image

Das KOMITEE 17 besteht aus Zeugen, Aktivisten und Beobachtern, die sich für die Nachbesprechung des G20-Gipfels gesammelt haben, Frauen und Männer mit dem Bedürfnis, dieses Großereignis, seine Voraussetzungen und seine Konsequenzen in Worte zu fassen.

KOMITEE 17

G20

VERKEHRSPROBLEME

IN EINER

GEISTERSTADT

image

image

Inhalt

DIE BARBAREN KOMMEN

HÖHERE GEWALT IM DIENST DER STAATLICHEN

FAHRPLANÄNDERUNG AUSNAHMEZUSTAND

DER UNAUFHALTSAME AUFSTIEG EINES NOTORISCHEN VERLIERERS

TAUSCHE MILITÄRISCHE NIEDERLAGE GEGEN MORALISCHEN SIEG

VILLENVIERTEL ODER INDUSTRIEGEBIET

ENTRENCHMENT HAS FALLEN

HAARSPRAYDOSEN ZU KNALLFRÖSCHEN

MIT DEM SCHAUFENSTER DURCH DIE WOHNUNGSTÜR

WIE TRINKT MAN EINEN MOLOTOW-COCKTAIL, DEN ES NICHT GIBT?

DER BÜRGERMEISTER SPRICHT VON EINEM GUTEN ERGEBNIS

KÜNSTLICHE DUMMHEIT

EIN AUFSTAND UM BILDER

RECHT AUF PRODUKTIVITÄT

EIN ZWEITER GEDANKE

PRÄVENTION PRÄDIKTION PREEMPTION

KOMÖDIE ODER FARCE

MIT NÜCHTERNEN AUGEN ANGESEHEN

Als Marx und Engels in der Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Gespenst sprachen, das in Europa umgeht, war auch die Ungreifbarkeit der neuen sozialen Bewegung gemeint, die Unberechenbarkeit dieser Strömung, dass sie ihre Absichten nicht vollständig kennt, keiner klaren Linie folgt, jedenfalls nicht in jedem Moment der Konflikte, und sogar überraschende Sprünge macht. Schock, Erschreckendes und Entsetzen gehören dazu, die Irritation der eigenen Gewissheiten – von solchen Effekten und Eigenschaften können wir die Hoffnung auf Veränderung nicht freihalten, selbst wenn wir Verbindlichkeit oder die Genauigkeit des Gedankens für nützlich halten, eine Klärung suchen, mit diesem Text dazu beitragen wollen.

Angst und Verzweiflung gab es im letzten Sommer während des G20-Gipfels, der vom 7. bis 8. Juli 2017 in Hamburg stattfand, zur Genüge, und das nicht ohne Grund, ebenso wie Verwunderung über gewisse Phasen der Entwicklung, Ratlosigkeit. Später kam Sprachlosigkeit hinzu. Unbrauchbare Begriffe erschwerten die Diskussion, veraltete Maßstäbe oder gut gemeinte Übertreibungen ebenso. Manche wollten vom victory in the battle of Hamburg sprechen, andere von einer »Niederlage für die Linke«. Weder die verschiedenen Ereignisse der entscheidenden Woche noch die der Vor- und Nachgeschichte des G20-Treffens sind mit wenigen, geschweige denn einfachen oder eindeutigen Erklärungen zu erfassen – und obwohl in den Tagen um diesen Gipfel herum vieles absolut ungewöhnlich verlief, sind bis heute erstaunlich wenige Analysen und detailliertere Stellungnahmen erschienen. Umso mehr machten »Geschichten« die Runde, bestimmten Spekulationen oder Gerüchte die Gespräche. Unter diesen Voraussetzungen haben wir unsere Überlegungen formuliert, als einen Beitrag zur Diskussion, die weiterhin notwendig ist.

Dass die erlauchten Gäste – die Staats- und Regierungschefs der zwanzig führenden Industrie- und Schwellenländer und einiger weiterer Nationen sowie Vertreter internationaler wirtschafts- und handelspolitischer Organisationen – von der Höhe des Gipfels nur eine Handvoll Floskeln in die Öffentlichkeit hinausschickten und es den Kommentatoren überließen, die Tage der Berichterstattung mit Hinweisen auf mögliche Inhalte anzureichern, überrascht wohl niemanden. Nicht nur auf G-Ebene werden Zusammenkünfte als ein Zeremoniell inszeniert, das nach außen so viel Neues bietet wie die Messe des Papstes an einem Feiertag. Dafür agieren im weit geöffneten Sendefenster eloquente Spezialisten und füllen den abgeschirmten Bereich mit Bedeutung, wobei deren überwiegender Teil aus freier »Deutung« besteht. Ihre Mitteilungen haben etwas von der Mechanik und Evidenz des Aberglaubens; sie handeln mit Gewissheiten, die so verlässlich an den Tisch der Verhandlungen führen wie Kaffeesatz in die Zukunft.

Auf der Seite des Protests sah es mit den »Botschaften« allerdings nicht viel besser aus. Die meisten Aufrufe zur Mobilisierung gegen den Gipfel waren aus vorgeprägten Standardformeln zusammengeschustert. Wenn wirklich zu kritisieren ist, dass es für diese »Institution« keine demokratische Legitimation gibt, dann kann der Einspruch nicht aus Sätzen bestehen, die seit Jahrzehnten als vorgefertigte Formeln in der politischen Prosa des Protests herumstehen. Die Fragwürdigkeit einer internationalen Repräsentanz, die ausschließlich aus Repräsentanz besteht und den Termin für ein Gruppenbild der Weltherrschaften ganz ohne Nachrichten über Ergebnisse oder Verhandlungsinhalte durchzieht, kann mit Tautologien linker Provenienz nicht außer Kraft gesetzt werden. Die Kritik muss das Wort tatsächlich ergreifen und als ihre eigene Sprache führen.

image

ROTE ZAHLEN, STEINIGER TEPPICH

Beginnen wir mit einer unangenehmen Seite, der unbekannten Zahl Verletzter, die der hemmungslose Einsatz der Polizei hinterlassen hat. Man muss nicht den kleinlichen Maßstab anlegen, den die Einsatzkräfte für die Bestimmung der eigenen »Verletzten« verwenden; so empfindlich sind wir nicht. Und wir brauchen den staatlichen Stellen auch nicht in der Taktik zu folgen, an jedem Tag, an dem die Kontrolle der Presse besser funktionierte, die Zahl der Blessierten aufzustocken. Erst hieß es, »476« Beamte seien verletzt, dann »592«; irgendwann waren es »709«. Auf Nachfragen wurde eingestanden, dass jeder Ausfall wegen Dehydrierung – Effekt der schweren Kampfmontur – und jede Verletzung aufgrund eines Unfalls, der dem mehrwöchigen Einsatz zugerechnet werden konnte, mitgezählt worden war; sogar ganz normale Krankmeldungen kamen auf die Liste. Übertreibungen dieser Art sind auf Seiten der Behörden nichts Neues; für sie zählt nicht nur jeder, der sich beim übereifrigen Zuschlagen die Hand verstaucht oder eine Zerrung holt. Der gesamte Einsatz wurde am Ende zur Bewältigung einer ungeheuer großen Bürde hochstilisiert. Die Beamten seien »zum Teil über die Belastungsgrenze« hinausgegangen, hätten »Herausragendes geleistet«, »alles Menschenmögliche« getan, »heldenhaft« gehandelt; man dürfe »stolz auf ein großes Opfer« sein, so Andy Grote, amtierender Innensenator Hamburgs, Sozialdemokrat.1 Fehlt nur noch das »Erlösungsversprechen« und die Kirche wäre wieder in the house.

Dass die Zahl der Verletzten auf Seiten der Demonstranten in die Tausende ging, wird jedem einleuchten, der sich ein wenig umgehört hat. Die linken Notdienste wollten dazu allerdings nichts an die Öffentlichkeit geben. Man liefe Gefahr, mit solchen Angaben der Verfolgung in die Hand zu arbeiten, wurde bei verschiedenen Gelegenheiten dazu gesagt – eine ziemlich schlechte Begründung. Vielleicht stand dahinter die verständliche Absicht, das Ausmaß staatlicher Brutalität nicht zu bestätigen, um den Protest nicht zu demoralisieren. Aber es ist für die Verprügelten wenig hilfreich, wenn sie auch noch wegstecken müssen, dass die Übergriffe der Polizei zu ihrer Privatangelegenheit werden. Außerdem führt die Ungewissheit in dieser Frage wieder nur zu haltloser Spekulation, und davon gab es genug.

Was immer die selbstorganisierten medizinischen Notdienste entschieden haben – ihre Weigerung, der Öffentlichkeit Zahlen zu nennen, enthebt weder die Polizei noch die Presse der Aufgabe, eine eigene Einschätzung zu erstellen – oder zumindest eine Vermutung zu formulieren, aber nichts dergleichen geschah. Dass die Polizei sich dafür nicht zuständig fühlen wollte, kann wenig verwundern; es entspricht der Eskalationsstrategie und Aufkündigung des »demokratischen Auftrags«. Dass die Presse dieser Linie folgte, ist allerdings befremdend und passt schlecht zum Selbstverständnis, das die Journalisten am Anfang der G20-Woche präsentierten: Sie wollten als unabhängige und eigenständige Subjekte einer zeitgemäßen Aufmerksamkeit das Wort ergreifen, modern, kritisch, mit ihrer ganzen Person; doch mit derselben Eloquenz ihrer professionellen Eignung trugen sie später eine Version der Ereignisse vor, die genau dem entsprach, was überall zu lesen war (und wohl kaum zufällig die Linie bestätigte, die von den offiziellen Stellen ausgegeben wurde).2

In den letzten Jahren wurde gern behauptet, die Smartphone-Epoche mache es schwer, Willkür und Rechtsbrüche der Polizei zu vertuschen: Es gäbe einfach zu viele Zeugen mit zu vielen Bildern und Beweisen in der Hand. Nun durften wir erkennen, dass der hemmungslose Exzess staatlicher Gewalt immer noch stattfinden kann, sogar unter den Augen ungewöhnlich vieler Journalisten aus aller Welt. Wenn es eines Beweises bedurft hätte – der G20 hat unmissverständlich klargestellt, dass es auf die Quantität eindeutiger Bilder nicht ankommt; sie kursierten in den »sozialen Netzwerken« und verloren sich dort, ohne in den offiziellen Medien Wirkung zu zeigen. Und nicht genug damit: Im Dezember 2017 stellten die Behörden ihrerseits Smartphone-Bilder und von verschiedenen kooperativen Presse-Organen geliefertes Material ins Netz, um noch einmal genauso willkürlich zuzuschlagen wie auf der Straße: 104 Menschen wurden unter Verwendung genau dieser »Zeugen« und »Beweise« zur Fahndung ausgeschrieben. Was uns zur nächsten unmittelbaren Folge des G20 bringt: zur hohen Zahl der Demonstranten, die aufgrund fadenscheiniger Anschuldigungen über Monate festgehalten und Schritt für Schritt zu unverhältnismäßig hohen Strafen verurteilt wurden, zum Teil zu mehreren Jahren. In der Gefangenensammelstelle (Gesa), für die Gipfelproteste am südlichen Stadtrand Hamburgs eingerichtet, wurden massiv und systematisch die Rechte der Festgenommenen und der Anwälte verletzt: Verwehrung medizinischer Versorgung, Vorführung vor den Haftrichter bis zu vierzig Stunden verzögert, körperliche Angriffe, Beschimpfungen, Schikane, Demütigungen – all das war dort vier Tage lang an der Tagesordnung. In den letzten Jahren hat kein Ereignis unmittelbar auf der Straße und später vor Gericht mehr Härte für die Beteiligten gebracht.

Allerdings hat es ebenso massiv Protest, Widerstand und Dissidenz gegeben. Zwischen diesen Extremen müssen wir unsere Beobachtungen und Einschätzungen justieren. Wir wollen weder die Durchschlagskraft der Repression bestätigen noch haltlosen Erklärungen aus der Linken folgen, ob es nun der Versuch war, einen »riot« zu beschwören oder – wie die taz – vorauseilend als Regierungsorgan zu agieren: Sie musste sich nach den Bildern einiger brennender Barrikaden vom Freitagabend eilig von den Ereignissen distanzieren, musste über »sinnlose« Randalierer wettern, um den alten Bekannten der Militanz eine Absage zu erteilen.

1 Stilisierung der Täter zu Opfern ist auch eine Denkfigur aus der deutschen Vergangenheit, die mit erschreckender Hartnäckigkeit gepflegt wird, obwohl der Nazi Himmler am 4. Oktober 1943 in Posen für sie die letzte Konsequenz formuliert hat. Vor einem ausgewählten Kreis sprach er von den »Belastungen« der SS-Verbände, da sie den systematischen Massenmord als Ausführende durchstehen mussten, und von der Schwierigkeit, dabei »anständig geblieben zu sein [...] Wir haben diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk getan.«

2 Ein Beispiel neueren Datums: die Hamburger Morgenpost informierte ihre Leser am 10.3.2018 über den letzten Stand der Erkenntnisse zum G20 und berichtete von »127 Prügelopfern« insgesamt, während die Zahl der »Ermittlungsverfahren auf 138 gestiegen« sei. »Den meisten der betroffenen Beamten wird Körperverletzung im Amt vorgeworfen.« (S. 15) Voilà: »betroffene Beamte«, und die Frage nach den Verletzten wird kurzerhand mit der nach den Verfahren vermischt. Nicht einmal zwischen den Zeilen ist noch zu lesen, warum die Verfolgung der beamteten Gewalttäter nicht gelingt.

DIE BARBAREN KOMMEN