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Geoffroy de Lagasnerie

Denken
in einer schlechten Welt

Aus dem Französischen von Felix Kurz

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Für D., natürlich

Inhalt

I.Die Kultur mit der Gesellschaft konfrontieren

II.Für eine Ethik der Werke

III.Die Falschheit der Welt

IV.Die Fallstricke der Kritik

V.Das System denken

VI.Der Raum des Denkens

Anmerkungen

I.
Die Kultur mit der Gesellschaft konfrontieren

Die Frage des Verhältnisses von Kultur und Politik, der gesellschaftlichen Einmischung oder auch der Aufgabe des Intellektuellen lässt die Philosophie, die Theorie und die Sozialwissenschaften nicht los. Es gibt keine Denktradition, Schule oder Lehre, die nicht zu irgendeinem Zeitpunkt gezwungen gewesen wäre, zu dieser Debatte Stellung zu beziehen und das eigene Verständnis von Theorie und Wissen sowie von der Verantwortung des Autors darzulegen; zweifellos deshalb, weil man sich als Wissenschaftler oder Intellektueller nicht der notwendigen Auseinandersetzung mit dem Problem entziehen kann, worin der eigene Nutzen besteht und wie er zu bestimmen ist – und sei es mitunter auch nur, um die Relevanz solcher Fragen zurückzuweisen.

Die Ergründung des Verhältnisses geistiger Tätigkeit zur Welt ist keine Frage unter anderen. Sie ist irritierend und unbequem, denn implizit oder explizit führt sie immer dazu, dass wir uns einem Problem stellen müssen, mit dem wir uns – sei es als Leser oder als Autor – lieber nicht befassen würden: dem Problem des Werts und der Bedeutung der Tätigkeit, der wir unser Leben widmen. Es nötigt uns, Distanz zu uns selbst einzunehmen und unser spontanes Einverständnis mit der eigenen Existenz aufzugeben, um uns zu fragen: Wozu ist das, was wir tun, eigentlich gut? Wozu ist das, was ich tue, gut? Warum schreiben? Warum publizieren? Welchen Sinn hat diese Praxis? Wozu Kolloquien, Veranstaltungen, Bücher? Welche Dispositive oder Normen stützen die Bedeutung der von uns praktizierten Wissenschaft, Literatur oder Kunst? Und vor allem: Wie lässt sich das Verfassen theoretischer Literatur mit oppositioneller Praxis in Einklang bringen? Man kann unmöglich Autor, Intellektueller, Wissenschaftler, ja überhaupt Produzent symbolischer Güter sein, ohne von solchen Fragen umgetrieben zu werden und eine gewisse Angst vor den Ansprüchen zu spüren, die sie an einen stellen.

Wenn man von einer Frage verfolgt wird, muss man sich deshalb noch lange nicht direkt und umfassend mit ihr auseinandersetzen. Man kann sie auch verdrängen, auf Abstand halten, man kann sich Mühe geben, sie nicht zu stellen oder ihre Stichhaltigkeit zu bestreiten, um sich ihrer verunsichernden Kraft zu entziehen. Zwischen den Fragen selbst und der Art der Befragung ist sorgfältig zu unterscheiden: Bestimmte Arten der Problematisierung stellen in Wirklichkeit ein Ablenkungsmanöver und eine Entledigung von realen Problemen dar, denen eigentlich nachzugehen wäre.

Doch nur weil eine Frage nicht ausdrücklich gestellt wird, heißt das nicht, dass sie nicht in den Köpfen präsent ist. Sie kann durchaus im Bewusstsein vorhanden sein, es beschäftigen und plagen – und zugleich unterdrückt werden. Man weicht ihr mithilfe von individuellen und kollektiven Techniken aus, damit man sein Leben weiterführen kann, als wäre nichts gewesen; man erfindet Gründe – die uns die Gesellschaft häufig nahelegt und zur Verfügung stellt –, um sich einzureden, es sei gut, wenn alles so bleibt, wie es ist.

In der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Literatur wird das Verhältnis von Wissenschaft und Politik seit dem späten 19. Jahrhundert zumeist aus einem erkenntnistheoretischen oder methodologischen Blickwinkel thematisiert, so in Debatten über Auffassungen von Wahrheit, Normativität, das Verhältnis zu Werten und über den möglichen Zusammenhang von »Wissen« und »Einmischung«, von Methoden der Objektivierung und Voreingenommenheit in der Sozialforschung, über das Verhältnis von Wahrheit, Meinung und Objektivität etc.

Solche Fragen sind selbstverständlich keineswegs unzulässig. Das Problem von Wissen und Politik aus einem strikt erkenntnistheoretischen und methodologischen Blickwinkel anzugehen, heißt jedoch zunächst, dass man es in den üblichen Formen und Formaten behandelt – obwohl es gerade diese infrage zu stellen oder wenigstens zu überprüfen gilt. Vor allem aber wird das Problem so aus dem sozialen, politischen und ökonomischen Kontext gelöst, in den es eingebettet ist. Stellt man die Frage nach der Beziehung zwischen Autoren und Welt auf diese Weise, dann wird sehr schnell die Figur des Wissenschaftlers zum Thema, und die Diskussion gerät zu einer abstrakten Untersuchung von Wissen, Wahrheit und Formen des Schreibens. Der andere Strang des Problems verschwindet dagegen vollständig: Die Außenwelt, die Politik, die Form unserer Einbeziehung in die Gesellschaft und die Zwänge, die sie uns auferlegt – das alles wird vergessen, getilgt. Was würde es jedoch bedeuten, andersherum bei der Welt und der Politik zu beginnen, um davon ausgehend den Begriff von Wissen und Wissenschaft sowie die Formen des Denkens zu rekonstruieren?

Die Frage nach den Beziehungen zwischen Wissen und Politik eröffnet zunächst eine ganze Reihe von ethisch-praktischen Problemen. Reduziert man sie auf eine erkenntnistheoretische oder methodologische Reflexion, entschärft man sie folglich – ein Akt der Entstellung und Verdrängung, der es ermöglicht, die Probleme in ihrer konkreten, materiellen Gestalt zu ignorieren.

Dagegen möchte ich hier versuchen, die Reflexion über das geistige und wissenschaftliche Leben bis an ihren Endpunkt zu treiben und ihr Potenzial zur Hinterfragung und Verunsicherung vollständig auszuschöpfen. Dazu müssen wir uns auf eine ethische Ebene begeben und die Formen der kulturellen Praxis ausgehend von der Welt und unserer Lage in ihr bestimmen.

Engagement

Um klar hervorzuheben, warum die Untersuchung des intellektuellen Lebens – und letztlich aller Formen der symbolischen Produktion – meines Erachtens zwangsläufig eine ethische Dimension einschließt, möchte ich zunächst auf der Tatsache beharren, dass, abstrakt betrachtet, niemand je gezwungen ist, sich zu engagieren, politisch aktiv zu werden und zu kämpfen. Mir persönlich haben die Aufforderungen zur »Mobilisierung« oder zur »Courage« noch nie gefallen, die man in aktivistischen und politischen Texten findet, häufig in Form eines fragwürdigen Anprangerns der »Feigheit« (der »Masse«), der »Gleichgültigkeit« oder der »Passivität« derjenigen, die sich nicht engagieren und stattdessen an das System anpassen.

Weil wir im Leben zumeist aus zufälligen Gründen an diesen oder jenen Ort geworfen sind, haben wir keine ethische oder moralische Pflicht, einzugreifen, wenn wir mit der gegebenen Welt oder den in ihr herrschenden Systemen nicht einverstanden sind. Wann und wo wir geboren sind, an welchem Ort wir uns befinden, was wir sehen und ob wir in diesem oder jenem Dispositiv der Macht gefangen sind, das alles haben wir uns nicht ausgesucht, und deshalb lastet auf uns keinerlei Pflicht zum Engagement. Es gibt keine ontologische Verantwortung gegenüber dem, was in der Welt geschieht.

Sobald man jedoch schreibt, sobald man sich dafür entscheidet, zu publizieren, zu forschen oder kulturell tätig zu werden, ändert sich alles. Ein solches Tun setzt den mehr oder weniger bewussten, zu diesem oder jenem Zeitpunkt getroffenen Entschluss voraus, zu den Produzenten von Ideen zu gehören, Diskurse zu verbreiten, also zur Gestaltung des Laufs der Welt beitragen zu wollen. In diesem Moment haben wir uns folglich entschieden, uns zu engagieren. Wir sind in etwas engagiert. Und damit können wir die politische Dimension unseres Handelns nicht länger verdrängen und bestreiten.

Die Welt ist schlecht

Jede kulturelle Praxis ist durch einen konkreten Akt des Engagements bedingt. Die Antwort auf die Frage nach legitimen Formen und Arten des Schreibens, Denkens oder Publizierens muss folglich mit Blick auf diese Begegnung mit der Welt entwickelt werden. Eine Feststellung, die uns beunruhigen und stets gegenwärtig sein muss, soll dabei federführend sein: Die Welt ist ungerecht, sie ist schlecht, sie ist durchzogen von Systemen der Herrschaft, der Ausbeutung, der Macht und Gewalt, die es aufzuhalten, infrage zu stellen und zu überwinden gilt.

Dies ist der Horizont, in den jeder, der sich entscheidet, an der Welt des Denkens teilzunehmen, und daher antritt, sich zu engagieren, sein Handeln stellen muss. Das führt zu der Frage, welche Art von geistiger und kultureller Praxis imstande ist, die Welt zu verändern und das Ausmaß der sie durchziehenden Gewalt zu verringern. Trägt unser Handeln zur Herstellung einer gerechteren und vernünftigeren Welt bei, fördert es die Entfaltung einer fortschrittlichen Praxis? Oder haben wir durch unser Handeln de facto Anteil an der Reproduktion des Systems, arbeiten wir mit ihm zusammen, verschlimmern wir die Situation sogar? Diese Problemstellung geht offenkundig über die Frage nach Wahrheit, Objektivität und Falschheit hinaus (und schließt sie ein): Es gilt zu bestimmen, welche Art von Wahrheit, von Wissen und von Forschung angestrebt werden soll, wenn man für eine lebenswertere Welt eintritt, welchen Rahmen sie benötigt, wie sie zu schreiben, verbreiten und denken wäre.

In ihrem Text »Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?« hat Judith Butler ein von Adorno aufgeworfenes Problem aufgegriffen: Wie gelingt es, in einer ungerechten, von Ungleichheiten und Ausbeutung geprägten Welt ein ethisches Leben zu führen?1 Wie führt man ein gutes Leben im schlechten, ein richtiges im falschen? Das ist die Frage der Ethik. Es ist eine Frage, die wir uns tagtäglich stellen – oder aber gerade nicht, da wir unseren Anpassungsleistungen, unserer Mitschuld, unseren Entsagungen nicht ins Auge sehen wollen.

Für die Forschung stellt sich die Frage jedem von uns in exakt derselben Weise. Die Herausforderung, auf die wir eine Antwort finden müssen, lautet hier: Was heißt es, als Intellektueller oder Autor ein gutes Leben in einer schlechten Welt zu führen? Wie soll das Denken beschaffen sein, wenn es sich in einer Welt der Gewalt, der Ungerechtigkeiten und der Unterdrückung abspielt?

Sobald wir uns entscheiden zu schreiben und zu publizieren, kommen wir gar nicht umhin, ein politisches Unbehagen zum Ausgangspunkt der Frage nach dem Sinn unseres Tuns und den von uns angewandten Verfahren zu machen – und selbst zum Ausgangspunkt der Frage nach den Gründen, warum man tun muss, was wir tun.

Man muss die Kultur mit der Gesellschaft konfrontieren.

Politik als Ausgangspunkt

Die Behauptung, dass intellektuelles Engagement auf die Konfrontation mit einer ethischen Frage hinausläuft und dass die Form unseres theoretischen Wirkens ausgehend von der Welt und dem Handeln, das es in ihr hervorruft, zu bestimmen ist, bedeutet, dass man nicht die etablierten Formen und Institutionen wissenschaftlicher und kultureller Praxis akzeptieren und übernehmen kann, um sich erst danach, in einem zweiten Schritt, zu fragen, wie man zur Veränderung der Welt beitragen kann. Man muss vielmehr von der Notwendigkeit einer emanzipatorischen Wissensproduktion ausgehen und sich dann fragen, welches Verständnis des eigenen Lebens als Autor, von Praxis und Theorie daraus folgt. Um die Form unseres Handelns festzulegen, müssen wir ein ethisches Anliegen an den Anfang stellen. Die politische Frage stellt sich ex ante, nicht ex post.

Anders gesagt: Wir müssen Ansätzen misstrauen, die dazu neigen, die Debatte über das Verhältnis von Autor und Welt auf die Frage nach der »Anwendung« von Wissen, der »Intervention« oder der »Verbreitung« von Forschungsergebnissen zu reduzieren (so die Formeln, die es entsprechend abgewandelt auch für Schriftsteller und Künstler gibt). Denn auf diese Weise tut man so, als seien die Regeln für die Produktion von Wissen und Theorie etwas schlechthin Gegebenes, das sich uns aufzwingt, sodass unsere Unterwerfung unter sie gar nicht mehr politisch reflektiert werden muss. Anders als diese das Wissen entpolitisierende Rhetorik glauben macht, können die politischen Fragen auch einen Einfluss auf die Subjektivität der Wissenschaftler selbst haben.

Die wichtigsten – und schönsten – Analysen zu diesem Thema haben wohl die Theoretiker der Frankfurter Schule verfasst. Das vorliegende Buch lässt sich auch als eine Art ständiger Dialog mit und ausgehend von ihnen lesen. Mir geht es nicht nur darum, »ihr Erbe zu aktualisieren«, wie eine häufig gebrauchte Formel lautet. Vielmehr soll vor allem ihre Kraft, ihr Versprechen einer praktischen Infragestellung hervorgehoben werden. Ich möchte versuchen, die Lektüre der Frankfurter Theoretiker den entpolitisierenden Rastern zu entwinden, die häufig auf sie angewendet werden, obwohl ihre Schriften gerade zum Ziel hatten, solche Raster in eine Krise zu stürzen – sie sollten den Rahmen des traditionellen akademischen Lebens infrage stellen. Dennoch werden sie zumeist gerade innerhalb dieses Rahmens rezipiert und diskutiert. Um ihren Gehalt wirklich zu begreifen und Konsequenzen daraus zu ziehen, ist daher noch weitere Arbeit nötig. Es gibt eine bestimmte Art, sich mit der Frankfurter Schule einverstanden zu erklären, die sie in Wirklichkeit verrät: Man behandelt sie in den Formen, von denen sie uns befreien wollte, zieht keine praktischen Konsequenzen aus ihr und verharrt auf einer abstrakten Ebene. Dass wir den Frankfurter Theoretikern immer wieder begegnen werden, verweist übrigens auf einen wichtigen Sachverhalt, nämlich auf die logische Stimmigkeit des ethischen Hinterfragens.

Adorno und Horkheimer insistieren in verschiedenen Texten darauf, dass wir die historisch entstandenen Formen der wissenschaftlichen und akademischen Einrichtungen übernehmen und so mechanistisch zur Reproduktion des Systems beitragen, wenn wir sie nicht einer politischen Kritik unterziehen. Und sie zeigen, inwiefern der traditionellen erkenntnistheoretischen Problemstellung eine Art Angst zugrunde liegt: Die Erkenntnistheorie erfüllt die psychologische Funktion, der Ethik auszuweichen.

Horkheimer geht dabei recht weit: Er behauptet, dass die begriffliche Architektur, die im Namen der Autonomie der Wissenschaft deren politische Kritik als unzulässig zurückweist und vorgibt, ausschließlich erkenntnistheoretische und wissenschaftliche Fragen zu stellen, Autoren eine Flucht vor dem Zweifel erlaubt, der beim Schreiben zwangsläufig aufkeimt. Dem hält er entgegen, dass man zu fragen hat, wozu das eigene Tun dient.

Horkheimers Kritik gilt dem »herkömmlichen theoretischen Denken« – gemeint ist Max Weber –, das »die praktische Verwendung der Begriffssysteme« und somit die eigene »Rolle in der Praxis« als ihm »äußerlich«