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Über dieses Buch:

Seine Opfer sind jung, wehrlos und vollkommen allein. Ein grausamer Mörder treibt im Jahr 1348 in Straßburg sein Unwesen – doch niemand schert sich darum, denn er tötet nur namenlose Kinder der Gasse. Als die Klosterschülerin Adelheid von den Morden erfährt, ist sie zutiefst schockiert: Selbst dem Schicksal einer solchen Kindheit nur knapp entronnen, fühlt sie sich den Opfern verbunden und beschließt, auf eigene Faust zu handeln. In Martin, dem Henkerssohn, der mit seiner blutigen Bestimmung hadert, findet sie einen unerwarteten Verbündeten, und auch das Kräuterweib Gertrudis scheint auf ihrer Seite zu sein – doch die Alte verbirgt ein dunkles Geheimnis. Wem können Adelheid und Martin trauen bei der Suche nach einem Mörder, so eiskalt und berechnend, dass er scheinbar keine Spuren hinterlässt …

Über die Autorin:

Heidrun Hurst, geboren 1966 in Kehl am Rhein, ging schon als Kind gerne mit Hilfe von Büchern auf Reisen in fremde Welten und ferne Zeiten. Ihr Hunger nach geschriebenen Abenteuern und Literatur wurde schließlich so groß, dass sie sich einige Jahre später selbst dem Schreiben widmete. Seitdem veröffentlicht sie historische Romane, für die sie mit Leidenschaft und Neugier tief in die Recherche längst vergangener Zeiten eintaucht.

Die Website des Autors: http://heidrunhurst.de/

Der Autor im Internet: www.facebook.com/HeidrunHurstHistorischeRomane

Ein Nachfolgeband ist in Planung.

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Originalausgabe Februar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

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Redaktion: Michelle Landau

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Petr Malyshev

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-144-6

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Heidrun Hurst

Der Teufel von Straßburg

Historischer Roman

dotbooks.

Für Birgit Sester und ihre Fähigkeit, in jedem Menschen das Besondere zu sehen.

Jeder sieht, was du scheinst.

Nur wenige fühlen, wie du bist.

(Niccolò Machiavelli)

Prolog

Straßburg, Heiliges Römisches Reich

September 1348

Fort! Er musste fort! So schnell er konnte! Kleine Steinchen bohrten sich in die ledrige Haut seiner nackten Fußsohlen. Der Junge nahm sie kaum wahr. Die Gefahr hinter ihm war weitaus größer. Er rannte um sein Leben. Durch all den Schmutz, der sich im Lauf des Tages auf der festgetrampelten Erde in den schmalen Gassen gesammelt hatte. Sein Herz pochte in kurzen, panischen Schlägen, wie die zarten Flügel eines aufgescheuchten Sperlings.

Die heranschleichende Nacht hatte sich über die mit Schindeln gedeckten Dächer gelegt und die letzten Farben des Tages vertrieben. Selbst die Vögel waren verstummt, und alles, was den Tag hell und fröhlich machte, verwandelte sich in bedrohliche Finsternis. Zumindest für den verwahrlosten Jungen, der keuchend durch die menschenleeren Gassen rannte. Ein rhythmisches Stampfen drang an sein Ohr. Die schweren Schritte einer Bestie! Sie war ihm auf den Fersen, kam immer näher.

Brennende Angst durchzuckte die magere Brust des Jungen. Schon immer hatte er sich vor der Dunkelheit gefürchtet, vor der lastenden Schwere der Nacht, die sich über Häuser, Gassen und Brücken legte. Vor der Ungewissheit und den Ratten, die hinter jedem Winkel lauerten. Doch inzwischen begriff er, dass es etwas noch Schrecklicheres gab. Der Dämon hinter ihm war böse. Er hatte ihm weh getan, und er würde ihn töten, wenn er ihn noch einmal in die Finger bekam.

Etwas Feuchtes rann wie warmer Regen seinen Rücken hinab. Er spürte keinen Schmerz, obwohl er wusste, dass es Blut war. Doch sein Kopf leerte sich wie ein löchriger Kübel. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er brauchte Hilfe! Doch wohin konnte er sich wenden – er, der ganz allein auf der Welt war? In den ärmlichen Hütten an der Mauer würde er keine Hilfe finden: Wenn ihre Bewohner sahen, was mit ihm geschehen war, würden sie ihn davonjagen, aus lauter Furcht, selbst dafür verantwortlich gemacht zu werden. In den Häusern der Reichen würde man ihn gar nicht erst einlassen.

Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit. Die Kirche.

Bei dem Gedanken an einen Priester schienen sich seine Eingeweide zu verknoten. Er wollte zu keinem Mann. Männer machten ihm Angst! In diesem Moment mehr denn je.

Plötzlich wusste er, wohin er gehen sollte – zu den Schwestern von St. Klara! Seine Füße trugen ihn wie von selbst in diese Richtung. Zuversicht durchströmte ihn. Bald würde der große, freie Platz des Rossmarktes vor ihm auftauchen. Jetzt, da er sich über sein Ziel im Klaren war, bekam er neue Kraft. Noch einmal horchte er auf das Keuchen hinter sich – viel zu nah. Doch inzwischen klang es mühsam, fast erschöpft.

Jetzt!, dachte der Junge, holte noch einmal alles aus sich heraus und vergrößerte langsam den Abstand. Weiter ... schnell!. Er wagte nicht, sich umzusehen. Wenn er hinfiel, war er verloren!

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die enge Gasse sich vor ihm öffnete. Seine Beine begannen zu schmerzen und die Lungen brannten in seiner Brust. Endlich erreichte er die lang gestreckte freie Fläche des Platzes. Still und verlassen lag sie da, übergossen vom kalten Licht des Mondes. Der tröstliche Anblick der Klostermauern ragte wie ein Schattenriss auf der gegenüberliegenden Seite auf. Doch er würde den Platz überqueren müssen, um die rettende Pforte zu erreichen.

Mit letzter Kraft hastete er darauf zu. Seine zitternden Finger ergriffen den schweren Klopfer und schlugen ihn auf das massive Holz der Tür. Quälend langsam zogen sich die Sekunden dahin. Was, wenn niemand kam? Doch da öffnete sich ein kleiner Laden. Die Augen einer Nonne spähten durch die Öffnung und sahen prüfend auf ihn herab.

»Bitte«, keuchte der Junge. »Helft mir! Ich bin verletzt!« Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Er hörte die Schritte hinter seinem Rücken, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Teil I
Der Sohn des Scharfrichters

Straßburg, am nächsten Morgen

Adelheid holte tief Luft und verließ das Kloster durch die hölzerne Pforte, eine schwere, mit Eisenbändern beschlagene Tür, die man in die Begrenzungsmauer eingelassen hatte. Grelles Sonnenlicht blendete sie, sobald sie den weiten Platz des Rossmarktes betrat. Aus diesem Grund wäre sie lieber im kühlen Schatten der hohen Mauern hinter ihr geblieben. Vor allem aber fühlte sie sich dort sicherer. Sie war achtzehn Jahre alt, und solange sie denken konnte, lebte sie bei den frommen Schwestern des Klosters St. Klara, das zu Ehren des heiligen Franziskus gegründet worden war. Das Gefüge aus mehreren Gebäuden und einer Kirche zählte zur Kongregation der Klarissen, dem zweiten Orden des Heiligen, und war eines der vielen Abteien, Stifte und Konvente, die sich in Straßburg angesiedelt hatten. Es war eine eigene Welt – und doch fester Bestandteil in dem großen Organismus der Stadt, die nun um einiges lauter als die gewohnte stille Einkehr der Schwestern in Adelheids Ohren lärmte.

Nichtsdestotrotz mussten hin und wieder Besorgungen gemacht werden. So manches Mal fiel ihr diese Aufgabe zu, denn ihr war es erlaubt, hin und wieder hinauszugehen, während die Ordensfrauen in strenger Klausur lebten und so gut wie nie das Kloster verließen. Besonders häufig wurde sie zu Gertrudis geschickt, einem alten Weib, das am Rand der Stadt wohnte, um von ihr eine Arznei oder eine Salbe zu besorgen. Sie wusste nicht, warum die Äbtissin der Alten vertraute, die bisweilen mehr an eine Hexe als an eine Heilerin erinnerte, doch Adelheid war sich sicher, dass sie ihre Gründe hatte. Sie jedenfalls besuchte Gertrudis gerne und fühlte sich auf seltsame Weise zu ihr hingezogen. Wenn nur der Weg dorthin nicht gewesen wäre.

Ein Durcheinander aus Menschen und Pferden, nach Futter suchenden Schweinen und umherlaufenden Hunden bedrängte sie, sobald sie den großen Platz vor dem Kloster betrat. Heute fand der wöchentliche Rossmarkt statt. Vorsichtig bahnte Adelheid sich einen Weg zwischen feilschenden Rosshändlern und potenziellen Käufern hindurch, ängstlich darauf bedacht, nichts zu übersehen, das sie zu Fall bringen konnte. Ihre Augen wurden immer schlechter. Nicht nur, dass das Licht sie blendete – die Konturen der Welt um sie herum begannen zu verwischen. Oft wusste sie nicht einmal so recht, was sich zu ihren Füßen befand. In der gewohnten, ordentlichen Umgebung des Klosters fand sie sich trotz ihres schlechten Augenlichts gut zurecht, aber hier auf dem belebten Platz wurden ihre Schritte unsicher.

Ihr Weg führte sie von den prächtigen Bauten der Innenstadt zu den ärmlichen Häusern der Gerber, Seifensieder und Färber am Ufer der Breusch. Adelheid rümpfte die Nase. Es war nicht die feinste Gegend, in der Gertrudis lebte. Ein durchdringender Gestank nach fauligem Fleisch, feuchter Wolle und bitterer Lohe lag in der Luft. Der Boden unter ihren Füßen war schlammig, denn in den frühen Morgenstunden hatte es kurz und heftig geregnet. Das am Fluss angesiedelte Handwerk tat sein Übriges. Die Menschen, denen sie begegnete, waren so schmutzig wie ihr Gewerbe. Mit Schindeln gedeckte Fachwerkhäuser säumten die schmalen Gassen. Man hatte sie ohne ein steinernes Fundament erbaut, und es war kein Geheimnis, dass es drinnen genauso feucht war wie draußen.

Vorsichtig setzte Adelheid einen Fuß vor den anderen, umschiffte eine Pfütze, die sie gerade noch erkennen konnte, und wich einem Mann mit einem Handkarren aus, der es ziemlich eilig hatte.

Als Gertrudis’ Heim in Adelheids verschwommenem Blickfeld auftauchte, gestattete sie sich einen Seufzer der Erleichterung. Doch dann rannten zwei Jungen in wildem Tempo an ihr vorbei, gefolgt von einem großen, gelben Hund, der freudig bellte. Adelheid zuckte zurück. Für einen kurzen Augenblick geriet sie aus dem Gleichgewicht, blieb an einem der Regenfässer hängen, die man unter eine Dachtraufe gestellt hatte, und stolperte dabei über ihre eigenen Füße. In dem Moment, als sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, griffen zwei starke Arme nach ihr und bewahrten sie vor dem Sturz in den stinkenden Matsch.

Als Adelheid den Blick hob, sah sie in das Gesicht eines Mannes. Ein beißender Geruch nach Tierhaaren ging von seinen dunklen Kleidern aus. Ihr verwaschener Blick erahnte die Weichheit seiner Züge und einen schwarzen Schimmer, der sein Kinn bedeckte. Unwillkürlich streckte sie die Hand aus, um das Gesicht zu berühren – um ein genaueres Bild zu ertasten. Er musste noch jung sein, wahrscheinlich war er nur wenig älter als sie.

»Soll ich Euch in den Finger beißen, oder gibt es einen anderen Grund, weshalb Ihr Eure Hand in mein Gesicht streckt?« Ein leicht belustigter Ton schwang in seiner Stimme mit, die unerwartet tief klang.

Adelheids Finger fuhren zurück, als ob sie sich verbrannt hätte. »Verzeiht ... ich wollte Euch nicht ...« Ihre Wangen röteten sich vor Verlegenheit. »Ich sehe nicht besonders gut, müsst Ihr wissen.« Die Worte sprudelten ungewollt über ihre Lippen. Ein heißer Schreck durchzuckte ihren Körper. Wie kam sie dazu, diesem Fremden solch persönliche Dinge zu erzählen?

Der junge Mann senkte den Blick. »Oh ... ich wusste nicht ...«

»Nun, woher solltet Ihr es auch wissen«, antwortete sie schroff.

Martin sah auf. Ihr Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen. Schöne, große, blaue Augen, die rund und fragend in die Welt blickten, in denen jedoch ein seltsamer Schimmer lag, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Überdies trug sie ein Gewand, das dem Habit einer Nonne glich: ein schlichtes Ärmelkleid aus verwaschener brauner Wolle, das ihr bis zu den Schuhen reichte und unter dem eine weiße Cotte hervorblitzte. Nur Binde, Schleier und Skapulier, der Überwurf einer Ordenstracht, fehlten. Eine Flut aus nussbraunem Haar fiel ihr, nach der Weise unverheirateter Frauen, offen über die Schultern, und in ihrer Miene lag eine naive Unschuld, die er selten zu Gesicht bekam – obwohl sie im Moment auch ein klein wenig ärgerlich blickte. Plötzlich wurde er sich seiner Arme bewusst, die den Rücken der Maid noch immer umschlungen hielten. Rasch ließ er sie los. Jetzt, da sie wieder aufrecht stand, sah er, wie klein sie war. Ihr Kopf reichte ihm gerade einmal bis zur Brust, doch ein nicht zu übersehender Stolz blitzte nun aus ihren Augen, der sie wesentlich größer erscheinen ließ.

»Ich danke Euch.« Ihre zarte Stimme klang pflichtschuldig. Sie nickte hoheitsvoll in seine Richtung.

»Es war mir eine Freude, Euch behilflich zu sein«, erwiderte Martin und setzte dann steif hinzu: »Gott schenke Euch noch einen guten Tag – und passt nächstes Mal ein wenig besser auf, wo Ihr hintretet.« Er nickte ihr höflich zu und ging dann seines Weges.

Noch ein wenig durcheinander von der Tatsache, dass sie beinahe gestürzt wäre, und der Begegnung mit dem jungen Mann brauchte Adelheid einen Moment, um sich zu sammeln. Schließlich strich sie ihren Rock glatt und ging vorsichtig die letzten Schritte zu Gertrudis’ Heim, einem winzigen Häuschen, dessen Dach mit dem Kot unzähliger Tauben besprenkelt war. Als Adelheid eintrat, brannte ein kleines Feuer in einer mit Ton ausgekleideten Grube. Sein Knistern vermischte sich mit dem Warnruf einer Elster, die aufgeregt mit den Flügeln schlug. Der schwarz-weiße Vogel saß auf seinem üblichen Posten neben der Tür, einem hohen Ständer mit einer Querstange, auf der er bequem Platz nehmen konnte.

Das Haus bestand aus einem einzigen Raum. In respektvollem Abstand zu den Flammen hingen unzählige Büschel getrockneter Kräuter von den Dachbalken. Ein Tisch, mehrere Haken und Regale, die sowohl Lebensmittel und Kochtöpfe als auch Mörser, Stößel, Töpfe und Tiegel für die Herstellung von Arzneien enthielten, füllten den größten Teil des Raumes. Nur eine winzige Ecke war einem Strohsack für die Nachtruhe vorbehalten – mehr benötigte Gertrudis wohl nicht.

Der alles überlagernde Geruch nach Rauch und Kräutern traf wie eine Flutwelle auf Adelheids empfindliche Nase. Thymian und Rosmarin, schoss es ihr durch den Kopf, vermischt mit Wildkräutern. Die alte Gertrudis ging oft vor die Stadtmauern, um in den Rheinauen nach den wilden Gewächsen zu suchen. Im Klostergarten wurden zwar auch ein paar Kräuter angebaut, doch Gertrudis konnte auf einen reicheren Schatz zurückgreifen und hatte das bessere Händchen, was ihre Verwendung betraf.

»Theoderich! Halt den Schnabel!«, tönte es von der Feuerstelle her.

Die Elster flatterte kurz mit den Flügeln und gab einen Ton von sich, der wie ein ärgerliches Keckern klang.

»Adelheid, sei mir willkommen.« Ein Schatten löste sich aus der rauchigen Düsternis und Adelheid erkannte die schmale Gestalt der Alten. Das markante Gesicht, aus dem eine scharf geschnittene Nase ragte, war selbst für sie erkennbar faltig. Adelheid nahm an, dass Gertrudis mindestens fünfzig Jahre alt sein musste. Ihre leicht gebeugte Haltung wies ebenfalls auf ein fortgeschrittenes Alter hin, doch Adelheid hatte es noch nie gewagt, sie nach der Summe ihrer Lebensjahre zu fragen.

Gertrudis’ Schritte schlurften über den gestampften Lehmboden. »Ich nehme an, die Ehrwürdige Mutter Otilia hat dich zu mir geschickt?«

Adelheid hörte das Lächeln in ihrer Stimme. Sie nickte. »Mutter Otilia braucht eine Salbe für das Reißen, das sie ab und an in den Knochen verspürt. Sie sagte, Ihr wüsstet schon, was sie braucht.«

Gertrudis wandte sich der Feuerstelle zu und begann, in einem Kessel zu rühren, der darüber hing. In seinem Innern simmerte etwas leise vor sich hin.

»Was braut Ihr da für einen Trank?«, fragte Adelheid interessiert.

Gertrudis lächelte. »Möchtest du es kosten?« Sie reichte Adelheid einen Löffel, den diese neugierig entgegennahm.

»Mmh, schmeckt sehr süß. Was ist das?«

Ein breites Grinsen überflog das Gesicht der Alten. »Schneckenschleim.« Sie hielt triumphierend eine rote Gartenschnecke in die Höhe, während Adelheid zu würgen begann. »Man kocht sie, bis sie alles von sich geben. Ein gutes Mittel gegen Halsschmerzen und hartnäckigen Husten. Der zähe Schleim kleidet wunderbar die Kehle aus.«

Eigentlich sammelte Gertrudis die Schnecken für ihre Enten. Hinter ihrem Haus befand sich ein kleiner Garten, der direkt an der Breusch lag. Dort hielt sie eine Handvoll der wasserliebenden Tiere, die mithilfe eines Gatters ein Bad im Fluss nehmen konnten, ohne dabei zu entwischen. Auch wenn ihnen die Schnecken vorzüglich schmeckten, war ihr Futter gewiss nicht nach jedermanns Geschmack.

Adelheid würgte und spuckte angewidert aus.

»Lass das sein! Du verkleckerst mir den Boden«, wies Gertrudis sie zurecht.

Viel zu retten war da jedoch ohnehin nicht mehr: Der Belag aus Binsen roch nach Moder, und an Adelheids dünnen Schuhsohlen klebten Dinge, von denen sie gar nicht so genau wissen wollte, was sie waren.

»Ich wusste nicht, dass sie süß schmecken«, keuchte sie.

Gertrudis verdrehte die Augen angesichts so viel Unwissenheit. »Ich habe Honig hinzugefügt, damit der Geschmack der Tiere übertönt wird. Die Kinder werden ihre Schnäbel wie kleine Vöglein aufsperren, sobald sie die süße Arznei gekostet haben.« Sie kicherte zufrieden vor sich hin. »Natürlich werde ich nicht verraten, was sie enthält.« Gertrudis rührte weiter konzentriert in ihrem Topf und schwieg eine Weile. »Du hast dich mit Martin, dem Sohn des Scharfrichters, angefreundet?«, fragte sie plötzlich.

»Mit dem Sohn des Scharfrichters?«, echote Adelheid verdutzt. »Wann soll das gewesen sein?«

»Gerade eben«, entgegnete die Alte. »Er hat dich davor bewahrt, hinzufallen.«

Entsetzt strich Adelheid über ihr Kleid. »Dieser Jüngling war der Sohn des Henkers?« Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. »Nicht auszudenken, dass er mich auch noch berührt hat.«

»Und was ist so schlimm daran?« Gertrudis schien diese Begegnung nicht im Mindesten aus der Ruhe zu bringen.

»Als Sohn eines Henkers ist er unrein«, erwiderte Adelheid schroff. »Eine Berührung kann großes Unheil nach sich ziehen.«

Gertrudis schnaubte. »Du musst lernen, wirkliches Unheil von Aberglauben zu unterscheiden. Sieh dich um. Jeder in dieser Gegend ist unrein. Sie alle betreiben ein Gewerbe, über das die Bessergestellten ihre Nasen rümpfen, aber sind sie deshalb schlechtere Menschen als du? Oder können sie mit einer bloßen Berührung dafür sorgen, dass dir etwas Böses geschieht?«

Trotzig schwieg Adelheid eine Weile, bevor sie schließlich nachhakte. »Und was ist Eurer Meinung nach ein wirkliches Unheil?«

Die Alte legte ihre Stirn in noch tiefere Falten. »Nun, das Schlimmste von allem wäre, wenn Gott sich von mir abwenden würde. Aber es gibt noch andere Dinge, die ebenso unheilvoll sind: Der Tod eines geliebten Menschen, eine Pestilenz, die ganze Landstriche auslöscht, eine ausbrechende Hungersnot oder wenn man eine unheilbare Krankheit erdulden muss ...«

Adelheid verzog bitter den Mund. »So wie ein sich verschlechterndes Augenleiden.«

Die Alte sah ihr forschend ins Gesicht. »Ist es schlimmer geworden?«

Adelheid kniff die Lippen zusammen und nickte.

Gertrudis hob ihre Hand und zog vorsichtig die Lider an einem der Augen des Mädchens auseinander.

»Die Eintrübung der Pupille wird deutlicher. Es sieht fast so aus, als ob eine gallertige Flüssigkeit darin schwimmt, so ähnlich wie der gekochte Schleim in meinem Kessel«, murmelte Gertrudis, während sie das Auge untersuchte. Den schockierten Ausdruck, den Adelheids Gesicht bei ihren Worten annahm, ignorierte sie. Schließlich schüttelte sie missbilligend den Kopf und seufzte. »Du hast den Star«, sagte sie bekümmert.

Eigentlich war Adelheid viel zu jung dafür, dennoch kam es manchmal vor, dass Menschen ihres Alters daran erkrankten. Die Trübung war noch nicht sehr ausgeprägt; bislang war sie wenig mehr als ein dünner Schleier. Mit der Zeit jedoch würde sie so milchig werden, dass man die schwarze Färbung der Pupille kaum noch erkennen konnte.

»Gibt es nicht irgendeinen Trank, den ich nehmen könnte?« Adelheids Stimme schwankte zwischen Hoffnung und Panik.

Die Alte schüttelte mitleidig den Kopf. »Zu meinem eigenen Verdruss muss ich gestehen, dass ich nichts dergleichen kenne. Ich würde dir so gerne helfen, aber gegen derlei Leiden ist kein Kraut gewachsen.«

Adelheid senkte den Kopf, um ihre aufsteigenden Tränen zu verbergen. »Bald werde ich überhaupt nichts mehr sehen können«, sagte sie leise. » Dann bin ich zu nichts mehr nütze.«

»Unsinn. Jeder Mensch ist zu etwas nütze und niemand wurde umsonst geboren. Du wirst deinen Platz im Leben finden.« Gertrudis nahm sie für einen kurzen Moment in die Arme. »Gott wird dir zeigen, wo du gebraucht wirst – und wer weiß, vielleicht heilt er dich eines Tages sogar.«

»Glaubt Ihr das wirklich?«

»Natürlich!«, erwiderte Gertrudis streng. »Alles andere wäre Ketzerei.« Nun war sie wieder ganz die Alte. Sie schob Adelheid von sich, strich die Schürze glatt, die sie über ihrem schlichten braunen Überkleid, dem Surcot, trug, und wandte sich ihrer Arbeit zu.

Wie die stachlige Hülle einer Kastanie, dachte Adelheid, während sie verstohlen ihre Tränen abwischte. Oft hatte man das Gefühl, sich an der rauen Schale der Alten zu verletzen. Nur selten drang man bis zum weichen Kern ihres Wesens vor. Was hat Euch nur so verletzt, dass Ihr so hart geworden seid?

Doch in Gertrudis’ Worten lag oft so viel Weisheit, dass Adelheid auf ihren Rat nicht verzichten wollte.

Da fiel ihr plötzlich wieder ein, was vor ein paar Stunden geschehen war. »Gestern Nacht ist ein Kind ins Kloster gekommen, ein kleiner Junge.«

»Und?«

»Kurze Zeit später ist er gestorben. Ich habe ein paar Schwestern darüber tuscheln hören, dass er eine grausige Verletzung hatte.«

»Was für ein Junge war das?«

»Er war einer von der Gasse.«

»Also ein Kind, das keiner haben wollte und das zu nichts anderem taugte, als den ehrlichen Leuten ihr sauer verdientes Geld aus der Tasche zu ziehen. Um solch eines ist es nicht schade.«

»Habt Ihr nicht gerade selbst gesagt, dass niemand umsonst geboren wurde?«, erwiderte Adelheid aufgebracht.

Gertrudis’ lenkte etwas zerknirscht ein: »Du hast recht. Gott vergebe mir mein lästerliches Schandmaul. Es steht mir nicht zu, über andere zu urteilen.«

Martin schlenderte der Stadtmitte entgegen. Er war im Auftrag seines Vaters bei einem der Gerber gewesen, bevor er auf die seltsame junge Frau gestoßen war, die ihm so unverhofft in die Arme fiel. Sie sah hübsch aus, doch es war etwas anderes, das ihn anzog. Etwas, das er sich nicht erklären konnte. Schlag sie dir aus dem Kopf, mahnte ihn eine innere Stimme, und er wusste, dass sie recht hatte. Auch wenn das zierliche Wesen nicht prächtig gekleidet war, so hatten ihre Manieren eine viel zu arrogante Herablassung an den Tag gelegt, um sich mit einem wie ihm abzugeben. Als ob sich überhaupt jemand mit dir abgäbe, höhnte die Stimme in seinem Kopf.

Der Besuch bei Andres, dem Gerber, war nur kurz gewesen. Sein Vater hatte ihn damit beauftragt, für den benachbarten Schinder ein paar frische Felle abzuliefern. Zurzeit starben mehr Tiere als üblich in den städtischen Ställen. Eine Pestilenz schien dort zu grassieren und der Schinder kam mit seiner Arbeit fast nicht mehr nach. Selbst seine beiden Knechte waren in diesem Fall zu wenig, doch man half sich gegenseitig, wenn Not am Manne war. Der Auftrag hatte Martin nichts ausgemacht. Er war es gewohnt, sich mit Dingen zu beschäftigen, die andere als ekelerregend empfanden. Doch der Gedanke an das, was er als Nächstes tun sollte, behagte ihm überhaupt nicht.

Bevor er bemerkte, was er tat, trugen ihn seine Füße in die entgegengesetzte Richtung an der Breusch entlang. Das Wasser des Flusses umschloss die Stadt in mehreren Ringen. An vielen Stellen lief man über Brücken oder in der Nähe des Ufers. Auch die Befestigungsgräben der Stadtmauer wurden mit seinem Wasser geflutet, und im Gerberviertel hatte man drei künstliche Kanäle angelegt, damit genügend Wasser für das dortige Handwerk vorhanden war.

Vom Flussufer lief Martin schließlich in die Gassen. Vater weiß ohnehin nicht genau, wann mich Andres gehen lässt, überlegte er. Er musste sich nur noch eine passende Ausrede einfallen lassen, falls er allzu lang unterwegs sein sollte.

Das Treiben um ihn herum nahm zu. Je näher er der Stadtmitte kam, desto breiter wurden die Gassen, durch die sein Weg ihn führte. Nur in den kleinen Seitengässchen schienen sich die auskragenden oberen Stockwerke der Häuser noch in der Mitte zu berühren. Hier gab es nicht viele, die ihn kannten, doch wer es tat, senkte den Blick und wich ihm aus, als ob die Pest an ihm haftete. Ohne ein bestimmtes Ziel gelangte er schließlich zum Barfüßerplatz, auf dem gerade der Wochenmarkt stattfand.

Schon in der Frühe waren die Bauern aus der näheren Umgebung in die Stadt gekommen, um auf der von hohen Gebäuden gesäumten Fläche ihre Waren zu verkaufen. Ein Durcheinander aus Körben, Kisten und Karren stapelte sich dort; Käse, Butter, Eier, Hühner, die ängstlich zwischen den Holzstäben ihrer Käfige hindurchgackerten, Honig, Äpfel, Lauch, Karotten, Kohl und vieles mehr wurde feilgeboten. Es war das Ende der Erntezeit. Eine Fülle an Waren und Lebensmitteln stand zur Verfügung, doch damit würde es bald wieder vorbei sein.

»Kommt nur näher, meine Dame«, rief ein Bauer hinter seinem mit Gemüse beladenen Karren einer feisten Städterin zu, die sich wie Martin von der Menge treiben ließ. »Auf dass Ihr die Köstlichkeit meiner Ware prüfen könnt. Ihr werdet noch ein steifes Genick bekommen, wenn Ihr weiter so sehr den Hals recken müsst.«

Das Gelächter der Umstehenden trieb eine tiefe Röte auf ihr von einem gefalteten Schleier umrahmtes Gesicht. Sie senkte rasch den Kopf und verschwand im Getümmel der Menge.

Das übliche Aufgebot an in Lumpen gehüllten Bettlern kroch zwischen Bauersleuten und Marktbesuchern umher: Jämmerlich kranke Gestalten, ausgemergelte Mütter mit Säuglingen auf dem Arm, Männer mit abscheulichen Wunden oder fehlenden Gliedmaßen und missgestaltete Kinder hielten bittend ihre Schalen empor.

Plötzlich entdeckte Martin einen Jungen, der zwischen den Röcken zweier Bäuerinnen hindurchschoss und sie dabei aus dem Gleichgewicht brachte. Eine von ihnen hielt einen großen, mit Eiern gefüllten Korb in den Händen, den sie mit einem kräftigen Schwung gerade noch davor bewahrte, auf dem Boden aufzuschlagen.

Die andere schnappte nach Luft und schob das Kopftuch aus der Stirn, bevor sich ein erregter Wortschwall aus ihrem Mund ergoss, der ihr Missfallen angesichts dieser Unverfrorenheit lautstark zum Ausdruck brachte: »Nun sieh sich das einer an! Fast hätte der freche Kerl zwei rechtschaffene Weiber zu Fall gebracht. Weißt du denn nicht, was sich gehört? Man sollte dir eine anständige Tracht Prügel verpassen!« Wütend schüttelte sie ihre Faust in die Richtung des Übeltäters.

Den Jungen kümmerten die aufgebrachten Worte der Bäuerin nicht, er jagte einem mageren, graugetigerten Kätzchen hinterher, bis er das Genick des Tieres zu fassen bekam. Mit einem geschickten Griff beförderte er es in seine Arme.

Martin, der sich zu dem Jungen durchgedrängelt hatte, schüttelte tadelnd den Kopf. »Levi! Ist das eine Art, sich zu benehmen? Was tust du überhaupt hier? Müsstest du nicht schon längst mit den anderen Jungen in der Synagoge beim Rabbi sein und lernen?«

Levi nickte. Das Kätzchen sträubte sich in seinen Armen und traktierte mit spitzen Krallen den Stoff seines Surcots, unter dem braune Beinlinge hervorlugten. Ungeachtet dieser Tatsache hielt er das widerspenstige Tier mit eisernem Griff, während sein Gesicht einen verdrießlichen Ausdruck annahm. »Ja, der Rabbi wartet sicher schon auf mich. Wahrscheinlich werde ich eine ziemlich unangenehme Strafe dafür bekommen, dass ich zu spät dran bin.« Doch dann trat ein triumphierendes Leuchten in seine samtbraunen Augen. »Aber ich habe Deboras Kätzchen gefangen. Es ist ihr entwischt. Ich konnte doch nicht zulassen, dass sie deswegen traurig ist.« Die Jagd nach dem vorwitzigen Ausreißer hatte Levi sichtlich außer Atem gebracht. Ein erhitzter Rotton lag auf den olivfarbenen Wangen. Seine Gugel war nach hinten gerutscht und offenbarte dunkle Locken, die schweißfeucht an der runden Stirn klebten.

Martin lächelte milde. »Das stimmt, das konntest du wirklich nicht.«

Levis Schwester Debora war zwei Jahre jünger als ihr achtjähriger Bruder. Sie hätte bittere Tränen vergossen, wenn das nur wenige Wochen alte Kätzchen, das sich inzwischen in sein Schicksal gefügt und sich im Arm des Jungen zusammengerollt hatte, nicht mehr zurückgekommen wäre. Doch für ein jüdisches Kind war es nicht ungefährlich, allein durch die Gassen zu ziehen – sofern man es als ein solches erkannte. Was dies betraf, befand sich Levi in einer ähnlichen Lage wie Martin. Ein erwachsener Jude musste in der Öffentlichkeit einen spitzen gelben Hut tragen, ein Scharfrichter auffällige rote, weiße und grüne Streifen auf Surcot oder Mantel, damit jeder wusste, mit wem er es zu tun hatte. Sobald Martin Geselle war, würde diese Kleiderordnung auch für ihn gelten; dann würden noch mehr Leute den Blick senken, wenn sie ihn sahen, oder ihn ganz meiden. Levi würde es nicht viel anders ergehen, sobald er erwachsen war. Auch den Juden wurde Misstrauen entgegengebracht. Viele hielten es für besser, wenn sie in ihrem eignen Viertel blieben. Juden und Scharfrichter waren ein notwendiges Übel – die einen brauchte man des Geldes wegen, die anderen, um Recht und Gesetz die notwendige Schärfe zu verleihen.

»Komm, bringen wir das Kätzchen nach Hause. Debora wartet sicher schon ungeduldig darauf.«

»Du kommst mit?« Levi klang erstaunt.

Martin lächelte. »Ich begleite dich ein Stück, dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten.« Seit einiger Zeit verband ihn mit dem Jungen, den es auch sonst kaum in der Enge der Judengasse hielt, eine innige Freundschaft. Levi war ein intelligenter Bursche, der mit der Einhaltung der gesellschaftlichen Normen ebenso viel Mühe hatte wie Martin.

»Gerne! Ich dachte nur, du hättest vielleicht keine Zeit.«

Hab ich auch nicht, dachte Martin. Doch Levi würde ihn zumindest vorübergehend von seinen finsteren Gedanken ablenken.

Sie schlugen den Weg zur Judengasse ein, der sie direkt vor das Münster führte. Die mit bunten Figuren und Ornamenten geschmückte Kathedrale war seit vielen Jahren eine gewaltige Baustelle und schraubte sich immer höher in den Himmel. Ein Heer aus Steinmetzen, Zimmerleuten und Maurern arbeitete unablässig auf riesigen Holzgerüsten, die einen Teil des Münsters umschlossen; wie eine Ameisenschar strömten die Männer in jeden Winkel des wuchtigen Gebäudes. Ihr Hämmern und Sägen vermischte sich mit dem missmutigen Gebrüll zweier Ochsen, die man vor einen schweren Karren gespannt hatte, damit sie über eine lange Rampe neues Baumaterial in eines der oberen Stockwerke zogen. Die Arbeit an der Katharinenkapelle, die an das südliche Seitenschiff angebaut wurde, war weit vorangeschritten. Auf der höchsten Plattform entdeckte Martin einen Kran. Er war mit einem großen Tretrad verbunden, in dem zwei Männer schwitzten und schnauften, während sie sich von Strebe zu Strebe hangelten. Die Kraft ihrer Beine reichte aus, um eine Winde in Bewegung zu setzen und die schweren Steine damit in die Höhe zu hieven. Mit dieser Technik war bereits das mächtige Langhaus errichtet worden und nun wurde die Arbeit an der Westfront des Gebäudes fortgesetzt. Die Kathedrale sollte zu einem der beeindruckendsten Bauwerke der Christenheit werden und den Ruhm der Stadt und ihrer Einwohner mehren. In der Mitte der Front, die in die Richtung des Münsterplatzes wies, prangte bereits eine Fensterrose, die ihresgleichen suchte.

Unbeeindruckt von der Schönheit dieses Anblicks erzählte Levi von dem behüteten Alltag in der Judengasse. Martin hörte ihm schweigend zu, brummte hier und da eine Bestätigung und ließ sich von Levis Worten in eine ihm fremde Welt tragen.

Das Kätzchen lag friedlich in den Armen des Jungen. Es schnurrte in einem tiefen, brummenden Ton und betrachtete das Geschehen aus trägen, smaragdgrünen Augen.

»Bitte sag niemandem, wo du mich gefunden hast«, raunte Levi, bevor sie in die Judengasse bogen, die ganz in der Nähe des Münsters lag.

Martins Lächeln wurde breiter. »Ganz bestimmt nicht.«

Der Junge würde nur noch mehr Schwierigkeiten bekommen, wenn herauskam, dass er sich wieder einmal unerlaubt aus der schützenden Gasse entfernt hatte. Martin zwinkerte ihm zum Abschied verschwörerisch zu, bevor er den Heimweg antrat. Auch für ihn war es höchste Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Das Haus des Scharfrichters stand in der Biekergasse, in der die Behausungen auf einer Seite vom zweiten Festungsring und auf der anderen durch das sandige Ufer der Breusch gesäumt wurden. Das Viertel lag am Rand der Stadt, weil das Gewerbe seiner Bewohner zum Himmel stank und häufig als fragwürdig erachtet wurde. Nur ein paar Häuser weiter gab es ein gemeines Frauenhaus, in dem die Dirnen ihrem Gewerbe nachgingen. Es reihte sich mühelos zwischen den ärmlichen Wohnstätten der Gerber, Seifensieder und Färber ein, die sich am Wasser angesiedelt hatten – in Gassen, die klangvolle Namen trugen wie Stinkende Gasse oder Rattengässel. Kesselflicker, Totengräber, Schinder und Türmer, Tagelöhner und Bettler zählten ebenfalls zu den Bewohnern des Viertels, genau wie Martin und seine Familie.

Das Haus, das Martin nun erreichte, war nicht einmal übel. Ein schönes Fachwerkhaus mit einer Scheune und einem Stall. Es gehörte der Obrigkeit, die es zum Zeichen dafür, dass Martins Vater seine Arbeit gut machte, bereitgestellt hatte. Ansehen brachte es ihnen trotzdem nicht. Niemand außer dem Henker und seiner Familie würde jemals darin wohnen. Es war für alle Zeit verunreinigt und verdorben.

Martin schnaubte. Nicht zum ersten Mal haderte er mit dem Schicksal, in solch eine Familie hineingeboren worden zu sein. Nicht, dass er seine Eltern nicht mochte, doch er hasste das Stigma, das mit dem Amt des Scharfrichters verbunden war und das ihn fast zu einem Geächteten machte.

Sein Vater Veit, ein großer, breitschultriger Mann, wartete bereits im Hinterhof auf ihn. Die buschigen schwarzen Brauen kräuselten sich missmutig über den dunklen Augen, als er seinen Sohn erblickte. »Da bist du ja endlich«, sagte er streng. »Hättest du nicht etwas zeitiger hier sein können?« Veits Mund verzog sich zu einem ungeduldigen Strich. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich mit dir üben will.«

Martin gab sich Mühe, angemessen zerknirscht dreinzuschauen, auch wenn er ganz anders empfand. »Bitte verzeiht, Vater. Ich bin aufgehalten worden.«

Veit knurrte mürrisch. Sein Haar war so dunkel wie das seines Sohnes, doch sein bartloses Gesicht trug oft einen bitteren Zug um den Mund, der ihm etwas Grimmiges verlieh. Die Rolle des finsteren Scharfrichters schien ihm auf den Leib geschnitten zu sein. Martin wusste nur zu gut, wie sehr er dem Mann ähnelte, der nun breitbeinig vor ihm stand.

Veit hatte einen Strick in der Hand, an dessen Ende ein junger weißer Ziegenbock gebunden war. Das Tier blickte Martin treuherzig entgegen und ließ ein freudiges Meckern ertönen, als es den Besucher erkannte. Martin nahm einen tiefen, unglücklichen Atemzug. Die Abgeschiedenheit des Hinterhofes war geradezu perfekt für das, was sie vorhatten. Ein hoher Holzzaun trennte ihn von der Gasse und den neugierigen Blicken der Vorüberziehenden ab. Nur der Wehrgang der Stadtmauer, der hoch aufragende Henkerturm und das zweistöckige Scharfrichterhaus, das zusammen mit Stall und Scheune den Hof begrenzte, gewährten einen Blick in sein Inneres.

Martins Hände zitterten, als er das Schwert seines Vaters entgegennahm. Das fachgerechte Durchtrennen der Halswirbel war etwas, das man viele Male wiederholen musste, bis es fehlerlos gelang. Als er kräftig genug war, hatte er damit begonnen, die richtige Handhabung der schweren Klinge einzuüben, die an einem Ehrenplatz in der Stube hing. Zuerst waren es Rüben gewesen, dann die dünnen Triebe junger Bäume, die in ihrer Stärke dem Gefüge von Halswirbeln, Muskeln und Sehnen ähnelten. Anfangs war er unbeholfen; mehrmals hatte er seinen Vater, der bei diesen Übungen die Rolle des Henkerknechts übernahm, in Gefahr gebracht. Als Martin sicherer wurde, hatte Veit zwei Rüben auf einen Faden gezogen, den er genau an der Stelle durchtrennen sollte, an der sich die beiden Knollen berührten. Nun, da er dies konnte, sollte heute eine Ziege die Rolle des Übeltäters übernehmen.

Martin war nicht wohl dabei. Er hatte das Böckchen monatelang gefüttert, und es blickte ihm so treuherzig wie immer entgegen. Natürlich wusste er, dass das Tier eines Tages geschlachtet werden musste, aber dass es ausgerechnet von seiner Hand sterben sollte, bedrückte ihn. Ein beklemmendes Gefühl kroch seine Kehle hinauf, als er das Schwert aus der hölzernen, mit Leder umhüllten Scheide zog. Krampfhaft schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter. Er war achtzehn Jahre alt. Ein Mann, der keine Schwäche zeigen durfte.

»Und nun tu dein Werk«, forderte sein Vater schroff. »Denke immer daran, dass du nur der Nachrichter bist, der Carnifex. Du führst das aus, was das Gericht beschlossen hat. Du tust das Werk Gottes, damit seine Ordnung wiederhergestellt wird. Der Nachrichter gibt den Lohn, den ein sündiger Mensch zu erwarten hat – zum Heil der verbrecherischen Seele und zur Warnung für andere.«

Martin räusperte sich, bevor er antwortete. »Und welch schwere Sünde hat die Ziege begangen?«, fragte er spitz. »Hat sie ihren Darm an der falschen Stelle entleert oder sich eines anderen Vergehens schuldig gemacht?«

»Hör auf damit und tu es endlich«, befahl sein Vater aufbrausend. Ein Anflug von Zornesröte kroch seinen Hals hinauf. »Wie soll aus dir ein anständiger Scharfrichter werden, wenn du nicht übst?«

Wer sagt denn, dass ich überhaupt einer werden will, dachte Martin erbittert, doch es war besser, den Mund zu halten. Es blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig, als in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

»Es ist doch nur eine Ziege. Ein gefühlloses Vieh, das dazu geboren wurde, getötet und verzehrt zu werden«, donnerte sein Vater weiter. »Es ist ihre Bestimmung, verstehst du? So wie es deine ist, einem Verbrecher mit einem einzigen Schlag den Kopf vom Rumpf zu trennen.«

Martin blickte auf das Richtschwert. Ein schönes, sorgsam ausbalanciertes Stück mit einer kurzen Parierstange, einer abgerundeten Spitze und einer Blutrinne. Der Schmied hatte den gekreuzigten Christus auf die Klinge graviert. In den Augen der meisten degradierte es Martin dennoch zu einem gemeinen Schlächter. Für einen Moment erwog er, das Schwert einfach in seine Scheide zurückzuschieben und sich davonzumachen. Doch er verwarf diesen unwürdigen Gedanken. Sein Vater hatte recht. Er musste lernen, eine Enthauptung sauber auszuführen, ohne »putzen« zu müssen, wie es unter Scharfrichtern hieß; ein fast lieblicher Ausdruck für die Pflicht, ein zweites oder drittes Mal zuschlagen zu müssen, was dem armen Sünder unnötige Qualen bereitete.

Seufzend hob er das Schwert und schwang es ein paarmal durch die Luft, um das richtige Gefühl dafür zu bekommen. Seine Augen verengten sich und blickten konzentriert auf den Hals der Ziege. Sie meckerte freudig, stand aber ruhig da, ohne die geringste Ahnung, was ihr bevorstand. Veit griff nach den kurzen Hörnern des Tieres und hielt seinen Kopf still. Nur einen Atemzug später schlug Martin zu.

Der Körper des Tieres verlor den Halt und sackte zu Boden, als er ihm mit einem sauberen Schlag den Kopf vom Rumpf trennte. Blut schoss aus der großen Wunde und besudelte das weiße Fell.

Sein Vater klopfte ihm zufrieden auf die Schulter. »Gut so, mein Junge. Wir werden es noch viele Male üben, damit du deiner Sache immer sicherer wirst. In ein paar Tagen wirst du mir außerdem bei der peinlichen Befragung zur Seite stehen.«

Martin nickte verdrießlich. Eine der Dirnen aus dem benachbarten Frauenhaus und ein allseits bekannter Dieb wurden eines abscheulichen Verbrechens beschuldigt: Sie hatten die letzten Tage im Henkerturm verbracht, und es war mehr als wahrscheinlich, dass sie ihn nur zu ihrer eigenen Hinrichtung wieder verlassen würden. Angeblich hatte die Dirne Kunigunde ihr wenige Stunden altes Kind an Utz verkauft; der soll dem Säugling die Hand abgetrennt und ihn anschließend getötet haben. Die Sache flog auf, als eine der Hübschlerinnen diese Vermutung Martins Vater zuflüsterte, denn zu den Aufgaben des Scharfrichters gehörte auch die Aufsicht über das Frauenhaus. Als man Utz verhaftete, befand sich ein winziges, mumifiziertes Händchen in seinem Beutel. Der alternde Dieb hatte natürlich keinen blassen Schimmer, wie es dorthin gelangt war. Kurz zuvor hatte man ihn jedoch prahlen hören, dass es ihn unsichtbar machen würde, sobald er seinen Geschäften nachging. Was den Rest der Geschichte betraf, so schwiegen die beiden beharrlich. Falls es stimmte, war es nur gerecht, wenn die Missetäter bestraft wurden. Es war grauenvoll, ein Kind zu entsorgen, und noch schlimmer, es auszuschlachten, als ob es sich dabei um ein Stück Vieh handelte.

Falls es also zu einer Hinrichtung kam, würde Martin das auf jeden Fall leichter fallen als das Enthaupten der Ziege. Vielleicht war es doch nicht so schwer, einen Menschen zu richten. Man musste sich nur vor Augen halten, was er zuvor angestellt hatte.

Die Glocke läutete zur Sext, als Adelheid kurz vor der Mittagsstunde mit der Salbe zurückkehrte. Sie schloss sich den in ihre braunen Gewänder gekleideten Ordensfrauen an und folgte ihnen durch den Kreuzgang in den Chorraum der Kirche. Die Gemeinschaft bestand aus zwanzig Schwestern und acht Oblatinnen, zu denen auch Adelheid gehörte.

Der tägliche Ablauf des Klosterlebens war ihr längst in Fleisch und Blut übergegangen. Sie war noch sehr jung gewesen, als eine der Schwestern sie vor der Pforte des Klosters fand; ein kleines Kind, um das sich niemand kümmerte. Die Nonnen hatten sich ihrer erbarmt und sie in ihre Gemeinschaft aufgenommen. Als Kind hatte Adelheid sich oft gefragt, warum gerade sie auf diese geheimnisvolle Weise hierher gefunden hatte, wo das Kloster doch ausschließlich den Töchtern höherer Stände vorbehalten war, die gegen eine Mitgift Oblatinnen wurden. Doch keine der ehrwürdigen Schwestern schien sich daran zu stören. Alle behandelten sie, als wäre sie wie die anderen bei ihren Eltern aufgewachsen, und freuten sich an der Gegenwart ihrer gelehrigen Schülerin. Vielleicht betrachteten die Ordensfrauen sie ja auch als einen Teil der Armenfürsorge, die zu den Statuten des Klosters zählte. Diese Fürsorge geschah normalerweise in Form von Almosen, die sie an Bedürftige verteilten, eine der wenigen Unterbrechungen der strengen Klausur, in der die Klarissen lebten.

Jedenfalls war Adelheid hier in einer Welt aufgewachsen, in der sie so selbstverständlich ihren Weg ging wie die Jünger, die Christus auf Erden begleitet hatten. Sie war geschützt vor der brodelnden Unsicherheit der Stadt und etwas, das noch viel bedeutender war: der ewigen Verdammnis.

Noch gehörte sie zu den Oblatinnen, doch bald würde sie den weißen Schleier einer Novizin anlegen. Freudig stimmte Adelheid in den Lobgesang und die Psalmen ein, die für das Chorgebet der Sext vorgesehen waren.

Nach dem Gotteslob verließ sie die Kirche mit Schwester Blandina, deren magere Gestalt von einem weiten Skapulier umhüllt wurde. Sie war fünf Jahre älter als Adelheid und hatte ihr Ordensgelübde, die Profess, schon vor drei Jahren abgelegt. Ein brauner Schleier lag über der weißen Binde, die ihr Haupt bedeckte.

»Du warst heute in der Stadt?«

Adelheid nickte.

»Und wie sieht es dort aus?« Adelheid bemerkte die Neugier in Blandinas Stimme.

»So wie immer«, erwiderte sie nüchtern. »Vollgestopft, dreckig und laut.«

Die magere Nonne knuffte sie spielerisch in die Rippen. »Ach, Adelheid, du weißt es gar nicht zu schätzen, vor die Tür gehen zu dürfen. Was würde ich darum geben, wieder einmal in das Gewühl der Menschen eintauchen zu können.«

Adelheid brummte. Immerhin konnte Blandina gut genug sehen, um sich zurechtzufinden. Überdies stammte sie aus einem adligen Haus, hatte Speisen gekostet, von denen Adelheid nicht einmal zu träumen wagte, und das pralle Leben eines reichen Haushalts genossen. Auch nach Jahren tat sich Blandina noch schwer damit, sich in das Klosterleben einzufügen, das ihr Vater für sie bestimmt hatte.

»Stattdessen soll ich nach dem Mittagsmahl den Jungen für das Begräbnis herrichten«, fuhr Blandina fort.

Adelheid musterte sie interessiert. »Kann ich dir helfen?«

Blandina schien eine Weile zu überlegen, dann lächelte sie. »Wusste ich es doch, dass ich dich damit neugierig machen kann.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer flachen Brust. »Nun, warum auch nicht? Es ist überaus lehrreich, sich mit dem Tod zu beschäftigen.«

»Sobald ich Mutter Otilia die Salbe gebracht habe, komme ich zu dir.«

»Gut«, erwiderte Blandina, »aber zuerst sollten wir etwas essen. Das Leben ist schon karg genug.«

Der Junge lag in dem kühlen Kellergewölbe, das für die Waschung Verstorbener vorgesehen war. Blandina hatte den leblosen Körper entkleidet, dessen wächserne Haut im Licht mehrerer Talglichter schimmerte.

Adelheid trat vorsichtig näher und betrachtete das tote Kind, das vor ihr auf einem Tisch lag. Wie immer sah sie schlecht, doch sie erkannte die Züge in dem hübschen Gesicht, die friedlich und gelöst wirkten, weichgezeichnet durch das Verblassen der Konturen. Ein Wust aus lockigen Haaren kringelte sich bis weit in den Nacken und glänzte wie flüssiges Gold. Das Kind sah aus wie ein Engel.

»Der arme Junge«, sagte sie. »Er scheint selten in den Genuss eines vollen Bauches gekommen zu sein.«

In der Tat war er sehr dünn. Die Rippen stachen deutlich hervor, und der Nabel sank so tief nach innen, dass Adelheid das Gefühl hatte, er müsse die Wirbelsäule darunter berühren. Auf der Haut an Brust und Armen zeichneten sich schwarze Male ab, die von Misshandlungen zeugten.

Adelheid war es gewohnt, ihr schwächer werdendes Augenlicht durch ihre übrigen Sinne auszugleichen. Jetzt verließ sie sich vor allem auf ihren Geruchs- und Tastsinn. Sie nahm den schweren Geruch des Blutes wahr, das an Fäulnis und Tod erinnerte. Mit den Fingerkuppen strich sie über die Haut des Jungen, spürte die Feuchtigkeit, die der Lappen hinterließ, mit dem Blandina ihn wusch. Er hatte zu den Ärmsten der Armen gehört. Ein Gassenkind, um das sich niemand kümmerte und das allen im Weg war. Wahrscheinlich war sein Leben ein einziger Kampf gewesen. Ein eisiger Stich traf Adelheids Herz. Wenn die Nonnen sie nicht aufgenommen hätten, wäre es ihr ebenso ergangen. Vermutlich wäre sie schon längst tot.

»Was ist nur mit dir geschehen?«, flüsterte sie seltsam berührt. Sie spürte, wie ihr vor Mitleid Tränen in die Augen stiegen und ihre Wangen benetzten.

»Hilf mir, ihn umzudrehen«, unterbrach Blandina ihre Gedanken.

Der kleine Körper lag schwer in ihren Armen, als Adelheid ihn anhob, um ihn auf den Bauch zu legen. Der Geruch wurde stärker, da der Rücken des Jungen über und über mit getrocknetem Blut bedeckt war. Adelheids Finger tasteten vorsichtig die verkrusteten Spuren entlang und fanden schließlich eine Wunde; ein klingenbreiter Schnitt, nein, eher der Stich einer Klinge, die zwischen der Wirbelsäule und der rechten Schulter eingedrungen war. Einer ihrer Finger fuhr tief in den schräg nach unten führenden Stichkanal.

Plötzlich spürte sie Blandinas Unbehagen. Als Adelheid aufsah, bemerkte sie, dass die Nonne ihr einen ungläubigen Blick zuwarf.

»Was tust du da?«, fragte sie höchst verwundert.