich dem aber auch nicht ganz entziehen, dass Jesus irgendwie etwas Besonderes war. Also wird er „weggelobt“: Er wird zu einem „Vorbild“ ernannt, an dem man sich nicht wirklich orientiert.

 

Ich wünsche mir, dass wir mit diesem Selbstbetrug aufhören. Mit dieser merkwürdigen Ausrede, dass Jesus ein Vorbild sei! Ich behaupte: Jesus war in vielerlei Hinsicht kein Vorbild - und er wollte auch gar keines sein. Das, was Jesus gesagt hat, das, was Jesus an Anspruch erhoben hat, und das, was Jesus getan hat, kann man überhaupt nicht nachmachen. Oder wollen Sie sich hinstellen und sagen: „Ich bin der Sohn Gottes – wie mein großes Vorbild.“ Oder dieses Taufwasser in Wein verwandeln oder was auch immer. Jesus hat einen ganz anderen Anspruch gehabt als den, ein Vorbild zu sein. Und das wird nirgends so deutlich wie in diesen beiden Worten, mit denen seine Selbstcharakterisierungen beginnen:

 

„Ich bin“

 

Diese beiden Worte haben es in sich. Sie klingen simpel in unseren Ohren, aber jeder Jude zur Zeit Jesu zuckte bei ihrer Erwähnung zusammen. Denn es sind die entscheidenden Worte in einer der Schlüsselgeschichten des Alten Testamentes. Als Moses von Gott berufen wird, die Israeliten aus Ägypten herauszuführen, fragt er diesen nach seinem Namen. Es ist ein brennender Dornbusch, vor dem Mose steht, und man hält den Atem an: Der Gott, der Jahrhunderte lang einfach nur „Gott“ hieß, das bedeutet so viel wie „höchstes Gut“, der mit einem Sammelbegriff bezeichnet wurde, wie ihn alle Religionen haben, dieser Gott sagt Moses seinen Namen, er wird persönlich und offenbart sich mit folgenden Worte: „Jahwe, Ich bin.“ Anders ausgedrückt heißt das: „Ich bin der, der da ist, der schon immer war und der immer sein wird.“ Ich wünschte mir, ich könnte das jetzt ausfalten, was das bedeutet. Ich kann es nur andeuten:

 

„Ich bin“, das heißt erstens: Inmitten des Kommens und Gehens in dieser Welt, inmitten aller Vergänglichkeit, inmitten der pfeilschnell dahinrasenden Zeit bin ich der Verlässliche, der Unvergängliche, der Fels in der Brandung. Alles um dich herum mag vergehen: „Ich bin.“ Inmitten von Tod und Ende: „Ich bin:“ Auch wenn sich alles wandelt, wenn Siege und Niederlagen abwechseln, wenn Illusionnen zerbrechen und Weltreiche in sich zusammenfallen: „Ich bin.“ An mir kannst du dich festhalten: „Ich bin.“

 

„Ich bin“, das heißt zweitens: Ich bin der Inbegriff allen Seins. Alles was ist, lebt von mir. Natürlich kann das jeder Mensch auch von sich sagen: „Ich bin.“ Aber wir können diese Worte nur sagen, weil wir aus Gott heraus leben, weil Gott uns ins Leben ruft und uns am Leben erhält. Wenn wir sagen „Ich bin“, dann müssen wir im gleichen Atemzug hinzufügen: „Aber ich kann nichts dafür. Ich hab‘s nicht im Griff. Es ist reine Gnade.“ Bei Gott ist das anders. Wenn er sagt „Ich bin“, dann ist es sein Wesen. Wir leben und existieren aus der Gnade Gottes, er lebt und besteht aus sich selber heraus.

 

„Ich bin“, das heißt drittens: „Ich bin da.“ Das ist die vielleicht präziseste Übersetzung dieses Wortes „Ich bin“ aus dem Hebräischen heraus. Es geht nicht um ein allgemein-abstraktes philosophisches „Sein an und für sich“, sondern um ein sehr konkretes Sein Gottes, nämlich um sein Mit-Sein. „Ich bin“ heißt im Hebräischen so viel wie „Ich bin mit dir. Egal, wo du auch hingehst, ich bin bei dir. Egal, in was du hineingerätst, ich bin da - für dich da.“

 

Es ist ein unglaublich trostreicher Gottesname, den die Hebräer da hatten. Tausendzweihundert Jahre vor Christus wurde er Mose offenbart und die Israeliten hielten diesen Namen heilig. Er durfte eigentlich nicht ausgesprochen werden, nur in ganz heiligen Momenten. Er stand in der Bibel und immer wenn der Name da stand, sagten die Israeliten beim Vorlesen ein anderes Wort, ein Ersatzwort. Und nun stellte dieser Jesus sich hin und sagte: „Ich bin.“ Ein unerhörter Vorgang. Sieben mal. Sieben mal erhebt Jesus einen Gottähnlichkeitsanspruch. Martin Buber hat also Recht, wenn er sagt: „Hier stellt sich einer neben Gott.“ Jawohl! Sieben mal spricht Jesus nicht nur den heiligen Gottesnamen aus, sondern reklamiert ihn auch noch für sich: „Ich bin.“ Das bedeutet gleichzeitig: „Ich bin Gott!“ Und sieben mal verdeutlicht Jesus, was dieses „Ich bin“ für uns bedeutet. Hier, also in Johannes 14,6 sagt er: Ich bin

 

der Weg

 

Was ist damit gemeint? Auch hier ist es gut in das Alte Testament zu schauen, denn es ist der Hintergrund, vor dem Jesus redet. Jeder seiner Zuhörer wusste um diese Zusammenhänge. Im Alten Testament ist immer wieder von „dem Weg“ die Rede, und zwar in zweifacher Hinsicht. Einmal geht es an vielen Stellen um unseren persönlichen Lebensweg, um den Weg, auf dem wir Men­schen wandeln sollen. Gott hatte zu Moses gesagt: „Weicht nicht, weder zur Rechten noch zur Linken, sondern wandelt in allen Wegen, die euch der Herr, euer Gott, geboten hat“ (5. Mose 5, 32. 33). Die Propheten rufen das Volk immer wieder auf, doch auf dem Weg Gottes zu bleiben. Und der Psalmist betete: „Herr, weise mir deinen Weg“ (Ps. 27,11). Darum geht es also: Um die Fragen „Wohin soll ich gehen? Wohin kann ich mich wenden? Wo finde ich Orientierung? Was ist gut für mich?“ Diese Fragen beschäftigen die Juden seit Jahrhunderten – und zwar genau mit dem Bild des Weges. Wenn Jesus nun kommt und behauptet, er sei dieser Weg, dann heißt das: In ihm finden wir die Antwort auf all diese Fragen. Wenn wir uns an ihm orientieren, finden wir das Leben. Das ist die eine Bedeutung von „Ich bin der Weg.“

 

Im Alten Testament ist vom „Weg“ aber noch in einer anderen Hinsicht die Rede. Und zwar geht es dort um den Weg Gottes zu uns. Das ist eine der erstaunlichsten Merkmale des Alten Testa­mentes: Dass es viel weniger davon redet, wie wir zu Gott kommen, als vielmehr davon, dass Gott zu uns kommt. Und wenn die Propheten immer wieder sagen, dass wir Gott einen Weg bahnen sollen, dann ist das nicht ein Weg, den wir gehen sollen, sondern es ist ein Weg, auf dem Gott kommen möchte. Das Interessante ist nur, dass wenn die Propheten von diesem Weg bzw. vom Kommen Gottes reden, verlagern sie das immer in die Zukunft. Sie sagen: „Bahnt Gott einen Weg, irgendwann wird er kommen.“ Und jetzt kommt Jesus und sagt: „Ich bin dieser Weg, von dem die Propheten Jahrhunderte lang geredet haben. In mir kommt Gott zu euch.“

 

Das beides schwang also im Ohr des frommen Juden mit, wenn er das Wort „Weg“ hörte. Und das ist die doppelte Provokation, vor die Jesus seine damaligen Zuhörer und auch uns stellt: Orientiert euch an mir, wenn ihr das Leben finden wollt. Und: In mir kommt Gott zu euch. Ich bin der Weg. Ich bin der Weg, auf dem die Wahrheit Gottes zu euch kommt. und ich bin der Weg, der zum Leben führt.

 

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, das sind nicht drei Aussagen. Das ist eigentlich nur eine. Es sind tatsächlich nur sieben Ich-bin-Worte und nicht neun. Die Begriffe „Wahrheit“ und „Leben“ entfalten lediglich, was der Begriff „Weg“ beinhaltet. Zunächst: Ich bin

 

die Wahrheit

 

Wahrheit, das heißt auf griechisch a-letheia, Unverhülltheit. „Ich bin die Wahrheit“, das heißt: „In mir, Jesus, hört das Rätselraten über Gott endlich auf. In mir wird Gott offenbar. In mir steht Gott vor euch und schaut euch ins Gesicht. Und ihr könnt ihm ins Gesicht schauen. „Wer mich sieht“, sagt Jesus nur wenige Verse vor diesem (Vers 9), „der sieht den Vater.“ Ich bin die Wahrheit. In mir steht Gott vor euch – und zwar unverhüllt.

 

Was für eine Aussage! Ich weiß nicht, ob sie ahnen können, was das bedeutet, was Jesus damit ausdrückt: „Alle Philosophien, die größten Geister diese Welt, alle Religionen, ja sogar die Propheten des Alten Testamentes haben diese Wahrheit immer nur geahnt, immer nur umkreist, aber nie wirklich erfasst. Ihr aber könnt sie erfassen. Nehmt die größten Geister dieser Welt: Platon, Sokrates, Buddha oder wen auch immer: Ihr könnt mehr als sie, viel mehr. Sie haben die Wahrheit nur geahnt. Ihr könnt sie erfassen. Die Wahrheit ist nicht ein Gedanke. Die Wahrheit ist auch kein System von Regeln und Normen. Die Wahrheit ist eine Person: Jesus Christus.“ Dieser Gedanke ist nicht nur eine unglaubliche Provokation, sie wirft auch alle landläufigen Vorstellungen davon, was einen Christen ausmacht, über den Haufen: Du musst nicht klug sein, um die Wahrheit zu erfassen, du musst nicht sonderlich religiös sein, ja du musst nicht einmal gut sein. Du musst nur den Worten Jesu Glauben schenken und dich auf ihn einlassen.

 

Es ist verrückt: Die Philosophen zerbrechen sich die Köpfe, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, die Moralisten schinden und kasteien sich, und die religiösen Menschen opfern und beten - auf Teufel komm raus - und Jesus sagt: „Alles, was du tun musst, ist mir zu vertrauen.“ Verrückt, unglaublich, aber wahr: Diese Welt bietet dir tausend Wege, wie du zur Wahrheit kommst – aber auf keinem einzigen wirst du Gott wirklich finden. Der einzige Weg, auf dem du Gott finden wirst, ist der, den er selber ein­ge­schla­gen hat: Und dieser Weg heißt Jesus Christus. Er allein ist die Wahrheit. Nur in ihm begegnest du Gott unverhüllt.

 

Das heißt nicht, dass Gott nicht auch woanders wäre. Er findet sich auch in den Philosophien, den Religionen und den großen Moralsystemen dieser Welt, natürlich. Aber immer verhüllt. Immer so, dass mehr Fragen offen bleiben als wirklich beantwortet werden. In Jesus ist das anders. Auch in ihm bleibt noch die eine oder andere Frage offen, aber die wesentlichen Dinge, das, was man über Gott wirklich wissen muss, werden in ihm offenbar. In ihm kommt Gott zu uns, und wir schauen ihm bis ins Herz. Das meint die Aussage: „Ich bin die Wahrheit.“

Und dazu kommt: Und ich bin

 

das Leben

 

Wieder so ein vieldeutiger Begriff. „Leben“ meint hier sicherlich nicht das biologische Leben, das man einst an der Herztätigkeit und heute an der Gehirntätigkeit festmacht. Das wäre eine groteske Vorstellung. Jeder von uns weiß, dass das nicht das wirkliche Leben ist. „Leben“ im Vollsinn ist ein Qualitätsbegriff. Er hat etwas mit „Erfülltsein“ zu tun, damit, dass wir so sein können, wie wir von Gott her sein sollen und im Tiefsten auch sein wollen. Noch einmal: „Leben“ ist ein Qualitätsbegriff. Jesus sagt: „Ich biete dir diese Qualität. Ich biete dir ein Leben in Fülle. Ich biete dir ein Leben, das deiner eigentlichen Bestimmung entspricht. Ich biete dir ein Leben, das diesen Namen auch verdient. Ich bin der Weg dazu.“

 

Bitte beachten Sie: Jesus sagt nicht: „Ich zeige euch den Weg.“ Er sagt: „Ich bin dieser Weg.“ Das ist ein Unterschied. Jesus ist nicht ein Wegweiser, sondern er selbst der Weg. Er sagt nicht: „Da und da geht’s lang! Sondern er sagt: „Komm mit, folge mir nach!“

 

Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer fremden Stadt und fragen nach einer bestimmten Straße. Stellen Sie sich weiter vor, die befragte Person würde antworten: „Erste Straße rechts, dann die zweite Straße links. Überqueren Sie dort den Platz und gehen Sie hinter der Kirche die dritte Straße links weiter, dann ist von dort aus die vierte Straße links die Straße, die Sie suchen.“ Wie groß schätzen Sie die Chance ein, dass Sie diese Straße wirklich finden? Ich jedenfalls würde wahrscheinlich nicht an meinem Ziel landen. Sagt dagegen jemand: „Kommen Sie, ich gehe mit Ihnen“, dann ist das etwas völlig anderes.

 

Im Christentum geht es nicht um ein System von Regeln und Normen. „Drei Straßen geradeaus, vierte links“ usw. Es geht um „Nachfolge“, um das Mitgehen, es geht um eine persönliche Beziehung. Darum ist Jesus auch mehr als ein Sitten- oder Religionslehrer. Er rät uns nicht nur und zeigt uns die Richtung, in die wir gehen müssen, sondern er nimmt uns bei der Hand und führt uns; er geht mit uns; er stärkt und behütet uns und zeigt uns jeden Tag aufs neue den Weg. Er spricht nicht nur mit uns über den Weg. Er ist der Weg, der zum Leben führt. Er will nicht, dass wir irgendwelche Regeln befolgen, sondern dass wir an seiner Hand leben. Und auch das ist ein Gedanke, den es so in keiner Religion gibt: Dieser Jesus, der menschgewordene Gott, geht mit mir - und mit Ihnen.

 

Niemand kommt zum Vater denn durch mich.

 

Das ist zugegebenermaßen ein unglaublich steiler Anspruch! Jesus redet tatsächlich nicht von einem, sondern von dem Weg, dem offensichtlich einzigen, und er sagt nicht: „Ich zeige ihn euch“, sondern „Ich bin‘s.“ Keiner der großen Religionsstifter hat auch nur annähernd Ähnliches behauptet.

 

Und doch müssen wir uns hüten, daraus einen „Absolutheitsanspruch“ des Christentums abzu­leiten. Das Christentum hat keinen Absolutheitsanspruch. Der einzige, der einen solchen mit Recht für sich reklamieren kann, ist Christus. Er ist der Sohn Gottes, ja! An ihm führt kein Weg vorbei, wenn wir zu Gottes Nähe erfahren wollen. In der Botschaft Jesu wurde das Wesen Gottes in einer bislang noch nie gekannten Weise offenbar. Wer Jesus außer acht lässt, der kann höchstens Spuren der Wirklichkeit Gottes aufnehmen, Spuren der Gottesherrschaft erkennen. Doch so jemand wird letztlich aber auf dem Holzweg bleiben. Jesus allein ist der Weg, auf dem Gott zu uns kommt. Und keiner kommt zu Gott, der Christus ablehnt: Ganz gleich, ob er ihn als Person ablehnt oder seine Worte in den Wind schlägt. Aber das bedeutet doch bei Weitem nicht, dass nur Christen zu Gott kommen können. Christus ist der einzige Weg Gottes zu uns Menschen, aber dieser Weg ist mit Sicherheit größer und weiter als das Christentum. Wissen wir, welche Möglichkeiten Jesus hat, um Menschen zu begegnen? Schon im Neuen Testament finden wir Dutzende unterschiedliche Formen, wie der Sohn Gottes auf Menschen zugeht: Den einen bittet er, wiedergeboren zu werden, den nächsten heilt er, den dritten fordert er auf, sein Geld wegzugeben und dem vierten vergibt er die Sünden. Jesus ist der Weg, aber er hat viele Wege. Kein Mensch sollte sich anmaßen, er aus seiner menschlichen Perspektive festzulegen, wie Jesus sich offenbart. Das bedeutet ganz konkret: Die Bibel begründet keinen Absolutheitsanspruch des Christentums, sondern allein einen Absolutheitsanspruch Christi.

 

Wer diesen Satz als Legitimation für religiöse Intoleranz lesen will, der lässt die Demut vor dem einzigen außer acht, der so etwas sagen darf. Kein Mensch darf diesen Absolutheitsanspruch Jesu für irgendetwas Menschliches vereinnahmen. Den Absolutheitsanspruch Christi nehmen wir nur dann wirklich ernst, wenn wir daneben nicht einen zweiten Absolutheitsanspruch etablieren, eben den des Christentums, sondern ihn dort belassen, wo er hingehört: Auf die Seite Gottes und nicht auf die von uns Menschen. Und das Christentum ist und bleibt nun einmal etwas Menschliches.

 

Eine zusammenfassende Umschreibung:

„Wenn ihr nach dem Weg sucht,

wenn ihr nicht wisst, wohin ihr umkehren sollt,

die Botschaft Jesu weist euch den Weg.

Wenn ihr nach etwas Beständigem sucht

und Gottes Wahrheit unverhüllt begegnen wollt:

In der Person und der Botschaft Jesu begegnet euch Gott selbst.

Und wenn ihr wirklich leben wollt und zu eurer Bestimmung gelangen,

in der Nachfolge Jesu findet ihr dieses Leben.

Stellt euch der Herausforderung der Person Jesu.

An ihm kommt ihr nicht vorbei, wenn ihr Gott und das Leben finden wollt.“