Petra Endres

Nach Worten fischen

Demenz – Kommunikation – Assoziativer Dialog P. E.

Petra Endres

Nach Worten fischen

Demenz – Kommunikation – Assoziativer Dialog P.E.

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Buch-Code: AH1060

Inhalt

Einleitung

1 Der Weg zum Sprachmodell

2 Das Sprachmodell - 3 DKom®

2.1 Die 3 Dimensionen der Kommunikation

2.2 Die Bedeutung von Bewertung

3 Nach Worten fischen - Fallbeispiele

4 Einführung in den Assoziativen Dialog

4.1 Schnittstelle Sprache

4.2 Schnittstelle Assoziationsfähigkeit

4.3 Schnittstelle: Erleben

4.4 Schnittstelle: Stärken/ Ressourcen

5 Anfänge und Grundlagen des Assoziativen Dialogs

6 Basiselemente des Assoziativen Dialogs

6.1 Beobachtung und Bewertung

6.2 Assoziationsfähigkeit

6.3 Das Wort - Sprachbilder kreieren

7 Zugangsmöglichkeiten

7.1 Wahrnehmung und Sprache

7.2 Sprachbilder

7.3 Die Haltung in der Begegnung

8 Den eigenen Einstieg wählen

Autorin

 

 

 

 

Einleitung

Es gibt nicht den demenziell Erkrankten. Auch wenn sich Krankheitsverläufe und Auswirkungen oftmals ähneln, ist die individuelle Ausgestaltung bei jedem Menschen gefärbt durch seine Persönlichkeit und seine Biografie.

Dies bedeutet: Demenz + Mensch = Biografie, Persönlichkeit, Verhalten. Die Ausprägungen jedes Menschen, der an Demenz erkrankt ist, entstehen vor diesem Hintergrund. Die Erscheinungsform entsteht, ohne dass der betroffene Mensch einen regulierenden aktiven selbstbestimmten Zugriff auf seine Erscheinungsfacette hat.

Eruptive Zusammensetzungen der oben genannten Aspekte sorgen trotz gleicher Erkrankung für individuelle Erscheinungsformen. Aus diesem Grund sind Flexibilität und Akzeptanz in der Kommunikation mit Menschen mit Demenz so wichtig. Sie ermöglichen dem erkrankten Menschen, seine Worte zu finden.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um auf diese vielfältigen Veränderungen, Reaktionen, die sich im Verlauf der Erkrankung einstellen, zu reagieren. Dieses Buch beschäftigt sich in erster Linie mit dem Thema Kommunikation: Was verändert sich und wie können wir darauf reagieren?

Wie gelingt es uns, ab und an eine Brücke zu dem Menschen zu kreieren, der sich verändert? Eine Brücke zu einem Menschen, der sich in seinem ganz individuellen Prozess dieser Veränderung zurechtfinden muss? Muss? Will? Soll? Welches Verb passend erscheint, ist abhängig vom Blickwinkel und der Haltung des jeweiligen Betrachters. So ist Kommunikation facettenreich und gewohnheitsträchtig zugleich.

Sie mögen in diesem Buch Angebote lesen, bei den Ihnen ein „Ja, aber“ in den Sinn kommt und die entsprechende Gegenargumentation. Das ist menschlich, denn der Mensch ist ein Gewohnheitstier und neigt dazu, Ungewohntes sofort zu bewerten.

Eine Haltung im Assoziativen Dialog ist, erst einmal „Ja“ zu sagen, ohne Jasager zu werden. Ja sagen im ersten Schritt für die Wirklichkeit des Gegenübers. Sie können sozusagen gleich beginnen zu üben, wenn Sie Ihr womöglich berechtigtes „Ja, aber“ wahrnehmen, schreiben Sie es auf die leeren Seiten am Ende des Buches. Dies ist Ihr Platz, um Ihre Bedenken und Fragen ernstzunehmen und nicht zu vergessen. Dadurch ermöglichen Sie sich ein offenes, ohne durch Annahmen und Gegenargumente eingefärbtes Weiterlesen. Bleibt das „Ja, aber“ bis zum Ende des Buches begründet erhalten, haben Sie wertvolle Augmentationen für die Weiterentwicklung der Methode gefunden. Gerne können Sie mir diese zukommen lassen. Sie tragen damit zur Weiterentwicklung bei.

Sicherheit spielt in Deutschland eine wichtige Rolle. Planen und Überlegen, vorausschauend Handeln, damit der morgige Tag berechenbar bzw. vorhersehbar wird, gehört zu diesem Sicherheitsdenken dazu.

Wir werfen unseren ersten Blick oftmals gerne auf das, was nicht geht, was nicht gelingt, was anders und verbesserungswürdig ist. So wird auch das Thema Demenz häufig betrachtet – ein geistiger Verfall, ein Sterben auf Raten, denn der Erkrankte verliert das, was uns wichtig und richtig erscheint: Wir sehen die negativen Seiten der Veränderung, wir sehen das Problem, das es gibt. Das ist genauso gut, wie es hinderlich ist.

Einige Kulturen bewerten Demenz als Hirnschwäche – altersentsprechend. Dass „kulturelle Sichtweisen den Umgang mit Demenz auch positiv beeinflussen können, zeigen auch ozeanische Gesellschaften. Dort herrscht die Vorstellung, dass alte Menschen deswegen über ihre geistigen Kräfte nicht mehr verfügen, weil sie diese an die Jüngeren weitergegeben haben. Eine solche Großzügigkeit ermuntert vermutlich zu einer ganz anderen Sicht auf Menschen mit einer Demenz, als die Vorstellung der westlichen Gesellschaften von einem geistigen Verfall.

Das Leben und Arbeiten mit Menschen mit Demenz ist für alle Beteiligten immer wieder ungewohnt und verunsichernd, denn es gibt kein Verlass auf Verhalten, Sprache und Regeln. Nutzen Sie das, was Sie lesen, auf Ihre Art und Weise für die Erweiterung des eigenen Blickwinkels und das Akzeptieren des eigenen Widerstands. Manches, was Sie lesen, können Sie womöglich sofort umsetzen, manches müssen Sie üben. Menschen sind Gewohnheitstiere, aber Übung macht den Meister und jeder Mensch hat die Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln. Nutzen Sie Ihre Stärke mit Freude, probieren Sie Ungewohntes aus und staunen Sie über das, was es Ihnen bringt.

Übersicht:

Zuerst werden Sie etwas über das Sprachmodell, welches die Basis des Assoziativen Dialogs darstellt, erfahren. Im Kapitel Assoziativer Dialog p. e. wird ein Überblick über die Art und Weise, wie er angewendet werden kann, gegeben und die Basiselemente werden vorgestellt. Fallbeispiele verdeutlichen die theoretischen Grundideen der Methode. Im Anschluss werden 3 Zugangsmöglichkeiten vorgestellt, wie Sie mit dem Assoziativen Dialog starten und experimentieren können. Sie suchen sich den Zugang aus, der Ihnen zusagt und beginnen, mit Ihrer Art Brücken zu bauen. Wie diese 3 Möglichkeiten zusammenfließen und gemeinschaftlich angewandt werden können, bildet den Abschluss.

Der Assoziative Dialog ist sehr individuell, für den Anwender und seine Art, wie er ihn benutzt.

Der Assoziative Dialog lässt sich individuell gestalten. Sie bestimmen wie!

Der Assoziative Dialog braucht Übung, Sie üben auf Ihre Art und Weise.

Viel Vergnügen beim Erkunden.

Petra Endres

1 Der Weg zum Sprachmodell

DEMENZ: Der Geist ist weg, so die Bedeutung dieses Wortes. Die Definition von Geist bedeutet: „Die Fähigkeit des Menschen logisch zu denken, Schlüsse zu ziehen und Urteile zu bilden und ein (sich entwickelndes) Bewusstsein zu haben.“

Wenn Sie das Wort Demenz hören, was fällt Ihnen als erstes dazu ein? Womöglich: Vergessen, sich nicht mehr Auskennen, ständiges Fragen, komisches Verhalten, andere Sprache, Wiederholen von Fragen, die Sie gerade beantwortet hatten, sowie keine Antworten bekommen, wenn Sie eine ganz alltägliche Frage stellen. Demenzerkrankte Menschen können uns verunsichern, manchmal auch erschrecken, da sie sich ungewohnt verhalten. Sie „purzeln“ sozusagen aus unserem gewohnten Miteinander, unserer gewohnten Art miteinander zu sprechen, heraus. Dies geschieht ohne Absicht. Wir sind gefordert, diese Veränderungen zum einen zu akzeptieren und unsere gewohnte „Form“, wie wir miteinander sprechen, flexibler zu gestalten, damit so lange wie möglich Begegnung auch mit Worten möglich ist.

Die verlagerten Fähigkeiten der sich verändernden Menschen sind es, die uns im Umgang mit ihnen helfen können, die eigene Unsicherheit in der Begegnung ab und an in eine tiefe Ruhe und Sicherheit zu verwandeln.

Ein Blick zurück dahin, wie es dazu kam, dass die verlagerten Fähigkeiten der sich verändernden Menschen ihren Weg fanden. In der Weiterbildung zur Poesiepädagogin kam ich mit Übungen des Kreativen Schreibens und pflegebedürftigen Menschen im Pflegeheim zusammen. Assoziationen in Worte fassen, Gedichte über das Leben schreiben war ein Aspekt dieser biografischen Arbeit. Nachdem ich vier Wochen hospitierte, entstand das Konzept: Sie erzählen, ich schreibe und am Ende der Sitzungen machen wir assoziative Texte, wie:

Der Traum

blau

stille Verehrung

schöne wohlige Erinnerung

Ich wäre gerne Schauspielerin geworden

Schneiderin

Mit der Zeit wurde immer klarer, dass es kein Wort gab, zu dem der Mensch keine Assoziation, sprich Verknüpfung, hatte. Hinzu kam, dass die Kriegsgeneration, die nicht so gern erzählte oder sagen wir, es nicht so gewohnt war, über sich und die Emotionen zu sprechen, mit dieser Art zu „Sprechen“ eine Möglichkeit fand, ihre Erlebnisse zu beschreiben, ohne preisgeben zu müssen, was konkret erlebt wurde:

Großvater

schwarz

schaukelnder Kinderwagen

zum liebvollen Schlummerschlaf

fühlte mich geborgen – ErinnerungFrau L.

Was hat dies alles mit dem Thema Demenz zu tun? Ich hatte nicht vor, mit demenziell veränderten Menschen zu arbeiten. Sie begegneten mir in meinen Gruppen auch nicht, denn es wurden die Bewohner ausgewählt, die geistig rege waren.

Bis zu jener Gruppe, vor ca. 10 Jahren, in der zwei Teilnehmerinnen saßen, die konstant, wenn ich zielführende klassisch biografische Fragen stellte, auswichen. Sie wurden eher verunsichert, je konkreter ich sie fragte. Das kreative Texten kam am Schluss der jeweiligen Sitzung. Dort, wo alle ihre Bilder suchten, um zu beschreiben, wie sie was erlebt hatten, waren die beiden Damen umgehend mit dabei. Antworten zu finden auf: „Wie schmeckt denn die Liebe? Nach Schokolade oder eher nach Zitrone?“, war einfacher für sie und vor allem konnte es keine falsche Antwort geben. Jede Assoziation ist richtig und unweigerlich mit der Person verbunden!

Erinnern

Erinnern ist wie großes Wasser.

Erinnern ist ein Tagebuch, es könnte nach Veilchen riechen.

Veilchen freuen mich.

Erinnern sind auch Tränen.

Ich bin immer allein, ich kann nicht viel lustig sein.

Liebste Erinnerung? Da weiß ich auch nichts.

Erinnern ist blass.

Das ist so.

Jetzt ist für mich wichtig.

Jetzt bin ich nicht allein, das ist viel wert.

Dies sind Zeilen aus meiner Anfangsarbeit mit Gesprächsgruppen für Menschen mit Demenz.

Auf meine Frage beim Personal, was denn mit den beiden ist, bekam ich die Antwort: „Ach, die sind ein bisschen dement, aber es geht noch!“

Die Frage, die für mich auftauchte, war: Wieso reden wir nicht so mit den Menschen mit Demenz, wenn sie Spaß daran haben und so die Möglichkeit bekommen, ihrem Erleben Ausdruck zu geben?

So hat es begonnen, das Fischen nach den Worten für und mit demenziell veränderten Menschen.

Es brauchte ein neues Konzept und am Anfang mischte ich die Gruppen mit Menschen mit und ohne Demenz. Es stellte sich heraus, dass es einfacher war, nur mit demenziell veränderten Menschen zu arbeiten. Die Zeit konnte besser stillstehen, wenn nach Worten, nach den Bilder des Ausdrucks, gesucht wurde. Es war eine höhere Akzeptanz vorhanden, wenn Ereignisse mehrfach erzählt wurden.

Frau L.: „Meine ganze Familie ist im Wasserfall ertrunken. Mein Mann und meine Kinder, alle!“

Der Satz schoss über den Tisch. Die anderen drei an Demenz erkrankten Frauen waren tief erschüttert. Sie zeigten Betroffenheit und Mitgefühl. Frau L. weinte und schnäuzte sich immer und immer wieder: „Ja, ich bin jetzt ganz allein.“

In der nächsten Sitzung wiederholte sich die Geschichte und in den nächsten beiden auch. Die anderen Teilnehmerinnen spendeten jedes Mal ihr Mitgefühl. Nur ich konnte mich erinnern, dass sie diese Geschichte die letzten drei Male erzählt hatte und nur ich wusste, dass wir in Emmendingen keinen Wasserfall haben, an dem drei Erwachsene ertrinken können.

Was passiert hier? Da ich nichts von der Biografie meiner Teilnehmerinnen wusste und gern so arbeitete, weil es mir leichter fiel, das Erleben als wahrhaftig anzuerkennen, war ich nun dennoch neugierig. Stimmt das? Sind ihre Angehörigen umgekommen? Meine Recherche ergab Folgendes: Frau L. hatte eine Demenz bedingt durch ihren Alkoholismus. Diese Erkrankung war für die Kinder nicht einfach. Nachdem der Vater verstorben war, und dies war ein halbes Jahr vor dem Start der Gruppe, haben die Kinder sich von der Mutter abgewandt. Der Kontakt wurde abgebrochen, die Erkrankung und die Erinnerung waren für die Angehörigen nicht zu vereinen.

Was erlebt Frau L.? Womöglich vermisst sie ihre Menschen. Was tut sie? Sie lässt alle sterben, erfährt Mitgefühl. Dieses würde sie u.U. nicht erfahren, wenn sie sagen könnte, ich war Alkoholikerin, habe meine Kinder vernachlässigt und jetzt, wo mein Mann nicht mehr mit mir hier im Heim lebt, haben sie sich von mir abgewandt. Das wäre eine analytische Betrachtung, zu der man in der Lage sein muss. (Das fällt auch Menschen ohne Demenz nicht immer leicht). Frau L. kreierte ihre Wirklichkeit, um im Jetzt zu leben. Wie bewusst oder unbewusst dies geschieht, kann ich nicht sagen. Jedoch gelang es ihr so, damit zurechtzukommen. Ich erzähle diese kleine Episode mit dem Fokus, dass es uns nicht zusteht, die Wirklichkeit des Gegenübers infrage zu stellen bzw. zu bewerten. Wenn wir helfen wollen, dass die Menschen mit ihrer Veränderung zurechtkommen, müssen wir ihre Wirklichkeit akzeptieren. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich ja sagen muss im Sinne von „Ja, Frau L., so war das.“

Wie können Sie darauf reagieren? Sie greifen das auf, was Sie interessiert. Bei mir war es das Wort „gestorben“. Was ist die erste, sich in mir meldende Verknüpfung? Verlust = ich empfinde Verlust als schmerzvoll. „Ja, Verluste, zu Überleben ist nicht leicht.“ Das kann ich anbieten und mein und ihr Gesicht wahren. Ich schaffe den Raum für Akzeptanz der Begegnung in diesem Moment. Es geht hier nicht um richtig und falsch, es geht um die Verknüpfung der Wirklichkeiten der Menschen und um das Grundbedürfnis akzeptiert zu werden, so wie wir sind.

Wir wissen nicht, was ein demenziell veränderter Mensch erlebt, wir wissen nicht, wie sich seine Wirklichkeit zusammensetzt. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir das von keinem Menschen.