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ILYA BOYASHOV

Muris Weg

Roman

Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer

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Gefördert von der Autonomen NPO „Institut für
Übersetzung“, Russland.

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DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH

9020 Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5

Telefon +43(0)463 501099

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www.drava.at

Lektorat: Dr. Carsten Schmidt

Copyright © dieser Ausgabe 2018 bei Drava Verlag

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

ISBN 978-3-85435-866-4

eISBN 978-3-85435-890-9

Gewidmet denen, die den Weg haben,
wie auch denen, die ihn nicht haben.

BEVOR WIR ZU MURIS REISE KOMMEN, ZU DEN
STREIFZÜGEN DES POTTWALS, ZUM MARSCH DER
LANGUSTEN UND ZU DEN SEILTÄNZERN, BEVOR
WIR EINE HYMNE AUF DAS UNTERWEGSSEIN
ANSTIMMEN, EINIGE WORTE ZUR GESCHICHTE.
DER LESER VERZEIHE DEN LANGEN PROLOG, DOCH
SIND WIR SO FREI, WENIGSTENS EINEN KLEINEN
EXKURS DURCH DIE JAHRHUNDERTE ZU WAGEN.

Die Alten billigten ein auf der Stelle Treten nicht. Konfuzius und Laozi predigten unablässig den Weg: „Der Weg, der Weg, was denn sonst?” fragte der Dichter und Philosoph Zhuangzi immerzu. Ein Gelehrter galt nicht als Gelehrter im Königreich Yu, wenn er nicht über Berghänge und Steige zumindest hundert Li von einer Wacht zur nächsten zurückgelegt hatte. Ausnehmend interessant ist der Dialog des nicht ganz unbekannten daoistischen Meisters Lin Peng mit seinem offenbar ziemlich gebildeten Diener. Lin Peng zufolge sollen Eltern wie Lehrmeister dem Kind schon vom Mutterleib an einprägen: Ihm steht ein endloses Nomadendasein bevor. Doch keinesfalls soll diese Endlosigkeit den Pilger in spe erschrecken. Das Leben sei ein immerwährender Fußmarsch von einem räumlichen Punkt zum anderen, auf dem der Edelmann sich Wissen, Fertigkeiten und Gewohnheiten aneigne – vom Schmetterlinge Fangen, ohne ihnen den Staub von den Flügeln zu wischen, bis zur geschickten Führung der Schwerter Zsu. Bezeichnenderweise beschränkte Lin Peng den Weg nicht auf die Berge und Täler der Staaten Yu und Wei. Nach seiner tiefsten Überzeugung hatte ein Wanderer, der die Staatsgrenze erreichte, keineswegs das Recht stehenzubleiben, sondern war nachgerade verpflichtet, bis an die Grenzen des Himmels vorzudringen. Es sei daran erinnert, dass Lin Peng ein glühender Verfechter von „geistigen Reisen” war, sprich von Meditation.

Sein Diener durchkreuzte alle chinesischen Traditionen der Ehrerbietung und zog das Postulat von der Endlosigkeit der Wanderschaft recht kühn in Zweifel. Er verglich den Edelmann mit einem abgeschossenen Pfeil und erwog, dass früher oder später der Pfeil sein Ziel treffe, ergo der Flug zu Ende sei. Lin Peng sah das anders und schlug den jungen Mann mit einem Stock. Dennoch wuchs sich die Frage, die der Jüngling gestellt hatte, zu einem erbitterten Streit zweier namhafter Schulen des alten China aus – Qin und Bago. Die Begründer von Qin, direkte Nachfolger von Lin Peng, wiederholten fortwährend ihr einziges Gebot: „Der Weg, der Weg und sonst nichts …“ Jeder, der den „Weg der hundert Offenbarungen“ beschreite, müsse sich rückhaltlos der „wundervollen Schönheit der Unendlichkeit“ hingeben (Die Meditation zur Überschreitung jeglicher Grenzen war dabei verpflichtend.)

Die Gegner protestierten wütend gegen diese Sichtweise. Die Patriarchen der Bago-Schule wiesen primär auf das unausweichliche Ende selbst der längsten Reise hin (ein Pfeil erreicht irgendwann sein Ziel). Zum wichtigsten Ziel eines Edelmannes erklärten diese Pragmatiker den „inneren Weg zum vollkommenen Selbst“, der früher oder später in einen göttlichen Zustand münde.

Die erbitterte Polemik zwischen den beiden Schulen brach im fünften Jahrhundert ab. Was Qin betrifft, so begann ihr einstiger Verfechter Yui, sobald er genügend „Rundschädel“ um sich geschart hatte (ein verächtlicher Spitzname, den man seinen Schülern verlieh), die Idee der endlosen Wanderschaft auf seine Weise auszulegen. Yui forderte dazu auf, den Begriff Weg ausschließlich praktisch zu verstehen – der Edelmann müsse reisen, im ganz wörtlichen Sinn, Sandalen anziehen, Strohhut aufsetzen und mit einem Bündel am Rücken zur Tür hinaus. In seinen Augen waren sämtliche Arten von Meditation Ketzerei, die mit der ursprünglichen Lehre nichts zu tun hatte. Yui zufolge hatten die Qin-Anhänger die Pflicht, permanent unterwegs zu sein und niemals mehr als drei Tage an einem Ort zu verweilen, und wenn ihnen beschieden war zu sterben, so mussten sie das, den Stock in der Hand, mitten auf der Straße tun. Yui erklärte all jene zu Feinden, die völlig alltäglichen Reisen auch nur irgendeine philosophische Grundlage unterzuschieben versuchten. „Geh, ohne zu denken!“ lautete seine Losung. Die China in Massen überschwemmenden Rundschädel brachten diese Lehre ziemlich ins Wanken. Zumal viele von Yuis Schülern bei ihrem endlosen Unterwegssein unverhohlen zu plündern begannen und selbst Shaolin-Mönche in Angst und Schrecken versetzten. Gegen Ende des fünften Jahrhunderts waren sie für Herrscher wie Einwohner eine richtige Plage geworden. Überliefert sind mehrere Strafexpeditionen, von denen der Feldzug gegen die Rundschädel in der Provinz Sichuan der erfolgreichste war. Dort wurden die Banden zerstreut und ihr Anführer endlich mit stumpfen Messern gevierteilt. Und wie es nun einmal so geht, dehnte die Staatsmacht ihre Verfolgung dann auch auf vollkommen harmlose Vertreter der Theorie von der endlosen Wanderschaft aus. Und alsbald war es mit ihnen aus und vorbei.

Aber auch die Konkurrenten wurden ihrerseits von Erschütterungen heimgesucht. Ein gewisser Du Pin verstieg sich zu der Behauptung, das wahre Ende aller Reisen sei nicht das Erreichen eines inneren, sondern eines rein irdischen und konkreten Ziels. Hierauf wurde er als Ketzer vertrieben. Du Pin ließ sich auf der japanischen Insel Honshū nieder, wo er unter den dortigen Ureinwohnern wirkte. Nicht ohne eine gewisse poetische Gabe sagte er, für den einen sei das Ende des Weges die Kirschblüte in den Bergen, für den anderen eine Hütte, die er betritt und nie mehr verlässt. Allerdings waren Du Pins Bemühungen, Jünger um sich zu scharen, vergeblich, auch wenn sich in frühen japanischen Chroniken Spuren eines solchen Sektierertums finden lassen, etwa die nur wenige Zeilen umfassende Erwähnung eines gewissen Akawa aus Nagoya, der, wie er vor versammelter Menge lautstark verkündet haben soll, eine Heckenkirsche am Stadttor von Tanag zum Ziel all seiner Wanderungen erklärt habe. Diese kuriose Erwähnung – eine der wenigen erhaltenen – zeugt von der geringen Zahl der Anhänger Du Pins. Bereits im sechsten Jahrhundert war auch von seiner Schule nichts mehr zu hören!

Die Philosophie der alten chinesischen Wanderer faszinierte unverhofft auch die Araber. Mit typisch arabischem Temperament bliesen sie in die erlöschende Glut. Sie teilten die Derwische in endlos wandernde Unender (Sternenfreunde) und Ender (Schierlinge), die an ein Ziel der Reise glaubten. Die Praxis der Sternenfreunde versetzte die strenggläubigen Kalifen in Zorn. Doch trotz Verfolgungen und Hinrichtungen stürzten deren Aufrufe, die angestammten Plätze zugunsten einer endlosen Wanderschaft zu verlassen, das ganze Kalifat ins Chaos. Massen von Bewunderern folgten den Aufwieglern. In Damaskus führten Versuche, eine solche Kolonne aufzuhalten, zu regelrechten Tumulten. Man konnte die Staatsmacht verstehen – ganze Städte verwaisten, überall ließ die Bevölkerung Häuser und Grundbesitz zurück und die Steuereintreiber leer ausgehen. Dafür tummelten sich auf den Straßen Bettler, die auf der Suche nach Essbarem auch vor der Plünderung von Karawanen nicht zurückschreckten.

Die Schierlinge stellten eine noch größere Gefahr dar, denn sie kündeten von einem „Land der Sonne“, das auf der anderen Seite des Kaukasus liege. Natürlich gab es in diesem Land weder Arm noch Reich, und Begriffe wie „Zöllner“ und „Henker“ waren schlichtweg unbekannt. Man brauchte sich also nur mehr auf den Weg in die Utopie zu begeben. Selbstverständlich hatte diese klare Zielvorgabe zur Folge, dass verzweifelte Henkersleute ganze Pyramiden aus den Köpfen der Anhänger dieser Lehre aufschichteten. Überraschend milde war am Ende diesen Zerstörern des arabischen Friedens gegenüber eigentlich nur Hārūn ar-Raschīd eingestellt. Verlässlich überliefert ist auch die Vorliebe Al-Muhammed Ben Adens, eines engen Freundes dieses Bagdader Kalifen, für die Philosophie der Sternenfreunde. In den Traktaten „Zur Gnade Allahs“ und besonders in seiner unsterblichen „Rose von Xiva“ beschrieb der Arzt und Philosoph diese heiligen Narren, die bereit seien, „von Stern zu Stern zu fliegen wie die Schmetterlinge von Blüte zu Blüte“, mit großer Behutsamkeit.

Zum Leidwesen der heutigen Forschung führte der Hass überzeugter Verfechter der Scharia gegen die Unender dazu, dass bereits im 13. Jahrhundert nichts mehr von ihnen geblieben war als nebulöse Erinnerungen und sentimentale Legenden. Keine einzige Quelle ist erhalten, die wenigstens irgendwie andeuten würde, welche Gegend die Schierlinge mit dem „Land der Sonne“ gemeint haben. Doch Enthusiasten geben die Hoffnung nicht auf, eines Tages in den Bibliotheken von Damaskus oder Kairo unter staubigen Handschriften auf Auszüge aus dem sagenumwobenen Traktat „Die Wahrheit über die Karawane von Samarkand“ zu stoßen, in der es unverblümt um geheime unterirdische Gänge gehen soll, die in ein gelobtes Land führen.

Wieder zogen ein paar Jahrhunderte ins Land. In jenem für Frankreich segensreichen Jahr, in dem Heinrich IV. seine Truppen und Artillerie in Bewegung setzte, um das Fürstentum Savoyen zu zerschlagen, hatte der Franziskanermönch Will Bloumberg, nebenberuflich Bibliothekar im Saint Lucia, einem friedlichen, in Apfelgärten schwimmenden Kloster unweit von Lyon, endgültig Gewissheit über die Richtigkeit seiner Notizen zur „Bestimmung der Geschöpfe Gottes“ erlangt. Und nachdem er sich vom heiligen Franziskus den Segen dafür erbeten hatte (der Heilige stimmte zu, wie ihm schien, gab ihm ein Zeichen, und eine innere Stimme befahl ihm, sofort zur Tat zu schreiten), schrieb der bescheidene Kenner von Aristoteles sein einzigartiges Werk „Wesen und Gottgefälligkeit des wahren Weges“ nieder. Bloumberg schuf damit endlich ein System, das die Sichtweisen des unvergessenen Lin Peng und seines unbeugsamen Dieners friedlich vereinte. Er pflegte ein völlig entspanntes Verhältnis zu den Konzepten von Unendlichkeit und Endlichkeit jeder Reise, indem er fairerweise dem einen wie dem anderen absolute Berechtigung zusprach. Als ordentlicher Europäer sorgte er für eine präzise Klassifizierung, indem er die, die sich auf den Weg machten, unterteilte in „Leidensdulder“, „Gläubige“, „Ketzer“, „Zaghafte“, „Entschlossene“, „Achtsame“, „Zerstreute“, „Muntere“, „Schlaffe“ usw. usf. Nicht minder gewissenhaft untersuchte der Mönch auch die Gründe, die zum Reisen veranlassen, widmete ganze Kapitel der „Verzweiflung“, der „Hoffnung“, der „Ausweglosigkeit“, dem „Ehrgeiz“, der „Gottessuche“ oder dem „einfachen Wunsch, den Ort zu wechseln“ (Schopenhauer nannte später diese Art der Klassifizierung „Bloumberg-Variationen“). Der pingelige Mönch versuchte sogar, in eine so schwierige Frage wie die nach der „Wahrhaftigkeit“ und „Unwahrhaftigkeit“ des Weges Ordnung zu bringen. Er musste zugeben, dass der Grat zwischen gottgefälliger und teuflischer Motivation zum Aufbruch dermaßen schmal war, dass es sich lohnte, jeden Fall mit größter Sorgfalt einzeln zu klären.

Dieser Bloumberg tat sich auch damit hervor, dass er als Erster die Vermutung formulierte: Reisen können auch Wesen aus einer anderen Welt, Geschöpfe des Jenseits – Geister, Engel, Dämonen, Zwerge und sonstiger Spuk. Ihm ist die für die damalige Zeit unerhört verwegene These zur bewussten Fortbewegung der Tiere zuzuschreiben. Der Mönch selbst erschrak zwar vor seiner eigenen Kühnheit und kehrte zurück zum Dogma der Vorrangigkeit der menschlichen Beziehung zu Gott, doch später formulierte der berühmte Zoologe und Mystiker Faserlend ausgerechnet in Anlehnung an die „Bloumberg-Variationen“ die Idee, dass „alle Geschöpfe vernunftbegabt sind und somit das Recht auf einen bewussten Weg für sich in Anspruch nehmen können.“

Was den Mönch Bloumberg angeht, so beendete er seinen Weg auf Erden im Alter von dreiundneunzig Jahren. Obwohl er bis auf ein einziges Traktat nichts hinterlassen hatte, inspirierte er die Metaphysiker über Generationen hindurch. Unzählige Reisende und Suchende regte er zum Aufbruch an – von Amundsen bis Aurobindo. Paradoxerweise hatte er selbst sein ganzes Leben im Kloster zugebracht, das er nur gelegentlich verließ, um im nächsten Dorf Einkäufe zu besorgen.

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verwarf François Bélanger, Professor an der Genfer Universität und überzeugter Anhänger von Lin Peng, den Kompromiss, den der Franziskaner zu erreichen versucht hatte. Pete Stout, ein Biologe aus Cambridge, stellte sich ihm entgegen – und der Kampf konnte beginnen.

Der erbitterte François scharte so genannte „neue Unender“ um sich. Er war beleibt und träge und zog Konferenzen sein Arbeitszimmer vor. Dr. Stout hingegen war ein hitziger Verfechter der entgegengesetzten Idee. Lang, krumm wie ein Nagel, mit Schildpattbrille, den Rucksack umgeschnallt, zog der Doktor flinken Fußes über den Planeten. Die Glatze des unermüdlichen Pete blitzte auf allen Symposien und Kongressen auf, zu denen sich seine Anhänger versammelten. Obendrein war Stout ein eifriger Befürworter der Theorie Faserlends.

Bélanger bezog kategorisch Stellung gegen Versuche, der Wanderschaft von Tieren und Vögeln auch nur irgendeine Sinnhaftigkeit zuzuschreiben.

„Man muss schon extrem naiv sein“, polterte er in seinem Aufsatz „Dummheit oder Idiotie“ (Zeitschrift „Philosophisches Blatt“, Mai 1967), „um der übrigen Natur das zuzusprechen, womit der Herr allein den Menschen bedacht hat. Lassen wir die höhere Intelligenz beiseite, die bestimmt den Engelsscharen eigen ist. Streiten wir auch nicht über die böse Intelligenz satanischer Mächte. Aber zu behaupten, den natürlichen Instinkten, die die Enten jedes Jahr zu ihren Flügen bewegen, liege Vernunft zugrunde, ist gleichbedeutend damit, sich weiß der Teufel worauf einzulassen, in eine rührselige Kindheit zurückzufallen, weder Wirklichkeit noch Tatsachen anzuerkennen! Es ist nicht zu fassen, wie Menschen mit akademischen Graden bei vollem Verstand plötzlich Betrachtungen dazu anstellen (noch dazu in Wissenschaftsmagazinen, in renommierten Zeitschriften!), dass Ameisen und Lemminge von einem menschenähnlichen Willen zur Reise motiviert würden! Ob nicht davon die bis zum heutigen Tag ad absurdum unternommenen Versuche einiger Philosophen und Zoologen herrühren, zu beweisen, dass es so etwas wie eine Tiersprache und sonstige Anzeichen dessen gäbe, was wir gewohnt sind, als Vorrecht ausschließlich unseres Verstandes zu betrachten, der uns von Gott selbst verliehen wurde? Da werden wahnwitzige Versuche angeordnet, Machwerke verfasst, die Pawlow mit seinen Reflexen verleugnen, – mit einem Wort, es wird parawissenschaftlicher Unfug, Obskurantismus und Scharlatanerie betrieben. All diese Personen behaupten, Tiere und Insekten verfügten über ein Denken. Was soll man dazu sagen? Ich werde doch nicht im Gefolge aller großen Gelehrten zum tausendsten Mal argumentieren, dass ad incunadulis* die Vernunft das wichtigste Geschenk Gottes an sein geliebtes Kind war, das nur dieses dem Schöpfer näherbringt und nur ihm es erlaubt, den Genuss der Unendlichkeit zu schmecken …!“

„Noch lächerlicher ist es, an Elfen und Faune zu glauben!“, schrieb der fleißige Bélanger in einem anderen Aufsatz, „Hiebund stichfester Irrsinn“ (erschienen ebenda, 1969). „Ad imo pectore** überlassen wir das Recht, zu Themen dieser Art zu phantasieren, den Literaten. Welcher Gelehrte jedoch – sofern natürlich bei Trost und bei Sinnen – wird ernsthaft versuchen, nicht nur die Existenz übernatürlicher Wesen, also Geister, zu beweisen, sondern auch deren geradezu menschliche Wahrnehmung der Welt …? Dieses zauberhafte Völkchen, das Berg und Tal bewohnt, all die Kobolde und Nixen sind nichts weiter als Nonsens, Phantasiespiele, Angstgebilde, die noch vom Heidentum herrühren …“

François Bélanger schrieb noch so einiges: Es genügt ein Blick auf seine Bibliografie. Nach Publikation seiner spektakulären Arbeiten „Können Tiere denken: Kritik der Anhänger Faserlends“ (1961), „Gibt es noch Walküren und Gnome?“ (1973) und „Die Wege der Pilger und Vögel“ (1987) galt der Maître Ende der Achtziger als anerkannte Autorität. Anfang der Neunziger zog sich der kampflustige Sechsundsiebzigjährige in eine kleine Villa bei Hannover zurück, um sich im stillen Kämmerlein dem Hauptwerk seines Lebens zu widmen: „Die Besonderheit des Homo sapiens als einziger Träger der Göttlichen Idee“. In diesem Werk gelang es ihm, mit „sämtlichen wie auch immer gearteten Spiritisten“, die anderen Geschöpfen auch nur einen Abklatsch menschlicher Vernunft zugestanden, ein für allemal aufzuräumen.

Der Wortführer der modernen Ender, Dr. Stout, erwischte ihn auch da.

„Man muss wirklich blind wie ein Nashorn sein, um das Offensichtliche nicht zu bemerken“, giftete Pete in der Zeitschrift „Mensch und Tier“, dem Sprachrohr von Faserlends Gefolgschaft. „Das finstere Mittelalter nimmt tatsächlich kein Ende! Herr Bélanger soll mal eines beachten: Nec sutor iltra crepidam!* Wenn sich sogar der geniale Mönch unter damals in wissenschaftlicher Hinsicht schwierigen Bedingungen zwar vorsichtig, aber doch zugunsten offensichtlicher Dinge aussprach, was hindert dann uns, die wir jetzt über Laboratorien und ganze Institute verfügen, an einer Beweisführung: Tiere denken, sie machen sich bewusst auf den Weg und haben konkrete Ziele … Sol lucet omnibus*, Herr Professor!“

Muri, ein frecher junger Kater aus einem bosnischen Dörfchen, hatte seinerseits nicht die geringste Ahnung von den Bloumberg-Variationen. Der kleine Despot herrschte über seinen Platz neben dem Lehnsessel, wo man ihm eine alte Decke hingelegt hatte und eine Schale hingestellt. Den Obstgarten betrachtete er in seiner gutmütigen Einfalt ebenfalls als den seinen. Die ganze Bauernfamilie – Mutter, Vater, Sohn und Tochter – gehörte ihm und existierte nur, um seine Wünsche zu erfüllen. Beflissen bewachte der Kater sein Territorium, das er in allen Einzelheiten kannte – vom alten Brunnen bis zu den Apfelbäumen am Rande des Gartens. Außerdem unterhielt er sich auf seine Weise mit einer Vielzahl kleiner und großer Zauberwesen, die sein Grundstück besiedelten – von den ganz winzigen, kaum erkennbaren, die im Gras und in den Zweigen von Sträuchern wohnten und es sogar auf den scharfkantigsten Halmen schafften, sich aus Spinnweben eine Behausung zu bauen, bis zu den Teichgeistern, leichtfüßig, wie die Wasserläufer, und den Gespenstern auf der riesigen bemoosten Eiche beim Haus. Sein Verhältnis zum Hausgeist, der in den Zimmern wohnte – eine durchsichtige, körperlose Luftblase – war durchaus loyal. Die Blase ließ den Kater sogar manchmal mit sich spielen.

Der Kater war also regsam, majestätisch und glücklich. Freilich hinterließen seine recht häufigen Geplänkel mit Fremdlingen ihre Spuren: Dann trottete der zerfledderte Krieger zu einer Wiese am Berg. Dort spürte er unfehlbar das Heilkraut Pektoralis auf und trank Kleetau, behandelte mit althergebrachten Methoden die Folgen der Scharmützel und fand sein seelisches Gleichgewicht wieder. Übrigens traf er des Öfteren im Gras auf winzige Menschlein mit durchsichtigen Flügeln, die emsig von Blüte zu Blüte flatterten. Die auch nicht gerade großen Nymphen hüpften mit ihnen im Reigentanz. Der Kater mochte die rotzigen Elfen nicht. Auch die Ameisen und einige Käferarten, die auf Wiesen und Lichtungen kribbelten und krabbelten und deren beißende Absonderungen lange die Nase betäubten, standen ihm bis obenhin. Doch das waren lauter Kleinigkeiten, ohne die man die Herrlichkeit des Seins gar nicht richtig auskosten könnte. Ohne jeden Zweifel hatte die strahlende Welt des Katers einen vollkommenen, umfassenden Sinn. Morgens und abends füllte sich sein Schälchen mit frischer Milch. In Garten und Silogrube fanden sich massenhaft Mäuse und Spitzmäuse. Vögel fielen ihm mal hier, mal da in die Krallen. Fremde Kater vertrieb er gnadenlos aus dem Garten, die Katzen gaben sich ihm bereitwillig hin, die Wunden verheilten erstaunlich schnell. Und abgesehen von Menschen und Tieren umgaben unseren Kater freundliche, jeden Streit tunlichst meidende Geister, die in der Luft schwebten und flatterten, schnauften, raschelten, weinten, fiepten, redeten, klagten und lauthals lachten, und die vor allem von überallher Nachrichten brachten: was sich beim Brunnen tat, und rund um den Teich, im Kuhstall und im Pferdestall, wo zwei zottelige, dickwanstige Pferdchen geräuschvoll ihr Heu mampften und schnaubten. Und all dieser unerschöpfliche Reichtum gehörte bis zum kleinsten Sandkorn ihm, dem Zaren dieser Gefilde, Herrscher über Mann, Frau und Kinder, dem König des Gartens, der Scheunen, des Kellers und des Kuhstalls (junge Hunde, die ihm diesen Status streitig gemacht hätten, schafften sich die Hausleute Gott sei Dank nicht an, nur ein steinalter Köter verbrachte noch seinen Lebensabend am Hof, doch der hatte kaum mehr Zähne im Maul, der alte Knacker).

So herrschte Muri, so regierte er, ohne den leisesten Schimmer von den Schwertern Zsu. Oh, wonnevolle Muße! Alles war vorbei, als 1992 in Jugoslawien der Bürgerkrieg begann.

Und zwar war das so: Die erste Granate zischte vom Himmel herab und zerfetzte den Strauch. Danach krachte noch eine. Und noch … oh nein, die Wiese mit den Erdbeeren! Ach weh, die alten Apfelbäume! Alles mitsamt den Wurzeln ausgerissen. Wenn die Menschen nur hören könnten, wie die Geister stöhnen, klagen und schluchzen, wenn Granaten ihre Behausungen zerschmettern. Die Zauberwesen wurden verrückt, im Schwarm erhoben sie sich über dem Dorf, das dem Untergang geweiht war, heulten kläglich und irrlichterten wie die Fledermäuse. Von ihnen schwappte die Panik auf Schmetterlinge und Ameisen über; in den Gärten krachten die Bäume und flogen Splitter und Erdklumpen.

Hätte der angesichts dieser Geschehnisse empörte Muri, den das Unglück auf der Heilwiese ereilt hatte, den Kopf gehoben, dann hätte er gesehen, wie kreischend, triumphierend und munter mit den Flügeln schlagend ein dichter Schwarm Dämonen über den Himmel zog – diese kriegslustigen Hurensöhne. In Hundertschaften, und dann auch zu Tausenden schossen sie aus allen Erdritzen hervor. Doch dem Kater waren die Teufel jetzt egal! Mit Volldampf flitzte er zum Haus – und stieß nur auf zertrümmerte Bretter und Betten und den zerborstenen Kamin. Der Hausgeist saß auf der wie durch ein Wunder unversehrten Eingangstreppe und gurrte und winselte vor Entsetzen. Die Blase sah ihrem Ende entgegen, denn so alte Hausgeister verlassen ihre Nester nicht und sterben in der Regel mit ihnen. Daher lief sie, gestern noch wabernd vor Glück, zusehends leichengrün an.

Muri inspizierte die Brandstätte und stieß auf Schritt und Tritt auf weinende Geister. Alles deutete darauf hin, dass die Menschen kein bisschen an ihn dachten. Die Zweibeiner waren einfach davongerannt! Außerstande, diesen Verrat zu begreifen, beschnupperte der Herrscher wieder und wieder die vergessenen Dinge, die neben der Treppe verstreut lagen. Die Wut schüttelte ihn, doch der Zar eines Landes, das es nicht mehr gab, bezwang seinen Groll und erlangte die Fassung wieder. Nunmehr zitternd vor Entschlossenheit trat er an den untröstlichen Hausgeist heran. Die beiden begannen ein Gespräch.

„Alles ist aus“, schniefte der Hausgeist. „Das Leben ist fort und kommt nicht wieder.“

Ohne zu blinzeln sah der Kater ihn an und antwortete voller Zorn auf die geflüchtete Familie: „Nein, so geht das nicht! Ohne mein Schälchen, meine Decke und meinen Platz unter dieser Sonne kann ich einfach nicht sein.“

„Wer braucht dich denn jetzt noch?“, meinte der Hausgeist schwermütig.

„Du hast es noch nicht kapiert!“, rief der Kater. „Ich brauche ein Schälchen, eine Decke und Zweibeiner, die mir dienen.“

„Ein Dach …“, raunzte der Hausgeist.

„Schnauze!“, miaute Muri. „Du feiger, aufgeblähter Balg! Gleich wirst du auf diesen zertrümmerten Brettern zerplatzen!“

„Was tun wir denn jetzt?“, wiegte sich der Hausgeist hin und her.

„Zurückerobern, was uns genommen wurde!“, sagte der Kater. Und machte sich auf den Weg.

An diesem bisher furchtbarsten Tag im Leben des Katers begann Scheich Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim – ein Günstling Allahs, Besitzer von dreißig schönen Ehefrauen und fünfzehn Ölquellen, zwei Häfen und fünf Öltankern, einer davon nach ihm benannt – seine Reise.

Das Ultraleichtflugzeug des Scheichs, getauft auf den Namen Viktoria, hatte eine Flügelspannweite von achtundzwanzig Metern, drei Motoren und ein geräumiges Cockpit mit elegantem Armaturenbrett und einem Stuhl mit spezieller Konstruktion zur Verrichtung der kleinen und großen Notdurft und führte zum Zweck einer Umrundung der Erdkugel ohne Zwischenlandung sechs Fässer Treibstoff mit. Für eine Notlandung lag in einem speziellen Abteil hinter dem Cockpit ein Fallschirm bereit – dort befand sich auch der Sack mit dem Schlauchboot und der kompletten Lebensmittelversorgung für vierzehn Tage. Dem Scheich zu Diensten stand das ausgezeichnete Navigationssystem Star, das den Standort des Flugzeugs bis auf wenige Meter feststellte, sowie ein Mobiltelefon mit Satellitenempfang. Scheich Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim geizte nicht mit Anschaffungen wie dem superperfektionierten Autopiloten (der letzte Schrei der Boeing Company) und einem System zur sparsamen Dosierung des Treibstoffes. Die Viktoria war nicht nur der Stolz des Scheichs, sondern auch Glanzpunkt von Nordland – das beste Erzeugnis, das je in den Werkstätten dieser angesehenen englischen Firma produziert wurde. Zart, durchscheinend, aus fast luftleichten Metallen gebaut, nahm das Flugzeug die ganze Halle ein, in die niemand außer dem Scheich selbst und zwei seiner Techniker auch nur die Nase hineinstecken durfte, denn Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim fürchtete im Leben nur eines: den bösen Blick.

Scheich Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim war gut vorbereitet: Er hatte am Steuer seiner persönlichen F-16 neunhundertfünfzig Flugstunden hinter sich. Er hatte es geschafft, einer der besten Piloten im ganzen Königreich zu werden. Er war fünfundzwanzig Mal mit dem Fallschirm gesprungen (zweimal verzögert). Der Scheich achtete auf sein Gewicht und seinen Blutdruck, quälte seine Trainingsgeräte drei Stunden täglich und gönnte sich häufig das Vergnügen, sich in der Zentrifuge zu drehen, die direkt aus dem Kosmonautentrainingszentrum des Moskauer Sternenstädtchens an den Hof geliefert worden war.

Am 15. August 1992 erbat Scheich Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim Gottes Segen. Er fand Worte für seine untröstlichen Frauen, die insgeheim dachten, Gott hätte den Verstand ihres armen Gatten zu sich genommen. Fleißig küsste er alle seine Kinder, über fünfzig an der Zahl. Um 10:00 Uhr nahm er, in einen sommerlichen Overall gekleidet, auf dem Flugzeugsitz Platz. Um 10:02 Uhr verschwand er, begleitet von Rufen der Reporter und Seufzern der großen Verwandtschaft, in den plötzlich aufziehend Wolken, die kundige Menschen für ein böses Omen hielten.

Wie jeder Araber war Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim ein Dichter. Beim Anblick des Ozeans kamen ihm entzückte Verse in den Sinn, die er vor sich hin sang. Die Sicht war vorzüglich, der Bordcomputer erwies sich als kluger Berater, indem er folgende Parameter vorschlug: Höhe siebentausend Fuß, Geschwindigkeit fünfhundertfünfzig Meilen pro Stunde. Nach acht Stunden gleichmäßigen Fluges (während dessen ein ganzes Poem erdacht und gesungen wurde) empfahl der Consigliere dem Scheich, einer Gewitterfront auszuweichen, die im Begriff war, Sri Lanka zu verschlucken.

Scheich Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim flog über Wolken und Donner hinweg nach Singapur und nahm vielfache Glückwünsche von Dispatcherdiensten entgegen. Die Japaner versprachen dem Thronfolger einen ruhigen Flug über den Stillen Ozean bei fast vollkommener Wolkenlosigkeit und Rückenwind.

Selbst das Wetter war dem noblen Reisenden gewogen. Von Zeit zu Zeit verließ er sich auf den Autopiloten und naschte Datteln, die er mit Mineralwasser hinunterspülte. Als beinahe westlicher Mensch (er hatte in Cambridge studiert) liebte er nicht nur die Lyrik des unvergleichlichen Walid Khanid, sondern hörte auch seine Lieblingsmusik – Beethoven und Mozart. Über dem Kopf des Scheichs hängte Allah huldvoll Sternenkolliers auf, unter denen auch seltene, große Smaragde und Rubine aufblitzten. Die ganze Nacht hindurch gab sich Abdullah Nadari Ak-Said ibn Khalim, berauscht von seiner kosmischen Einsamkeit, philosophischen Betrachtungen hin.

Die Morgenröte, die die Hälfte des Himmels überzog, machte den romantischen Sindbad munter. Jetzt hatte er die ganze Welt in der Tasche, und er gönnte sich ein paar Schluck starken Kaffees der Marke El-Sabah. Er legte seinem Steuerknüppel die Hand auf, betete zum Allmächtigen, versandte wieder ein Lebenszeichen, und in seinem Palast mitten in der Arabischen Wüste lobten und priesen alle dreißig Ehefrauen Gott dafür, dass ihr zweifelsohne übergeschnappter Gatterich noch am Leben war.

Das Glück geleitete das Flugzeug bis zu den Inseln von Hawaii, machte sich aber beim Anflug auf den Küstenstreifen des großen Festlandes eilig davon. Die Folgen ließen nicht lang auf sich warten – über Texas traten Probleme mit der Treibstoffzufuhr auf. Ein Motor begann zu husten. Dann noch einer. Schließlich verstummte auch der letzte. Das Cockpit der Viktoria