Wyatt Earp – 166 – Der gelbe Mann von Winnemucca

Wyatt Earp
– 166–

Der gelbe Mann von Winnemucca

William Mark

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-632-8

Weitere Titel im Angebot:

Schon seit Stunden war das Spiel im Gange. Eine dicke Rauchwolke schwebte über den Pokertischen im Dodger Long Branch Saloon.

Während die meisten Tische jetzt unbesetzt waren, hatten sich die Menschen um den runden Tisch geschart, an dem vier Männer im heißen Spiel beieinandersaßen:

Der Dodger Holzhändler Jack Morton, ein vierschrötiger Mensch, dem der elegante dunkle Anzug gar nicht zu Gesicht stehen wollte, und der sich schon vor einer Stunde Kragen und Schleife geöffnet hatte; der hagere Phil Lonegan, der am Westende der Mainstreet eine große Gerätehandlung besaß; und der kleine schottische Pferdezüchter Art McCoy. Der vierte Mann verdiente eine besondere Beschreibung.

Es war ein mittelgroßer Mensch mit seltsam dreieckigem Gesicht, über das sich eine pergamentfarbene Haut spannte. Falten schien es in diesem Gesicht nicht zu geben. Die Augen saßen schräg und verrieten asiatische Herkunft. Die Nase war kurz und stumpf, der Mund schmal, und seine Winkel zogen sich nach unten. Es fehlte nur noch ein winziger Schnurrbart über den Mundwinkeln zum typischen Bild des Chinesen. Dieser Mann war Lin To, jedenfalls nannte er sich so. Er trug einen vornehmen dunklen Anzug, ein weißes Rüschenhemd und eine rote Halsschleife. Dazu einen halbhohen grauen Zylinder mit breitem dunkelrotem Band. In seinem linken Mundwinkel steckte eine lange schwarze Strohhalmzigarre. Mit schlanken Fingern hielt der Chinese die Karten in der Linken. Neben seiner rechten Hand standen drei hohe Dollartürme, und daneben lag ein Bündel Banknoten. Neben der linken Hand stand das Glas mit dem Scotch.

Mr. Lin To hielt sich seit einiger Zeit in der Arkansasstadt auf – und zwar vornehmlich in den Spielbars. Besonders hatte es ihm der Long Branch Saloon angetan. Lin To hatte in Dodge City ganz sicher schon ein Vermögen gemacht.

Chalk Beeson, der Wirt, und all die Männer, die ihm in den letzten Tagen zugesehen hatten, waren einstimmig der Ansicht, daß er ein hochbegabter Spieler sei, der obendrein von einer unheimlichen Portion Glück unterstützt wurde.

»Er ist ein Spieler wie Doc Holliday«, hatte selbst der Salooner gemeint.

Der berühmte Gambler John Henry Holliday – der wirklich studierte Doktor der Zahnheilkunde und der Doktor der Wundmedizin – hielt sich zu dieser Zeit nicht in Dodge auf, sondern war zusammen mit dem Marshal seit mehreren Wochen unterwegs in den Felsenbergen, um ein Verbrecherduo zu jagen.

Es kamen immer wieder Männer in die Stadt, die ihr Glück an den grünen Spieltischen Dodge Citys versuchten. Es waren Hasardeure und Briganten aus aller Herren Länder. Lin To sollte sie alle überschatten.

An diesem Abend hatte es das Glück anfänglich nicht so gut mit ihm gemeint, aber gegen elf Uhr senkte sich die Waage wieder zugunsten des gelben Mannes. Die Münzentürme neben seiner Rechten häuften sich. Und das Banknotenbündel wurde dicker und dicker.

Die Gesichter der drei Mitspieler aber wurden länger und länger. Wenn jedoch Jack Morton und Phil Lonegan den Verlust noch einigermaßen zu verschmerzen wußten, war der kleine Schotte McCoy so niedergeschlagen, daß er kaum noch den Kopf zu heben vermochte. Lin To hatte ihn an diesem Abend überrascht. Anfänglich hatte der Schotte gar nicht an den Spieltisch herankommen wollen. Aber der Chinese verstand es, ihn dazu zu überreden.

McCoy war ein Mann von dreiundvierzig Jahren, der vor siebzehn Jahren in die Stadt gekommen war und an deren Nordwestrand eine alte Hühnerfarm aufgekauft hatte, um sie zu einer Pferdezucht umzuwandeln. Das hatte sein ganzes Kapital verschlungen und ihm in den ersten Jahren so gut wie keinen Gewinn gebracht. Aber bald stellte es sich heraus, daß die Pferde aus McCoys Zucht wirklich hervorragende Eigenschaften besaßen, und so etwas sprach sich damals sehr rasch herum. McCoy wurde ein wohlhabender Mann, und seine Pferde standen hoch im Kurs.

Er hatte eine Frau, sieben Kinder und eine Schwester bei sich daheim, für die er zu sorgen hatte. Der kleine Pferdezüchter trank sehr wenig und hatte eigentlich nur eine einzige Leidenschaft: das Pokerspiel. Bisher hatte ihm diese Leidenschaft aber niemals zu schaffen gemacht, denn es war immer nur um Beträge gespielt worden, die er zu verkraften wußte; und dann gewann er ja auch nicht selten. An diesem Abend aber schien das Schicksal den kleinen Mann von der fernen Insel Skye vernichten zu wollen.

Höher und höher wurde gesetzt, und niemandem war es aufgefallen, daß es der Chinese war, der den Einsatz ständig trieb. Solange um Hunderte gespielt wurde, kümmerte sich niemand darum. Als die Einsätze aber schließlich in die Tausende gingen, scharten sich immer mehr Menschen um den Spieltisch.

Um halb zwölf hatte McCoy sein ganzes bares Geld verloren.

Aus unergründlichen Augen blickte ihn der gelbe Mann an.

McCoys Augen glimmten vor Zorn. Aber wie immer, so war auch der Schotte jetzt beherrscht und sagte sehr ruhig:

»Geben Sie mir noch eine Chance, Mr. Lin To?«

»Aber selbstverständlich, Mr. McCoy, wie Sie wünschen. Meinethalben können Sie den Einsatz auch verdoppeln. Vielleicht bekommen Sie dann ja alles zurück. Ich will es Ihnen wünschen.«

Lonegan und Morton stiegen aus.

Der Double Poker begann. Kein Spiel im Westen war schärfer als der Double Poker, ein Spiel, bei dem ähnlich wie bei unserem Siebzehn-und-vier alles auf eine Karte gesetzt wurde.

Ruhig legte der Chinese sein erstes Blatt auf den Tisch.

Der Schotte legte zu. Da fiel das zweite und das dritte Blatt des China-Mannes.

Noch konnte der Schotte mithalten. Aber dann hatte er sich vergaloppiert.

Der Chinese legte ihm ein rotes As auf den Tisch und hatte damit den doppelten Gewinn an sich gezogen.

McCoy, der nicht eine einzige Sekunde an die möglichen Folgen seiner Handlungsweise gedacht hatte, hatte plötzlich das Gefühl, das Herz müsse ihm stillstehen. Er hatte alles, was er besaß, verspielt.

Mit zitternder Hand nahm er einen der Schuldscheine, die auf diesen Tischen immer in einem kleinen schwarzen Kasten lagen, und zog Feder und Tinte heran, die ebenfalls immer bereitstanden.

Ehe er die Feder auf das Papier setzte, hob er den Kopf und blickte in die dunklen Augen des Chinesen.

»Mr. Lin To, es hat keinen Sinn, daß ich eine Zahl hinsetze, denn Sie haben alles gewonnen, was ich besitze.«

Der Chinese sagte sehr höflich: »Es ist mir recht, wie Sie es machen, Mr. McCoy.« Wie zuvorkommend und freundlich sich das anhörte; fast war man geneigt, den Gewinner zu bemitleiden.

McCoy unterschrieb den Zettel und schob ihn dem Chinesen zu. Dann erhob er sich und verließ mit hölzernen Bewegungen die Schenke.

Es war eine stürmische Herbstnacht, und der Wind trieb den Flugsand schmirgelnd an den hölzernen Häusergiebeln entlang.

Der kleine Mann ging langsam mit gesenktem Kopf über die Vorbauten davon, die Hände tief in die Taschen gesteckt. Dann blieb er stehen und blickte auf die andere Straßenseite hinüber, auf der nur wenige Häuser standen. Drüben an der Ecke der Bridge Street war das Haus, in dem das Marshals Office untergebracht war, daneben lehnte die Bäckerei der Familie Baxter. Und dann kam das Stationshaus. Weiter unten folgte das Santa Fé Depot und der Wasserturm.

Der Schotte verließ den Vorbau und überquerte die Straße. Neben dem Marshals Office bog er in die Bridge Street ein und hielt auf die Brücke zu, die über den breiten Strom führte.

Es war eine der größten Brücken, die es über den Arkansas gab. Im allgemeinen kannte man nur kleine Stiege, die für Fußgänger und einen einzelnen Wagen genügten. Aber hier in Dodge City hatte man die Brücke für die gewaltigen Rinderherden bauen müssen, die Jahr für Jahr aus Texas heraufkamen und hier über den reißenden Strom drängten.

Der kleine Mann stand mitten auf der Brücke und starrte nach Westen hinüber.

Der Wind trieb ihm den Regen schneidend ins Gesicht und fegte ihm den Hut vom Kopf.

Plötzlich öffnete McCoy sich die Jacke, zog sich den Leibgurt ab und wickelte ihn sich so um beide Hände, daß er außerstande war, ihn selbst wieder zu öffnen. Er hatte früher viele Jahre einen Peon beschäftigt, der ein wahrer Entfesselungskünstler gewesen war. Von diesem hatte er zwar gelernt, wie man sich die Hände selbst fesseln konnte, aber das Entfesseln hatte er längst vergessen.

Der kleine Mann von der Insel Skye war entschlossen, aus dem Leben zu scheiden. Hatte er doch in einer einzigen Nacht, genauer gesagt, in wenigen Stunden, sein ganzes Hab und Gut verspielt und sich und seine Familie an den Bettelstab gebracht.

Aus glasigen Augen starrte er hinunter in die schäumenden Wasser, in die er gleich untertauchen würde, um in ihnen den Tod zu finden.

Wie würde es sein da unten in den eisigen Fluten? Ob man gleich tot war? Wahrscheinlich nicht. Höchstwahrscheinlich hatte man noch sekundenlang mit dem Tod zu kämpfen. Vielleicht sogar minutenlang. Das war grausam.

Aber war ein Leben ohne Ehre, in tiefster Not, ein Leben, in dem er sieben Kinder, eine junge und eine alte Frau ständig hungernd vor sich sah, nicht noch grausamer?

Als der Schotte den Fuß auf die erste Querstrebe des Geländers setzte, hörte er den Hufschlag zweier Pferde, die von der anderen Seite über die Brücke kamen und sich im leichten Trab näherten.

Ich muß springen! Vorher muß ich springen, ehe sie es sehen! hämmerte es in seinem dumpfen Schädel.

Doch da trieb ihn eine scharfe Windbö zurück, und mit den gefesselten Händen vermochte er sich nicht am Geländer zu halten.

Um den dröhnenden Hufschlag hinter sich kümmerte er sich nicht mehr, deshalb nicht, weil er innerlich schon mit allem abgeschlossen hatte.

Wieder hatte er den Brückenrand erreicht, setzte den Fuß auf die Mittelstrebe, schob die zusammengefesselten Hände auf das Geländer und wollte sich hochreißen, um sich hinüberzuschwingen.

In diesem Augenblick schwirrte eine Lassoleine heran, hielt für den Bruchteil einer Sekunde über seinem Kopf, fiel nieder und packte ihn in dem Augenblick, in dem er sich über die Brüstung fallen lassen wollte. McCoy wurde mit einem harten Ruck zurückgerissen und stürzte auf die Brückenplanken.

Er war nicht imstande, sich zu erheben. Siedender Schreck hatte ihn erfaßt, als die Schlinge sich um ihn gelegt und niedergerissen hatte.

Da hörte er hinter sich einen harten, sporenklirrenden Schritt. Und gleich darauf tauchte vor ihm die riesige Silhouette eines Mannes auf, den er genau kannte.

Es war ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern, schmalen Hüften, einem schwarzen, flachkronigen, breitrandigen Hut, schwarzem Anzug und grauem Kattunhemd. Auch ohne daß der Schotte sein Gesicht sehen konnte, wußte er genau, wie es aussah: tiefbraun von Wind und Wetter gegerbt, markant-männlich geschnitten und von einem dunkelblauen, langbewimperten Augenpaar überstrahlt. Der Mann trug um die Hüfte einen breiten büffelledernen Waffengurt, der in beiden Halftern je einen schweren fünf­undvierziger Revolver hielt. Und noch etwas wußte der Pferdezüchter: Links unter der Jacke auf dem Hemd trug der Reiter einen großen fünfzackigen Stern im Wappenkranz.

Es war der berühmte Marshal Wyatt Earp! McCoy richtete sich keuchend auf die Ellbogen auf und plinkerte den Missourier an.

Wyatt Earp stand breitbeinig vor ihm und blickte schweigend auf ihn nieder.

Jetzt war auch der andere Reiter herangekommen, der den Marshal begleitet hatte, glitt aus dem Sattel und blieb einen Augenblick neben dem Missourier stehen.

Es war ein Mann von fast gleicher Größe, nur daß er nicht ganz so breite Schultern besaß wie der Gesetzesmann.

Und obgleich der Schotte auch das Gesicht dieses Mannes nicht sehen konnte, wußte er, daß es ein sehr scharfgeschnittenes, blaßbraunes aristokratisches Gesicht war, das von einem eisblauen Augenpaar beherrscht wurde. Der Mann trug einen eleganten schwarzen Anzug, einen schwarzen dreiviertellangen Mantel, ein weißes Rüschenhemd und eine schwarze Samtschleife. Um die Hüften hatte er einen breiten Waffengurt, in dessen Halftern zwei elfenbeinbeschlagene vernickelte Revolver vom Kaliber 45 steckten.

Dieser Mann war der Georgier Doc Holliday. Der gleiche Mann, von dem Amerika einmal sagen würde, er sei der schnellste Mann mit einem sechsschüssigen Revolver und einer der brillantesten Spieler gewesen, die der Westen jemals gesehen hatte.

»Hallo, Mr. McCoy«, sagte der Marshal jetzt.

Der Schotte richtete sich etwas auf, vermochte aber die Hände nicht aus den Schlingen zu ziehen.

»Haben Sie etwas dagegen, Marshal, wenn ich diesem Gentleman aus seiner Verstrickung heraushelfe?« fragte der Spieler durch den linken Mundwinkel.

Der Missourier schüttelte den Kopf. »Nein, absolut nicht, Doc.« Er befreite McCoy von dem Lasso. »Ich frage mich nur, was hier geschehen ist.«

»Fragen Sie lieber nicht«, ächzte der Pferdehändler, während er sich erhob und den beiden seine zusammengeschnürten Hände hinhielt. »Schneiden Sie es nur durch, Doc. Dann habe ich einen Grund, mir die Hose mit beiden Händen festzuhalten. Es wird ohnehin das letzte sein, was ich noch in Händen habe.«

Aber der Georgier löste den Gurt vorsichtig und sorgte dafür, daß McCoy sich ihn wieder um den Leib schnallte.

»Vielleicht wäre es ganz gut, Mr. McCoy, wenn Sie uns in aller Ruhe erzählen würden, was geschehen ist.«

»Was geschehen ist?« krächzte der Schotte. »Das ist mit wenigen dürren Worten gesagt. Ich habe gespielt und verloren. Das ist alles.«

»Wieviel haben Sie verloren?«

»Alles.«

»Wie war das möglich? Haben Sie in der Alhambra gespielt?«

»Nein, im Long Branch Saloon.«

Holliday stieß einen halblauten Pfiff aus.

»Nanu? Seit wann verspielt man bei Chalk Beeson ganze Pferderanches?«

»Ach, es war ein Kerl an unserem Tisch, ein gewisser Lin To, der mich auf die Palme brachte. Ich habe mich verleiten lassen, den alten Spielerspruch: ›Setze niemals mehr, als du verschenken könntest‹, zu mißachten, und habe mein ganzes Geld gesetzt und am Schluß noch einmal alles auf eine Karte. Alles. Und alles habe ich auch verloren.«

»Lin To?« meinte der Marshal, während er sich mit dem linken Daumennagel über die Unterlippe fuhr. »Wer ist das?«

»Sieht aus wie ein Chinese. Jedenfalls mit asiatischem Einschlag. Er ist gut gekleidet und versteht eine Menge vom Spiel.«

»Ist er noch in der Bar?« forschte Holliday.

»Ich glaube schon. Der Kerl kann doch den Hals nicht vollkriegen.«

»Wie lange ist er schon in der Stadt?« wollte der Marshal wissen.

»Etwa seit einer Woche. In dieser Zeit hat er sicher eine ganze Reihe Leute hier arm gemacht.«

»Dieses Wundertier sähe ich mir gern einmal an«, sagte Doc Holliday, während er sich in den Sattel zog.

Wyatt forderte den Schotten auf: »Kommen Sie bitte mit, Mr. McCoy.«

»Wozu denn? Glauben Sie, ich möchte nach meiner eigenen Vernichtung den weiteren Triumph dieses Mannes mitansehen?«

»Ich möchte, daß Sie mitkommen, Mr. McCoy«, beharrte der Marshal.

Vorm Sheriffs Office stieg Wyatt wieder vom Pferd, betrat den Vorbau und klopfte an die Scheibe.