Cover

Kurzbeschreibung:

Um ihrer Vergangenheit zu entkommen, tritt Elly nach dem Studium eine Anstellung als Dozentin in Lock Haven an. Dort begegnet sie in einer Tabledance-Bar Meyer, einem ihrer Studenten. Bereits während des Unterrichts übte er eine magische Anziehungskraft auf Elly aus. Da sie sich einsam fühlt, lässt sie sich auf eine unverbindliche Liaison mit ihm ein. Gerade als Elly sich in der neuen Umgebung einzuleben beginnt, geschieht ein bestialischer Mord. Der Täter hinterlässt mit dem Blut des Opfers einen Namen: ELLY!

Hat Roger, Ellys ehemaliger Verfolger, sie womöglich aufgespürt? Elly bleibt nur die Flucht nach vorn, um sich selbst und ihre neuen Freunde zu schützen. Sie muss ihre wahre Geschichte offenbaren, selbst wenn dies bedeutet, Meyer in ihre Vergangenheit einzuweihen. 

Alva Furisto

Elly - Unverbindlich



Erotik-Thriller


Edel Elements


1

Im Hörsaal des Universitätsgebäudes in Lock Haven, Pennsylvania, herrschte Totenstille. Elly sah verstohlen in die Runde der Studenten. Sie hatte diese Stelle nicht annehmen wollen, aber sie hatte das Geld so nötig gebraucht, um ihren Lebensunterhalt davon zu bestreiten, dass ihr nichts anderes übrig geblieben war. Von jungen Männern umgeben zu sein, die sich fast alle nach dem Theologiestudium zum Priester weihen lassen wollten, war ihr unheimlich. Noch gruseliger fand sie es, als einzige Frau in dieser von Männern beherrschten Einrichtung zu unterrichten. Da sie selbst erst gerade mit siebenundzwanzig ihr Studium der Literaturwissenschaften an der New York University beendet hatte, fühlte sie sich noch unsicher und angreifbar in ihrer Rolle als Dozentin. Wie gebannt hingen die Blicke der Zuhörer an ihren Lippen. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die die Studenten ihr schenkten, machte Elly nervös. Einige der jungen Männer warfen ihr eindeutig lüsterne Blicke zu. Elly richtete sich hinter dem Rednerpult gerade auf. Hinter dem altertümlichen Möbel kam sie sich noch kleiner vor, als sie es ohnehin war.

Um kurz Luft holen zu können, hatte sie ihren Studenten eine schriftliche Aufgabe gestellt. Ihr Blick glitt über die Reihen. Die Studenten saßen konzentriert an der Arbeit.

Elly wandte sich dem jungen Mann zu, der ihr am ersten Tag bereits aufgefallen war. Seine introvertierte Art – die sich unter anderem darin zeigte, dass er sie niemals direkt ansah – hob ihn deutlich von den anderen ab. Ebenso unterschied ihn seine Kleidung von seinen Kommilitonen. Er trug als Einziger ein dunkles Gewand über seiner Kleidung. Mit diesem Kleidungsstück gab er sich bereits jetzt als künftiger Priester zu erkennen. Elly hatte bereits bemerkt, dass ihm dies nicht nur den Spott seiner Kommilitonen, sondern auch Widerworte aus den Reihen der Geistlichen einbrachte, denn eine Soutane durfte er erst nach seiner Priesterweihe tragen. Neugierig betrachtete Elly sein glänzendes schwarzes Haar. In diesem Moment fuhr er sich mit seinen feingliedrigen Fingern durch die Strähnen und biss auf das Ende seines Bleistiftes. Die Bewegung in seinen Gesichtsmuskeln betonte seine markanten Wangenknochen. Die Geste wirkte anmutig.

Und verstörend. Elly zupfte am Kragen ihrer weißen Bluse und empfand die Hitze im Hörsaal plötzlich als unerträglich. Sie ließ den Blick zur Wanduhr schweifen, konnte aber nicht umhin, den jungen Studenten wieder zu betrachten. Seine blassen, schmalen Lippen lagen immer noch um das Ende des Bleistifts. Er spitzte den Mund, und sie erahnte, dass seine Zunge jetzt sanft über den Radiergummi strich. Wie würden sich seine Lippen wohl auf ihrer Haut anfühlen? Sie träumte davon, seinen Mund nah an ihrem Ohr zu spüren. Zu hören, wie er atemlos ihren Namen hauchte, weil er sie so sehr begehrte. Eine Woge sündiger Gedanken an nackte Körper, die sich eng umschlangen und einander begehrten, zerrte an Ellys Konzentration. Wie würde er mit seinen Lippen ihren Mund liebkosen, wenn er schon diesen Bleistift mit solcher Hingabe berührte? Plötzlich stellte sie fest, wie durstig sie war, und befeuchtete ihre Lippen.

Mit dem Ende des Bleistifts im Mund hob er den Kopf und schaute sie aus kühlen grauen Augen an. Zum ersten Mal begegnete sie seinem Blick. Er war tief und voller Geheimnisse.

Elly strich sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht und versuchte, ihm ein souveränes Lächeln zu schenken – wie es sich für eine Dozentin gehörte. Da sie sich von ihm bei ihren heimlichen Fantasien ertappt fühlte, spürte sie ein wenig Röte in ihr Gesicht steigen. Kaum merklich zuckten die Mundwinkel des Studenten, bevor er sich wieder seinem Blatt widmete.

Elly knöpfte den obersten Knopf ihrer Bluse auf. Die Hitze war einfach unerträglich. Der Sport-BH, mit dem sie versuchte, ihre wohlgeformten Brüste vor den Studenten zu verbergen, klebte feucht an ihrem Oberteil. Bei jedem Atemzug lastete Spannung auf den Knöpfen. Aber sie wusste, warum ihr so heiß war. Es waren die Blicke ihres schweigsamen Studenten. In den letzten Monaten hatte sie kein einziger Mann mehr mit seiner Anwesenheit in einen solchen Zustand gebracht. Doch nun sehnte sie sich nach den Berührungen dieses Studenten.

Als endlich die Glocke ertönte und ihre Vorlesung beendete, war es für Elly wie eine Erlösung. Sie sah geschäftig auf das Pult, ordnete ihre Unterlagen und wartete, bis alle Studenten den Saal verlassen hatten. Erst dann stand sie auf und griff ihre Tasche. Vorsichtig hob sie den Kopf und schaute zur Tür. Er … stand darin und bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln, bevor er mit einem Nicken verschwand.

2

Laute Musik tönte durch die Bar in Williamsport, in der Elly sich verkrochen hatte. Sie war zum vierten Mal hier, seit sie die Stelle an der Universität am altehrwürdigen Clearfield Campus in Lock Haven angetreten hatte. Meist blieb sie in ihrem kleinen Bungalow, der im angrenzenden Dunnstown lag. Das ruhige Viertel mit den frei stehenden Häuschen wurde überwiegend von Ingenieuren auf Montage bewohnt. Die meisten von ihnen hegten wenig Interesse an Kontakt zur Nachbarschaft.

Warum zur Hölle war sie schon wieder hier?, fragte sich Elly. An Orten wie dieser Bar drohte sie nur in alte Verhaltensmuster zurückzufallen – und genau das wollte sie doch um jeden Preis vermeiden. Sie hatte sich vorgenommen, endlich ein beschauliches und anständiges Leben zu führen. Da war ihr die Lehrtätigkeit gerade recht gekommen, auch wenn ihre Schüler und Kollegen ausschließlich Männer waren. Für die Dozentenstelle war sie eigens aus ihrer Heimat Livingston nach Lock Haven gezogen. Hier in diesem abgelegenen Städtchen war die Gefahr geringer, dass jemand erfuhr, wie sie sich ihr Studium finanziert hatte. Beinahe wäre ihr Plan, ihr Elternhaus zu verlassen und sich ihren Traum mit selbst verdientem Geld zu erfüllen, in einer Katastrophe geendet. Aber nun saß sie dreißig Meilen weit weg vom Clearfield Campus in dieser verrauchten Bar in Williamsport am Tresen, nippte an ihrem Deep Sea River und schaute amüsiert den Stangentänzerinnen zu. Sie kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, was dieser Ort ihr versprach. Es war etwas, was sie weder an der Uni noch in ihrem Zuhause fand: unverbindliche Unterhaltung. Wenn sie den Tänzerinnen zusah, verblassten ihre Gedanken an das erstickende Gefühl, nun ein Leben unter all den rechtschaffenen Menschen dort draußen führen zu müssen. Den männlichen Tänzer, den sie das letzte Mal beobachtet hatte, suchte sie an diesem Abend jedoch vergeblich. Vielleicht war das besser so, denn Elly träumte schon davon, sich auf der Tanzfläche an seinen vollkommenen Körper zu schmiegen und sich geschmeidig mit ihm zur Musik zu bewegen. Viel zu lange war es her, dass sie getanzt hatte! Einen Cocktail in der Bar zu trinken war jedoch eine ganz andere Sache, als sich zur Musik auf der Tanzfläche zu bewegen. Würde sie das tun, gäbe es kein Zurück mehr. Sie würde sich fühlen, als sei sie wieder …

»Allein hier?«

Die dunkle, warme Stimme ließ Elly zusammenfahren und riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte den Kopf und erstarrte, als ihr klar wurde, wessen Stimme ihr gerade einen Schauer über den Rücken gejagt hatte. Bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, kniff sie die Augen zusammen und musterte ihn. In seinem kühlen grauen Blick lag ein befremdlicher, geradezu verwegener Glanz, und seine Lippen umspielte ein leises Lächeln, das fast noch verwegener wirkte. Völlig überrumpelt brachte Elly ein gestottertes »Hallo« hervor und drehte sich auf ihrem Hocker wieder zum Tresen herum. Den jungen Studenten hätte sie hier am wenigsten erwartet.

Er stellte sich neben sie und betrachtete sie von oben bis unten. »Ich hätte nicht erwartet, eine Frau wie Sie an einem solchen Ort zu treffen.«

Sein Blick tastete unverhohlen jeden Winkel ihres Körpers ab. Elly spürte, wie ihr heiß wurde. »Wie …?«, begann sie.

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir gefällt Ihr Auftreten. Sie haben Klasse, aber Sie lassen erkennen, dass Sie nicht hierhergehören.«

Langsam sammelte Elly ihre Gedanken und sah ihn flüchtig von der Seite an. Er lächelte charmant.

»Das Kompliment gebe ich gern zurück.« Ihr Mund war so trocken, dass sie sich räuspern musste. Schnell trank sie einen Schluck von ihrem Cocktail. Derweil kramte er in der Brusttasche seines Hemdes und zog eine Zigarette hervor. Elly starrte einen Augenblick in den Cocktail und beobachtete den Studenten aus den Augenwinkeln.

Er zündete die Zigarette an, zog genüsslich daran und hielt sie ihr hin. »Bitte.«

Erstaunt griff Elly danach. Als sie den Filter zwischen ihre Lippen steckte, fühlte sie die Feuchtigkeit seines Speichels daran. Unweigerlich musste sie an den Radiergummi denken, den er sich während der Vorlesung in den Mund gesteckt hatte. Sie nahm einen tiefen Zug und verschluckte sich am Rauch. Hustend reichte sie ihm die Zigarette zurück.

Erneut zog sein Blick sie förmlich aus. Elly hatte ihr Äußeres im Spiegel geprüft, bevor sie ihre Wohnung verlassen hatte, und war sich ihrer Erscheinung bewusst. Ihre sonnengebräunte Haut schimmerte sanft im dämmerigen Licht, und ihre Locken fielen lang über ihre Schultern herab. Sie war froh, sich für eine Röhrenjeans und ein schwarzes Top entschieden zu haben und nicht für das verführerische Kleid, das sie zuerst gegriffen hatte. Das hätte ihm deutlich mehr von ihrem Körper gezeigt. Wieder sog er den Rauch der Zigarette ein. Verstohlen tastete sie ihn mit Blicken ab. Er trug eine enge Jeans und ein figurbetontes schwarzes Hemd, das seinen muskulösen Oberkörper voll zur Geltung brachte. Kurzum: Er gefiel ihr ohne sein Gewand noch besser.

»Ein bisschen frech sind Sie schon«, flüsterte er so nah an ihrem Ohr, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Wange spürte. Als wäre das nicht genug, glitt er mit dem Zeigefinger ihren Rücken hinunter.

»Was meinen Sie?« In ihren Worten schwang mehr Sehnsucht nach seiner Berührung mit, als sie es wollte. Sein Finger erreichte das Ende ihres Shirts, das über den Hosenbund nach oben gerutscht war und ein Stück nackter Haut freigab. Der Student fuhr sachte darüber, bis er das dünne Band ihres Strings erreichte. Ohne zu zögern, schob er den Finger unter den Stoffstreifen und beugte sich noch dichter zu ihr herüber. »Sie lassen mich mehr sehen, als ich mir erhofft habe.«

Elly spürte, dass ihre Wangen heiß wurden, und hoffte, sie würde nicht sichtbar erröten. Sie hatte immer geglaubt, mit allen Wassern gewaschen zu sein, doch der Student brachte sie in eine Situation, der sie sich nicht gewachsen fühlte. Seine Lippen waren so nah an ihrem Ohr, dass sein Mund sie beinahe berührt hätte. Sie hasste es, aber ihre Gänsehaut war deutlich auf ihrem Oberarm zu sehen. Als sie den Kopf zu ihm drehte, starrte sie ihn einen Augenblick argwöhnisch an.

»Ich bin in Zivil, verraten Sie mich nicht!«, meinte er lächelnd.

»Niemals.« Sie zwinkerte ihm zu, doch warum zum Teufel tat sie das? Diese Geste würde ihn nur ermutigen und war das wirklich klug?

Als wären sie schon ewig miteinander vertraut, ließ er die Hand auf ihrem Rücken liegen und stellte sich neben sie an den Tresen, um der Bedienung einen Wink zu geben. »Gin Tonic. Für Sie auch?«

Elly schüttelte den Kopf und umklammerte ihr noch fast volles Glas. Nachdem er seinen Drink bekommen hatte, lehnte der Student sich rücklings an den Tresen und betrachtete sie neugierig. »Trinken Sie nicht mit mir?«

Elly biss sich auf die Unterlippe. Er war ihr Schüler – und noch dazu hatte er sich das Priesterseminar zum Ziel gesetzt. So sehr er sie körperlich reizte, sie konnte es sich nicht erlauben, sich näher auf ihn einzulassen. Der Ärger wäre programmiert, und sie war schließlich aus Livingston geflüchtet, um jedem Ärger zu entgehen. Elly neigte den Kopf und schaute ihn an. »Glauben Sie mir, es ist besser für uns beide, wenn ich das nicht tue. Ärger ist mein zweiter Vorname.«

»Ihr erster hätte mir genügt. Schade.« Bei seinem wunderschönen Lächeln fühlte sie sich wie warmes Wachs. Er ließ seinen Blick durch die Bar schweifen und sah danach direkt in ihre Augen. Mit einem Schulterzucken trat er hinter sie und sprach erneut dicht an ihrem Ohr. »Ich schwöre, eines Tages werden Sie in diese Bar kommen und nach mir Ausschau halten.«

Seine Finger strichen wie flüchtig über ihre Wange, dann machte er sich zu einer der Tabledancerinnen auf und nahm an deren Tisch Platz.

Elly fühlte sich schlagartig einsam. Sie trank einen großen Schluck von ihrem Cocktail, bevor sie es wagte, einen unauffälligen Blick in seine Richtung zu werfen. Mit einem breiten Grinsen betrachtete der Student die junge Schönheit, die sich direkt vor seiner Nase entkleidet hatte und in einem Hauch von Nichts an der Stange rekelte. Elly war verstimmt. Eben noch hatte sie den Anblick der Tänzerinnen genossen. Jetzt störte sie sich daran. Wie konnte er der Tänzerin so hingerissen zusehen? Sie machte ihren Job nicht einmal gut.

Und Elly musste es wissen. Bis vor Kurzem noch hatte sie selbst an der Stange getanzt. Sie dachte daran, wie sie ihren Körper zur Musik bewegt hatte. Ihre schmale Taille, ihre betonten Hüften und ihre wohlgeformten Brüste hatten alle Blicke auf sich gezogen. Sie hatte es geliebt, den wenigen Stoff auf ihrer braunen Haut zu spüren, und hatte ihre weiblichen Reize selbstbewusst zur Schau gestellt.

Zwei Deep Sea River später saß der Student noch immer da. Die nächste mittelmäßige Tänzerin wand sich vor ihm, und er konnte sich nicht sattsehen an ihr. Ein paar Mal hatte er Elly noch charmant zugelächelt, doch sie war nicht darauf eingegangen. Der junge Mann zog sie an wie ein Magnet. Dennoch, sie war seine Dozentin, und das genügte, um sie beide in Schwierigkeiten zu bringen, wenn sie sich auf ihn einließ.

5

Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Hitze war bereits durch die Ziegelsteinmauern der Kirche nahe des Clearfield Campus vorgedrungen. Die wenigen Holzbänke vor dem Altar waren leer, einzig aus der Mitte des Beichtstuhls klang ein Rascheln, als Frank die Tür öffnete, die ihm den Platz des Sünders zuwies.

»Vergib mir, denn ich habe gesündigt.« Die Stimme, die vom Platz des Priesters durch das Gitter des Beichtstuhls drang, klang bedrückt.

Aber Frank freute sich, dass der angehende Priester ihn zuverlässig wie immer um diese Zeit erwartete. Bereits seit einem Jahr trafen sie sich an diesem Ort, um neugierigen Blicken und Fragen zu entgehen. Besonders der alte Professor, der neben der Universitätskirche wohnte, schien nicht begreifen zu können, warum Frank nichts von Religion wissen wollte. Der Mann, sein Beichtvater nannte ihn Pater Miles, nutzte jede Gelegenheit, Frank in ein Gespräch zu verwickeln und ihn zum nächsten Gottesdienst einzuladen.

»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir die wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seine Barmherzigkeit«, erwiderte Frank vom Platz des Sünders und verschränkte die Arme. Manchmal, wenn er seinen Beichtvater besuchte, tauschten sie die Rollen, und er übernahm als Sünder den Part seines Beichtvaters. Frank sah an sich hinab und betrachtete das Namensschild an seinem Uniformhemd: Officer Meyer. Bei dem Gedanken, welche Geheimnisse ihm bei der Arbeit hin und wieder gebeichtet wurden, grinste er. Vielleicht kam der Rollentausch gar nicht von ungefähr. War er nicht so etwas wie der Priester der Straße? Hörbar und ungeniert kaute er auf einem Kaugummi.

»Auf der Erde gibt es Feindschaft, Hass, Lüge, Unrecht, Gewalt und Krieg. Es sind Menschen wie du und ich, die sich hassen statt zu lieben«, fuhr der Priester fort.

»Jeder von uns trägt mit an der Schuld, welche die Menschheit täglich auf sich lädt.« Jetzt lachte Frank anzüglich. »Was hast du verbockt, du Mistkerl?«

»Herr, wir tragen die Schuld der ganzen Welt vor dich hin. Wir wollen es oft nicht wahrhaben, doch heute bekennen wir vor dir, dass wir an der trostlosen Lage der Menschheit mitschuldig sind. Ich habe ein Mädchen begehrt.« Der Priester stieß den Atem aus, als habe er gerade unter Folter einen Mord gestanden.

Das Platzen von Franks Kaugummiblase tönte durch den Beichtstuhl, dann sog er vernehmlich die Luft ein. »Kann das wahr sein? Wird der kleine Jacob etwa erwachsen?«, fragte er.

»Blöder Penner«, zischte es vom Platz des Priesters und er räusperte sich gleich daraufhin, als wolle er sich für seine Wortwahl entschuldigen.

»Wir haben nicht die Möglichkeit, fremde Schuld zu verhindern. Auch diese fremde Schuld tragen wir vor dich hin, oh Herr. Denn wir haben kein Recht, uns von der Schuld unserer Mitmenschen zu distanzieren.« Frank legte eine Pause ein und kaute erneut hörbar auf seinem Kaugummi. Dann knisterte er mit dem Kaugummipapier in seiner Hand, bevor er es in die Tasche seines Uniformhemdes steckte. Nach einem tiefen Seufzer fuhr er fort: »Du hast dir diesen bekloppten Beruf ausgesucht. Schon vergessen?«

»Hm. Wir lassen uns zu wenig erschüttern durch die Schuld. Wir leiden nicht genug darunter, besonders, wenn wir sie nicht selbst auf uns geladen haben. Wir lassen den Mitmenschen mit seiner Schuld allein und glauben, wir könnten auf diese Weise aus dem Teufelskreis des Bösen ausbrechen.« Der Priester presste die Worte zwischen seinen Lippen hervor. Sein Gewand raschelte, als er seine Sitzposition veränderte. »Ich habe ihr einen Brief geschrieben. Wenn sie darauf nicht antwortet, dann …« Atemlos unterbrach er sich.

Wieder ließ Frank eine Kaugummiblase platzen, gefolgt von einem Prusten. »Einen Brief? Wie alt bist du?«, fragte er belustigt.

»Das war für mich der einzige Weg. Ich bin eben nicht so wie du.«

»Tja, dann habe ich vielleicht Glück. Ich war auch nicht untätig«, brüstete Frank sich. Als er sich aufrichtete, knirschte das Leder seines Gürtels, und der Handschellenschlüssel, der daran hing, klimperte. Die Dienstwaffe hatte er entgegen der Vorschriften im Handschuhfach gelassen. Eine Waffe in die Kirche mitzunehmen, gehörte sich in seinen Augen nicht, auch wenn er sich längst vom Glauben abgewandt hatte.

»Herr, wir bekennen unsere Schuld«, antwortete der Priester. Es klang neugierig, mehr wie eine Frage als wie ein Bekenntnis.

»Wir haben uns zu schnell mit eigener und fremder Schuld abgefunden, anstatt mit der Liebe von vorn anzufangen«, verkündete Frank spöttisch. Er kannte all die Verse und Phrasen auswendig. Sein strenggläubiger Vater hatte sie ihm als Kind eingeprügelt.

»Ich will wissen, was du getan hast, du Idiot«, zischte es vom Platz des Priesters.

»Du kennst mich. Ich bin energischer als du. Ich hab der Frau meinen Finger unter den String gesteckt. Ein Wahnsinnskörper. Ich hätte gern alles davon gesehen.« Frank ließ ein animalisches Knurren entweichen, wohl wissend, dass sein Gegenüber bei seiner knappen Schilderung bereits rote Ohren bekam.

Der Priester holte tief Luft. »Herr, wir bekennen unsere Schuld. Gib uns die Kraft der Vergebung.«

Frank stand auf und verließ die Kirche, um weiter Streife zu fahren. Er brannte darauf, die dunkelhaarige Schönheit aus diesem Klub in Williamsport so schnell wie möglich wiederzusehen. Zwar war er nicht auf etwas Langfristiges aus, doch er ärgerte sich, dass er die Gelegenheit hatte verstreichen lassen, wenigstens Namen und Telefonnummer der jungen Frau zu bekommen.

Als er neben seinem Streifenwagen stand, schaute Frank noch einmal zur Kirche hinüber.