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Olaf Maly

Die Akte Matthias K.


Ich möchte mich an dieser Stelle bei zwei Personen bedanken, ohne deren Hilfe dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Da wäre zuerst meine langjährige Partnerin Marita Stepe, die es stets auf sich nimmt, die erste Fassung meiner Bücherzu lesen und mit konstruktiver Kritik auf die Handlung Einfluss nimmt. Und dann noch bei meiner Lektorin Alice Scharrer, die mit Engelsgeduld meine Fehler ausmerzt.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorwort

Als ich den kurzen Bericht auf Seite sieben in der Tageszeitung las, links eingerahmt von einer Reklame einer Möbelfirma, die unheimlich gute Polstermöbel zu haben schien, und rechts eine für Medizin zur Beseitigung von Fußpilz, ließ mich der Gedanke nicht mehr los, herauszufinden, was wirklich geschehen war in diesen wenigen Tagen, als sich das Leben eines Menschen derartig verändert hatte. Und mit ihm das einer Handvoll anderer. Es waren nur ein paar Sätze, wahrscheinlich, um die Seite zu füllen. Eigentlich unbedeutend. Etwas, das man las und danach sofort wieder vergaß.

Man hatte über einen jungen Mann berichtet, der sich bis zu diesem Zeitpunkt nichts hatte zu Schulden kommen lassen und der ein gemächliches, einfaches Leben in einem kleinen Dorf in Niederbayern führte.

Die Überschrift lautete : „Lisperer endlich gefangen!“

Der kurze Bericht besagte, dass man mit der Gefangennahme eventuell mehr Tote verhindert hatte. So dachte man. Von all diesen Vorfällen und Geschichten um diesen Täter nahm eigentlich niemand richtig Notiz. Weder das Dorf wurde berühmt, noch er selbst. Niemand kannte ihn oder seinen Namen, außer die wenigen Leute, die dort wohnten, und doch wusste in ein paar Tagen angeblich halb Deutschland, wer er war und was er getan hatte. Ich glaube nicht, dass seine Geschichte weiter als über die Grenze seines Wirkungsbereiches hinaus bekannt wurde. Es gab zu viele dieser Menschen, die für ein paar Tage im Lampenlicht standen und so schnell vergessen wurden, wie sie aufgetaucht waren. Wie ein Blitz, nach dem man sich umdrehte. Man hörte nur noch den Donner am Horizont verschallen.

Er hatte einen Bankraub und angeblich zwei Menschen auf dem Gewissen, und laut Zeitungsbericht hatte er es nicht eine Sekunde bereut. Ganz im Gegenteil. Er meinte, die beste Zeit seines Lebens erlebt zu haben. Das war natürlich für die Menschen, die ihn nicht kannten, das perfekte Bild eines Monsters. Ein Mensch, den man für den Rest seines Lebens einsperren sollte.

Und gerade das faszinierte mich. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ein unbescholtener, junger Mann wird zum Verbrecher und meinte, es sei die beste Zeit seines Lebens gewesen. Ich wollte wissen, wie ganz einfache, normale Leute von heute auf morgen in eine solche Situation kommen konnten. Ob sie es wollten oder dazu getrieben wurden. Und ob es vermeidbar gewesen wäre. Was einen dazu bringen konnte, kriminell zu werden. Und ob es einem selbst passieren konnte, ohne dass man es wusste, wollte oder ahnte. War es Veranlagung oder nur das unglückliche Zusammentreffen ungünstiger Umstände, die dazu führten?

In der Kriminalwissenschaft gab es keine eindeutige Erklärung für die Kriminalisierung eines Menschen. Viele Aspekte konnten dazu führen. In früheren Jahren, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, war man davon überzeugt, dass kriminelle Energie angeboren war. Menschen wurden kriminell geboren und konnten nichts daran ändern. Wie eine angeborene Behinderung. Oder die Homosexualität. Dies hatten sich dann die Nationalsozialisten als These zu Eigen gemacht und dementsprechend gehandelt. 

Man wusste heute, dass dies falsch war. Und man wusste, dass es keine eindeutige, klare Antwort auf diese Frage gab. Unzählige Faktoren spielten eine Rolle. Das soziale Umfeld, die Sozialstruktur und der Druck von Menschen, die einen umgaben, gehörten zu den wichtigsten. Auch eine Desintegration konnte ein bestimmendes Indiz sein. Man verlor die Mitkontrolle der Menschen, die einem nah waren. Keiner sagte einem, was gut oder schlecht war, was man lieber nicht machen sollte. Dann konnte es sein, dass man deswegen mehr zu kriminalistischen Wertvorstellungen neigte. Was immer der Grund war, warum Menschen kriminell wurden, sie hatten eines gemeinsam. Sie wichen ab von den aufgestellten Normen, die sie nicht mehr als die ihren betrachteten.

Es gab auch die These von Freud, der meinte, dass das Handeln von bestimmten Individuen eine Fehlentwicklung sei, die maßgeblich in der Kindheit ihre Ursachen hatte. Auch darüber ließe sich sicher streiten.

Was immer der Grund auch war, dieser junge Mann hatte sich von einem ganz normalen, unbedeutenden Mitbürger in wenigen Tagen zu einem Bankräuber und Mörder profiliert. Und ich wollte wissen, wie das möglich war.

 Also rief ich die JVA an und fragte, ob ich einen Schriftverkehr mit dieser Person beginnen  könne. Ich dachte, ich sollte es langsam angehen lassen. Vertrauen gewinnen und nicht mit der Tür ins Haus fallen. Ich ließ allerdings keinen Zweifel daran, worum es mir ging. Sie meinten, ich könne es versuchen. Es gäbe keinen Grund, mich davon abzuhalten. Also schrieb ich den ersten Brief, in dem ich mich vorstellte und auch mein Anliegen darbrachte. Es dauerte einige Wochen, bis ich eine Antwort bekam.

Keine zwei Monate später standen wir in regem Schriftwechsel. Ich stellte ihm Fragen, und er antwortete mir darauf. Und dann trafen wir uns. Wir redeten, nicht nur über ihn und was er getan hatte. Wir diskutierten über alles, was ihm zu dieser Zeit wichtig war. Und es war viel, was für ihn wichtig war. Manchmal, in diesen Gesprächen, hatte ich den Eindruck, dass es das erste Mal war, dass ihn jemand ernst nahm. Dass jemand mit ihm redete, ohne Vorurteile, ohne darauf zu achten, wie er aussah oder wie er sprach. Es erlöste ihn irgendwie. Man sah es ihm an. Er war irgendwie fröhlich, schon fast glücklich, obwohl es sicher keinen Grund gab, in seiner Situation glücklich zu sein.

Damals, in der Zeitung, nannte man ihn nur Matthias K. Ich wollte einen Namen haben, der zu diesem Menschen passte, also nannte ich ihn Matthias Knollenberger. Er hieß nicht so, aber das tat auch nichts zur Sache. Auch die sonst noch beteiligten Personen hatten von mir Namen erhalten, die nicht der Wirklichkeit entsprachen.

Es ging nicht um einen Namen, diese sind austauschbar. Es ging um den Menschen und die Frage, ob jemand nur so, aus heiterem Himmel kriminell werden konnte. Ob es uns auch passieren konnte, und was wir dagegen tun, dass es nicht passierte. Haben wir nur das Glück „normal“ zu sein? War seine Behinderung, wenn sie auch nur sehr minimal war, der Grund für seine Entwicklung, schon von Kindesbeinen an? Hätte man das aufhalten können? Hätte das Umfeld, in dem er aufwuchs, etwas ändern können? Viele Fragen, die auch nach dem Ende der Geschichte nicht beantwortet werden würden, aber doch einen kleinen Einblick in die Umstände vermittelten, die Menschen dazu brachten, auf bestimmte Reize in gewisser Art zu reagieren.

Man wird es nicht verstehen, es bleiben mehr Fragen offen, als beantwortet werden. Die Abläufe sind zu komplex. Es gibt Dinge, die wir glauben zu verstehen, die dann allerdings mit Ereignissen verwoben sind, von denen wir in diesem Moment keine Ahnung haben. Und doch haben sie Einfluss gehabt auf die Taten , die viele Jahre später verübt  wurden. Ich denke, dass nicht einmal die Person, die diese Taten verübt hatte, sich dessen bewusst war, woher es kam, was ihn dazu trieb. Es mochte Jahre dauern und ein langer Gedankenprozess gewesen sein, selbst herauszufinden was der Auslöser gewesen sein konnte. Und wenn man meinte, den Grund gefunden zu haben, konnte das auch noch falsch sein.

Ich habe die Geschichte so wahrheitsgetreu wie sie mir erzählt wurde niedergeschrieben. Sollten bestimmte Tatsachen nicht der Wirklichkeit entsprechen, ist das nicht meine Verantwortung. Vielleicht doch ein wenig, da ich eventuell bessere Fragen hätte stellen können. Oder die Antworten besser hätte einordnen sollen. Was immer es war, dies ist die Geschichte, so wie ich sie verstanden habe. Und wie sie mir erzählt wurde.  

Neben Matthias Knollenberger hatte ich mich auch mit den Polizisten unterhalten, besonders mit Kommissar Schrammiger, der mir sehr dabei geholfen hatte, zwischen den Zeilen zu lesen. Seine langjährige Erfahrung in diesen Angelegenheiten  war absolut kritisch, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Seine Person existierte, der Name wurde, wie bei allen anderen Personen auch, geändert. Er lebte wirklich in einer alten Burg, von der nur noch der Turm stand, in dem er wohnte. Der Rest war in sich zusammengefallen und bildete eine Art Karree, an dem der Turm an einer Ecke als Säule den Platz beherrschte. Der Rest der Ruine sah aus wie ein niedriger Zaun aus alten Steinen. Im Sommer hatte der Kommissar in diesem Karree einen Tisch aufgestellt, an dem wir die meiste Zeit verbrachten. In einer Ecke war auch ein kleiner Fischteich, mit vielen Pflanzen und Fröschen. Es war ein kleiner, zierlicher Ort des Vergessens. Man schaltete die Welt, die sich vor den niedrigen Mauern abspielte, komplett aus. Nichts war zu hören oder zu sehen, als die grüne Fläche Rasen und ein paar Mauerreste. Das einzige Geräusch war der Wind, der mit dem Laub der Bäume spielte.

„Es kostete mich meine Ehe“, meinte er einmal.

„Aber es war es wert“, schob er sofort, ohne zu zögern, nach.

„Wieso war es das wert?“

„Sehen Sie, junger Mann, wenn man zusammenlebt, macht man alles zusammen. Man versteht sich. Man weiß, was der andere denkt. Wenn man dagegen ist, was der andere macht, ist es vorbei. Dann lebt man nur noch für sich und seine Ideen. Es ist auch meine Schuld, da ich die Wünsche und Träume meiner Frau nicht gesehen habe. Ich habe nur den Turm gesehen, nicht was sie wollte. Und der Turm war nur mein Traum, nicht der ihre. Wir haben uns beide keine Mühe gegeben, das zu ändern.“

Dann stießen wir darauf an. Wir redeten nie wieder darüber.

Auch habe ich alle die Orte besucht, in denen die Handlung ablief. Hauptsächlich, um mir ein besseres Bild davon zu machen, ob es einen grundlegenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Matthias Knollenberger gehabt haben könnte. Vielleicht, dachte ich mir, musste man dort leben, um zu verstehen, wie es war. Was Einsamkeit bedeutete, Verachtung und das ausgeschlossen sein vom Rest der Welt. Wie ich festgestellt hatte, lief an diesen Orten die Zeit anders. Sie war nicht kontinuierlich. Manchmal blieb sie stehen, manchmal raste sie vor sich hin. Die meiste Zeit merkte man sie nicht, sie war irgendwie nicht vorhanden. Wenn man in diesen Ansiedlungen, in denen nie etwas passierte, die wenigen Menschen beobachtete, wie sie nur vor sich hinstarrten und warteten, dass die Sonne unterging, kommt man auf die seltsamsten Gedanken. Ich habe dort ein paar Tage gewohnt und mich immer gefragt, wie man nur so leben konnte. Ich hatte es versucht. Mich in einem Zimmer eingemietet, wollte dort leben und das Gefühl spüren, das Matthias Knollenberger gehabt haben musste, als er dort wohnte. Es gelang mir nicht. Nach zwei Tagen war es mir zu viel. Ich reiste ganz einfach wieder ab. Auch die nachfolgenden Besuche sollten nur immer Tagesausflüge sein. Ich hoffe dennoch, dass ich den Ton ein wenig getroffen habe, der einen dort umgab. Die Einsamkeit, die Verzweiflung, die längst in Resignation übergegangen war. Die Gleichgültigkeit gegenüber seinem eigenen Leben, das nichts wert zu sein schien. Die erschreckende Erkenntnis, dass das eigene Dasein an einem vorbeiging und man es nicht einmal merkte. Stumpfsinnig, sich ganz einfach treiben ließ.

Nach vielen Besuchen dort an all den Schauplätzen, die sich nur dem Namen nach unterschieden, die ansonsten aber alle gleich aussahen, war mir vieles klar. Ich verstand ein wenig besser, wie man dort dachte, wie man versuchte, sein Leben zu meistern, wie man vergessen vom Rest der Welt auf sein Ende wartete. Das war das Umfeld, in dem alles begann. Im Speziellen an einer alten, nicht mehr benutzter Tankstelle.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

An der Tankstelle

Matthias Knollenberger stand hinter der Ecke des kleinen Gebäudes, das die Tankstelle ausmachte. Es war Sonntag. Ehemals ausmachte, musste man sagen. Sie gab es nicht mehr. Das Gebäude stand noch, die Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Tür fest im Rahmen verschraubt. Die Zapfsäulen waren abgerissen, nur die Drähte der Elektrik sah man noch wirr am Boden liegen. Als hätte man Adern aus einem Körper gerissen, sie irgendwo abgetrennt und einfach liegen gelassen. Und ihm damit das Leben genommen. Das Dach über den Zapfsäulen blätterte  langsam ab. Wenn es windig war, schlug es unentwegt auf die verrosteten Stahlträger, die es eigentlich halten sollte. Es war auch einmal eine Reparaturwerkstatt für Autos und Motorräder mit angeschlossen, wie ein verwittertes Schild über dem Rolltor anzeigte, das kaum noch zu lesen war. Aber das war lange her . Nur noch Graffiti war zu sehen, verwaschen und undeutlich. Buchstaben, Symbole, Geschmiere. Das übliche.

Matthias wurde am Tag davor zweiundzwanzig. Zwar hatte das keine Bedeutung, weder für ihn noch für die Geschichte, aber es war eben so und ist schon deswegen erwähnenswert. Er feierte den Tag im Kreuzeck. Seiner Stammkneipe. Warum die Kneipe Kreuzeck hieß, erklärte ihm der Wirt, Alfons Kloser, einmal eingehend:

„Schau, Matthias, wir sind an einer Kreuzung und des  Lokal hier ist an einem Eck von  der Kreuzung. Also heißt des Kreuzeck. Wenn wir nicht an einem Eck wären, sondern weiter drin in der Straße, würde des natürlich auch nicht so heißen, aber weil des so is wie des is, heißt mein Etablissement  eben Kreuzeck.“

Etablissement sagte er so, wie man es schrieb. Damit war die Erklärung abgeschlossen. Matthias nickte verständnisvoll und gab sich damit zufrieden. Eigentlich war es ihm sowieso egal, wie die Kneipe hieß, hauptsache, es gab etwas zu trinken.

Und das gab es an diesem Tag genug. Irgendwie hatte es sich herumgesprochen, dass heute sein Geburtstag war. Als er, es war ein Samstag, dort gegen zwei Uhr nachmittags auftauchte, war sein erster Gang der zum Wirt.

 „Fonsi“, sagte er bedeutungsschwer und leise, damit es niemand hörte, als er sich auf einen der hohen Stühle schwang und sich selbst über den Tresen hievte, „bitte sag niemandem, dass ich heute meinen Geburtstag hab. Sonst muss ich noch einen ausgeben, und des will ich schon gar nicht, verstehst?“

„Selbstredend, Matthias, keiner wird davon wissen, dass des heut dein Geburtstag is. Ich werd des niemandem nicht  sagen.“

Das wiederum sagte der Wirt, vielsagend lächelnd, so laut, dass alle Anwesenden ihre Hälse reckten, sich gegenseitig ansahen und dann nacheinander zu Matthias gingen, um ihm handfest zu gratulieren. In diesem Moment bereute er es natürlich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Aber damit war es natürlich gelaufen. Nicht, dass sie ihn besonders mochten, nein. Aber einen Anlass für Freibier hatte man noch nie ausgeschlagen. Da sah man nicht so genau darauf, ob man einen mochte oder nicht. Kennen war da schon ein guter Grund. Ein Bier nach dem anderen musste er spendieren, auch wenn er nicht wollte. Der Tag streckte sich bis in den frühen Abend.  Nur die Tatsache, dass Bayern München gegen Schalke 04 spielte, machte seinem Geburtstagsfest ziemlich schnell ein Ende. So wichtig war nun sein Geburtstag auch wieder nicht, als dass man das Spiel hätte vergessen können. Wenn man auch vorher schon wusste, wer gewinnen würde, starrte man dennoch auf den alten Bildschirm, der auf einer Konsole oben in der Ecke montiert war.

 

Matthias stand also am Sonntagnachmittag an diesem verlassenen Haus, das einmal die Kasse und das Büro des Unternehmens war. Damals waren diese Einrichtungen einer Tankstelle noch, was sie sein sollten, nicht kleinere Supermärkte, in denen man sich auch noch am Samstagabend eine Pizza holen konnte. Es gab nur einen Tisch mit der Kasse und einem Regal mit verschiedenen Ölen. Daneben noch Filter und Mittel, den Motor zu reinigen. Von innen. Sollte Wunder wirken und ihn wie neu aufleben lassen. Und Zündkerzen waren fein säuberlich aufgereiht. Keiner hatte sich je die Mühe gemacht, alles leer zu räumen. Verstaubt lagen viele Sachen noch verstreut herum.

Es wurde langsam kalt. Herbst war es. Die Sonne schien und machte die Welt bunt. Sehr schwach zwar, aber dennoch. Blauer Himmel gegen die gelben Blätter der Ulmen, die sich um das Areal selbst angesiedelt  hatten. Es war keine feste Zeit mit den Leuten vereinbart, die er dort treffen wollte, also wartete er. Nur nachmittags, sagten sie. Er sollte dort warten.

Nun, da es langsam dunkel wurde, verblassten auch die Farben und wurden selbst dunkel . Die Äste schwarz, die Blätter grau. Wind frischte auf und trieb den Abfall in kleinen Wirbeln in die Ecke. Es war immer derselbe Abfall, der sich mal dorthin, mal dahin verteilte und doch immer wieder den Weg zurück fand.

Ab und zu kam ein Auto vorbei, das den Wind auffrischen ließ und den Dreck der Straße gleichmäßig zur Tankstelle wehte. Matthias hatte einmal gelesen, dass der Sand von der Sahara bis nach Amerika geblasen würde. So ein Schmarren, dachte er sich damals. Das können die mir erzählen. Sahara-Sand in Amerika. Daran musste er denken, als er den feinen Staub ausspuckte, der seinen Mund gefunden hatte.

Matthias trat von einem Fuß auf den anderen, sah in eine Richtung, dann wieder in eine andere, zündete sich wieder eine Zigarette an und fluchte leise vor sich hin. Er wollte nach Hause, und nicht die halbe Nacht dort an der Tankstelle verbringen. Er wollte, dass es endlich vorüber war. Dann kam ein Fahrzeug, das, als es sich der Tankstelle näherte, langsamer wurde und vor ihm an die Seite fuhr.

„Das muss er sein“, dachte sich Matthias und trat näher an die Straße. Das Fahrzeug, ein kleines Auto das er nicht kannte, hielt mit quietschenden Bremsen vor ihm an. Die Scheinwerfer leuchteten, auch wenn diese schon sehr blind waren und nur fahles gelbes Licht abgaben. Das Licht wurde mit der Drehzahl des Motors heller und dunkler. Obwohl  er neben dem Wagen stand, konnte Matthias nicht sehen, wer in dem Fahrzeug saß. Auch nicht, ob es einer oder mehrere waren. Das Fenster wurde heruntergelassen. Musik dröhnte ihm in den  Ohren. Lauter Rap mit tiefem Bass. Es vibrierte in seinen Eingeweiden mit jedem Schlag. Jemand streckte eine Hand aus. Die Finger machten eine Bewegung, die bedeutete, er solle näher herankommen. Langsam ging Matthias ans Fenster und versuchte hineinzusehen. Eine große, viereckige Taschenlampe, die genau in sein Gesicht schien, verhinderte den Blickkontakt. Reflexartig hob er seinen Arm und versuchte seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen.

„Das Geld“, kam es aus dem Auto.

„Wirf es durch das hintere Fenster.“

Matthias sah nach rechts und bemerkte schemenhaft, dass das hintere Fenster offen war. Er nahm das kleine Paket, das er in der Seitentasche seiner Hose hatte und warf es ins Auto. Jemand muss dort gesessen haben, wenn er es auch nicht sah, aber dieser „Jemand“ sagte kurz darauf etwas in einer für ihn unverständlicher Sprache. Auch die brüllende Musik verhinderte, dass er verstand, was gesagt wurde. Unmittelbar danach flog ein Paket durch das vordere Fenster, das ihn an seinem Oberschenkel traf und auf dem Boden landete. In diesem Moment gab das Auto Gas und fuhr davon. Matthias stand allein neben der ehemaligen Zapfsäule, schloss langsam die Augen, um sich wieder an die Dunkelheit zu gewöhnen, hob das kleine Paket auf und betrachtete es. Es war eingepackt in einer dunkelblauen Plastikfolie, mit etlichen Gummiringen gesichert. Er nahm einen Gummi nach dem anderen ab und zog die Folie an einer Ecke herunter. Dann nahm er seinen kleinen Finger, befeuchtete ihn mit der Zunge, strich über die Masse und probierte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Dorf

Matthias Knollenberger stand am Türschild des alten Hauses in der Bergstraße. Es war ein selbst geschriebenes Stück Papier, mit Tesafilm an den alten, grünen Briefkasten angeklebt. Neben dem Zettel, dass man Werbesachen gar nicht erst einwerfen sollte, da diese umgehend im Müll landeten. Der Blechkasten war mit Draht am Zaun befestigt, der um das Grundstück verlief. Es war ein Maschendrahtzaun, der an kleinen, runden Stützen befestigt war. Nicht höher als einen Meter. Jedes Feld sah anders aus, farbmäßig und von der Größe her, da man sie über die Jahre immer wieder ersetzen musste.  Es fehlten auch ein paar. Der Zaun hatte in dieser Umgebung ohnehin nur symbolische Bedeutung. Niemand betrat das Grundstück, der nichts dort zu suchen hatte.

Er hatte das Haus von seinem Onkel geerbt, der vor ein paar Jahren gestorben war. Es war der Bruder seines Vaters. Seine Eltern wohnten zwei Häuser weiter, waren aber bereits vor Jahren weggezogen und hatten das Haus abgesperrt und die Eingangstür zugenagelt. Sie hatten nicht vor, nochmals zurückzukommen. Verkaufen konnten sie nicht. Es gab einfach niemanden, der sich in dieser Gegend etwas kaufte. Matthias wollte bleiben, also zog er zu Onkel Albrecht. Seine Eltern hatten nichts dagegen, waren sie ohnehin nicht sehr verbunden mit ihrem Sohn.

Onkel Albrecht hatte keine Kinder. Hatte nicht einmal eine Frau. Wann immer Matthias ein Problem hatte, ging er zu Onkel Albrecht. Sein eigener Vater war meist nicht ansprechbar. Entweder war er auf Montage oder betrunken. Wahrscheinlich meistens beides. So entwickelte sich ein inniges Verhältnis zwischen Matthias und seinem Onkel,  und als seine Eltern entschieden, dem Dorf den Rücken zu kehren, war es keine Frage für Matthias, bei ihm einzuziehen. Als dieser starb, organisierte er die Beerdigung. Seine Eltern hatten keine Zeit, zu kommen, nur zwei seiner Freunde aus dem Dorf waren anwesend. Der Herder Günter und der Bauer Friedrich. Sie waren zusammen in die Schule und in den Krieg gegangen, um dann hier den Rest des Lebens zu verbringen. Sie waren auch die letzten der Klasse, die sich jedes Jahr traf. Von achtzehn Kindern, die zusammen in die Schule gingen und immer älter wurden, blieben gerade einmal drei übrig. Dann waren es nur noch zwei. Heute sind auch die restlichen zwei unter der Erde.

Es war ein altes Haus. Klein, mit einer alten Küche und ohne Zentralheizung . Der Außenputz war grau geworden über die Jahre. Einst, als das Haus neu war, soll es weiß gewesen sein, aber davon sah man nichts mehr. Außerdem hielt Matthias das für ein Gerücht. Sein Onkel lachte immer, als er das sagte.

Der einzige Ofen war in der Küche. Es war ein Kohleofen. Einer, an dem man die Ringe herausnehmen konnte, um die Flammengröße und damit die Wärme-zufuhr zum Topf, den man auf die Öffnung stellte, verändern konnte. Die Front hatte eine Klappe, hinter der ein Backofen verborgen war. Weißes Emaille, mit goldfarbenen Messingrohren als Griffe. Er sah schön aus, wenn auch nicht sehr praktisch.

Das Ofenrohr führte vom Ofen aus erst in das Zimmer daneben, das auch das Schlafzimmer war, und dann durch das Dach nach draußen. Die Küche selbst diente auch als Wohnzimmer und Esszimmer. Man sah keine dementsprechenden Möbel, nur einen Tisch, eine kleine Bank an der Wand entlang und einen Schrank. Neben dem Tisch noch ein paar Stühle, das war alles. Die kleinen Fenster hatten alte, vergilbte Vorhänge, die durch das Rauchen über die Jahre dunkelgelb geworden waren. Und sein Onkel rauchte viel. Französische Zigaretten. Gitanes. Letztendlich starb er auch daran. Er meinte immer, wenn er wieder einen Hustenfall bekam, dass ihn dieses Zeug noch einmal ins Grab bringen würde. Dann zog er noch einmal genussvoll an dem Stängel, blies den Rauch aus und hustete umso mehr. Er hatte nicht oft recht mit dem, was er von sich gab, aber in diesem Fall lag er absolut richtig.

Matthias hatte einen Flachbildschirm auf eine Konsole gestellt, die er in der Remise gefunden hatte, die hinten im Garten aufgestellt war. Zwei große Lautsprecher standen daneben. Da es das einzige Haus an der kurzen Straße war, das bewohnt war, nahm keiner von der Musik Notiz, die aus diesen Höllenmaschinen dröhnte. Bayerischer Rap war seine Lieblingsmusik. Man verstand kein Wort, aber es war laut.

In dem Ort, in dem er lebte, gab es nur wenige Straßen, und noch weniger, die einen Namen hatten. Es hieß Weitershausen. Viele meinten, dass es nur so hieß, weil man besser weiterfuhr, als dort zu bleiben, aber das war natürlich übertrieben. Zugegeben, es hatte keine Geschichte, die sich lohnte, aufgeschrieben zu werden, aber das war bei vielen Dörfern so. Es wohnte auch nie jemand dort, der dem Ort eine bestimmte Berühmtheit gegeben hätte, niemals. Auch blieb niemand mit Rang und Namen während einer Reise dort stehen, wie in der Hälfte aller Orte in dieser Gegend. Es gab kein Denkmal, keine Attraktion in der Nähe. Nicht einmal Fremdenzimmer gab es. Aber auch das war nichts Ungewöhnliches. Ferien auf dem Land war dort noch nicht angekommen.

Es war ein kleines Dorf, nicht mehr als vielleicht fünfhundert Einwohner. Man wusste das nicht so genau, da immer wieder welche wegzogen und dann wieder welche kamen. Die meisten, die wegzogen, kamen jedoch nicht wieder. Also waren es Fremde, die es aus irgendeinem Grund dorthin verschlagen hatte. Man hatte auch einmal fremdartige  Leute einquartiert, jedenfalls für eine kurze Zeit. Dann kamen Busse, Menschen aller Länder  stiegen aus und ließen sich von den wenigen Einwohnern, die die Zeit gefunden hatten, dort zu stehen, anglotzen. Hatte man alle gesehen, ging man wieder nach Hause. Man schüttelte den Kopf und ging seiner Wege. Irgendwie war es wie in einem Zoo. Nur ohne Eintritt und ohne Gehege. Irgendwann verschwanden diese Fremden  wieder und man hatte sein Dorf zurück.

Es war ein einsames Dorf. Eigentlich hatte es nie etwas dort gegeben, was es attraktiv machte, außer der Landwirtschaft, aber das war schon so lange vorbei, dass keiner mehr auch nur daran dachte. Es gab auch mal einen Bäcker, einen Metzger und einen Installateur. Der Installateur besaß  auch die Tankstelle, die nun geschlossen war. Dann machte ein Betrieb nach dem anderen zu. Irgendwann kam einmal der Landrat und hatte beim Neuwirt, der ältesten Kneipe am Platz, eine Rede gehalten, dass man in dieser strukturschwachen Gegend etwas finden müsse, diese Idylle zu erhalten. Wäre doch schade, wenn das alles verkommen würde. Keiner wusste, wovon er sprach, da niemand es auch nur im Ansatz idyllisch fand, aber man dachte eben, dass Landräte so waren. Diese hohen Herren dachten eben einfach ganz anders als normale Leute. Zukunfts-orientiert nannte man das. Mit Weitblick. Das war das einzige Mal, dass man ihn gesehen hatte. Danach kam er nie wieder in diese Idylle. Nur ein paar Leute, die kurzfristig dachten, dort investieren zu müssen, wurden gesehen, aber auch nur für sehr kurze Zeit. Bis sie feststellten, dass es keinen Sinn machte. Also ließ man die wenigen Einwohner endlich wieder in Ruhe.

Die EU hatte dem Ort ein wenig Geld gegeben, um einen Industriepark zu erschließen. Man teerte ein mittelgroßes Grundstück zu, malte Streifen darauf und nannte es Industriepark Grünland. Dann stellte man ein Plakat auf, auf der eine Sonne auf ein grünes Feld strahlte und im Hintergrund eine Lagerhalle intim  beleuchtete, als wäre es ein Schiff, das der untergehenden Sonne entgegenfuhr. Das war lange her. Das Plakat war mittlerweile längst umgefallen, auf dem Parkplatz blühte der Löwenzahn.

Es gab eine einzige lange Straße durch den Ort. Zwischen den Häusern und der Straße verlief noch ein Fußweg, der von der Straße mit einem Grünstreifen abgegrenzt war. Auf diesem grünen Streifen standen Bäume. Es war einmal eine Allee mit großen grünen Pappeln. Als eine nach der anderen abgesägt wurde, blieben nur noch die Stümpfe übrig, aus denen dann neue Sprieße hervorwuchsen, die wie Nadeln in den Himmel reichten, als würden sie sagen: Ihr könnt mich absägen, aber ich komme immer wieder.

Entlang dem Fußweg standen Häuser, die in den Fünfzigerjahren umgebaut wurden und dadurch den Charme dieser Jahre bekamen. Manche wurden zu Geschäften, mit großen Schaufenstern, Aluminiumtüren und verrosteten Fahrradständern davor. Heute waren sie alle geschlossen und die Fenster von innen mit braunem Papier verklebt. Man brauchte keine Geschäfte mehr. Die Fahrradständer sind geblieben.

In der Mitte des Dorfes war die Bushaltestelle. Die Verbindung zur Außenwelt. Da sich fasst niemand in dieser Gegend ein Auto leisten konnte, war man auf diesen Bus angewiesen. Dieser fuhr in die Kreisstadt, die knappe zwanzig Kilometer entfernt war. Dort gab es Geschäfte, ein Einkaufszentrum, Bäcker und Ärzte. Sogar eine kleine Klinik gab es dort, sollte man so etwas brauchen. Gestorben wurde allerdings immer zu Hause. Dazu brauchte man kein Krankenbett.

Jeden Morgen, außer Samstag und Sonntag, standen dort ein paar Leute und warteten auf den Bus. Am Wochenende fuhr dieser nicht. An Wochentagen saß man nebeneinander unter dem Glasdach, das über die Jahre grün und blind geworden war. Die Seitenwände waren seit Langem zertrümmert, die Splitter lagen schon seit Jahren im Gras, das man nur ab und zu mähte. Eigentlich nur einmal im Jahr. Das Gras stand deswegen mindestens einen Meter hoch. Es gab auch einmal einen Mülleimer, der aber schon seit langer Zeit nicht mehr dort hing. Nur der Pfosten stand noch dort, an dem er einmal angeschraubt war.

Wenn man den Weg nach Osten ging und nach dem Ortsschild nach links abbog, kam man zum Friedhof. Es war ein kleiner Friedhof, der mit einer niedrigen Mauer umgeben war. Auf der Längsseite war ein schmales, gusseisernes Tor, das immer offenstand und in dieser Stellung eingerostet war. Eine gewaltige Eiche war in der Mitte des Areals, die fast allen Gräbern Schatten spendete. Warum Gräber Schatten brauchten, erschloss sich mir nicht, aber es war so.

An der Stirnseite war die Kirche. Eine kleine, alte Kirche, in der es durch das Dach tropfte, wenn es regnete. Jemand hatte unter dem Loch einen Eimer positioniert, der jedoch nie ausgeleert wurde. Um ihn herum war es immer nass. Die Glocke lag zertrümmert am Boden des Glockenturms. Der Balken hatte nachgegeben. Niemanden störte es. Die einzigen, die diese Kapelle benutzten, waren ein paar alte Frauen, die nach den Gräbern sahen. Dann sah man sie auf den wenigen verbliebenen Bänken knien, die kreuz und quer dort standen, und ein Kreuz anbeten, das seinen Christus verloren hatte. Einen Pfarrer gab es schon lange nicht mehr.

Wenn man durch das Dorf schlenderte, sah man nur ein paar alte Leute auf ausgedienten Stühlen vor ihren Häusern sitzen, oder sie lehnten sich stundenweise aus dem Fenster, um nichts zu sehen. Katzen und Hunde jagten sich. Die Katzen gewannen. Den Hunden war es scheinbar egal. Der Wind trieb, was nicht festgenagelt war, durch die Straßen. Der Staub setzte sich an den Häusern und den wenigen Bäumen fest, nur um wieder herunterzufallen. Dann fing das Spiel von vorne an.

Das war die Welt, in der Matthias Knollenberger lebte, und er versuchte, das Beste daraus zu machen. Was, wie wir sehen werden, nicht das Beste war.

 

 

 

 

 

 

Die Marienstatue

Matthias Knollenberger schwang sich auf sein Moped, das er immer nahm, wenn das Wetter gut und die Strecke kurz war. Es war eine alte Zündapp Combinette, 50 Kubik, flaschengrün mit hellgrünem Polstersattel. Das Flaschengrün war nur noch teilweise sichtbar, an den meisten Stellen  war es eher rostbraun. Er hatte, wie alles, was er besaß, auch dieses Prachtstück von seinem Onkel geerbt. Sein Onkel hatte es damals in den Fünfzigerjahren als erstes Fahrzeug gekauft, mit dem er nicht treten musste, um vorwärts zu kommen. Ein Auto war zu teuer, allein der Führerschein dafür war unbezahlbar. Für ihn war es ein Zeichen der Freiheit und Unabhängigkeit. Man musste zweimal, wie bei einem Fahrrad, in die Pedale steigen, bis der Motor ansprang und eine weiße stinkende Wolke aus dem Auspuffrohr verkündete, das der Feuerstuhl nun fahrbereit war.

An diesem Tag also holte er seine „Maschine“, wie er sie liebevoll nannte, aus der Remise, stieg in die Pedale und fuhr davon. Vorher rupfte er noch ein paar Blumen aus dem Gras. Nicht sehr ordentlich, mehr so auf die Schnelle. Es war im Prinzip egal, welche Blumen es waren.

Es war immer derselbe Weg, den er nahm. Die Dorfstraße hinunter, nach dem Ortsschild am Friedhof vorbei und dann nach etwa einem Kilometer rechts in einen geteerten Feldweg, der nach ein paar hundert Metern an einer Marienstatue  endete. Man nannte sie die blaue Maria. Vor vielen Jahren hatte sie ein Bauer dort hinstellen lassen, als seine Frau von einer schweren Krankheit geheilt wurde. Er hatte viel gebetet und versprochen, eine Maria zu stiften, wenn sie wieder gesund werden würde. Da der Pfarrer nicht viel von dieser Idee hielt, seine wohlgemeinte Spende in der Kirche aufzustellen, da sie sehr volkstümlich aussah und damit nicht seinem Standard entsprach, brachte  er sie an das Ende seines Grundstückes. Also stand sie dort, am Ende des Weges, dort, wo es in den Wald ging und die Teerstraße aufhörte. Die Figur stand auf einem Sockel, ungefähr einen Meter hoch. Dieser Sockel war aus Ziegelsteinen gemauert und weiß angemalt. Darauf stand die blaue Maria, mit einem goldenen Heiligenschein, den man aus Kupferdraht zweimal seitlich in den Kopf gesteckt und rundherum gebogen hatte. Für diesen Zweck war es golden genug. Als der Bauer starb und die Figur langsam verfiel, machte es sich jemand im Dorf eines Tages zur Aufgabe, sie zu pflegen. Wer, das wusste man nicht. Es war auch egal. Niemand hatte eigentlich besonderes Interesse an der Figur. Es gab sie, das war alles. So wie es das Wetter gab, die Stromrechnung oder den Briefträger.

 Früher, als das Dorf noch funktionierte und die Menschen dort wohnten und lebten, gab es ein Ereignis um die Statue herum, auf das man sich das ganze Jahr freute. Einmal im Jahr, am Pfingstsonntag, gab es eine Prozession von der Dorfkirche bis zur blauen Maria. Obwohl der Pfarrer nichts von der Statue hielt, wollte er doch etwas schaffen, was seine Gemeinde und Spenden zusammenbrachte. Also erfand er die Prozession.

Man zog sich die schönsten Kleider an, die man hatte, die jungen Mädchen bekamen Blumengebinde ins Haar, der Weg wurde mit allen möglichen Blütenblättern bestreut, und langsam schritt der Pfarrer dann in einem weißen langen Mantel mit dem goldenen Kreuz vor seiner Brust würdevoll den Weg entlang. Immer wieder ein Ave-Maria betend. Die Gemeinde hörte man dann immer leise das Amen sagen. An der Maria gab es einen  Tisch mit allen möglichen Sachen zu essen, worauf sich der Pfarrer besonders freute. Die Kommunion wurde an diesem Tag dann immer sehr schnell abgehalten.

Das war sehr lange her. Heute gab es das nicht mehr. Niemand pilgerte an die Maria, der Pfingstsonntag war wie jeder andere Tag der Woche. Die Kirche hatte man verfallen lassen, als der Pfarrer starb und ein Nachfolger nicht gefunden wurde. Der geteerte Weg war narbig aufgerissen. Blumen und Unkraut nahmen sich das Recht, sich dort Platz zu schaffen. Und niemand scherte sich darum.

Damit die, die diese Ware lieferten, wussten, dass dort Geld lag, gab es eine Abmachung. Bevor man in den Feldweg einfuhr, stand an der rechten Seite ein Wegkreuz. Dieses wurde vor sehr langer Zeit dort aufgestellt, als eine gewisse Anneliese Grauner dort auf einem Fahrrad von einem Auto angefahren, in den Graben geschleudert und dadurch getötet wurde. Das Fahrrad lag im Graben, neben der Liese, wie man sie allgemein nannte. Sie war gerade einmal neun Jahre alt geworden. Den Fahrer hatte man nie gefunden. Ihre Eltern stellten an der besagten Stelle also ein Kreuz auf, mit einem Bild, das langsam schon vergilbte, und mit ihrem Namen. An diesem Kreuz legte Matthias frische Blumen ab, das Zeichen, dass er wieder eine Lieferung brauchte. Der Lieferant, der wöchentlich seine Strecke abfuhr, sah diese Blumen und wusste, was zu tun war. Gemessen an der hinterlegten Geldmenge, deponierte  er die entsprechende Ware.