Susanne Reichert

Tierisch abgehoben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum:
CharlesVerlag, Mathias Müller & Marcel Dax GbR, Frankfurt am Main, alle Rechte vorbehalten, eine Veröffentlichung, auch in Auszügen, ist nur mit Genehmigung des CharlesVerlag gestattet. www.charlesverlag.de
Druck: Booksfactory
Lektorat: Sonja Rudorf
Umschlaggestaltung: Marcel Dax

 

ISBN 978-3-940387-55-4

 

1. Auflage 2018

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.dbb.de abrufbar

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Autorin

 

Susanne Reichert ist eine gebürtige Frankfurterin, die mit ihrer fünfköpfigen Familie in Bad Vilbel lebt. Sie schreibt seit vielen Jahren Kolumnen und Kurzgeschichten. »Tierisch abgehoben« ist der Folgeroman von Reicherts erfolgreichem Debüt »Himmlisch gechillt«. Weitere Werke sind zu erwarten. Mehr über die Autorin erfahren Sie auf susannes-wortzauber.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Gisela und Rolf Huber –

weil ihr meiner Fantasie Flügel verliehen habt.

 

 

Prolog

 

Ein schrilles Quieken riss mich aus meinen Träumen und störte empfindlich mein Nachmittagsschläfchen am Pool. Als ich unwillig die Augen öffnete, starrte ich auf einen behaarten Oberschenkel, der sich unmittelbar vor meiner Nase befand.

»Marlene, jetzt schau doch mal, die hat mich gestochen. Das schwillt rasend schnell an, kein Wunder, wo ich doch hochallergisch bin. Wie aus dem Nichts kam sie angeflogen und ist auf der Papageienblume gelandet. Hartmut hat ja gleich gesagt, die Badehose wäre übertrieben bunt - oh Gott, hoffentlich steckt der Stachel nicht noch drin«, ertönte Marios Stimme, und mein schlafumnebeltes Gehirn bemühte sich, irgendeinen Sinn in seinem hektischen Geplapper zu entdecken.

Ich blinzelte. Neben meiner Sonnenliege, die am Rande der Poollandschaft im Schatten einer Palme stand und auf der ich in einer sanften Brise entschlummert war, stand mein bester Freund Mario. Er hatte das rechte Hosenbein seiner mit karibisch bunten Blumen bedruckten Badeshorts nach oben geschoben und deutete auf eine leichte Rötung, die unter den dunklen Haaren nur schwach zu erkennen war.

»Was ist passiert?«, fragte ich verständnislos und strich mir eine Strähne meines blonden Haares zurück, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte.

»Da ist eine Hornisse mitten auf der Strelitzie gelandet und hat mir direkt in den Oberschenkel gestochen«, rief Mario aufgelöst. »Das sind Schmerzen, die sind geradezu unmenschlich. Ich bin sicher, der Stachel steckt noch.«

Ich betrachtete eingehend die Stelle an Marios Oberschenkel, aber einen Stachel konnte ich beim besten Willen nicht erkennen. »Ich sehe nichts. Bist du sicher, dass es eine Hornisse war? Das würde ehrlich gesagt anders aussehen«, sagte ich skeptisch.

Entrüstet sah er mich an. »Marlene, die war riesig, ehrlich! Mach doch mal die Haare etwas auseinander, dann siehst du das viel besser.«

Amüsiert sah ich ihn an. »Dass ich noch erleben darf, wie du eine Frau aufforderst, an deinem Oberschenkel herumzufummeln ... lass' das nur nicht Hartmut hören«, sagte ich und zupfte die Härchen auf Marios Oberschenkel auseinander.

»Autsch, sei doch nicht so grob«, jammerte er und hielt sich das Bein. »Nicht, dass du den Stachel noch tiefer in die Haut drückst.«

Ich verdrehte die Augen und betrachtete die gerötete Stelle aus allen Perspektiven. »Da ist nichts«, erklärte ich mit Nachdruck und gab ihm einen Klaps auf das Bein. »Lass mal das Hosenbein runter, vielleicht steckt sie noch in der Badehose.«

Erschrocken ließ Mario das Hosenbein los. »Oh nein, meinst du, sie lebt noch? Nachher sticht sie noch mal zu!«

Ich schob mir die Sonnenbrille in die Haare und setzte mich auf. »Vielleicht war es auch nur eine Biene. Die kann nur einmal stechen, da der Stachel dann abreißt und hängenbleibt.«

Mario erstarrte und sah mich an. »Marlene, du willst mir jetzt nicht sagen, dass das blutige Hinterteil einer Biene in meiner Badehose steckt? Ist das bei Hornissen auch so? Ich könnte schwören, es war eine.«

Ich zuckte mit den Schultern und klopfte das Hosenbein aus. »Keine Ahnung. Aber ich kann dich beruhigen - es sind keine Körperteile eines Insekts auf deinem botanischen Garten zu finden.«

Ein Anflug von Erleichterung huschte über Marios Gesicht, dann fasste er sich an die Stirn. »Vielleicht sollte ich doch mal einen Arzt draufschauen lassen, nur für alle Fälle. Ich glaube, ich habe Temperatur. Manchmal setzt eine allergische Reaktion ja auch zeitverzögert ein.«

Ich nickte zustimmend. Vor allem würde uns damit die abendfüllende Diskussion über den grundlosen Angriff des Insekts erspart bleiben, die unweigerlich folgen würde, wenn Hartmut, Carsten und die Kinder von dem Schnorchelkurs zurückkamen, der am Strand des Maspalomas Beach Resorts stattfand. Da Mario vor vier Tagen eine Qualle neben sich im Meer entdeckt hatte und sich seitdem standhaft weigerte, die Poollandschaft zu verlassen, hatte ich beschlossen, ihm heute Gesellschaft zu leisten. Eine gute Entscheidung in Anbetracht des akuten medizinischen Notfalls.

»Ja, mach das! Er freut sich bestimmt, dich zu sehen. Inzwischen seid ihr ja schon fast alte Freunde.«

Mario warf sich seinen roten Kimono über und griff nach seiner Strandtasche, die das gleiche Blumenmuster wie seine Badehose zierte. Daneben kam ich mir in meinem dunkelblauen Tankini mit weißen Streifen fast spießig vor.

»Der Mann ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und unglaublich feinfühlig. Wie der die Ängste seiner Patienten zerstreut - einmalig.«

Im Klartext bedeutete dies, dass der Arzt die zahlreichen Wehwehchen, wegen denen Mario ihn seit unserer Ankunft in schönster Regelmäßigkeit aufsuchte, mit dem allgemeingültigen Ratschlag, er solle sich mehr schonen, abnickte und ihn wieder auf seine Sonnenliege schickte.

Während Mario mit seinem lädierten Oberschenkel den direkten Weg zu den Praxisräumen des Hotelarztes einschlug, ließ ich mir von Carlos, dem Kellner der Poolbar, einen Mojito an meine Liege bringen. Bis Birgit von ihrer Yogastunde zurückkam, würde es noch eine Stunde dauern, Mario war mit Sicherheit genauso lange verschwunden, und die Schnorchel-Gang war ebenfalls noch unterwegs.

Ich hatte jetzt genau das, was ich von diesem Spontanurlaub mit zehn Personen, den Mario innerhalb von zwei Tagen organisiert hatte, nie erwartet hätte: Ruhe und Entspannung!

Mit einem Augenzwinkern stellte Carlos den Mojito neben meiner Sonnenliege auf dem kleinen Beistelltischchen ab, platzierte noch ein Schälchen mit Oliven und Käsewürfeln daneben und überließ mich dem wunderbaren Gefühl, dass mir hier seit unserer Ankunft nahezu jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes »himmlisch gechillt«!

 

 

 

Kapitel 1

 

Diese und andere Erinnerungen an unseren diesjährigen Sommerurlaub auf Gran Canaria zogen vor meinem inneren Auge vorbei, als ich am ersten Schultag nach den Ferien von ohrenbetäubendem Vogelgezwitscher geweckt wurde. Sophie hatte mir diese App als Wecker auf meinem Handy installiert und eigentlich sollte sich die Lautstärke sanft steigern. Sanft war relativ, denn es hörte sich an, als würde eine Horde durchgeknallter Amseln unser Schlafzimmer überfallen. Ich schlug die Augen auf und stellte den ungastlichen Lärm ab. Es gab in unserem Reihenhäuschen genug Leben, auch morgens um sechs, und ich brauchte nicht noch eine virtuelle Vogelschar, die mich um diese Zeit mit Geschichten aus ihrem bewegten Leben unterhielt.

Der erste Morgen des neuen Schuljahres startete mit vertrauten Alltagsritualen. Zwei Tage zuvor waren wir nachts mit dem Flieger aus Gran Canaria zurückgekommen, und ich war überzeugt, nach diesen wundervoll entspannten Tagen würde uns das gewohnte Chaos nicht allzu schnell einholen. Carsten und ich hatten auf dem Rückflug diesbezüglich heroisch gute Vorsätze gefasst. Somit hatte ich die Wäscheberge im Keller vor der Waschmaschine während des gesamten Wochenendes erfolgreich ignoriert, nur das Nötigste eingekauft und für größere Hungerattacken einfach den Pizzadienst angefordert. So weit, so gut!

Im Morgengrauen - dieser Begriff hatte mit drei Kindern eine völlig andere Bedeutung - stand ich nun im ersten Stock unseres Reihenhäuschens und es hätten zumindest aus zwei Kinderzimmern schon erste Lebenszeichen ertönen müssen. Aber Fehlanzeige, es herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Seufzend stieß ich die Tür zu Sebastians Zimmer auf. Mein Sohn hatte wirklich nur sehr selten schlechte Laune, und wenn, dann gab es meistens klar erkennbare Gründe. Sicher, das Ende der Sommerferien war ein ganz klar berechtigter Grund, aber seine morgendliche Muffeligkeit würde sich trotzdem in einem erträglichen Rahmen halten - im Gegensatz zu dem, was mich unmittelbar danach bei meiner älteren Tochter Sophie erwarten würde.

Ich setzte mich auf die Bettkante und strich ihm vorsichtig über die verstrubbelten, blonden Haare. »Hey Großer, du musst aufstehen. Schule geht wieder los.«

Keine Reaktion. Sebastian lag still auf der Seite und atmete tief und gleichmäßig. Zu gleichmäßig und betont, als dass ich ihm die Tiefschlafphase abgenommen hätte. Ich zwickte ihn in die Seite.

»Vergiss es, die Nummer kenne ich schon. Steh auf, sonst kommst du gleich am ersten Schultag mit Sophie im Badezimmer ins Gehege.«

Sebastian brummte unwillig, drehte sich auf den Rücken und öffnete ein Auge. »Es ist bestimmt noch dunkel draußen.«

Ich lachte, stand auf und zog den Rollladen ein Stück nach oben. »Nein, gar nicht. Die Sonne geht auf und es wird bestimmt ein schöner Tag. Wie wäre es mit Schwimmbad heute Nachmittag?«

»Hmmm ... Mal sehen, was meine Freunde vorhaben«, brummelte er. »Ich kann noch nicht denken.«

Ich grinste, während ich die Bettdecke zurückschlug. »Mir reicht es erst einmal, wenn du in einer Viertelstunde angezogen unten beim Frühstück bist.« Ich ging zur Tür. »Ich muss Sophie wecken, sonst ist gleich die Hölle los.«

»Die ist dann erst recht los!«

Sebastian quälte sich aus dem Bett und schlurfte zum Kleiderschrank. Mit glasigem Blick starrte er hinein.

Ich seufzte: »Basti, das ist die Seite mit den Fußballklamotten, du musst die andere Tür aufmachen.«

Nachdem Sebastian mit festem Blick einen Stapel T-Shirts fokussierte, ging ich zögernd hinaus. Oben im Dachboden hörte ich Carsten rumoren. Braungebrannt, mit weißem Hemd und dunkelblauem Anzug kam er die Treppe hinunter.

Fragend sah er mich an. »Müssen die heute alle erst später in die Schule?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nur Lena. Sebastian hat es gerade eben aus dem Bett geschafft, Sophie hat wohl verschlafen. Wir müssen sie wecken!«

Wir standen voreinander und sahen uns abwartend an.

»Ich habe sie gestern schon geweckt und gefragt, ob sie vor dem Mittagessen noch frühstücken will«, wehrte Carsten ab.

»Na und? Da war es schon fast Mittag, und außerdem warst du gar nicht richtig in ihrem Zimmer! Du hast durch die geschlossene Tür gerufen!«

»Ich bin spät dran«, griff mein Mann nach dem nächstbesten Strohhalm. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was nach zehn Tagen alles auf meinem Schreibtisch liegt.«

Ich fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Doch, kann ich! Mein Schreibtisch war auch zehn Tage unbesetzt. Aber bevor wir beide dieses Haus verlassen, müssen die Kinder in die Schule - was bedeutet, sie sollten angezogen im richtigen Bus sitzen. Also los, du weckst Sophie, ich suche für Lena schon mal was zum Anziehen raus.«

Carsten hielt mich am Arm fest, als ich mich an ihm vorbeischieben wollte. »Spielen wir Schnick Schnack Schnuck? Das ist wenigstens fair!«

»Wie kann ein erwachsener Mann solche Angst haben, seine 16-jährige Tochter zu wecken?«, fragte ich verwundert. »Als ob das so ein Drama wäre!«

»Noch ist es keins, aber sie wird eins draus machen. Wie immer! Selbst aus dem kleinsten Anlass! Aber wenn das für dich keine große Sache ist, kannst du sie ja wecken«, konterte er.

»Ich könnte schon, ich will bloß nicht«, erwiderte ich betont lässig. »Aber wenn dir so viel daran liegt ...«

Ich hob die Hand und zählte bis drei. Mist, Carsten hatte Stein, ich Schere. Ich zählte wieder, dieses Mal hatte ich die Schere, Carsten Papier. Ha, Gleichstand! Allerdings verließ mich in den nächsten Runden das Glück, und Carsten ging mit breitem Grinsen als Sieger hervor. Er klatschte Sebastian ab, als dieser gerade aus seinem Zimmer geschlurft kam.

»Worum ging’s?«, fragte mein Sohn, nur mäßig interessiert.

Carsten lächelte süffisant. »Mama muss Sophie wecken.«

»Oh ... Ich muss nur noch Zähne putzen, dann komme ich runter«, beeilte sich Sebastian zu sagen und verschwand im Badezimmer, während ich tief Luft holte und die Türklinke von Sophies Zimmertür herunterdrückte.

»Wenn sie abgeschlossen hat, ist das nicht mehr mein Problem«, brummte ich.

Die Tür ließ sich leider problemlos öffnen, und ich betrat das abgedunkelte Reich meiner Tochter. Zu meiner Erleichterung war das Fenster geöffnet, so dass ich nicht automatisch die Atmung einstellen musste. Im Halbdunkel konnte ich Sophie erkennen, die in fünf Kissen und drei großen Stofftieren vergraben unter ihrer Bettdecke lag. Die riesige Schlafbrille mit den phosphoreszierenden Rändern, die sie seit Wochen trug, leuchtete schwach türkis, und Sophies lange Haare hatten sich wie ein großer Ballon unter dem Gummi nach oben geschoben. Sie sah aus wie ein Wesen vom anderen Stern, aber mir war klar, dass ich die humorvolle Seite dieser Betrachtung für mich behalten musste. Wenn es für einen Teenager ein absolutes No-Go gab, dann war es, Gegenstand eines Scherzes zu sein, besonders innerhalb der eigenen Familie!

Ich beugte mich vorsichtig über Sophie, strich über ihren Arm und sagte in meinem sanftesten Tonfall: »Spätzchen, du musst aufstehen. Heute ist der erste Schultag.«

Sophie zog den Arm weg und drehte sich auf die andere Seite. Die Laute, die aus ihrem Mund kamen, konnten unmöglich menschlichen Ursprungs sein.

Ich versuchte es erneut. »Sophie, komm, wir müssen heute Morgen alle los, und ich muss auch noch Lena wecken. Papa und Sebastian frühstücken schon.«

Sophie zog sich die Decke hoch und knurrte: »Bin noch müde ... dassisssnnnsofrühhhh. Geh weg.«

An dieser Stelle half jetzt auch keine Nachsicht mehr: »Sophie, jetzt steh' auf! Du hast verschlafen und wir müssen alle ein bisschen Gas geben. Los jetzt!«

Bei meinem Tonfall schoss Sophie schlagartig in die Höhe und schob ihre Schlafbrille nach oben.

Mit wirrem Blick sah sie mich an. »Verschlafen? Heute? Oh Gott! Das schaffe ich nie! Ich kann doch so nicht zur Schule!«

Die Aussicht, nicht adäquat gestylt am ersten Schultag in der Schule zu erscheinen, löste zumindest hektische Betriebsamkeit aus, und in Nullkommanichts war das Kind im Badezimmer verschwunden, das Sebastian gerade noch rechtzeitig verlassen hatte.

Nachdem ich Lena geweckt und ausnahmsweise mit nach oben in unser Bad genommen hatte, um einen Zusammenstoß auf nüchternen Magen zwischen dem Zickengeschwader zu vermeiden, sprang ich unter die Dusche. Von Herrn Sorge, meinem Chef und dem Herausgeber des Sorglos Verlages, forderte es immer ein Höchstmaß an Flexibilität, sich während meines Urlaubs auf eine Kollegin einzustellen, und er sah der normalen Besetzung seines Büros jedes Mal mit Ungeduld entgegen. Daher wollte auch ich so früh wie möglich im Verlag sein und mir schon einmal einen groben Überblick verschaffen, was sich dort auf meinem Schreibtisch alles angesammelt hatte.

 

 

 

Das Bild, das sich Lena und mir jedoch bot, als wir nach unten in die Küche kamen, war nicht gerade vielversprechend.

Sebastian hatte seine großen Kopfhörer aufgesetzt und fixierte mit stumpfem Blick das Brötchen auf seinem Teller, als könnte es ihn jeden Augenblick anspringen. Carsten lehnte an der Küchentheke neben der Kaffeemaschine und telefonierte. Kaffee war noch keiner in Sicht, da es der Maschine offensichtlich an Bohnen mangelte. Carsten gestikulierte heftig in Richtung Bohnenbehälter, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Hatte ich wohl vergessen. Während ich im Schrank nach Kaffeepulver für die alte, kleine Espressokanne suchte, ertönte ein Schrei von Lena hinter mir.

»Mama! Ich habe die Schilder auf meinen Schulheften falsch herum aufgeklebt. Die stehen auf dem Kopf!«

»Das ist nicht schlimm, Mäuschen. Dann drehst du die Hefte halt einfach um«, rief ich und fischte eine Packung Espresso aus dem obersten Regal.

»Das ist ja eine tolle Logik«, spottete Sophie, die gerade hinter mir in die Küche kam. »Dann fängt sie garantiert auch an, von hinten ins Heft zu schreiben. Naja, in der 3. Klasse geht so was vermutlich noch, da sind die alle noch nicht so helle.«

»Ich bin nicht dumm«, rief Lena empört und stemmte die Hände in die Hüften.

»Natürlich nicht«, beschwichtigte ich meine kleine Tochter. »Heute Mittag kaufen wir neue Aufkleber und kleben die einfach drüber. Problem gelöst.«

Am Frühstückstisch starrte Sebastian noch immer unverwandt auf das Brötchen.

»Basti, es ist schon tot, du kannst es also gefahrenlos aufschneiden und essen«, ermunterte ich meinen Sohn leicht genervt. »Es hat sich nicht bewegt, seit ich nach unten gekommen bin!«

Sebastian, der zumindest zu spüren schien, dass ich mit ihm sprach, blinzelte irritiert. »Was??? Ich hab dich nicht verstanden«, brüllte er und deutete auf die Kopfhörer.

»Nimm die verdammten Dinger jetzt ab und mach dir dein Brötchen«, brüllte ich lauter.

»Oh Mann, musst du immer gleich so brüllen«, schnaubte Sophie entnervt. »Im Urlaub warst du echt gechillter.«

»Im Urlaub war ich auch nicht im Dienst, und Sonderwünsche jeder Art nahm das immer freundliche Hotelpersonal entgegen!«, gab ich zurück. »Und bevor du fragst: natürlich sind die immer freundlich! Die wissen ja auch, dass selbst der schlimmste Gast nach vierzehn Tagen wieder verschwindet!«

Sophie schnaubte nur, und wie aus dem Nichts erklang plötzlich Marcs Stimme an unserem Frühstückstisch. Während sie das Display ihres Handys anstrahlte und die beiden sich für den Nachmittag im Schwimmbad verabredeten, suchte ich auf die Schnelle ein paar Lebensmittel zusammen, die den strengen Anforderungen eines gesunden Frühstücks an Lenas Grundschule zumindest halbwegs entsprechen würden.

Als ich ihr die Frühstücksdose neben den Teller stellte, strahlte sie über das ganze Gesicht. »Oh, wie toll! Ich darf Milchbrötchen und Fruchtzwerge mit in die Schule nehmen.«

Carsten hatte sein Telefonat beendet und stellte mir eine Kaffeetasse auf meinen Platz. »Milchbrötchen? Sind die denn erlaubt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Naja, die bestehen zum großen Teil aus Milch. Milch enthält Kalzium, genau wie die Fruchtzwerge, was für den Knochenaufbau sehr gesund ist. Also ist das ein gesundes Frühstück, zumindest im weitesten Sinne!«

Sophie schnappte sich eine Banane und eine große Flasche Wasser. »Naja, im Zweifel beginnt das neue Schuljahr gleich mit einem Elterngespräch. Darin hast du Übung. Und mit Herrn Michels ist es ja gar nicht so schlecht gelaufen«, fügte sie grinsend hinzu.

Ich wollte gerade etwas erwidern, als Sebastian aufsprang und in die Küche lief. Hektisch kramte er in der obersten Küchenschublade unter der Kaffeemaschine herum. Fluchend schob er eine Rolle Geschenkband zur Seite.

Ich drehte mich um. »Was suchst du? Willst du das Brötchen festbinden?«

»Frischhaltefolie, ich pack es ein. Schaffe ich nicht mehr, jetzt zu essen, sonst ist der Bus weg.«

Ich sah ihm über die Schulter. »Die ist alle. Nimm Alufolie, ich muss heute Nachmittag erst einkaufen gehen.«

»Milch ist wohl auch alle, oder?«, fragte Carsten mit Blick in den Kühlschrank vorsichtig.

Sophie warf ihm im Vorbeigehen eine Kusshand zu. »Ja. Aber du kannst ja ein Milchbrötchen in den Kaffee tunken, das besteht überwiegend aus Milch und ist gesund, wie wir von Mama gerade gelernt haben.«

Mit einem Kuss auf die Wange stürzte sie an mir vorbei zur Haustür, dicht gefolgt von Sebastian, der seinen Rucksack über die Schulter warf.

Mit einem Seufzer ließ ich mich auf den nächsten Stuhl fallen und griff nach meiner Tasse. Der Kaffee war mittlerweile kalt, aber gut - das machte ja bekanntlich schön.

»Kannst du Lena kurz an der Schule absetzen?«, fragte ich Carsten und griff nach dem halben Brötchen, das noch auf Sophies Teller lag. »Dann kann ich hier noch ein bisschen klar Schiff machen, bevor ich gehe.«

»Marlene, ich bin spät ...«, fing Carsten an, verstummte aber sofort wieder, als er meinen Blick sah. »Ja, klar, kein Problem. Einfach nur an der Schule absetzen, das bekommen wir hin, was Lena?«

Meine kleine Tochter nickte und lächelte mich an. »Mami, ich finde es nicht schlimm, dass nur Milchbrötchen da sind. Es gab ja auch Orangensaft aus der Tüte, und da bleiben ja viele Vitamine drin, weil er eingeschweißt ist. Bringst du mir vom Einkaufen dann neue Pferdeaufkleber für die Hefte mit?«

Ich nickte matt und notierte die Aufkleber im Geiste auf meiner Einkaufsliste. Mein Plan, es nach dem Urlaub langsamer angehen zu lassen, war ernsthaft in Gefahr, und das schon am ersten Tag nach den Ferien. Irgendwie hatte ich die Befürchtung, dass sich spätestens nach meiner Ankunft im Verlag der größte Teil der Erholung fröhlich winkend verabschieden und in den nächsten Flieger zurück nach Gran Canaria setzen würde ...

 

 

 

Kapitel 2

 

Als ich mein Büro im Verlag betrat, begrüßte mich Herr Sorge überschwänglich und fragte mich, ob er mir einen Kaffee bringen solle - der dann auch prompt ein paar Minuten später auf meinem Schreibtisch stand. Am zweiten und dritten Arbeitstag nach meinem Urlaub würde er sich zwar den Kaffee sparen, seine Freude über meine Rückkehr hielt jedoch erfahrungsgemäß noch ein paar Tage an.

Am Donnerstag fand ich ihn morgens mit nervös zuckender Nasenspitze an seinem Schreibtisch und wurde mit dem vertrauten Satz begrüßt, dass es ein großes Problem gäbe.

Das brachte mich zunächst nicht aus der Ruhe. Die meisten Probleme, die Herr Sorge als »groß« bezeichnete, entlockten mir nur ein müdes Lächeln. Wenn man drei Kinder hat, sehen »große« Probleme anders aus. Zurückgekehrt in unsere Alltagsroutine, holte ich zwei Tassen Kaffee aus der Küche und setzte mich auf einen der schwarzen Lederstühle vor seinem Schreibtisch.

Das Problem, mit dem Herr Sorge an diesem Morgen kämpfte, erwies sich wie vermutet als nervig, aber lösbar. In Zusammenarbeit mit einer Autorin, die in unserem Verlag einen esoterisch angehauchten Ernährungsratgeber publiziert hatte, wollten wir einen passenden Kalender herausgeben. Zu den Fotos auf den Kalenderblättern sollte ein kurzer, passender Text verfasst werden. Da Cosima Rockenfeller jedoch ein extrem großes Mitteilungsbedürfnis hatte, schien es ihr nahezu unmöglich, ihre Gedankenflut in nur vier Zeilen pro Bild zu packen - es sei denn, sie hätte die komplette Bildbreite ausschöpfen dürfen, was natürlich nicht vorgesehen war. Zurück in meinem Büro, griff ich nach dem Telefonhörer und feilschte in einem fast einstündigen Telefonat mit Cosima Rockenfeller bis an die Schmerzgrenze. Mit trockenem Mund konnte ich meinem Chef berichten, dass ihr Textbeitrag nun auf maximal dreißig Worte pro Seite beschränkt war. Allerdings stand die Autorin angesichts dieser Herausforderung vor einer mentalen Schaffenskrise. Erleichtert wischte sich Herr Sorge die Schweißperlen von der Stirn. Für Krisen jeder Art waren die Frauen in seinem Umfeld zuständig, und in dieser Hinsicht war er leider durch Frau Sorge und mich sehr verwöhnt.

Wenn jemand mal auf meine Krisen so viel Rücksicht nehmen würde, dachte ich schnaubend, während ich eine Reihe von Emails beantwortete. Cosima Rockenfeller betonte immer wieder, dass jedes unreflektierte Wort die Seele verletzte und sich dies in einem immer tiefer werdenden Riss in der Aura widerspiegelte. Der größte Teil der Kommunikation mit meinen pubertierenden Kindern bestand aus unreflektierten Worten; wenn das stimmte, dürfte der Riss in meiner Aura die Dimension des Marianengrabens erreicht haben.

 

Am Freitag hatte ich gewöhnlich frei und schlug mich durch die überfüllten Supermärkte, in denen man am späten Vormittag von Rentnern fast überrannt wurde. Diese traten ja bekanntermaßen gerne in größeren Gruppen auf und schwärmten gezielt aus, um alle Stände mit den Sonderangeboten abzugrasen.

»Erna«, brüllte es plötzlich von rechts in mein Ohr, so dass mir fast das Trommelfell auf der anderen Seite des Kopfes hinausschoss. »Guck' e mal, die Haftcreme gibt es jetzt im Dreierpack und die Hämorrhoidensalbe habbe se aach im Angebot.«

»Käthe, wo biste dann?«, erklang der Ruf aus der Gemüsetheke. »Ich hab mei Brill net uff.«

Ein durchdringender Pfiff ertönte, und vor Schreck wäre ich fast über die Palette mit den Bio-Bananen gestolpert. Die ältere Dame namens Käthe hatte eine Trillerpfeife im Mund und pfiff aus Leibeskräften.

Als sie meinen entgeisterten Blick sah, sagte sie: »Guckse net so, die Erna sieht nix ohne ihr Brill. Dann pfeiff ich halt immer und se kimmt nach Gehör. Das hat schon bei meim Bruno super geklappt.«

Erstaunt zog ich die Augenbrauen hoch, während Erna um die Gurken herumgetrippelt kam. Käthe pfiff erneut und ich fragte: »Haben Sie Ihren Bruno denn darauf abgerichtet oder konnte der das quasi von alleine?«

»Des hab isch dem alles beigebracht; des war e Abbeit. Der war stur wie en Panzer, aber dem hab isch nix dorschgehe lasse! Der hatte nach meiner Pfeif zu tanze und fertisch«, sagte Käthe resolut.

Ob ich da bei Carsten noch Chancen hatte, fragte ich mich amüsiert. Bei dem durchdringenden Gepfeife könnte er zumindest nicht mehr behaupten, er hätte mich nicht gehört.

Laut sagte ich: »Ich glaube, mein Mann ist dafür zu alt. Und stur, ja, das ist er manchmal auch.«

Käthe setzte gerade wieder zu einem Pfiff an, weil Erna mit zusammengekniffenen Augen gegen das Regal mit den WC-Reinigern gelaufen war, dann schüttelte sie heftig den Kopf. Ihre silbernen Löckchen tanzten. »De Bruno war doch net mein Mann, des war mein Hund. Glaube se mir, bei meim Mann wär Hopfe und Malz verlore gewese, auch mit Pfeife. Der war höchstens eine.«

Erna hatte uns mittlerweile erreicht, und Käthe steckte die Pfeife weg. Resolut hielt sie ihrer Freundin zwei Packungen unter die Nase. »Da is die Haftcreme und hier ist die Creme für de Poppes. Dann kannste wieder richtisch sitze.«

Käthe lächelte entschuldigend in meine Richtung. »Wenn Sie mal in mei Alter komme, dann habbe se plötzlich Sache, die kannte se früher noch net emal. In Ihrem Alter, so mit fünfundreißig Jahrn, hab isch mir da auch noch ka Gedanke gemacht.«

Fünfunddreißig Jahre? Käthes eingeschränkte Sehschärfe wirkte wohl wie ein optischer Weichzeichner, dachte ich und fühlte mich trotzdem geschmeichelt. Vielleicht hatte ich mich aber auch im Urlaub so gut erholt, dass ich glatt zehn Jahre jünger aussah. Ich überließ die beiden Damen ihren altersbedingten Fachsimpeleien, von denen ich ehrlich gesagt noch gar nichts wissen wollte, und packte im Eiltempo meinen Einkaufswagen voll. Mir reichte der tägliche Blick in den Spiegel, um zu sehen, was die Schwerkraft im Laufe der Jahre mit einem Körper so alles anstellen konnte. Was nach dem ersten Kind mit einer harmlosen Orangenhaut begann, könnte mittlerweile an manchen Stellen glatt als Ausläufer des Siebengebirges durchgehen.

 

Da wir alle die erste Arbeits- und Schulwoche ohne nennenswerte Katastrophen überstanden hatten, fand spontan am Samstag eine »Survival-Party« bei uns im Garten statt. Eingekauft hatte ich ja genug. Carsten hatte noch das Grillfleisch besorgt, und nacheinander trudelten Birgit, Emma, Marc, Mario und Hartmut mit weiteren Köstlichkeiten bei uns ein. Während ich in der Küche mehrere Hugos vorbereitete und zu Lenas Freude eine Flasche Kindersekt aus dem Kühlschrank beförderte, kam Sebastian mit wütendem Gesicht die Treppe herunter.

Er hielt seiner großen Schwester eine leere Toilettenrolle unter die Nase. »Wer war in meinem Zimmer und hat sich meine Klorolle genommen? Sie ist leer!«

Sophie zuckte mit den Schultern und schob seine Hand weg. »Woher soll ich das wissen?«

»Weil die in deinem Zimmer auch leer ist! Und meine war es heute Morgen noch nicht«, regte sich Sebastian auf.

Birgit, die gerade Eiswürfel aus dem Gefrierfach holte, sah verwundert von Sebastian zu Sophie. »Warum hat jeder von euch eine eigene Klorolle in seinem Zimmer?«

Bevor Sophie antworten konnte, knurrte Sebastian: »Ganz einfach: weil Lena und Sophie immer die Klorollen leer machen und keine neuen aus dem Keller holen! Und so habe ich wenigstens immer dann Klopapier, wenn ich welches brauche.« Er funkelte seine Schwester böse an. »Zumindest war das bis eben so!«

»Es war ein Notfall!«, verteidigte sich Sophie.

»Und warum hast du dann später keine neue Rolle geholt, wenn die Not nicht mehr ganz so groß war?«, fragte ich und lehnte mich gegen die Küchentheke.

»Weil es dann kein Notfall mehr war«, entgegnete sie prompt.

»War es wohl«, begehrte Sebastian auf. »Nämlich bei mir!«

Marc schüttelte den Kopf. »Du hast es echt nicht leicht hier, Mann! Was bin ich froh, dass ich keine Schwester habe.«

»Warum bist du dann freiwillig mit meiner zusammen?«, fragte Sebastian verständnislos. »Macht sie das bei euch zu Hause mit den Klorollen auch?«

Sophie funkelte ihren Bruder böse an. »Es gibt Dinge auf dieser Welt, kleiner Bruder, die gehen dich überhaupt nichts an!«

Marc grinste. »Du kannst gerne zu uns deine eigene Rolle mitbringen, wenn du das so gewohnt bist; auf das Gesicht meiner Mutter freue ich mich jetzt schon.«

Birgit ließ die Eiswürfel vorsichtig in die Sektgläser gleiten und fragte mit einem Seitenblick auf mich. »Haben Carsten und du auch eigene Klorollen, damit ihr euch nicht ins Gehege kommt?«

»Brauchen sie ja nicht«, sagte Sebastian mürrisch. »Die haben ein eigenes Bad.«

»Ich hatte auch ein eigenes Bad, bevor das Kleingemüse geboren wurde«, entgegnete Sophie schnippisch. »Jetzt ist alles total eng.«

»Eng ist es ja wohl nur für mich«, protestierte Sebastian. »Dein Schminkzeug ist überall verteilt, und dazwischen sitzen Lenas Barbies und glotzen dämlich. Ich habe EIN Regal für mich!«

Marc klopfte Sebastian auf die Schulter. »Echte Männer brauchen auch nicht mehr.«

Sebastian verzog das Gesicht und schlug in Marcs ausgestreckte Hand ein.

Emma, die auf dem Teppich saß und in einer Zeitschrift blätterte, sagte beiläufig: »Wir haben zu Hause Klopapier mit Einhörnern drauf.«

Ich hatte gerade das Tablett mit den Gläsern in der Hand, das ich vorsichtig in Richtung Terrasse balancierte. Bei Emmas Bemerkung bremste ich jedoch mit großen Augen abrupt ab. Die Eiswürfel klirrten leise: »Einhörner? Oh Gott, ich hatte mal welches gekauft mit kleinen Kätzchen drauf, das eine hatte ein Wollknäuel zwischen den Pfötchen. Carsten, weißt du noch?«

»Nein!«, rief Birgit verzückt hinter mir. »Wie niedlich! Das Klopapier mit den Einhörner gab es auch in einer limitierten Weihnachtsauflage mit kleinen Wichteln.«

Ich stellte das Tablett auf dem massiven Gartentisch ab. Als ich begann, die Gläser zu verteilen, fiel mir auf, dass uns alle schweigend ansahen.

»Was ist?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Carsten räusperte sich. »Marlene, es ist schon entwürdigend, wenn sich ein erwachsener Mann den Hintern mit spielenden Kätzchen abwischen muss. Einhörner stehen nicht zur Diskussion - mit oder ohne Wichtel!«

»Also ich finde das total niedlich«, begeisterte sich Lena. »Kann ich eine Rolle davon haben? Daraus kann ich Umhänge für meine Feen basteln.«

Ich zwinkerte meinem Mann zu. »Es wird niemand deine Männlichkeit in Frage stellen, nur weil wir das ein oder andere Tierchen auf dem Klopapier haben. Ich kann ja mal schauen, ob es auch welches mit einem aufgedruckten Tiger gibt.«

»Roooaaarrr«, knurrte Carsten und grinste. »Würde mir deutlich mehr entsprechen, mein Schatz.«

Sophie rollte mit den Augen und hielt sich die Ohren zu. »Dass ihr immer so anzüglich werden müsst, mein Gott. Ihr seid doch nicht alleine.«

»Man ist nie alleine, wenn man drei Kinder hat«, gab ich zurück.

»Tiger habe ich nicht gesehen«, unterbrach Hartmut unser Geplänkel, »aber wir hatten letztes Jahr eins mit dem Rolling Stones-Motiv, ihr wisst schon, die Zunge und ...«

»Stopp!«, rief Sophie dazwischen. »Stopp, stopp, stopp! Es sind Kinder anwesend.«

Birgit lachte so sehr, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. »Zeig mir dein Toilettenpapier und ich sage dir, wer du bist.«

»Was sagt es über Menschen aus, die stinknormales Papier benutzen - blanko und recyclingfähig?«, wollte Carsten wissen.

»Die haben auf jeden Fall etwas zu verbergen«, kicherte ich. »Vielleicht sind sie aber auch einfach nur sterbenslangweilig.«

 

In ausgelassener Stimmung saßen wir auf der Terrasse. Hartmut verschwand im Haus und kehrte mit zwei Schüsseln zurück, aus denen es verführerisch nach Knoblauch duftete. Vorsichtig zog er die Frischhaltefolie ab und lächelte zufrieden. »Ein kleiner Appetizer ... ich hatte mal Lust, etwas Neues auszuprobieren.«

Birgit seufzte verzückt. »Das riecht himmlisch. Was ist das?«

»Garnelenragout in einem Knoblauch-Chili-Sud mit Frühlingszwiebeln. Man nimmt immer eine kleine Portion mit einem Stück Fladenbrot auf.«

Er griff nach einem kleinen Stück Brot, zog es durch die Schüssel und steckt es sich gemeinsam mit einer kleinen Menge Garnelenragout in den Mund.

Genießerisch schloss er die Augen. »Ich muss selbst zugeben: köstlich.«

Da hatte er Recht! Es schmeckte nicht nur köstlich, sondern auch nach Urlaub, Strand und Sonne, und ich stellte erfreut fest, dass ich tendenziell noch immer »gechillt« war. Sophie schnüffelte naserümpfend in meine Richtung, als ich mir das nächste Brotstückchen in den Mund steckte. Während alle durcheinanderplauderten, fiel mir auf, dass Mario und Hartmut leise tuschelten und verschwörerische Blicke tauschten.

»Hey, ihr zwei ... Was heckt ihr denn aus?«

»Nichts«, antworteten sie einstimmig und prosteten mir zu.

Ich wurde etwas misstrauisch. Die beiden blickten sich immer wieder verstohlen an und Marios dunkelbraune Augen leuchteten. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und es war nicht zu übersehen, dass er eigentlich darauf brannte, uns etwas mitzuteilen. Das breite Lächeln, mit dem er in die Runde sah, ließ auf eine kleine Sensation schließen.

»Du kannst es doch kaum noch für dich behalten, also raus mit der Sprache: Was ist los?«, fragte ich neugierig. »Hast du Kylie Jenner als Kundin gewonnen?«

»Wen?«, wollte Carsten irritiert wissen und steckte sich ein Brotstückchen in den Mund. »Ist das die, die früher ein Mann war? Dieser Spitzenleichtathlet?«

»Papa, du sollst nicht mit vollem Mund sprechen«, tadelte Lena streng, und irgendwie klang meine kleine Tochter gerade arg nach mir. War das jetzt gut oder schlecht?

Birgit schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ihr Vater. Also, es war ihr Vater; jetzt ist es Tante Caitlyn.«

»Mann, Papa, das ist ein Model«, erwiderte Sophie und verdrehte die Augen. »Die hat eine total geniale Kosmetiklinie rausgebracht, mit sooo tollen Lippenstiften. Sebastian hat doch etliche Poster von ihr im Zimmer hängen.«

Sebastian wurde rot. »Blödsinn!«

»Doch, im Schrank! Mama hat die doch am Anfang immer mit dieser dunkelhaarigen Dragqueen verwechselt.«

Emma und Sophie wollten sich ausschütten vor Lachen, während Carsten nun komplett verwirrt war. »Und die ist jetzt Kundin bei dir? Respekt, Mario.«

Mario wedelte mit der Hand. »Der Promi-Faktor in meinem Salon ist leider regional beschränkt; obwohl ich immerhin sagen kann, ich habe vor dem letzten Frühlingsball im Palmengarten Mutter Beimer unter die Haube gebracht. So eine tolle Frau, das ist noch eine richtige Grand Dame und man sieht überhaupt nicht, dass sie sich hat liften lassen.« Er geriet ins Schwärmen, und ich versuchte gerade zu verarbeiten, dass selbst Mutter Beimer der plastischen Chirurgie zum Opfer gefallen war.

Da griff Hartmut nach Marios Hand. »Es ist mehr eine ... ähm ... private Entscheidung, die wir euch mitteilen möchten.«

Schlagartig wurden alle still und starrten ihn erwartungsvoll an.

»Ihr wollt heiraten?«, rief ich aufgeregt.

»Marlene, jetzt sei doch mal still«, murrte Carsten. »Er hat doch noch gar nichts gesagt.«

»Entschuldige ...«

Mario holte tief und Luft sagte: »Seit dem Urlaub ist es bei uns zu Hause einfach nicht mehr so wie früher. Wenn Hartmut und ich beim Frühstück sitzen, da sind nur wir beide und es ist einfach so furchtbar ruhig. Vor zwei Tagen konnten wir sogar Wort für Wort den Ehekrach der Meiers nebenan verfolgen. Da glaubt man immer, seine Nachbarn zu kennen und erfährt dann Dinge ...« Er verzog das Gesicht. »Ich hätte ja nie gedacht, dass sich hinter dem Inserat der 'molligen Hausfrau, wild und verspielt' im Wochenblättchen die spießige Frau Meier verbirgt.«

Carsten stand der Mund offen. »Das ist nicht dein Ernst?!«

»Doch!«, erwiderte Mario mit funkelnden Augen. »Die war richtig gut im Geschäft, zumindest so lange, bis Herr Meier besagte 0190-Nummer aus der Annonce angerufen hat.«

Während Carsten ihn erschüttert anstarrte, hatte ich immer noch den ersten Teil seines Satzes im Ohr. »Es ist so furchtbar ruhig bei euch zu Hause?«

»Ja, Liebes! Wir trinken morgens unsere Cappuccinos mit laktosefreier Milch, lesen uns gegenseitig die News aus den Online-Portalen vor und warten, bis die Gesichtsmasken eingezogen sind. Aber alles ist so ruhig. Das macht mich ganz hibbelig, verstehst du? Du hörst sogar das Ticken der Wohnzimmeruhr!«

Carsten setzte gerade zum Sprechen an, doch Mario ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Bevor du fragst: nein, es ist nicht meine biologische Uhr, die da tickt. Die tickt noch vollkommen richtig.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah Birgit an, die meinen Blick stirnrunzelnd erwiderte. »Du meinst, ihr sitzt einfach so zusammen und frühstückt in Ruhe? Nur ihr beide?«

»Ja, genau!«, Mario nickte, und eine dunkle Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht.

»Ihr unterhaltet euch in ganzen Sätzen, jeder hört dem anderen zu, und ihr könnt euch hinterher auch noch daran erinnern, worüber ihr gesprochen habt?«

Mario nickte heftiger. »Exakt, Liebes.«

»Danach wischt ihr die Krümel der glutenfreien Brötchen vom Tisch, spült die »Make me sexy«-Gesichtsmasken ab und macht euch in aller Seelenruhe für die Arbeit fertig?!«

»Ganz genau! Es ist alles so ... normal und langweilig. Wenn Frau Meier nicht regelmäßig Besuch bekäme und nebenan mal ein bisschen Leben in die Bude bringen würde, könnte man glatt denken, wir wären ein langweiliges, altes Ehepaar!«

Birgit zog die Nase kraus. »Aber ihr seid doch eigentlich schon so etwas wie ein altes Ehepaar.«

»Aber deswegen muss es sich doch nicht auch so anfühlen, Liebes. Das ist furchtbar deprimierend, schlägt mir aufs Gemüt und ich kann mich nicht leiden, wenn ich mich so fühle«, betonte Mario theatralisch.

Hartmut tätschelte seine Hand. »Naja, Hase, so schlimm ist es auch wieder nicht, aber ein bisschen lebendiger könnte es bei uns zu Hause schon sein. Wir haben die Tage mit den Kindern und euch so genossen; danach ist uns erst bewusst geworden, dass uns irgendwie etwas fehlt.«

Ich hielt mich wirklich für einen einfühlsamen und verständnisvollen Menschen, aber ein wirkliches Problem konnte ich nicht erkennen.

»Verstehst du das?«, fragte ich Birgit.

Sie schüttelte wortlos den Kopf.

»Ich gebe mir schon gar keine Mühe mehr, meine Sätze zu beenden, weil mir ohnehin niemand zuhört oder irgendjemand ständig dazwischenredet, so dass ich spätestens bei der dritten Unterbrechung nicht mehr weiß, was ich sagen wollte«, gab ich zurück.

»Aber hast du das gehört? Sie unterhalten sich! Wir sprechen hier von einem richtigen Dialog - du erinnerst dich? Das ist ein längeres Gespräch, in dem einer dem anderen konzentriert zuhört und direkt antwortet.«

Ich seufzte. »Das muss schrecklich sein. Und Zeit für eine Gesichtsmaske haben sie auch noch.« Ich blickte Mario und Hartmut mit zusammengekniffenen Augen an. »Seid ihr irre?«

Mario war beleidigt. »Marlene, das einzige, was bei uns lebt, ist die fleischfressende Pflanze auf der Fensterbank. Und es ist so leise, dass ich schwören könnte, ich habe sie leise rülpsen hören, nachdem sie eine Fliege gefressen hatte.«

Carsten öffnete den Mund, blinzelte irritiert und schloss ihn wieder.

»Ganz ehrlich, ich würde an manchen Tagen sofort tauschen!«, ereiferte ich mich. »Alleine bis die Kinder morgens beim Frühstück sitzen, das ist ein Kraftakt. Sebastian läuft wie ein Schlafwandler immer wieder zurück ins Bett und Sophie steht erst gar nicht auf.«

»Dafür quasselt Lena unaufhörlich, sobald sie die Augen öffnet«, ergänzte Carsten.

Ich verdrehte die Augen. »Schon vorher, der Mund schläft nie. Bis der Motor von Sebastian und Sophie morgens anspringt, laufe ich oftmals halbangezogen zwischen dem Badezimmer, der Küche und den Kinderzimmern hin und her. Manchmal irre ich sogar ziellos im Keller herum und habe vergessen, was ich dort eigentlich wollte.« Kopfschüttelnd sah ich ihn an. »Und du beschwerst dich über Ruhe

Mario schlug die Beine übereinander und zog eine Flunsch. Hinter ihm schlich die Katze unserer Nachbarn durch das Gebüsch, und ein bisschen wehmütig musste ich an Balou denken, den wir vor ein paar Monaten mit achtzehn Jahren hatten einschläfern lassen müssen. Unser Katzen-Opi war die gute Seele in unserem Haushalt gewesen, und die kleine, schnurrende Fellnase fehlte mir entsetzlich.

Mario holte tief Luft. »Wir hatten im Urlaub so viel Spaß. Die Kinder waren so toll. Weißt du noch, wie ich mit Lena im Pool nach den verschrumpelten Gummienten getaucht bin oder als ich mit Sophie zur Pediküre im SPA-Bereich war?«

»Als wäre es gestern gewesen«, erwiderte ich trocken.

»Oder als Basti diesen fiesen Splitter im Fuß hatte und wir den Hotelarzt aus dem Bett klingeln mussten? Da war es doch gut, dass ich wusste, wo der sein Zimmer hatte.«

»Mario, du wolltest unbedingt mitkommen, weil du dir eingeredet hattest, dass der Leberfleck neben deinem Bauchnabel im Sonnenlicht lila funkelt! Selbst der Arzt hat zweimal nachgefragt, weil er glaubte, sich verhört zu haben! Als Sebastian dann der Splitter entfernt wurde, hast du die Augen zugekniffen, weil du kein Blut sehen kannst!«

»Aber ich habe Bastis Hand gehalten und war ihm eine große, mentale Stütze!«, verteidigte sich Mario. »Außerdem konnte ich ja nicht wissen, dass sich ein Leberfleck durch selbstbräunendes Sonnenschutzöl farblich verändern kann. Er hatte einen ganz klaren Stich ins Violette.«

Hinter der Holztrennwand zum Garten unserer Nachbarn hörte ich unterdrücktes Gelächter. In einer Reihenhaussiedlung war es kaum zu vermeiden, dass man das ein oder andere aus dem Nachbarsgarten aufschnappte. Wenn Frau Schmitt im übernächsten Garten nach der Morgenzigarette stakkatoartig abhustete, konnten wir ohne große Mühe Auskunft über die Konsistenz des Auswurfs geben.

Ich wollte gerade antworten, doch meine Aufmerksamkeit wurde von der getigerten Katze abgelenkt, die hinter Mario und Hartmut herumstrich.

Nicht ganz bei der Sache, sagte ich: »Mario, das war Urlaub. Klar hattet ihr Spaß zusammen und die Kinder vergöttern dich, das weißt du. Aber das ist kein Alltag und nach zehn Tagen kehrst du in deine ordentliche, saubere, legofreie und ruhige Wohnung zurück! Glaub mir, im täglichen Leben haben wir gewisse Ähnlichkeit mit den Wollnys!«

»Also Mama, wirklich ...«, regte sich Sophie auf.

Mario nestelte an seiner Kette herum und sah mich an. »Ich bin aber mit ein bisschen Chaos um mich herum deutlich kreativer - Künstler brauchen das!«

»Du bist Friseur«, warf Carsten ein.

»Ich bevorzuge 'Hair Artist'!«, erklärte Mario würdevoll.

»Dann lad die Kinder am Wochenende zu dir ein«, schlug ich vor. »Carsten und ich hätten gerne ein bisschen mehr Zeit für uns. Und ich habe hier so viel Chaos, das teile ich gerne, wenn es der Inspiration dient.«

Irgendwie sagte mir mein Gefühl, dass das noch nicht alles war. »Du hast doch auch genug Trubel im Salon«, wandte ich ein.

Die Katze saß mittlerweile unter Marios Stuhl und schlug mit dem Pfötchen nach einer Wespe, die vor ihrer Nase herumflog.

Hartmut holte tief Luft: »Also, um die Karten jetzt einfach mal auf den Tisch zu legen - wir finden, dass sich unsere Familie vergrößern sollte. Wir sind bereit für mehr Verantwortung, nicht wahr, Hase?«

Mario nickte zustimmend, und seine dunklen Locken tanzten. Am Tisch herrschte zunächst verblüfftes Schweigen, dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig:

»Ihr wollt ein Kind adoptieren?«, rief ich ungläubig.

»Oder habt ihr eine Leihmutter?«, sagte Birgit.

»Werde ich dann Patentante?«, fragte Sophie. »Das wäre so cool!«

Bevor die beiden antworten konnten, schoss die Katze unter dem Stuhl hervor und krallte sich an Marios Bein fest, auf dem sich die Wespe niedergelassen hatte. Mario schrie erschrocken auf und schlug mit der Hand auf seine Hose, um die Katze zu verjagen. Dabei traf er jedoch die Wespe, die ihm prompt in die Hand stach. Hartmut griff nach der Katze und versuchte, sie von Marios Bein zu lösen, was jedoch zur Folge hatte, dass diese es noch fester umklammerte und fauchte wie ein Säbelzahntiger. Ein paar Blutstropfen wurden auf dem weißen Stoff seiner Hose sichtbar, und Marios Gesicht verlor dramatisch an Farbe.

Lena griff nach Marios Halstuch, das auf dem Tisch lag und wedelte damit vor der Katzennase hin und her. Die Pupillen weiteten sich und der kleine Tiger machte prompt jagt auf das teure Halstuch; immerhin war er modisch interessiert. Während Lena die Katze auf den Rasen lockte, wo sie mit dem Halstuch kämpfte, als ginge es um ihr Leben, sackte Mario in seinem Stuhl zusammen.

»Das ist ja eine Killermaschine«, stieß er hervor.

Carsten sprang auf und lief in die Küche, um Eiswürfel, Essig, Pflaster und die Allergietabletten zu holen. Nach seiner Rückkehr kippte er großzügig einen Schwapp Weißweinessig auf Marios Hand.

»Sei ein bisschen vorsichtig, ich muss ja nicht riechen wie ein Salat«, wies Mario ihn zurecht.

»Willst du überleben oder gut riechen?«, fragte Carsten trocken, worauf Mario erschrocken die Augen aufriss und auf den Stich in seiner Handfläche sah.

»Ist es so ernst?«

Mitten in diesem Tumult rief Hartmut kläglich: » Wir wollen kein Kind, sondern haben an ein Haustier gedacht! Tiere sind doch eigentlich etwas sehr Schönes, oder!«

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Die körperlichen Spuren dieses tätlichen Angriffs waren nach ein paar Tagen verheilt, allerdings wurde Mario nicht müde zu betonen, dass dieser Vorfall Narben auf seiner Seele hinterlassen habe. Das Thema »Haustier« war damit zwar nicht vom Tisch, aber eine Katze sackte auf der Favoritenliste zunächst einige Plätze nach unten. Alternativ besorgte sich Mario in Birgits Buchladen Bücher über Schildkröten und Diskusfische, wie er mir am Telefon euphorisch berichtete.

»Also, Schildkröten, die sind ja total pflegeleicht. Die kannst du mit Gemüseresten füttern und für den Winterschlaf einfach in den Kühlschrank legen - fertig!«, begeisterte er sich.

Ich klemmte mir den Hörer unter das Kinn, nahm ein Päckchen entgegen, das mir Frau Schäfer vom Empfang überreichte, und lächelte sie freundlich an. »Ich finde die Vorstellung eher gruselig, ein lebendiges Tier in den Kühlschrank zu legen. Stell dir mal vor, du vergisst sie. Dann gammelt die Schildkröte am Ende vor sich hin, und das ganze Essen schmeckt nach ... wie schmecken Schildkröten eigentlich?«

»Marlene, du hast manchmal wirklich eine eklige Fantasie«, regte sich Mario am anderen Ende der Leitung auf. »Die kann man doch gar nicht vergessen, wenn sie da so rumliegt. Schildkröten sind ja schließlich auch Lebewesen!«

»Die wievielte Topfpflanze ist das auf eurer Fensterbank in der Küche?«, fragte ich scheinheilig und googelte nebenbei nach der Haltung und Pflege von Schildkröten. »Sagt dir dein schlaues Buch auch, dass du eure neue Freundin immer gleichmäßigen Temperaturen aussetzen musst, damit die Verdauung und der Stoffwechsel funktionieren?«

Lautes Geraschel drang durch den Hörer, als Mario in seinem Buch blätterte. »Da geht’s denen ja wie mir ... Haben die auch so einen empfindlichen Magen?«

Ich scrollte auf dem Bildschirm weiter nach unten. »DU hast einen empfindlichen Magen, die Schildkröte kann sich nicht entleeren, wenn ihre Körpertemperatur zu niedrig ist. Und wenn der Stoffwechsel nicht richtig funktioniert, wird die Haut trocken und schuppig und der Panzer rissig.«

»Sie kann sich nicht entleeren?«, fragte Mario ungläubig.

»Ja! Sie kann nicht ka ...!«

»Ich habe verstanden, was du meinst, Liebes«, unterbrach er mich eilig. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass die so empfindlich sind. Ich dachte, sie könnte dann in unserer Wohnung rumlaufen - ich habe so niedliche Häuschen gesehen, die man aufstellen kann, das glaubst du nicht. Auf dem einen stand 'Rent a turtle' - klasse, oder?«