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Ela Maus

Schattenwölfe VI

Mit Blut besiegelt


Dieser Band ist für Kathrin, Mike, Jamie, Adrien, Demet, Marvin und Julian. Danke für eure Unterstützung und das schweigsame Belächeln meiner Arbeitszeit-Gestaltung.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vor dem Abgrund

Kimberly

 

Wie kleine Propeller drehten sich die blutroten Blätter, als sie aus meiner Hand glitten. Ich beobachtete wehmütig, wie sie sich mit den anderen Blüten zu einem wunderschönen Mosaik verbanden, welches den Sarg schmückte. Dabei dachte ich an die Person, die darunter lag. Ein Bachlauf heißer Tränen floss an meiner Wange hinab und erhitzte meinen Körper, der ansonsten von Wut und Trauer erschüttert wurde.

Erst lange nach meiner Verwandlung in einen Wolf und meinen Versuchen, Liam aus seiner Ohnmacht zurückzuholen, hatte ich von all denen erfahren, die in dem Kampf gefallen waren. Rufus, Luna und Emile hatten ihre Leben für das von Liam gelassen. Zwei von ihnen waren bereits vollständig unter Erde und Blumen begraben worden. Lunas Sarg wurde bisher nur von den Blüten bedeckt, die unentwegt aus traurigen Fingern nachgeworfen wurden. Mit ihr war nicht nur eine treue Seele, sondern auch eine starke magische Fähigkeit von uns gegangen, was mir ein schuldiges Gefühl auferlegte, obwohl ich wusste, dass sie alle freiwillig mit in den Kampf gezogen waren.

»Wir hätten ihre Visionen in dieser Zeit gut gebrauchen können«, hatte ich Chiel sagen hören, als er mit seiner Truppe von der Suche nach Jerome und Chart zurückgekommen war. Sie waren noch in derselben Nacht losgezogen, um die Fährte unserer Feinde aufzunehmen, hatten dann aber erfolglos in die Werwolfsvilla in Wheeler zurückkehren müssen, da sich die Spur schon nach wenigen Kilometern verloren hatte.

Ich erinnerte mich gut an die steinernen Gesichter in den Räumlichkeiten des kleinen Hauses im Wald. Sie hatten mich angestarrt wie verlorene Seelen, welche noch in den toten Körpern steckten, weil sie bei all dem Leid um sie herum nicht dazu in der Lage gewesen waren, hinfort zu fliegen. Leere Augen hatten von jedem Winkel aus in mein Gesicht geblickt. Sie hingen auch jetzt in meiner Erinnerung, während ich die letzten Blütenblätter aus meinen Fingern gleiten ließ und mich seufzend von dem Grab abwandte.

Zwei warme Hände griffen nach den meinen und zogen mich vorsichtig ein paar Schritte weiter, wo ich vor Marlon verharrte und mich mit nassen Wangen an seinen dunklen Mantel lehnte. Dabei konnte ich gut beobachten, wie die Werwölfe mit traurig hängenden Schultern um das offene Grab herumschlichen, hier und da bedauernde Worte murmelten, Blüten in das Loch warfen und sich dann bekümmert zurückzogen. Keiner von den schwarzen Gestalten wirkte lebendig. Es war, als hätte der Tod unserer Mitbewohner ein tiefes Loch in unsere Gemeinschaft gerissen, das noch einige Zeit brauchen würde, um wieder zuzuwachsen.

So ähnlich musste es auch in Wheeler sein, wo wir noch gestern der Beerdigung zweier mir unbekannter Werwölfe beigewohnt hatten. Marlon hatte sie gekannt, weshalb ich mir das Leid der kleinen Werwolfsgemeinde überhaupt angetan hatte. Danach war unsere Gruppe zurück nach Silver Bay gefahren, damit wir hier die vielen Verletzten versorgen konnten. Auch heute, zwei Tage nach dem Massensterben im Wheeler-Wald, lagen noch einige Werwölfe im Koma, gequält von dem Werwolfsgift. Es hatte viele von uns erwischt, wobei eine erste Auswertung gezeigt hatte, dass deutlich mehr Gegner gestorben waren als Werwölfe unserer Seite. Diese Erkenntnis tröstete mich keineswegs.

»Komm«, hauchte Marlon in die kalte Luft um uns herum, sodass weiße Wölkchen vor meinem Gesicht entstanden, »wir gehen nachhause«.

Ich wusste nicht, ob ich wirklich schon gehen wollte, aber die Wärme seiner Hand ließ mich auf Gleiches im Golfhouse hoffen, daher drängte ich mich Halt suchend an seine Seite, als er losging. Mir kam es so vor, als wäre es schon längst zu einer traurigen Tradition geworden, dass wir nach einer Beerdigung nicht als Wolf zurück ins Haus liefen, sondern den Weg als Mensch antraten. Unter all den schneebedeckten Tannenzweigen hindurch hatte dieser Marsch sogar etwas Anmutiges.

Im Golfhouse trennten Marlon und ich uns. Er wollte eine Kleinigkeit zu essen holen, während mich mein Weg nach rechts, zur Tür des Krankenzimmers, führte. Einen Moment zögerte ich, als mein Blick weiter den Gang runter fiel, hin zu der anderen Tür, die zum Wasch- und Chemieraum führte. Dort unten in dem provisorischen Lazarett warteten etliche Verletzte aufs Erwachen. Den gefangengenommenen Werwolf, der schon seit Monaten im Keller vor sich hin lebte, hatten Nagur und Lucas weggebracht. Wohin wusste ich nicht.

Ich seufzte, als ich ins Krankenzimmer eintrat, in das Liam verlegt worden war, weil uns seine Krankheit lange nicht so bekannt war wie die der unten verweilenden Werwölfe. Eine leise Melodie strömte mir entgegen, als ich die Tür hinter mir zumachte und unschlüssig mit den Augen durch den Raum fuhr.

Dass Eve hier neben Liam gewartet hatte und scheinbar noch immer unbewegt auf ihrem Platz saß, war mir schlüssig. Nicht aber der Fernseher, der plötzlich vor Clarus‘ Schränken auf dem Boden stand; angeschlossen an eine Steckdose über dem kleinen Waschbecken, die ihm Strom zusteuerte, damit er einen Radiokanal abspielen konnte. Von seinen Lautsprechern aus drangen in einer angenehmen Lautstärke Melodien in den Raum.

Eves türkise Augen wirkten müde, als ich sie verwundert anblickte. Vielleicht erkannte sie das Rot, welches noch immer meine Iris zierte oder sie sah die Rückstände der Tränen. Jedenfalls veranlasste sie irgendwas dazu, die Situation herab zu spielen: »Ich denke, er kann uns vielleicht hören, wenn wir mit ihm reden. Aber ich wusste irgendwann nicht mehr, was ich ihm noch erzählen sollte. Also wollte ich ein Radio holen. Es war aber keiner hier, der mir sagen konnte, wo eins ist.«

»Ist das der Fernseher aus seinem Zimmer?«

Sie nickte ein bisschen verunsichert.

Mit gerunzelter Stirn schob ich mich auf die Matratze zu meinem Sohn und zupfte seine Decke zurecht, die ihm über der Brust lag. »Ist er zwischendurch aufgewacht?«

»Einmal ganz kurz«, erwiderte sie. »Aber da war er kaum ansprechbar. Ich glaube nicht, dass er überhaupt bemerkt hat, dass ich hier bin, bevor er wieder ohnmächtig wurde.«

Mein Mund verzog sich leidvoll, als ich mir erneut vorstellte, wie es für ihn sein musste. Immer wieder erwachte er kurz aus seinem komaartigen Schlaf, nur um orientierungslos in die Luft zu starren. Manchmal erkannte er uns und schien zu verstehen, was mit ihm passierte, und manchmal konnte er sogar ein paar Wörter sagen. Doch immer endeten diese kurzen Augenblicke mit dem schwachen Zufallen seiner Augenlider, woraufhin er sich wieder in seiner Hilflosigkeit verlor.

»Habt ihr schon mit Jeff geredet?«, wollte Eve wissen. Sie zog sich ihre Beine auf die Sitzfläche des Stuhls, was ihrer Größe nach kein Platzproblem darstellte.

Ich nickte leicht, während ich meinen Blick auf Liams Gesicht heftete. Es war von Schweißperlen behaftet, wohingegen seine Hand eine Eiseskälte aufwies, die nicht zu der Hitze seines Kopfes passte. »Ja. Er sucht etwas, mit dem er Liam helfen kann. Einen Trank oder sowas, der ihm seine Magie zurückgibt und ihm Energie spendet.«

»Er soll sich lieber beeilen«

Ich seufzte und hob Liams Hand zu meinen Lippen, um einen wehmütigen Kuss darauf zu hinterlassen. »Ja, ich weiß.«

Keiner wusste, wie lange er diesen Zustand noch durchstehen konnte. Laut Clarus waren seine körperlichen Werte so weit in Ordnung, dass er aus medizinischer Sicht schon längst wieder auf den Beinen sein müsste. Allerdings hatte er ganz offensichtlich nicht die Kraft, seine Augen länger als ein paar Sekunden offen zu lassen und so lange bei Bewusstsein zu bleiben, bis er uns erzählen konnte, was in seinem Innern vorging. Solange er ohnmächtig war und kein Essen zu sich nehmen konnte, würde ihm das Erwachen mit der Zeit immer schwerer fallen. Clarus tippte auf einen Mangel an Magie, welche ihm bei Charts Auferstehung massenhaft entzogen worden war. Liam war nun wie eine Pflanze, der man all‘ ihr Wasser verwehrt hatte. Nur besaßen wir keine passende Gießkanne, um welches nachzuschütten und sie zu retten.

Weil ich meinen Blick unentwegt auf seinem Gesicht liegen hatte, bemerkte ich das zaghafte Zucken seiner Lider sofort. Die Augäpfel darunter bewegten sich ein paar Mal hin und her, bevor ein schmaler Spalt der Wolken zu sehen war, die ein paar Sekunden später vollständig zum Vorschein kamen.

»Hey«, stieß ich mit einem ganzen Schwung an Liebe hervor und drückte schnell seine eiskalte Hand, damit mehr Reize auf ihn einströmten. Vielleicht würde er dann ganz bei uns bleiben können. Eve rückte sofort an das Bett heran und ihre schmalen Finger platzierten sich unmittelbar über meinen an seinem Handgelenk.

Liams Augen zuckten einige Male umher, bis sie mich erfassten. Danach flogen sie zu Eve und wieder zurück, ehe sie sich schlossen. Ich dachte schon, dieser kurze Anflug von Bewusstsein wäre alles, was ich heute von ihm sehen würde, doch auch mit geschlossenen Augen wirkte sein Atem viel lebendiger als zuvor. »Hey«, kam schließlich rau aus seinem Mund, obgleich die Lider verschlossen blieben.

»Wie geht’s dir?«, fragten Eve und ich im selben Moment die gleiche Frage.

Er bewegte sich etwas, so als würde er eine bequemere Position im Bett suchen, woraufhin ein paar Millimeter der blauen Iris wieder sichtbar wurden. Dann kippte sein Kopf jedoch zur Seite weg und Liam wurde wieder zu einer schlafenden Hülle.

Seufzend ließ ich seine Finger los, woraufhin ich mir durch die Haare fuhr. Wieder strömte dieses enttäuschte Gefühl durch meinen Körper, das mich wünschen ließ, das alles hier wäre vorbei.

Die Augen des kleinen Mädchens hefteten sich verzweifelt auf meine, wobei ihre Finger weiterhin an Liams Handgelenk festhingen, als hoffte sie darauf, dass ihn das zurückholen würde. Mich erinnerte diese klammernde Haltung an die beiden, als sie noch kleiner gewesen waren und gemeinsam Hand in Hand durch das große Golfhouse getrappelt waren. Jung und unschuldig waren sie da gewesen. Unwissend und glücklich.

»Hör mal, Eve«, begann ich, wobei ich mir alle Mühe gab, gefasst zu klingen. »Ich kann die Anrufe deiner Eltern nicht mehr ewig ignorieren.«

Ihr Gesicht verfinsterte sich augenblicklich. »Nur noch so lange, bis er wieder auf den Beinen ist.«

Der Atem verließ geräuschvoll meinen Mund, als ich mich auf dem Bett so drehte, dass ich frontal zu ihr saß. Natürlich tat sie mir leid und natürlich verstand ich, dass sie bei Liam bleiben wollte. Aber genauso konnte ich die Sorgen ihrer Eltern nachvollziehen. »Wir wissen doch gar nicht, wie lange dieser Zustand noch andauern wird. Vielleicht wird er morgen gesund, vielleicht erst in ein paar Monaten. Du kannst hier nicht so lange warten, ohne nicht wenigstens einmal mit ihnen gesprochen zu haben.«

»Wenn es mit einer einfachen Aussprache getan wäre, wäre ja alles gut«, seufzte sie niedergeschlagen. Ihre Finger schlossen sich fester um Liams Handgelenk, als wollte sie sich an ihm festschrauben, damit ich sie nicht fortschicken konnte. »Aber du weißt nicht, wie sie sein können, wenn sie sauer sind. Und das sind sie ganz sicher.«

»Vielleicht wären sie auch einfach froh, dich wiederzuhaben.«
Ich wäre ganz sicher froh darüber, wenn Liam zu mir zurückkäme, mal ganz abgesehen davon, dass Marlon und ich ein ganz anderes Verhältnis zu ihm hatten als Eve zu ihren Eltern.

Sie bestätigte mir das mit einem verächtlichen Schnauben. »Ganz sicher nicht.«

Gerade wollte ich meinen Mund öffnen, um ihr Hoffnung zu machen, dass es doch so war, da klopfte es an der Tür. Allerdings wartete niemand ab, ob ich ihn hereinbat. Stattdessen wurde die Tür direkt aufgeschoben und ein unsicher dreinschauender Kopf streckte sich durch den Spalt. »Kim? Evelynn?«, fragte Jude, der seine Augen suchend durch den Raum kreisen ließ, bis sie an uns hängen blieben. »Da ist jemand, der …«

Weiter kam er nicht, da drang vom Flur aus schon Steffens Stimme durch den Türspalt: »Evelynn!«

Unsere Augen trafen sich und in Eves Blick entflammte sofort pures Entsetzen. Glaubte sie etwa, ich hätte ihren Eltern Bescheid gesagt? Zu mehr Gedanken kam ich gar nicht, da wurde die Tür schon aufgestoßen. Steffen schubste Jude beiseite und eilte wie ein wütender Stier auf seine Tochter zu, um diese am Arm zu packen. Er wollte sie mit sich hinausziehen.

»Was fällt dir eigentlich ein? Glaubst du, du kannst dich ewig vor uns verstecken?«, brüllte er sie an, sodass ich trotz meiner Schockstarre zusammenzuckte.

Eve selbst war zu einem winzigen Bündel aus Kleidung geworden, das sich am Bettrand zusammenkauerte. Nur ihre zwei kleinen Hände waren noch zu sehen. Sie klammerten sich hilflos an Liams Handgelenk und blieben dort selbst dann hängen, als Steffen an dem Arm zerrte und das Bündel vom Stuhl ziehen wollte. »Lass mich«, drangen zwei verzweifelte Worte unter Eves Haaren hervor.

»Du kommst jetzt auf der Stelle mit uns nachhause, Madame.«

Der zwiegespaltene Ausdruck in Charinas Gesicht, welche jetzt im Türrahmen erschien, drückte irgendwas zwischen wütender Entrüstung und unsicherer Scham aus. Sie verharrte dort und betrachtete unschlüssig, wie ihr Mann an Eves Körper zerrte, der weiterhin an Liam hing. Eve stürzte sich auf darauf, um mehr Halt zu haben und begann zu wimmern, als Steffen knurrte: »Was soll das hier werden?«

Ich brauchte noch ein paar Sekunden, um zu verstehen, was ich tun musste. »Steffen«, stieß ich dann endlich hervor. »Lass sie los. Wir klären das in Ruhe.«

Sein Kopf fuhr schnaubend zu mir herum, doch die starken Finger lösten sich keinen Millimeter von seiner Tochter. »Du hast schon genug getan. Halt‘ dich gefälligst aus unseren Familienangelegenheiten raus.«

Überrascht über den forschen Ton stockte ich. Das letzte Mal, als ich mit ihm und Charina gesprochen hatte, war am Telefon gewesen. Wir hatten uns darüber ausgetauscht, wie wir unsere Kinder am besten und sichersten nach Birmingham schicken konnten. Zwar war mir auch da schon aufgefallen, dass die beiden dieser ganzen Schul-Idee nicht sehr offen gegenüberstanden, doch unser Gespräch war freundlich und vertrauensvoll gewesen. Immerhin hatten unsere Kinder im Mittelpunkt gestanden. Jetzt gerade hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass Eve im Mittelpunkt stand. Vielmehr schien es um eine persönliche Ehrensache zu gehen, die zwischen mir und den beiden entstanden war.

»Dad, bitte«, wimmerte die Kleine, als sich ihre zarten Finger nicht mehr fest genug an Liam halten konnten und sich dem brutalen Ziehen ihres Vaters nachgaben. Sie rutschte vom Stuhl und landete wackelig auf ihren Beinen, nur um noch in derselben Sekunde mitgezogen zu werden.

Entgegen ihres ziemlich böswilligen Gesichtsausdrucks war Charinas Stimme ein bisschen empört, als ihr Mann Evelynn derart grob aus dem Krankenzimmer zog. »Steffen«, mahnte sie ihn leise, aber dieser Einwand war nur ein zarter Windhauch gegen einen großen Berg.

»Ich will nicht«, jammerte Eve, wobei ihre Tränen alles waren, was im Krankenzimmer von ihr übrig blieb. Sie tropften hinab auf den Boden und blieben dort glitzernd liegen, bis ich kam und sie mit meinem Fuß verwischte, als ich der Familie folgte. »Lass mich los, Dad. Lass mich hier. Ich will nicht gehen.«

»Glaubst du etwa, das hier basiert auf Verhandlungsbasis? Du hast schon zu viele Entscheidungen allein getroffen.«

Ich ließ Liam allein im Zimmer zurück, als ich auf den Flur stürmte und nach Steffens Arm griff. Er war, mit Evelynn im Schlepptau, unmittelbar auf dem Weg zur Eingangstür.

Jude war der Einzige in der Eingangshalle und beobachtete vom Treppenrand aus die prekäre Situation. Seine Anwesenheit hinderte mich nicht, auf den wütenden Vater einzureden: »Hey, jetzt warte doch mal bitte.« Charina lief mit einem Autoschlüssel in der Hand vor, sodass meine Vermutung bestätigt wurde, sie würden auf der Stelle wieder ins Auto steigen und wegfahren. Mit Evelynn. »Ihr könnt sie jetzt nicht so einfach mitnehmen.«

»Aber ihr könnt es?« Ich war überrascht, dass Steffen meine Worte tatsächlich aufnahm, ehe er zu mir herumfuhr. »Sie ist unsere Tochter und damit hat sie uns zu gehorchen. Nicht euch.«

Eve wimmerte unter dem Druck der Hand ihres Vaters und ihr Blick hängte sich verzweifelt an mich, so als hoffte sie, dass ich mehr Argumente auf Lager hatte. Aber irgendwie hatte Steffen nun mal recht. Immerhin war sie von Zuhause abgehauen und hatte sich mit uns in höchste Gefahr begeben. Doch war das nicht alles freiwillig geschehen? Und waren Marlon und ich der Kleinen nicht manchmal doch viel näher als ihre wahren Eltern?

Der Gedanke, sie jetzt einfach so zu verlieren und erst Monate später – wenn überhaupt -wiederzusehen, juckte mir in den Fingern. Mal ganz abgesehen von Liams Gefühlen, die sicherlich von Eves Verlassen getrübt werden würden, wenn er sein Bewusstsein wiedererlangte. Mir wurde plötzlich klar, dass ich nicht zulassen konnte, dass Steffen und Charina Eve jetzt mitnahmen. Jedenfalls würde ich sie nicht kampflos gehen lassen.

Ehe ich mich versah, hatte sich mein Körper der Ressourcen bedient, die so lange irgendwo in ihm verschlossen geblieben waren: Mein Schutzschild fuhr aus und schob sich zwischen Evelynn und ihren Dad. Er ließ das Mädchen vor seine gelb glitzernde Wand laufen und stülpte es in einen Kasten, der es Steffen unmöglich machte, seine Finger erneut zu dem Arm auszustrecken. Dahingegen konnte ich selbst leichtfertig mit in ihn hinein gleiten und ihn so erweitern, dass mir und Eve darin genug Platz blieb. Durch die schillernde Magie um mich herum, fühlte ich mich so mächtig, wie es lange nicht der Fall gewesen war.

»Was soll das?« Der Mann fuchtelte wild mit seinen Händen herum, doch er stieß immer nur gegen den Kasten, hinter dem seine Tochter verschanzt war.

Eves glasige Augen glitten für einen kurzen Moment zu mir, sodass ich sehen konnte, wie dankbar sie für diese Wand zwischen ihr und ihren Eltern war. Als sie dann wieder zu Steffen schaute, war die Angst unverkennbar in ihr Gesicht gemalt.

»Ich sagte, ihr könnt sie nicht einfach so mitnehmen«, wiederholte ich mit einer Stärke in der Stimme, die lange Zeit verborgen geblieben war. Es fühlte sich gut an, sie in meinem Innern wiederfinden zu können. Der neu erwachte Werwolf reckte dort wohlig seinen Pelz und schmiegte sich an mein Selbstbewusstsein, das sich vor Charina und Steffen keineswegs verstecken wollte.

In dessen Gesichtern erkannte ich, dass sie das mit Entsetzen bemerkten. »Was fällt dir ein?«, war es diesmal die junge Mutter, die mich mit großen Augen anstarrte.

»Ich weiß, dass ihr euch Sorgen gemacht habt. Es war nicht okay, was passiert ist. Aber wir können darüber sprechen und ihr werdet verstehen, wie das alles gekommen ist.«

Dass meine Worte sie nicht wirklich beeindruckten, konnte jeder leicht in ihren Gesichtern erkennen. Aber immerhin brachte ich damit eine gewisse Ruhe in die Situation, denn plötzlich tigerte Steffens Hand nicht mehr so penetrant an meinem Schutzschild herum und Charina blieb endlich auf beiden Beinen stehen, statt immer nervös vom Einen auf das Andere zu treten. Ihre Blicke hingen dennoch säuerlich auf ihrer Tochter, als könnten sie sie damit aus meiner Magie befreien.

»Na bitte«, stieß Steffen wütend hervor. »Dann erklär’s uns. Oder besser du, junge Dame.«

Eves Kopf zog sich schutzsuchend zwischen ihre Schultern, wodurch fast nur noch ihre bronzefarbenen Haare zu sehen waren. In diesem Augenblick tauchte Marlon aus dem Flur zum Speisesaal auf. Auf den Händen balancierte er ein Tablett, worauf sich einige Köstlichkeiten tummelten. Neben ihm kam eine ganze Gruppe Werwölfe aus dem Speisesaal, die mir das Gefühl gaben, nicht laut reden zu können.

»Nicht hier«, klärte ich mit gesenkter Stimme und beobachtete, wie auch die Blicke meiner zwei Gegenüber missmutig die Ankömmlinge streiften. »Lasst uns hoch gehen.«

Marlon runzelte wissend seine Stirn, als er bei uns ankam, aber er sagte kein Wort zu den Zweien, da er vermutlich spüren konnte, welche Stimmung in der Luft schwebte. Zu meiner Verwunderung gliederten sie sich auf meine Aufforderung hin ziemlich willentlich in den Strom der Wölfe ein, welche die Treppe zu den Wohntrakten erklommen. Vielleicht wollten sie sich nicht vollkommen vor ihnen bloßstellen.

Mein Schutzschild fiel in sich zusammen, als wir die beiden vor uns her schoben und ich die Gewissheit hatte, dass sie Evelynn nicht gleich packen und mit sich ziehen würden. Ihr Blick traf meinen mit einer Spur aus Unsicherheit und Scheu, ehe er für einen kurzen Augenblick zurück zu der Tür des Krankenzimmers fiel, hinter der Liam einsam in seinem Bett lag.

»Wir wollen mit Evelynn allein sprechen«, stellte Charina klar, als die Beiden vor den Türen zu Liams und Marlons Zimmern hielten.

Unsicher reckte ich meinen Kopf zu der Kleinen, welche ausdruckslos in die Gesichter ihrer Eltern schaute. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, sie alleine zu lassen. Marlon hingegen schritt einfach an ihnen vorbei und öffnete – das Tablett auf einer Hand balancierend - die Tür zu Liams Zimmer, als würde er sie freundlich dazu einladen, dort zu nächtigen. Noch immer hatte kein Wort seinen Mund verlassen und das würde auch nicht geschehen. Ob Steffen ihm das negativ anrechnete oder nicht, konnte ich nicht anhand seines Blickes deuten, doch auch er sagte nichts zu meinem Mann, als er mit säuerlichem Gesichtsausdruck an ihm vorbei in das Zimmer schritt. Der Rest der kleinen Familie folgte ihm, sodass letztlich nur Marlon und ich auf dem Flur zurückblieben.

Nicht sicher, was ich fühlen sollte, schloss ich hinter ihm und mir die Tür zu seinem Zimmer, während ich darüber nachdachte, ob die Gefahr bestand, dass Eves Eltern sie jetzt gleich wieder aus dem Golfhouse zerrten.

»Sie sind sauer, he?«, fragte Marlon, während er das Tablett auf dem Schreibtisch abstellte.

Ich betrachtete missmutig, wie das Weißbrot durch die Bewegung rutschte, bevor es knapp am Rande des Tellers zum Liegen kam. »Stocksauer. Und das Schlimme ist, dass ich es irgendwie verstehen kann.«

»Klar«, stimmte er mir zu und streckte seine Hand nach meiner aus. Sie fühlte sich warm auf meiner Haut an, als sie meine Finger umschloss. »Aber Eve will nicht gehen. Und wir wollen nicht, dass sie geht. Liam erst recht nicht.«

Mein Blick senkte sich hinab auf den Boden, als ich mich an seinen warmen Körper lehnte. Dabei konnte ich mich nicht zurückhalten und ließ meinen Schutzschild heimlich ausfahren. Er schlängelte sich durch die Wände hinaus auf den Flur und setzte sich genau vor die Tür von Liams Zimmer, obwohl ich wusste, dass ich nicht das Recht dazu hatte, die Familie darin festzuhalten. »Ich hab’ irgendwie das Gefühl, dass sie ihn nicht mehr leiden können. Eve hat zwar nicht viel davon erzählt, warum sie sie aus der Schule rausgeholt haben, aber offenbar hatte es auch mit Liam zu tun.«

Marlon schnaubte leise, während er seine Arme um meinen Körper schlang. »Wahrscheinlich denken sie, dass er kein guter Umgang ist - bei all dem Blödsinn, den sie in Birmingham angestellt haben. Und dann ist er auch noch derjenige, der Chart zum Leben erweckt hat.«

»Wahrscheinlich wissen sie das nicht mal«, mutmaßte ich. Woher auch? Weder Evelynn noch wir hatten zu ihnen Kontakt aufgenommen, seit sie von Zuhause weggelaufen war, sodass lediglich die Möglichkeit bestand, dass Clarus mit Jonathan gesprochen hatte. Allerdings hätte er davon sicherlich erzählt.

Marlon schwieg eine Weile und ich atmete tief durch, während ich versuchte, meine Gefühle zu beruhigen. Schließlich schaffte ich es sogar, meine Fähigkeit wieder zurückzurufen, sodass der Kasten vor Liams Tür verschwand. Als mein Mann wieder den Mund öffnete, hatte ich sofort ein ungutes Gefühl. Es schwebte bereits in der Luft, als würde das, was er sagen wollte, seinen Worten in einer schwarzen Rauchwolke vorausschweben: »Ich muss dir was zeigen.«

Alarmiert hob sich mein Kopf, damit ich in sein Gesicht blicken konnte. Er war ein bisschen verunsichert und zugleich hoffnungsvoll erwartend, was ich nicht verstehen konnte. »Was denn?«

Er schluckte und seine blauen Augen hängten sich unterwürfig an meine. »Versprich mir, dass du nicht sauer wirst.«

Ungeduldig runzelte ich die Stirn. »Was musst du mir zeigen?«

Er seufzte und löste seine Hände aus der Verschränkung hinter meinem Rücken, was mich regelrecht in ein Loch fallen ließ. In seiner Hosentasche kramten seine Finger nach dem Handy, welches aufleuchtete, als er auf einen Knopf drückte. Es zeigte sich zunächst nichts weiter als das Hintergrundbild von mir und dem kleinen Baby-Liam, der schlafend in meinen Armen lag.

Als Marlon dann ein Chatfenster öffnete, in dem ich Kates Namen ganz oben lesen konnte, rutschte mein Herz schon in die Hose. Ich befürchtete eine anzügliche Nachricht, sexistische Worte oder auch nur ein einfaches Hey, das mein Gemüt zum Glühen gebracht hätte. Doch entgegen all dieser Annahmen überraschte mich die letzte Nachricht, die sich im Chat finden ließ, total: Bist du das im Fernsehen?, hatte sie ihm geschrieben und ein scheinbar sorgenvolles Geht es dir gut? hinten dran gehangen.

Verständnislos blickte ich zu ihm auf: »Was meint sie?«

Er schluckte erneut. »Ich wusste es auch nicht, als ich die Nachricht das erste Mal gelesen habe. Aber vorhin im Speisesaal hat es schon jemand erwähnt. Sie sind deswegen alle total panisch.«

Diese Worte brachten mir keine Erkenntnis darüber, was wirklich los war. Marlon schritt zum Fernseher und schaltete ihn ein, woraufhin mir augenblicklich alarmierende Worte entgegenschallten. Worte wie übernatürlich, abartig, unmöglich, verstörend, brutal. Gleich darauf sah ich die Bilder, welche die Erklärung dazu lieferten: bekannte Gestalten, die von einer Explosion der Felswand zerfetzt wurden, jedoch aufstanden und sich in den Kampf stürzten. Wunden, die heilten. Andere Werwölfe, die zwischen engen Wänden mit Pistolen um sich feuerten und weitere Wölfe zu Fall brachten. Marlon, der mitten unter diesen Schützen, wie in Trance, seine Munition in die Köpfe der Gegner schleuderte. Große, furchteinflößende Wölfe, die sich mit reißenden Zähnen und tödlich scharfen Krallen bekämpften. Blut, das an die Wände spritzte. Schnee, der durch die Tür herein wirbelte. Die Welt der Werwölfe, die sich vor den Menschen entblößte.

Medienmonster

Marlon

 

Erschrocken von einem Gesicht, das nicht wirklich zu mir gehörte, eilte ich mit Kim durch die Flure. Ich war mir nicht sicher, was mich mehr schockierte: Die Tatsache, dass dieses verhängnisvolle Video im öffentlichen Fernseher lief, oder die Bilder selbst. Die Brutalität, mit der wir und unsere Gegner gekämpft hatten; die Kälte, mit der wir gewonnen hatten. Oder die erschreckende Entblößung dieser dunklen Kehrseite unseres Werwolfdaseins vor der Menschheit.

Als wir unaufgefordert in Clarus‘ Büro stürmten, war es leer. Die aufgeregten Stimmen auf dem Flur waren allerdings laut genug, um uns sofort mitzuteilen, wo wir hin mussten, damit wir ihn antrafen. Im Besprechungsraum nebenan herrschte ein unüberschaubares Chaos, das mich in meiner Aufgeregtheit stocken ließ. Etliche Werwölfe standen um den großen Tisch herum und redeten wild durcheinander. Clarus hockte wie ein Häufchen Elend auf einem der Stühle vor dem laufenden Fernseher, auf dem Lucas ständig einen anderen Kanal einschaltete. Doch egal, wo er auch landete – die schrecklichen Bilder von vorletzter Nacht verließen den Bildschirm nicht.

»Clarus«, sprach Kim ihn an, die neben mir in unsicherer Aufregung den Saum ihres Pullovers zwischen den Fingern zwirbelte.

Der alte Werwolf fuhr energisch herum. »Herrgott nochmal – ich weiß es doch.«

Mit dieser genervten Reaktion hatten wir beide nicht gerechnet. Genauso wenig wie der Rest der Werwölfe, die daraufhin viel leiser wurden. So konnte sich sogar eine Stille in den Raum legen, die es zuließ, dass der Fernseher mit seinen Nachrichten zu unseren Ohren durchdrang. »Das Videomaterial wurde sehr aufwändig manipuliert«, sagte ein Sprecher, der meine Aufmerksamkeit zu den Bildern zog, die hinter dem Wissenschaftler eingeblendet wurden und noch immer von dem Massaker geprägt waren. »Die Tiere darin sind sehr lebensnah dargestellt. Es muss ein Profi gewesen sein, der mit diesem Clou seine Meisterprüfung absolviert hat. Die Frage ist nur, warum er uns glauben lassen will, dass solche Kreaturen Realität sein sollen.«

»Sie denken, es wäre ein Fake«, murmelte jemand im Raum, dem ich nur allzu gerne glauben wollte.

Keiner antwortete ihm, denn im Fernsehen wurde jetzt eine zweite Person eingeblendet, die klar machte, dass wir gerade ein Interview zwischen einer unschuldig aussehenden Nachrichtensprecherin und einem Medienwissenschaftler verfolgten.
 »Was denken Sie wird die Regierung unternehmen, wenn sich herausstellt, dass es keine Fälschung ist? Würde das die Bevölkerung nicht in Panik versetzen?«

»In der Tat wäre es eine sehr befremdliche Vorstellung. Die aufgezeichneten Szenen deuten auf eine sehr brutale Kultur hin, von der hier berichtet wird. Wenn sie wahr wäre, müssten die Politiker drastische Maßnahmen ergreifen. Aber es ist doch komisch, dass wir bisher nie davon gehört haben, oder?«

»Sie glauben also nicht daran, dass dieses Video die Realität zeigt. Uns erreicht dagegen eine Vielzahl von Zuschauerstimmen, die mutmaßen, dass hier eine lang begrabene Verschwörung vorliegt. Viele wollen schon seit Jahren Indizien darauf gefunden haben, dass unter uns solche Kreaturen leben. Sie berichten von Wölfen in diesem Ausmaß. Werwölfe wie aus einem Gruselmärchen.«

Die Sprecherin verzog bei ihren eigenen Worten derart ihr Gesicht, dass uns allen klar war, dass sie selbst nicht an das glaubte, was sie wiedergab. Der Wissenschaftler behielt hingegen sein Pokerface bei, als die Kamera sich wieder auf sein Gesicht fokussierte und er die Frage seiner Kollegin abwartete:
 »Können Sie allein anhand des Videos beweisen, dass es sich um bearbeitetes Material handelt?«

Der Mann stockte ein bisschen und rückte schließlich mit einer erschütternden Wahrheit raus:
»Nein, leider nicht. Da wir nur diese eine Datei des Videos haben, kann ich nicht vollends ausschließen, dass es sich um keine Fälschung handelt. Aber ich bin Wissenschaftler. Ich glaube nicht an Märchen. Meiner Meinung nach ist das hier die Nachstellung eines Horrorfilms in brutalstem Ausmaß. Die Zuschauer sollten sich nicht verrückt machen lassen.«

»Was sagen Sie zu den beigelieferten Informationen, dass derartige Kreaturen in der Gegend Minnesotas und Wisconsins leben sollen?«

Ein weiterer Schock durchfuhr mich und alle Werwölfe in diesem Raum. Hatte Jerome der Öffentlichkeit wirklich von unseren Clans in Silver Bay und Wheeler erzählt? Das erschrockene Aussetzen der Atemzüge legte eine tödliche Stille in die Redepause der Interviewpartner.

»In der Tat gab es auch schon vor dem Einsenden dieses Videos Hinweise aus der Bevölkerung, dass in diesen Gebieten Wölfe entsprechender Größe gesichtet worden seien. Es ist ganz klar, dass jene Leute, die solche Tiere gesehen haben wollen, in Anbetracht dieses Videos noch akribischer an ihrer Theorie festhalten.«

Obwohl der Interviewerin deutlich anzusehen war, dass sie nicht an Übernatürliches glaubte, hakte sie hartnäckig weiter nach:
 »Herr McCoutney, nun sind wir ja nicht der einzige Sender, der von diesem Video berichtet. Der Macher hat das Material vielen Sendern zukommen lassen. Wie erklären Sie sich diese Vorgehensweise?«

Der Wissenschaftler zuckte mit den Schultern, was für ihn eine sehr herablassende Geste zu sein schien. Sie ließ seine Fassade eines kühlen, einfältig gestrickten Mannes bröckeln. »Scheinbar will er um jeden Preis, dass wir alle zu sehen bekommen, was er da aufgezeichnet hat.«

Damit gab sich die Sprecherin zufrieden.
»Vielen Dank für das Gespräch.«

Nach der verabschiedenden Geste der beiden, hielten die Werwölfe um mich herum beunruhigt den Atem an. Mein Blick glitt durch den Raum und blieb an unzähligen aufgewühlten Gesichtern hängen. Letztlich an dem meiner Frau, welche sich ungläubig durch die Haare fuhr und dabei seufzend die Luft aus ihren Lungen presste.

»Wir haben ein großes Problem«, murmelte jemand, der die Stille damit brach.

Danke für diese überraschende Information, dachte ich sarkastisch, blieb aber still und ließ den hohen Tieren den Vorrang: »Zumindest gibt es einen Teil der Bevölkerung, der skeptisch ist.«

»Aber auch genug Verrückte, die es glauben.«

»Jerome hat sie auf unsere Clans angesetzt. Wer weiß, wie präzise seine Angaben über unseren Standort waren. Vielleicht stehen sie morgen schon vor unserem Zaun.«

»Das tun sie jetzt schon«, durchschnitten Clarus‘ fassungslose Worte die Mutmaßungen der anderen. Alle Augen richteten sich auf ihn, doch seine eigene Aufmerksamkeit ruhte auf dem Handy, das er in der Hand hielt. Erst nach etlichen Sekunden der fragenden Stille, hob er es hoch und richtete es so aus, dass zumindest ein Teil der anwesenden Werwölfe das Foto sehen konnte, das darauf abgebildet war. Zu erkennen war das große Eingangstor vor der Wheeler-Villa, hinter dem einige Menschen auf der Straße standen. Ihre Gesichter starrten wütend in die Kamera, die versteckt hinter einem Fenster des großen Gebäudes gehalten wurde.

»Chris hat es mir gerade eben geschickt«, erklärte Clarus.

Entsetztes Aufschnappen und fassungsloses Murmeln ging durch den Raum, nur ich blieb in meiner Schockstarre still. Mir kam es so vor, als steckte ich mitten in einem Horrorfilm fest, in dem all die Wände um den Hauptdarsteller herum zusammenbrachen. Er wurde schreiend darunter begraben. Und mit ihm das oberste Gebot der Werwölfe.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Kim mit vor Schock verzerrter Stimme.

Eine gute Frage. Lohnte es sich denn überhaupt noch, dafür zu kämpfen, unsere Existenz im Schatten zu halten? War das Licht nicht schon vollends darauf gefallen? Nagur verneinte meine unausgesprochene Frage, als er murmelte: »Noch ist nicht alles verloren. Solange es genug Leute gibt, die nicht an das glauben, was im Video gezeigt wird, haben wir eine Chance.«

Ich ging das im Kopf durch und korrigierte meine Gedanken: Das Licht war bisher maximal zur Hälfte auf unsere Existenz gefallen. Der große Rest davon war noch verborgen, was uns die unerschütterliche Pflicht auferlegte, um den bestehenden Schatten zu kämpfen.

»Aber es gibt ja auch zwei Videos«, warf jemand bedenkend ein.

Clarus zog mit seinem Nicken alle anderen Wörter wieder in die Münder der Leute zurück, die zum Sprechen angesetzt hatten, denn sie wollten ihm den Vorrang überlassen: »Mich wundert es, dass Chart nicht klüger vorgegangen ist. Für ihn wäre es viel effektiver gewesen, erst das Video von seiner Auferstehung zu zeigen, dann das andere. Denn in dem Ersten sind weitaus mehr Informationen über Werwölfe zu finden als in dem Gemetzel, das die Welt jetzt zu sehen bekommen hat.«

»Vielleicht haben sie es verwechselt«, mutmaßte Chiel.

Unser Chef schüttelte den Kopf. »Das würde Chart nicht passieren. Es muss einen Grund haben, dass er es so gewählt hat.«

Nun wagte ich es, mich in ihre Diskussion einzumischen: »Aber es ist ja gar nicht Chart, der die Videos verschickt. Das alles hat Jerome geplant. Sonst wäre ja kein Video von Charts Auferstehung entstanden.«

Lucas stimmte mir nickend zu. »Und Jerome ist lange nicht so gut durchdacht wie Chart.«

Was das anging, war ich mir nicht so sicher, doch diesen Einwand äußerte ich nicht. Stattdessen versuchte ich mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: »Eigentlich kann es uns doch egal sein, aus welchem Grund sie es so gestrickt haben. Klar ist doch, dass mit dem zweiten Video viel mehr von uns aufgedeckt wird. Also müssen wir verhindern, dass sie es veröffentlichen.«

Gemurmel ging durch den Raum, das mich zunächst im Ungewissen darüber ließ, was sie von meiner Aussage hielten. Letztlich schlug sich Lucas erneut auf meine Seite, als er sagte: »Richtig. Wir müssen herausfinden, wo wir es herbekommen und wie wir es zerstören können. Und den Rest biegen wir dann mittels unserer Kontakte wieder hin.«

Clarus gab ein Schnauben ab, das ein wenig skeptisch, aber durchaus milde, klang. »Wenn das mal so einfach wird, wie du es sagst.« Er stand nun von seinem Stuhl auf und blickte einmal durch den großen Raum, als hätte er noch gar nicht bemerkt, wie viele seiner Schützlinge sich hier aufhielten, um Rat zu suchen. »Doch letztendlich bleibt uns keine andere Möglichkeit. Wir machen es so.«

»Und woher wissen wir, wo wir anfangen sollen zu suchen?«, fragte jemand kleinlaut.

Clarus deutete auf den Fernseher. »Die Medien liefern uns die aktuellsten Informationen. Vielleicht lassen sie zwischendurch heraushören, von welcher Adresse aus das Video geschickt worden ist.«

Veits leiser Einwurf fand in der großen Runde keine Beachtung: »Wenn sie überhaupt eine haben.« Meine Hoffnung auf einen Hinweis aus den Medien verschwand daraufhin schnell im dunklen Jenseits.

»Schaut so viel Fernsehen, wie ihr könnt und hört so viel Radio wie nur möglich. Wir brauchen jede neue Information.« Nachdem Clarus seine Arbeitsanweisung ausgesprochen hatte, löste sich die Versammlung auf.

Ein ganzer Strom von Werwölfen riss Kim und mich mit aus dem Besprechungsraum, in den Flur hinein und durch die Gänge, bis hin zu unserem Zimmer, wo wir ratlos und frustriert voreinander stehen blieben. Erst ein dumpf durch die Wand dringender Laut erinnerte mich daran, dass wir Eve und ihre Eltern ganz allein gelassen hatten, als wir, erschrocken von den Nachrichten, aus dem Fernseher zu Clarus gestürmt waren. Offenbar herrschte nebenan eine lautstarke Diskussion, die mir ein schlechtes Gewissen auferlegte.

Kims grüne Augen blitzten wissend zu meinen rauf und schlossen sich dann, als erneut eine tiefe Stimme gegen die Wände dröhnte. Steffen. Seine Worte waren nicht zu verstehen, aber die Lautstärke seiner Stimme brachte mir eine vage Vorstellung davon, wie klein und hilflos Eve ihren Eltern gerade gegenüberstehen musste. »Sollen wir rüber gehen?«, fragte ich leise.

Meine Frau öffnete ihre Lider und schüttelte sofort den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es das besser machen würde. Sie finden, dass wir uns zu sehr einmischen. Vielleicht haben sie recht.«

Mit gerunzelter Stirn dachte ich darüber nach. »Wenn sie für Eve keine vernünftigen Eltern sein können …« Den Satz ließ ich so stehen, denn die Konsequenz war uns beiden klar: wir hatten die Kleine so lieb gewonnen, dass sie für uns schon ein zweites Kind geworden war. Ob aus Mitleid oder nicht – wir würden sie nicht mehr so einfach hergeben.

Kim verzog den Mund. »Ich weiß«, hauchte sie. Ihre zahlreichen Gedanken spiegelten sich abwechselnd auf ihrem Gesicht wider, das sie mit ihren Händen abfuhr, woraufhin sie verzweifelt seufzte. »Vielleicht sollten wir uns erst mal um unser eigenes Kind kümmern. Ich … ich wollte noch mit Jeff sprechen, wegen eines Tranks oder … keine Ahnung.«

Das Vibrieren meines Handys in der Hosentasche sandte eine leise Nachricht durch den Raum. Verunsichert, ob ich sie jetzt gleich lesen sollte, sah ich in Kims Augen, welche mir jedoch keine Antwort lieferten. Sie wirkte genauso unschlüssig, also holte ich das Handy heraus und las, was Clarus geschrieben hatte.

 »Du kannst ja die Medien im Auge behalten und … und Kate beruhigen«, murmelte Kim in diesem Augenblick. Sie wandte sich schon zur Tür.

Ein schlechtes Gewissen durchzuckte mich, obwohl ich bis jetzt nicht mehr an Kates Nachricht gedacht hatte. Trotzdem kribbelten meine Finger vor Reue, als ich sie um Kims Handgelenk legte, um sie aufzuhalten. »Clarus hat mir geschrieben«, beharrte ich, kurz bevor ich das Vibrieren eines zweiten Handys vernahm, welches nur Kims sein konnte. Ihr Blick klarte sich daraufhin auf. »Heute Abend wird es eine Versammlung im Speisesaal geben.«

Einen kurzen Moment lang pressten sich ihre Lippen aufeinander. »Bis dahin werde ich Jeff wohl gefunden haben«, sagte sie, ehe sie sich aus meinem Griff befreite und durch die Tür verschwand.

Ich verharrte mit gerunzelter Stirn im Raum; unsicher, was ich von ihrer Laune halten sollte. Nebenan wüteten die sauren Stimmen und unser Fernseher brabbelte noch immer leise vor sich hin, aber ich fühlte mich durch Kims Verlassen mutterseelenallein. Gesellschaft leistete mir nur das Tablett voll Leckereien, die wir ganz außer Acht gelassen hatten, als wir zu Clarus gestürmt waren. Ich wandte mich ihnen jetzt zu, indem ich beherzt danach griff. Essen soll doch glücklich machen, dachte ich und hoffte seufzend darauf, dass es mir Trost spenden würde.