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Band 20

Herausgegeben von

Prof. em. Dr. Michael Jagenlauf, Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg

Prof. Dr. Werner Michl, Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm

Dipl. Soz.päd. Holger Seidel, M.S.M., Ostfalia Hochschule für angewandte

Wissenschaften, Braunschweig / Wolfenbüttel

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Tobias Kamer M. A., ist Erwachsenenbildner und Erlebnispädagoge in Bern. Als freier Trainer konzipiert und realisiert er Lernsettings zu Themen im Bereich Soziales Lernen, Bildung für nachhaltige Entwicklung und Erwachsenenbildung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02723-1 (Print)

ISBN 978-3-497-60434-0 (E-Book)

ISBN 978-3-497-60982-6 (EPUB)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com/dolgachov

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Teil I

Aus Erlebnissen lernen – eine Annäherung an den Begriff Erlebnispädagogik

1         Was ist Erlebnispädagogik?

2         Die vier Leitideen der Erlebnispädagogik

2.1      Wachstumsorientierung

2.2      Ganzheitlichkeit

2.3      Selbstorganisation

2.4      Naturorientierung

3        Vom subjektiven Erleben zur konstruierten Erfahrung

3.1     Anschlusslernen: Lernen in der Driftzone

3.2     Transformative Bildung: Lernen in der Krise

3.3     Für’s Leben lernen: Handlungs- und Lernfelder der Erlebnispädagogik

Teil II

Erlebnispädagogische Projekte planen und durchführen

4        Ein didaktisches Modell für die Planung und Durchführung von erlebnispädagogischen Kursen und Projekten

5        Kennenlernen und Informationssammlung als Grundlage der Planung

5.1     Auftragsklärung : Vom Erstkontakt zu einer gemeinsamen und realistischen Vorstellung des Kurses

5.2     Bedürfnisabklärung und Umfeldanalyse – zwei wichtige Instrumente für Selbstausschreibende

6        Auf dem Reißbrett planen

6.1     Ziele und Absichten an den Bedingungs- und Wirkungsfeldern ausrichten

6.2     Themen und Inhalte klären

6.3     Aktivitäten und Methoden wählen

6.4     Orte und Mittel wählen

6.5     Abhängigkeiten zwischen den Entscheidungsfeldern und den Bedingungsfeldern beachten und Ausgleich schaffen

6.6     Ein praktisches Beispiel zur didaktischen Planung für ein berufsvorbereitendes 10. Schuljahr

6.7     Sicherheitsfragen und Risikoabschätzung – eine Besonderheit der didaktischen Planung in der Erlebnispädagogik

6.8     Von der Grob- zur Feinplanung: Sich in Schritten dem Kursgeschehen nähern

7        Jetzt geht’s los! Umsetzung zwischen Prozessund Zielorientierung

7.1     Den Einstieg gestalten

7.2     Übungen und Herausforderungen anleiten

7.3     Den Prozess wahrnehmen: gezieltes Beobachten

7.4     Die Interaktion mitgestalten

7.5     Gruppenselbststeuerung

7.6     Interventionen – Tabus oder notwendige Perturbationen?

7.7     Die „unmöglichen“ Rollen der Trainer im erlebnispädagogischen Prozess

8        Reflexion und Transfer – nur gemeinsam klappt’s

8.1     Reflexion anregen

8.2     Transfer anbahnen

9        Abschluss finden und Kursende gestalten

9.1     Das Ende vorbereiten

9.2     Abschließen und übertragen

9.3     Rückschau und Abschied

10      Kursauswertung und Evaluation

10.1   Wirkungsevaluation

10.2   Kursevaluation

Nachwort: Vom Novizen zum Experten

Literatur

Sachregister

Vorwort

Seit bald 15 Jahren bilde ich Menschen darin aus, erlebnispädagogische Kurse und Outdoortrainings zu planen und anzuleiten. In dieser Zeit bin ich immer wieder auf neue Ansätze und Erklärungen gestoßen, die das Wesen des handlungsorientierten Lernens besser erklärten als meine bisherigen Annahmen. Oder sie haben meine Beobachtungen und Erfahrungen mit theoretischen Überlegungen untermauert und um neue Blickwinkel erweitert. Einiges davon hat sich in der Lehrpraxis sehr bewährt und den Lernenden geholfen, ihre ersten eigenen Projekte bewusster und gestützt auf ein Gerüst von Strukturen und Modellen wirkungsorientiert zu gestalten.

Handlungsorientiertes Lernen in der Natur ist vielschichtig und bedarf wegen dieses komplexen Lernumfelds einer Vielzahl von Überlegungen zu pädagogischen Fragestellungen, zu den eigenen Grundhaltungen, zu Wirkungs- und Prozessmodellen bis hin zu Themen des Sicherheitsmanagements und der Ökologie. Angesichts all dieser Themenfelder kann leicht vergessen werden, dass dennoch das konkrete didaktische Handeln den Kern von Trainerverhalten in Erlebnispädagogik und Outdoortraining ausmacht. Während es zum einen eine Vielzahl an Literatur zu den Grundlagen der Erlebnispädagogik und Begründung spezifischer Sichtweisen darauf und zum anderen hervorragende Methodensammlungen zu Aktivitäten und Reflexionen gibt, fehlten mir für die Lehrpraxis Publikationen, die den ganzen Bereich des didaktischen Handelns von der Auftragsklärung und Projektinitiierung bis zur abschließenden Evaluation umfassen. Diese Publikation ist ein Versuch, diese Lücke zu schließen. Sie baut sowohl auf den praktischen Erfahrungen auf, die ich selber in der Ausbildung und Begleitung von angehenden Outdoortrainerinnen und Erlebnispädagogen gemacht habe, als auch auf der umfassenden Literatur zur Planung und Gestaltung von Lernveranstaltungen, die in erster Linie drinnen stattfinden.

Lassen sich Abenteuer und Erlebnisse also so planen, dass sie vordefinierte Lernergebnisse hervorbringen? Das Fragezeichen im Titel dieses Buches wirft die Frage auf.

Abenteuer und Erlebnisse bleiben individuelle Zuschreibungen und sind als solche nicht planbar. Umgekehrt besteht von den Auftraggebenden und den Teilnehmenden zu Recht der Anspruch, dass erlebnisorientierte Bildungs- und Trainingsveranstaltungen einen Nutzen bringen und sich auf bestimmte Ziele fokussieren. Am Ende bleiben beide Extrempositionen für die Erlebnispädagogik unmöglich: Das richtige Abenteuer lässt sich nicht pädagogisch „zähmen“, eine durchgetaktete, minutiös abgearbeitete didaktische Planung lässt umgekehrt keine authentischen Erlebnisse zu. Als Erlebnispädagogen und Outdoortrainerinnen können wir diesen Widerspruch nicht auflösen, sondern sind gefordert, ihn auszuhalten und gemeinsam mit den Teilnehmenden für lehrreiche Erfahrungen zu nutzen.

Viele der hier formulierten und zu Papier gebrachten Gedanken und Modelle sind im Austausch mit anderen Dozierenden der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaft und in der Ausbildungstätigkeit bei Drudel 11 entstanden oder auf das Lernen in der Natur adaptiert worden. Namentlich bedanken möchte ich mich bei Bruno Scheidegger, Thomas Hofstetter, Tania Hoesli, Michael Jahn, Claudia Schäfer, Kai Feit, Tanja Schwichtenberg und Hilde Krug. Ohne den fachlichen Austausch mit ihnen und den vielen anderen Kollegen wäre das Buch nie entstanden.

Ein Satz noch zur Sprache: In diesem Buch wird nicht der Einfachheit halber nur die männliche Form verwendet, sondern weibliche und männliche Formen wechseln sich ab. In der Vielfalt der Formulierungen sind die anderen Geschlechter immer mitgedacht und mitgemeint.

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1   Was ist Erlebnispädagogik?

Die Bedeutung des Erlebnisses für Bildung und Entwicklung in ihrer ganzen Breite wurde in der Zeit der reformpädagogischen Strömungen in den 1920er Jahren erkannt. Auch wenn der Begriff der Erlebnispädagogik eng mit der Person von Kurt Hahn und der von ihm begründeten Bildungsorganisation Outward Bound verbunden ist, bietet Hahn leider keine Hilfe für eine prägnante Definition. Dies aus dem einfachen Grund, dass Hahn zeitlebens von Erlebnistherapie gesprochen hat, einer Therapie notabene, die das Ziel hatte, gesellschaftliche „Verfallserscheinungen“ zu kurieren (Michl 2009, 26 ff.). Die im deutschsprachigen Raum wohl am weitesten verbreitete Definition von Erlebnispädagogik lautet so:

„Erlebnispädagogik ist eine handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten“ (Heckmair / Michl 2012, 115).

Heckmair und Michl betonen somit folgende Aspekte: Erlebnispädagogik ist mehr Methode als Inhalt, sie bietet exemplarische, d. h. noch in den Alltag zu transferierende Lernprozesse und beinhaltet Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen des Lernens. Eine weitere Definition beschreibt Erlebnispädagogik so:

„Die Erlebnispädagogik fördert und unterstützt Menschen zielorientiert in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit und im sozialen Handeln. Sie ermöglicht bewusstes, handlungsorientiertes Lernen durch gezielt gestaltete Herausforderungen. Die Natur ist der bevorzugte Lern- und Erfahrungsraum. Die dabei gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse befähigen Menschen ihre Lebenswelt im Alltag verantwortlich zu gestalten“ (Verband für Erleben und Bildung in der Natur Schweiz, Fachbereich Erlebnispädagogik 2016, 3).

Hier wird zum einen die Zielorientierung und zum anderen der Anspruch an den Transfer der Erfahrungen in den Alltag hervorgehoben. Hinter dem Begriff Befähigung, der in beiden Definitionen zu finden ist, steht der Anspruch auf Kompetenzentwicklung und Performanz, zwei Begriffe, die uns später noch weiter beschäftigen werden. Nach Weinert (2003, 27) bezeichnet der Begriff Kompetenz

„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2003, 27).

Furrer (2000, 17 ff.) differenziert weiter, indem er zwischen Ressourcen, die erworben (interne Ressourcen) oder aktiviert (externe Ressourcen) werden können, und Kompetenzen unterscheidet. Letztere beschreiben das Vermögen, also eher die Möglichkeiten, eine Situation zu meistern. Dem gegenüber steht die Performanz. Sie ist die situative Problemlösefähigkeit, d. h. die sichtbare Ausprägung der Kompetenz in konkreten Arbeits- und Lebenssituationen.

Umfangreiche Einführungen und Definitionen in die Erlebnispädagogik und ihre historische Entwicklung gibt es in hinreichender Menge. An dieser Stelle soll auf die beiden Standardwerke „Erleben und Lernen“ von Heckmair und Michl (2012) und die „Einführung in die Erlebnispädagogik“ von Paffrath (2013) verwiesen werden. Ich konzentriere mich im Folgenden auf mir besonders wichtige Aspekte der theoretischen Fundierung und solche, die für die nachfolgende Beschäftigung mit der Planung und Durchführung von erlebnispädagogischen Aktivitäten von großer Relevanz sind.

2   Die vier Leitideen der Erlebnispädagogik

Eine für die Praxis handlungsleitende Annäherung an den Begriff Erlebnispädagogik liefert uns Rüdiger Gilsdorf (1999) in seinem lesenswerten Artikel „Aufbruch ins Ungewisse“. Daran anlehnend, aber die Natur als Lern- und Erfahrungsraum betonend, könnte der erlebnispädagogische Ansatz mit Abbildung 1 beschrieben werden. Erlebnispädagogik und Outdoortraining berücksichtigen danach die vier Leitideen von Wachstumsorientierung, Ganzheitlichkeit, Selbstorganisation und Naturorientierung. Jeder Leitidee können entsprechende pädagogische Standpunkte und Arbeitsprinzipien zugeordnet werden.

2.1   Wachstumsorientierung

Jede Form von Bildung will Wachstum und Entwicklung fördern und dennoch wird zumindest in der schulischen Praxis immer noch ein besonderes Augenmerk auf Fehler gelegt. Wachstumsorientierung in der Erlebnispädagogik bedeutet daher eine Abkehr von der Konzentration auf Fehler hin zu einem Blick auf die Ressourcen der Teilnehmenden. Diese zu entfalten und zu Lebenskompetenzen zu entwickeln, ist das Ziel vieler erlebnispädagogischer Programme. Und dazu braucht es die Herausforderung und die Krise. Gilsdorf fasst dies gut zusammen:

„Ausgangspunkt der Arbeit ist es, die TeilnehmerInnen in einen Zustand des Ungleichgewichts zu versetzen. In der Regel wird das dadurch erreicht, daß sie in eine neuartige Situation gebracht werden, in der sich einzigartige Problemlöseaufgaben stellen. Gleichzeitig wird ein kooperatives Umfeld geschaffen, so daß die Aufgaben bewältigbar sind und Erfolgserlebnisse möglich werden. Über eine Reflexion wird schließlich Generalisierung und Transfer der neuen Lernerfahrung angestrebt“ (Gilsdorf 1999, 28).

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Abb. 1: Die vier Leitideen der Erlebnispädagogik (in Anlehnung an Gilsdorf 1999)

2.2   Ganzheitlichkeit

Kaum eine pädagogische Methode hat es so einfach wie die Erlebnispädagogik, Heinrich Pestalozzis Aufforderung nachzukommen, dass ganzheitliches Lernen mit Kopf, Hand und Herz erfolgen soll. Handlungsorientierte Bildungsmethoden geraten leider vorschnell in Verdacht, wenig ernsthaft und nicht seriös genug zu sein, weil sie in ihrer Orientierung auf überfachliche Kompetenzen kaum in den alltäglichen, sich wiederholenden Strukturen und Lernorten, wie z. B. der Schule, Platz finden – umso mehr, wenn sie dazu noch in der Natur und auf zuweilen spielerische Weise stattfinden. Kompetenzen sind ihrerseits aber immer vielschichtig und umfassen sowohl kognitive (Kopf), als auch instrumentelle (Hand) und affektive (Herz) Anteile. In der Verbindung von aktivem Erleben und Nachdenken über das, was passiert ist, und darüber, was das für eine Bedeutung haben könnte, und den nachfolgenden Versuchen, diese Erkenntnisse umzusetzen, werden Kompetenzen ganzheitlich entwickelt.

Ganzheitliches Denken ist immer auch systemisches Denken. An Stelle von monokausalen Erklärungen und linearen Reiz-Reaktionsmustern erleben die an erlebnispädagogischen Projekten Teilnehmenden, dass komplexe Zusammenhänge als Netzwerke verstanden werden können und müssen. Sie erleben gegenseitige Abhängigkeiten und können aus der Reflexion darüber neue Lösungen für Problemstellungen denken und ausprobieren. Handeln und Denken in Systemen hilft, Toleranz für mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu entwickeln. Dieser sogenannten Ambiguitätstoleranz wird große Bedeutung für die Identitätsentwicklung zugeschrieben und sie ist auch in Handlungsmodellen zur Entwicklung von inter- und transkulturellen Kompetenzen und für die Bildung für nachhaltige Entwicklung wiederzufinden.

2.3   Selbstorganisation

Die Leitidee der Selbstorganisation bedeutet für die Erlebnispädagogik, dass sie dem prozesshaften und selbstgesteuerten Wesen des Lernens viel Raum geben soll. Die Teilnehmenden sollen sich in der Organisation der Gruppe und der Lösung von Problemen so weit wie möglich selbst organisieren und steuern. Der Grad der Selbststeuerung ist dabei ihrer Entwicklung und Kompetenz angemessen zu planen. Alle Formen von (Gruppen-)Selbststeuerung erfordern, dass alle Beteiligten sich darauf einlassen. Es bedarf einer Offenheit für den Prozess an sich wie auch für die eigenen Ziele der Teilnehmenden. Diese Herausforderung stellt sich nicht nur den Trainerinnen, sondern auch den Teilnehmenden. Die Arbeit an den eigenen Zielen ist oft ein holpriger Weg, den die Lernenden beschreiten, um dann Schritt für Schritt mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen zu übernehmen. So werden individuelle und gemeinsame Ziele veränderund verhandelbar und können sich auf die aktuellen Herausforderungen ausrichten. Wer sich selbst Ziele setzt, steht auch in der Verantwortung, die Bewertung selbst vorzunehmen und nicht auf eine Benotung durch die Anleitenden zu warten.

In welchem Ausmaß Selbstorganisation und Gruppenselbststeuerung in der erlebnispädagogischen Praxis umgesetzt werden können, hängt von den Umständen und der Vorerfahrung der Teilnehmenden ab. Aus Sicht der Selbstorganisationstheorie bleibt es aber eine zentrale Aufgabe der Pädagogik, die Entwicklung der Fähigkeit zu selbstbestimmtem und selbstverantwortlichem Lernen zu unterstützen. Für viele Schüler, aber auch erwachsene Lernende, ist es eine neue Erfahrung, dass ihnen in erlebnispädagogischen Kursen die Verantwortung für das Gelingen oder Misslingen von Lernprojekten und Expeditionen nicht abgenommen, sondern „bewusst und betont bei ihnen belassen wird“ (Gilsdorf 1999, 59).

2.4   Naturorientierung

Erlebnispädagogik findet draußen statt! Nicht immer und ausschließlich, aber doch mehrheitlich. Mit dem Lernen in der Natur verbinden sich Handlungsprinzipien, die aus der Naturbegegnung mehr machen als nur ein komplexes Lernsetting. Naturerfahrung und -beziehung werden in der Fachwelt als zunehmend wichtig für eine gesunde Entwicklung ange sehen, dies belegen auch die zahlreichen Publikationen der 2010er Jahre zu diesem Thema (Renz-Polster / Hüther 2013; Trommer 2012; Louv 2013). Da Kinder und Jugendliche immer weniger Zeit in natürlichen Umgebungen verbringen, fällt nahezu jede Stunde draußen ins Gewicht. Der Lernraum Natur bringt Authentizität von Aufgaben und Herausforderungen mit sich. Die Natur lässt sich nicht planen und erscheint zuweilen widerständig. Sie fordert alle Beteiligten auf, ihre Planung an den sich verändernden Gegebenheiten anzupassen, situativ zu handeln und sich mit Fragen von Risiko und Sicherheit auseinanderzusetzen. Naturräume steuern dem Reflexionsprozess zudem vielfältige Metaphern bei und schaffen Räume von Ruhe und Kontemplation – eine willkommene und lehrreiche Abwechslung zum emsigen Treiben in der Gruppe. Zu guter Letzt wohnt in dem Unterwegssein mit einfachen Mitteln auch die Frage nach dem rechten Maß inne. Wieviel Materielles brauchen wir persönlich und als Gesellschaft, um unsere wahren Bedürfnisse zu decken? Was braucht ein gutes Leben?

Mit der knappen Beschreibung dieser Leitideen und entsprechender Arbeitsprinzipien soll nicht die Forderung aufgestellt werden, dass bei allen erlebnispädagogischen Aktivitäten die vier Leitideen im gleichen Ausmaß und in ihrer Vollständigkeit zu beachten sind. Sie können vielmehr als Bündel von Eigenschaften angesehen werden, die diese Methode fundieren und sie in ihrer Gesamtheit prägen.

3   Vom subjektiven Erleben zur konstruierten Erfahrung

Unter Erlebnissen werden gemeinhin nicht-alltägliche, d. h. besondere Situationen verstanden, die sich durch eine höhere emotionale Dichte vom Alltag abheben. Horst Siebert beschreibt sie als „Situationen, in denen wir körperlich und affektiv involviert sind. Erlebnisse sind ‚Highlights‘, oft auch Schaltstellen unserer Lebenswelt“ (Siebert 2000, 256) und er betont damit deren Bedeutung für Entwicklung und Lernen. Heyer und Ipfling (2003, 12 ff.) nennen vier Aspekte von Erlebnissen, die für das pädagogische Handeln bedeutsam sind:

images   „Erlebnisse sind nicht objektive Gegebenheiten, sondern gebunden an das einzelne urteilende und sinngebende Subjekt. Was also für den einen Schüler ein Erlebnis ist, kann den anderen unberührt lassen.

images   Erlebnisse können emotional positiv oder negativ besetzt sein bzw. auch vom Subjekt positiv oder negativ interpretiert werden.

images   Erlebnisse sind letztlich nicht herstellbar, aber intendierbar. Als Lehrkraft kann ich die Absicht verfolgen, Erlebnisse zu initiieren; ob die vom Einzelnen als solche empfunden werden bzw. interpretiert werden, bleibt offen.

images   Erlebnisse kommen ‚von außen‘ auf den Menschen zu; sie werden aber vom Subjekt nicht nur passiv ‚empfangen‘, sondern sollen […] interpretiert und beurteilt, ja nach Möglichkeit aktiv mitgestaltet und damit auch verantwortet werden.“

Mit der Interpretation und der Beurteilung von Erlebnissen nähern wir uns dem Begriff der Erfahrung. „Aus Erlebnissen können Erfahrungen werden, die veränderte Handlungen und Orientierungen in der Zukunft ermöglichen. Erfahrungen sind gedanklich und sprachlich verarbeitete Erlebnisse“ (Siebert 2003, 257). Siebert weist somit auf die Bedeutung kognitiver Verarbeitung der emotionalen Zustände innerhalb der Erlebnispädagogik hin. Erst in der Reflexion können Erfahrungen und darauf aufbauende Kompetenzen entstehen. Kolb (1984) unterscheidet in seinem Lernzyklus des Erfahrungslernens zwischen einer reflexiven Beobachtung des Erlebnisses, d. h. dem Zurückschauen und Einordnen eines Erlebnisses, und einer abstrakten Konzeptualisierung, d. h. einer Verallgemeinerung im Hinblick auf kommende Aufgaben und Situationen (Abb. 2). In diesem zweiten Schritt sind dann auch Transferleistungen der Lernenden in neue Anwendungsfelder wahrscheinlich. Fassen wir kurz zusammen: Erlebnisse können Ausgangspunkt für lehrreiche Erfahrungen sein, so sie in irgendeiner Form von den Lernenden verarbeitet, eingeordnet und auf andere Aufgaben als die ursprüngliche Erlebnissituation übertragen werden.

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Abb. 2: Der Lernzyklus erfahrungsbasierten Lernens nach Kolb (1984)

Erlebnisse bleiben, egal ob sie alleine oder in einer Lerngruppe stattfinden, subjektive Wahrnehmungen, und das gilt auch für die daraus gewonnenen Erfahrungen. Hieran wird auch die grundsätzliche Nähe einer handlungsorientierten Pädagogik zu konstruktivistischen Denkmodellen deutlich. „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (Foerster 1985, 40).

Der Konstruktivismus geht davon aus, dass das Erleben ein geistiger Konstruktionsprozess ist. Menschen schaffen in ihren Wahrnehmungs- und Reflexionsprozessen also individuelle mentale Repräsentationen ihrer Umwelt, die nicht nur durch die Physiologie der Sinne und des neuronalen Netzes, sondern auch durch soziale und kognitive Prozesse beeinflusst werden.

Das Lernen eines Subjekts ist in konstruktivistischem Sinne eine „selbstständige, biographie- und erfahrungsbasierte Tätigkeit, die durch Lehre unterstützt, aber nicht gesteuert werden kann“ (Siebert 2008, 7). Lernen ist aktive Aneignung von Neuem und baut immer auf vorhandenen Erfahrungen auf. Konstruktivistische Didaktiker nennen das Anschlusslernen.

Lernen kann als eine komplexe, selbstorganisierte und auf erfolgreiches Handeln bezogene Tätigkeit angesehen werden. Dabei konstruieren Ler-nende ihre eigene Wirklichkeit, so dass diese für sie passend und funktional ist. Konstruktivisten sprechen hier von Viabilität.

Überträgt man diese Erkenntnis auf die Erlebnispädagogik, bedeutet es, dass weder das Lernen der Einzelnen noch das der Gruppe einem direkten Einfluss unterliegt, sei es durch die Methode oder die Leitenden. Die Erlebnispädagoginnen besitzen demnach nur indirekte Steuerungsmöglichkeiten, indem sie den Kontext und die Herausforderung gestalten und zum Nachdenken einladen. Die Lernenden erleben und bewerten die erlebnispädagogische Situation aber für sich selbst und bestimmen (häufig unbewusst) auch selbstverantwortlich, ob und was sie daraus lernen.

Erlebnispädagogik vermittelt nicht primär Lerninhalte, sondern ermöglicht den Teilnehmenden, in mehr oder weniger strukturierten Erlebnissen nach möglichen Lernfeldern zu suchen. „Die Erlebnispädagogik betont […] die Aneignungsperspektive der Lernenden. Erlebnisse und Erfahrungen werden nicht gelehrt, sondern selber ‚gemacht‘“ (Siebert 2000, 256).

Reich (2017) bemerkt dazu, dass

Reich 2017