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Dr. Caroline Bohn, Witten, Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin, ist als Ethikberaterin, systemische Coachin und Dozentin im Gesundheitswesen tätig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02510-7 (Print)

ISBN 978-3-497-60199-8 (E-Book)

© 2015 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Covermotiv: © Pixelot / Fotolia.com

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Dank

Einleitung

1    Scham und Beschämung

Einladung zu einer Gefühlsreise

Scham: Das Gefühl, im Erdboden zu versinken

Was unterscheidet Scham und Peinlichkeit?

Beschämungssituationen: Anlässe und Quellen der Scham

Die Besonderheit des Blicks

Formen der Scham

Körperscham

Identitätsscham

Statusscham

Fremdscham

Die Bedeutung von Schamkompetenz

Ethik und Würde

Gefühle in der Pflege

Was sind Gefühlsnormen?

Gefühlsarbeit: Von der Pflicht, die eigenen Gefühle zu regulieren

2    Beschämung von Heimbewohnern und Patienten

Schamgrenzen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen

Macht in der Pflege

Was ist Macht?

Instrumente und Mittel der Macht

Machtgefälle zwischen Personal und Pflegebedürftigen

Formen von Gewalt in der Pflege

3    Die andere Seite: Beschämung von Personal

Beschämung von Pflegenden

Beschämung durch Bewohner und Patienten

Beschämung durch Kollegen

Beschämung durch Angehörige

Beschämung durch Vorgesetzte

Beschämung durch die Öffentlichkeit

Wertschätzung in der Pflege

Was sind Werte?

Wie entstehen Werte?

Sprache als Ausdruck von Wertschätzung

Die sechs Ebenen der Wertschätzung

Wertschätzung in Bezug auf Bewohner und Patienten

Wertschätzung in Bezug auf Kollegen

Wertschätzung in Bezug auf Angehörige

Wertschätzung in Bezug auf Vorgesetzte

Wertschätzung in Bezug auf die Öffentlichkeit

Wertschätzung in Bezug auf sich selbst

Wertschätzungskultur schaffen und leben

4    Fazit und Nachklang

Zum Schluss

Zimmer sieben

Literatur

Sachregister

Dank

Meine Hochachtung und Wertschätzung gilt allen Mitarbeiterinnen in der Pflege und allen, mit denen ich in meinen Seminaren arbeiten durfte.

Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit und für die zahlreichen Beispiele aus Ihrem Pflegealltag, die teilweise in dieses Buch eingeflossen sind.

Ich bewundere Sie für das, was Sie täglich leisten.

Einleitung

Während der Pflege der Bewohnerin eines Pflegeheims, unterhalten sich zwei Pflegekräfte über ihren Kopf hinweg über die Sendung, die am Vorabend im Fernsehen lief.

Die Schwester betritt das Zimmer eines Patienten ohne anzuklopfen und lässt die Tür offen stehen, als sie es wieder verlässt.

In der Dienstbesprechung staucht die Pflegedienstleitung eine Mitarbeiterin vor dem gesamten Team zusammen.

Ein Angehöriger reagiert aggressiv, als die Einrichtungsleiterin ihm mitteilt, dass sein Vater gegenüber den weiblichen Pflegekräften anzüglich und sexuell übergriffig ist.

Was haben diese Situationen mit Macht und Beschämung zu tun? Sie zeigen, dass Macht und Beschämung auf den verschiedensten Ebenen in der Pflege allgegenwärtig sind. Außerdem wird deutlich, dass Schamgefühle keineswegs nur mit Körperlichkeit und Nacktheit zu tun haben, sondern sich auf weitaus mehr Bereiche beziehen.

Es gibt kaum einen Arbeitsbereich, in dem Intimität und Verletzlichkeit so zugänglich und öffentlich sind, wie in der Pflege. Aus diesem Grund ist im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen besondere Achtsamkeit und sensibles Handeln gefragt. Akte der Beschämung gegenüber kranken und pflegebedürftigen Menschen finden dennoch statt und auch Pflegekräfte kennen die Wirkung von Machtmissbrauch und Beschämung. Die Tatsache, dass nicht nur Bewohner und Patienten, sondern auch Mitarbeiter regelmäßig Beschämungsakten ausgesetzt sind, wird in den öffentlichen Diskussionen leider nur selten thematisiert.

Doch Beschämung ist die subtilste Form sich eines Menschen zu bemächtigen (Neckel 2000). Sie ist ein eindrucksvolles Machtinstrument und verfehlt daher nur selten ihre Wirkung. Da Schamgefühle äußerst schmerzvoll sind, müssen wir alles tun, um ungewollte Beschämungsakte in der Pflege zu vermeiden.

Dieses Buch richtet sich vorrangig an professionelle Mitarbeiterinnen in der Pflege. Allerdings können auch Angehörige, die Menschen pflegen, davon profitieren.

Mein Wunsch ist, sie alle für die Phänomene Macht und Beschämung in der Pflege zu sensibilisieren und dazu anzuregen, das eigene Handeln neu zu hinterfragen.

Beschämung erfolgt stets von außen und bewirkt, dass ein Mensch sich gedemütigt und herabgesetzt fühlt. Damit dies in der Pflege nicht ungewollt passiert, müssen wir jedoch zunächst verstehen, wofür wir Menschen uns schämen und wodurch wir Bewohner und Patienten beschämen können. Außerdem halte ich es für wichtig, sich zu verdeutlichen, wie viel Macht wir gegenüber pflegebedürftigen Menschen haben. Erst wenn wir uns im Kontext der Scham intensiv mit Macht, der Gefahr ihres Missbrauchs und ihrer Folgen auseinandersetzen, werden wir in der Lage sein, schamkompetent zu pflegen.

Die Pflegebranche ist ein hochemotionales Arbeitsfeld. So genannte gute Pflege und eine gute medizinische Versorgung sind keineswegs nur eine fach-pflegerische Angelegenheit. Sie geht weit darüber hinaus. Pflege umfasst hohe soziale, kommunikative und emotionale Kompetenzen. Außerdem erfordert sie von allen Mitarbeitern eine ethische Haltung.

Jede Einrichtung braucht ein wertschätzendes emotionales Klima, damit Menschen dort gut leben und arbeiten können. Dieses Klima umfasst, dass nicht nur Bewohner, sondern auch Mitarbeiterinnen wertgeschätzt werden. Schließlich muss auch ihre Würde geschützt und geachtet werden.

Es geht hier folglich um das System Pflege, um die zahlreichen kranken und pflegebedürftigen Menschen und um das Pflegepersonal, das meines Erachtens im öffentlichen Ansehen viel zu kurz kommt. Es geht aber auch um die Angehörigen und die Vorgesetzten und letztlich geht es um ein verändertes öffentliches Pflegebild.

Ich möchte meine Wertschätzung gerne allen Geschlechtern gegenüber ausdrücken. Für einen guten Lesefluss habe ich mich jedoch entschieden zwischen der männlichen und weiblichen Form zu wechseln.

Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass ich im Text ganz allgemein von den Pflegekräften oder Pflegenden spreche, ohne jeweils die genaue fachspezifische Berufsbezeichnung zu verwenden. Ich meine damit jedoch grundsätzlich alle professionell Pflegenden der Alten – und Krankenpflege.

1 Scham und Beschämung

Einladung zu einer Gefühlsreise

Um Ihnen die komplexe Welt von „Macht und Beschämung“ näher zu bringen und Ihnen ein Gespür für dieses große Thema zu vermitteln, möchte ich Sie gerne einladen zu einem kurzen Ausflug in Ihre eigene Gefühlswelt. Dafür möchte ich Sie bitten, den Fragen, die ich Ihnen jetzt gleich stellen werde, einmal intensiv zu folgen.

Erinnern Sie sich an eine Situation in der Ihnen etwas peinlich war? Was war das? Was ist Ihnen passiert?

Ist Ihnen etwas heruntergefallen? Oder hatten Sie das Gefühl, Sie hätten etwas Dummes gesagt? Haben Sie festgestellt, dass Ihre Kleidung nicht so saß, wie Sie dachten? Oder waren Sie unterwegs und stellten dann zuhause fest, dass Ihr Knopf oder Ihr Reißverschluss offen war oder Sie noch einen Essensrest am Mund hatten? War Ihnen schon mal ein Versprecher peinlich? Und haben Sie jemals über eine Person negativ gesprochen und mussten dann feststellen, dass diese alles mit angehört hatte?

Haben Sie vielleicht irgendwo etwas kaputt gemacht oder umgeworfen? Oder sind Sie einmal ausgerutscht, gestolpert oder hingefallen und das war Ihnen vor den Augen anderer sehr unangenehm? Waren Sie schon einmal in einer Umkleidekabine und plötzlich hat jemand den Vorhang weggezogen und das hat Sie peinlich berührt oder vielleicht auch ärgerlich gemacht?

Nun versuchen Sie bitte, sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie sich geschämt haben.

Gab es ein Ereignis, das Sie gelähmt hat? Ein Erlebnis, das Sie so sehr verletzt hat, dass Sie dachten, es zerreißt Sie innerlich? Eine Situation, in der Sie am liebsten im Boden versinken wollten, weil Sie sich so gedemütigt fühlten? Einen Moment, in dem Sie vielleicht hochrot anliefen oder kreidebleich wurden und nur noch sprachlos waren oder sich wie erstarrt fühlten?

Gab es einen Augenblick in Ihrem Leben, in dem Sie niemanden mehr ansehen, sondern den Blick nur noch gesenkt halten konnten, weil Sie sich so sehr für etwas geschämt haben oder weil Sie sich zutiefst durch jemandem beschämt fühlten?

Und erinnern Sie sich an etwas, dass Sie so sehr beschämt hat, dass Sie sich nur noch verstecken und zurückziehen wollten, um Ihre Wunden zu heilen?

Vielleicht fällt es Ihnen im Gegensatz zu den peinlichen Momenten etwas schwerer, sich an etwas Konkretes zu erinnern. Aber vielleicht erinnern Sie sich zumindest an das Gefühl.

Um Ihnen das Schamgefühl noch ein wenig näher zu bringen, stelle ich Ihnen nun einige konkretere Fragen:

Hatten Sie schon einmal das Gefühl, dass ein anderer Mensch Sie nicht so annimmt, wie Sie sind? Damit meine ich, wie Sie aussehen, sich verhalten, was Sie gesagt oder getan haben?

Fühlten Sie sich irgendwann einmal zu dick oder zu dünn, zu alt oder zu unerfahren, zu groß oder zu klein? Hat Ihnen eine andere Person genau das vermittelt, nämlich, dass Sie in irgendeiner Weise nicht genügen, also nicht „richtig“ sind, und damit meine ich, nicht in Ordnung, so wie Sie sind?

Sollten Sie irgendwann einmal etwas tun, was Sie eigentlich nicht tun wollten? Etwas, das Ihnen irgendwie unangenehm, zu persönlich, zu intim oder in diesem Moment unpassend war? Fühlten Sie sich trotzdem gezwungen, es zu tun, obwohl Sie spürten, Sie können oder Sie wollen das eigentlich nicht? Haben Sie sich danach ausgenutzt, missbraucht, genötigt – also beschämt gefühlt?

Haben Sie schon einmal erlebt, dass jemand Sie herablassend behandelt hat? Und hatten Sie das Gefühl, dass diese andere Person Ihnen überlegen war und Sie genau das spüren ließ: dass sie mächtiger war als Sie?

Gibt es irgend etwas an Ihnen, das Sie vor anderen verbergen und niemals zeigen möchten, weil Sie meinen oder weil Sie wissen, dass Sie an diesem Punkt ganz besonders verwundbar sind? Und weil Sie genau spüren, dass es besonders schmerzvoll für Sie wäre, wenn eine andere Person irgendwie unangemessen reagieren würde, nachdem sie dies entdeckt hat. Das kann ein körperlicher Makel sein, den Sie verbergen möchten, ein Geheimnis oder eine Handlung, vielleicht auch ein bestimmtes Erlebnis aus Ihrer Vergangenheit.

Wenn Sie diese Gefühle schon einmal erlebt haben, wissen Sie auch, wie es sich anfühlt, beschämt zu werden. Vermutlich werden Sie gespürt haben, dass Scham weit über das Gefühl der Peinlichkeit hinausgeht. Ich nehme an, dass Sie in der Erinnerung an einen peinlichen Moment vielleicht gelegentlich noch schmunzeln konnten. Beim Gedanken an eine Situation, in der Sie sich geschämt haben hingegen wird dies nicht der Fall sein. Und deshalb gilt Scham zu Recht als heimlichstes Gefühl in unserer Gesellschaft (Neckel 1991). Denn unsere Schamgefühle sind absolut privat, intim und persönlich. Wir können eher über Angst reden, über Traurigkeit und Verzweiflung. Auch von peinlichen Momenten können wir nach einer gewissen Zeit erzählen und im Nachhinein sogar lachen. Aber Scham ist ein Tabuthema. Über unsere Schamgefühle sprechen wir nicht, weil es bei einer Beschämung um unsere Würde, um unseren innersten Kern und um unsere Selbstachtung geht. Denn sich zu schämen fühlt sich an, als sei unsere Seele oder unser Selbst verwundet (Wurmser 2008). Und genau deshalb macht Scham so sprachlos oder erzeugt heftige emotionale Reaktionen in uns, die dazu dienen sollen, die Scham zu bewältigen oder abzuwehren.

Scham: Das Gefühl, im Erdboden zu versinken

Jeder Mensch kennt das Gefühl der Scham. Wir alle haben in unserem Leben bereits mehr oder weniger schwerwiegende Beschämungen erlebt. Selbst wenn wir uns noch so sehr bemühen, wird es kaum möglich sein, Beschämungssituationen vollständig aus unserem Leben zu verbannen. Es liegt schließlich im Wesen der Scham, dass sie uns plötzlich und unerwartet überwältigt. Denn Schamgefühle kündigen sich nicht an, die Gefahr von Beschämung lauert überall und zwar ganz unabhängig von Zeit und Ort, Lebens- oder Altersphase.

Wenn wir uns schämen, dann haben wir das Gefühl, als seien wir der Mittelpunkt der Welt. Alle Blicke scheinen auf uns zu ruhen. All das, was wir mühsam vor anderen verstecken oder verbergen wollten, scheint nun öffentlich und für jedermann sichtbar zu sein. Kaum ein anderes Gefühl erweckt daher so stark den Wunsch, sich zu verstecken oder bedecken zu wollen.

Wenn wir uns schämen, möchten wir am liebsten verschwinden und im Erdboden versinken oder uns am liebsten auflösen, um nur irgendwie dieser unerträglichen Situation zu entkommen (Wurmser 2008).

Wenn uns die Scham überkommt, so ist das für unsere Umwelt kaum zu übersehen. In der Regel schlagen wir die Augen nieder, wir erstarren, bekommen Schweißausbrüche, meistens sind wir sprachlos oder zittern am ganzen Körper. Wir fühlen uns unfähig, uns zu bewegen oder in irgendeiner Weise zu handeln. Die ganze Welt scheint stillzustehen. Es gibt nur diesen einen Augenblick, der sich qualvoll und endlos auszudehnen scheint. Im Erlebnis der Scham bekommt Zeit eine völlig andere Dimension. Jeder Mensch, der Schamgefühle intensiv erlebt hat, wird sich erinnern, wie leidvoll und beklemmend der jeweilige Moment der Scham war. Denn aus dem Gefühl gibt es kein Entrinnen, höchstens aus der Situation (Landweer 1999). Doch jeder Fluchtweg scheint versperrt zu sein.

Am verräterischsten zeigt sich das Schamgefühl im Erröten. Die aufsteigende Hitze ist besonders belastend, weil sie die Scham eindeutig entlarvt und eine zusätzliche Quelle der Scham für die betroffene Person darstellt. Indem die Röte plötzlich und unkontrolliert das Gesicht erobert, wird das Erröten selbst zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das Tragische ist, dass die Röte sich um so mehr steigert, je intensiver wir versuchen, sie zu unterdrücken. Bemerkungen wie: „Du brauchst aber doch nicht rot zu werden“ bzw.: „Aber du brauchst dich doch nicht zu schämen“ erleben wir als weitere Bloßstellung, weil durch sie unsere letzte stille Hoffnung schwindet, die anderen könnten das Erröten vielleicht doch übersehen haben. Stattdessen hält uns unser Gegenüber erbarmungslos den Spiegel vor und wir erkennen: „Ich kann mich nicht verstecken, ich bin entlarvt“.

Erröten kann ein Schamgefühl verstärken, da wir uns durch den roten Kopf nun zusätzlich exponiert fühlen (Landweer 1999). Dadurch ist schließlich für alle offensichtlich, dass wir unseren Gefühlen hilflos ausgeliefert sind. Jedermann sieht, dass wir die Kontrolle über uns selbst verloren haben und genau das kann als weitere Unfähigkeit interpretiert werden (Mariauzouls 1996). Im schlimmsten Fall vertieft sich in diesem Moment das Erröten und die Angst steigt an. Neben der Scham müssen nun vielleicht noch Kommentare der anderen oder schlimmstenfalls Belustigungen befürchtet und bewältigt werden (Landweer 1999).

Interessant ist, dass ausgerechnet der Körperteil errötet, den wir nicht vor anderen verstecken können, sondern den jeder sehen kann (Artel / Derksen 1999). Außerdem ist das Gesicht jener Teil unseres Körpers, den wir selbst nicht sehen können. Einen errötenden Arm oder ein errötendes Bein könnten wir noch recht gut verbergen. Unser Gesicht hingegen werden wir nicht vollständig vor anderen verdecken können. Es ist paradox: Einerseits bewirkt die Scham, dass wir verschwinden und uns auflösen wollen. Andererseits wirkt das schamhafte Erröten wie ein Signal, das überhaupt erst die Aufmerksamkeit der anderen auf uns lenkt. Im Erröten zeigt sich daher die Polarität der Scham (Tiedemann 2013).

Doch nicht jedes Erröten deutet unbedingt auf Scham hin. Wir werden auch rot, ohne dass ein besonderer Grund dafür vorliegen muss. Nicht jeder Mensch, der rot anläuft, schämt sich zugleich. Auch ein Schreckmoment kann Erröten auslösen. Das trifft ebenso auf Gefühle wie Ärger oder Zorn zu, wobei Ärger auch eine Form der Schamabwehr sein kann.

Neben dem Erröten kommt es jedoch ebenso vor, dass Menschen vor Scham erbleichen. Das liegt daran, dass unser Schamgefühl sehr eng an Angstgefühle gekoppelt ist und deshalb Blässe, Zittern oder auch Angstschweiß hervorruft.

In gewisser Weise ist jedes Schamgefühl ein Geständnis (Sartre 1976). Ohne es zu wollen, ist für alle offensichtlich: Ich bin verletzt. Dies ist ein sensibler Punkt von mir. An dieser Stelle leide ich. Und auch ich selbst erkenne, wie verwundbar und verletzlich ich bin.

Wenn wir beschämt werden, haben wir das Gefühl, minderwertig und dem anderen unterlegen zu sein. An dieser Stelle kommt die Macht ins Spiel, denn Scham hat immer mit Machtverlust zu tun. Wenn ich mich schäme, dann bin ich dem anderen unterlegen und ich verlasse die Situation mit einem Verlust an Macht. Als die beschämende Person bin ich hingegen dem anderen überlegen und ich verlasse die Situation mit einem Zuwachs an Macht (Lietzmann 2003). Wenn wir uns vor anderen schämen, dann sind die anderen folglich immer die mächtigeren Personen.

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Reflexion: Woran merken Sie, dass eine Bewohnerin sich schämt? Wie verhält sie sich? Gibt es diesbezüglich Unterschiede zwischen Bewohnern und Patienten?

Was unterscheidet Scham und Peinlichkeit?

Es gibt Situationen, in denen reagieren wir mit großer Scham, aber auch Momente, in denen wir nur peinlich berührt sind. Es würde dem Leiden, das eine Beschämung mit sich bringt, keineswegs gerecht, wenn wir jedes peinliche Berührtsein vorschnell dem Schamgefühl zuordnen würden. Eine Unterscheidung zwischen Scham und Peinlichkeit ist daher hilfreich, denn wenn alles plötzlich als Scham bezeichnet wird, würde diese umgehend ihren Wert verlieren.

Das besondere Merkmal der Scham liegt darin, dass wir uns ohnmächtig, gedemütigt und in unserer Würde verletzt fühlen. Tiefe Scham betrifft unsere Selbstachtung und unseren innersten Kern. Der Psychoanalytiker León Wurmser, bringt den Schmerz des Schamerlebnisses treffend auf den Punkt, indem er sagt: Sich zu schämen fühle sich an, als sei unsere Seele verwundet (Wurmser 2008). Obwohl das Gefühl der Peinlichkeit zur Familie der Schamgefühle gehört, unterscheidet sich Peinlichkeit doch erheblich von der Scham.

Scham ist personenbezogen, denn bei ihr steht die gesamte Person auf dem Spiel. Es geht um eine Verletzung der eigenen Würde, um eine Demütigung oder die Verletzung der Ehre (Demmerling / Landweer 2012). Peinlichkeit hingegen ist vorrangig situationsbezogen (Neckel 1991). Bei der Peinlichkeit geht es vorrangig um einen Fehler oder eine Ungeschicklichkeit in einer bestimmten Situation. Hier ist jedoch nicht die gesamte Person betroffen. Bei der Peinlichkeit geht es darum, was mir passiert ist, bei der Scham hingegen um mich selbst.

Peinlichkeit gilt grundsätzlich als weniger intensiv. Sie ist damit harmloser als die Scham. Daher fällt es uns auch wesentlich leichter, von peinlichen Situationen zu berichten, als von dem Erlebnis einer Beschämung. Zurückliegende peinliche Ereignisse können sogar humorvoll vorgetragen werden und zur Erheiterung einer geselligen Runde beitragen. Die Schilderung von Schamerlebnissen würde hingegen kaum diesen Effekt erzielen. Davon abgesehen ist es sehr unwahrscheinlich, dass jemand in einer geselligen Runde von einem Schamerlebnis erzählt. Auch der Satz: „Das ist mir peinlich“ geht leichter über unsere Lippen, als das aufrichtige Geständnis: „Ich schäme mich“.

Das Wort Scham wird hingegen gewählt, wenn es um Inhalte geht, die mit Würde behandelt werden wollen. Nicht ohne Grund sprechen Politiker in ihren Vorträgen zu den Gräueltaten des Nationalsozialismus von tiefer Scham und nicht von Ereignissen großer Peinlichkeit. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass es um weitaus mehr geht, als um den vergleichsweise oberflächlichen Charakter eines peinlichen Moments. Von der Intensität des Erlebens sind beide Gefühle daher in keiner Weise vergleichbar. Peinlichkeit ähnelt zwar der Scham, sie ist jedoch das weniger erschütternde Gefühl und insgesamt schwächer als das Schamgefühl (Landweer 1999).

Eine Pflegekraft gerät auf Station plötzlich auf unerklärliche Weise ins Stolpern. Sie stürzt und alles, was sie in der Hand hält, fällt lautstark zu Boden. Nun kann es sein, dass sie errötet und zunächst einmal versucht, möglichst schnell wieder aufzustehen. Sie schaut sich um, um zu überprüfen, ob jemand das Malheur auch tatsächlich gesehen hat. Es liegt nahe, dass eine Kollegin, vielleicht sogar Bewohner, die gerade in der Nähe sind, hinzukommen und ihr beim Aufstehen oder Einsammeln ihrer Sachen helfen. Andere bleiben möglicherweise nur stehen und schauen zu. Es gibt sicherlich einige unter den Helfern, die sie beruhigen und sagen, dass ihnen das auch schon mal passiert ist. Während also einige versuchen, sie zu besänftigen, machen andere vielleicht einen Scherz und lockern die Situation dadurch ein wenig auf. Es kann auch sein, dass alle herzhaft miteinander lachen. Auf jeden Fall werden die Zeugen des Sturzes die peinliche Situation mit der Pflegekraft teilen. Dadurch helfen sie ihr, die peinliche Situation zu überstehen und ihre Fassung wiederzugewinnen.

Was ich damit verdeutlichen möchte ist Folgendes: Wenn uns etwas peinlich ist, dann bleiben wir grundsätzlich handlungsfähig. Außerdem bleibt der Kontakt zu uns selbst und zu den anderen Menschen weitgehend bestehen.

In dem genannten Beispiel wird die Pflegkraft dadurch aktiv, indem sie versucht aufzustehen und die Sachen, die ihrer Hand entglitten sind, wieder aufzuheben. Außerdem gelingt es ihr, den Blickkontakt zu den anderen zu halten oder zumindest schnell wieder aufzunehmen. Zum einen tut sie das, um sich zu vergewissern, ob die anderen das Malheur auch tatsächlich registriert haben. Zum anderen löst sie damit in der Regel eine große Hilfsbereitschaft aus. Denn die anderen fühlen sich plötzlich aufgefordert, sie bei der Beseitigung der Folgen dieses Vorfalls zu unterstützen.

Im Gegensatz zu einer peinlichen Situation löst Scham sowohl in der beschämten Person selbst als auch bei den Schamzeugen vorrangig Hilflosigkeit und Ohnmacht aus. Im Schamerlebnis fühlen wir uns wie gelähmt und diese Lähmung greift auch auf die Schamzeugen über.

Eine Pflegkraft, die von der Pflegedienstleiterin vor dem gesamten Team heruntergeputzt und gemaßregelt wird, wird vermutlich schweigen und den Blick gesenkt halten. Doch auch die anderen werden schweigen und die zuschnürende Beklemmung spüren und weder lachen noch Partei für die Kollegin ergreifen. Die Gedemütigte selbst wird sich unterlegen und minderwertig fühlen und nach Lachen wird ihr schon gar nicht zumute sein. Während die Kollegen also stumme Zeugen des Ereignisses bleiben, steht sie selbst in der Bewältigung des öffentlichen Beschämungsaktes allein und bleibt von den anderen isoliert.

Anhand dieses Beispiels wird der Unterschied zwischen Peinlichkeit und Scham etwas genauer. Wie bereits erwähnt liegt die charakteristische Unterscheidung darin, dass Peinlichkeit sich vorrangig auf die jeweilige Situation bezieht, während bei der Scham die eigene Person in Frage gestellt wird (Neckel 1991). Außerdem wird das jeweils unterschiedliche Verhalten der Zeugen deutlich. Während sie in peinlichen Momenten unterstützend agieren und versuchen, gemeinsam mit der Person die Situation zu meistern, bleiben sie im Falle der öffentlichen Beschämung außen vor und isolieren sogar die beschämte Person. Die lähmende Wirkung der Scham springt damit auch auf sie über. Dies ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, wie ansteckend Emotionen sind.

Ein peinliches Gefühl kann leicht in ein Schamgefühl übergehen, wohingegen tiefe Scham sich kaum mehr in die mildere Peinlichkeit verwandeln kann.

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Reflexion: Versuchen Sie, sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie Zeuge eines peinlichen Vorfalls waren. Wie haben Sie sich verhalten? Und wie haben Sie reagiert, als eine andere Person beschämt wurde?

Beschämungssituationen: Anlässe und Quellen der Scham

Was beschämt uns? Wofür schämen wir Menschen uns eigentlich? Fest steht, die Anlässe und Auslöser der Scham sind sehr verschieden. Wenn wir es genau nehmen, so gibt es letztlich keinen Moment und auch keine Situation, die nicht zum Schamanlass werden kann. Es ist somit schwer, Lebensbereiche zu nennen, in denen Scham nicht auftreten kann (Kalbe 2003).

Menschen schämen sich für ihr Aussehen und für tatsächliche oder vermeintliche körperliche Makel. Sie können sich für ihre Herkunft schämen, für Armut oder Arbeitslosigkeit. Auch das Altern kann Scham auslösen, denn das Erleben des eigenen Alterungsprozesses kann eine Kränkung und daher sehr schmerzvoll sein (Hilgers 1997a).

Lietzmann 2003