Trau niemals einem Callboy!

Trau niemals einem Callboy!

Birgit Kluger

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Epilog

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Über den Autor

1

Es regnet. Schon wieder. Ich bin noch nicht richtig wach, als diese Gedanken durch meinen Kopf wandern. Einen Kopf, der sich anfühlt, als wäre er mit Nebel gefüllt. Verdammte Schlaftabletten.

„Damit solltest du aufhören, Tamara“, murmele ich. „Das ist auf Dauer nicht gesund.“ Erschöpft schließe ich die Augen. Diese Selbstgespräche strengen mich an. Sogar das Schlafen strengt an. Mit einem Seufzer drehe ich mich auf die Seite. Nur noch fünf Minuten.


Der Regen trommelt noch immer leise an die Fensterscheibe, als ich das nächste Mal aufwache. Ich muss aufstehen. Ohne große Begeisterung lasse ich es zu, dass sich der Gedanke in meinem Dämmerzustand auflöst. Aber es hilft nichts, irgendwann muss ich diesen Tag beginnen.

Mit halb geschlossenen Augen taste ich mich ins Badezimmer vor. Dort vermeide ich den Blick in den Spiegel, denn ich ahne, wie ich aussehe. Stattdessen klatsche ich mir jede Menge kaltes Wasser ins Gesicht. Das vertreibt normalerweise die weiße Schwerelosigkeit, die sich in meinem Gehirn festgesetzt hat. Seit zwei Wochen schon finde ich ohne die harmlos aussehenden kleinen Pillen nachts keine Ruhe mehr. Wenn das so weitergeht, verwandele ich mich noch in einen Pharmajunkie.

Aber damit ist jetzt Schluss! Gestern Abend, als ich noch klar denken konnte, habe ich beschlossen, den ständigen Streitereien zwischen meinem zukünftigen Ehemann Ron und meiner Mutter ein Ende zu bereiten. Es wird Zeit, dass die beiden anfangen, sich wie erwachsene Menschen zu benehmen. Noch ist mir schleierhaft, wie ich das erreichen soll. Seit unsere Hochzeit näher rückt, wird die Stimmung zwischen den beiden immer angespannter. Wenn ich nicht damit beschäftigt bin, die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, vertreibe ich mir die Zeit damit, mich zu ärgern. Darüber, dass es keinen der beiden Streithähne interessiert, wie ich mir den schönsten Tag meines Lebens vorstelle. Der droht allmählich zu meinem schlimmsten Albtraum zu werden! Und nur deshalb kann ich seit Wochen nicht mehr schlafen.

Meine Gedanken werden von der Türklingel unterbrochen, die ich gekonnt ignoriere. Es ist mir egal, wer draußen steht. Schließlich bin ich weder geschminkt noch richtig angezogen. An die Unordnung, die im ganzen Haus herrscht, will ich gar nicht denken. Ron ist seit gestern auf Geschäftsreise, was regelmäßig dazu führt, dass das Chaos mit beängstigender Geschwindigkeit einzieht. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber kaum ist er weg, verwandeln sich sämtliche Räume in ein Schlachtfeld, übersät mit meinen Habseligkeiten.

Wieder durchschneidet das melodische Klingeln, das für diese Tageszeit eindeutig zu laut ist, meine wirren Gedankengänge. Das kann nur ein Verrückter sein! Irgendwann wird er merken, dass niemand zu Hause ist. Entschlossen greife ich zum Make-up, verwandele gerade mein Gesicht in eine makellose Maske, als an die Tür gehämmert wird. Langsam nervt der ungebetene Besucher. Bevor ich mit einem Knall die Badezimmertür zuschlagen kann, um endlich Ruhe zu haben, schallen folgenschwere Worte zu mir herauf: „Öffnen Sie die Tür. Hier ist die Polizei!“

Die Polizei? Meine Hand erstarrt in ihrer Bewegung. Das kann nichts Gutes bedeuten. Hoffentlich ist Ron nichts zugestoßen oder meiner Mutter … Oder sind sie wegen mir da? Der Gedanke legt sich wie ein dunkler Schatten auf meine Seele. Vielleicht sollte ich besser so tun, als sei ich nicht zu Hause. Es ist zwar lange her, seit ich Probleme mit der Polizei hatte, aber es breitet sich noch immer ein mulmiges Gefühl in meinem Magen aus, sobald ich einen Beamten auch nur von Weitem sehe. „Öffnen Sie bitte!“

Mist. Denen ist es ernst. Zögernd setze ich mich in Bewegung. Eines ist sicher: Um diese Tageszeit kann es sich nur um schlechte Nachrichten handeln.

„Augenblick, ich komme ja schon“, rufe ich, um zu verhindern, dass sie in ihrem Eifer die Eingangstür demolieren. Innerlich fluche ich, während ich die Treppe hinabeile. Hätten die nicht ein paar Minuten später kommen können? Wenigstens so, dass ich statt eines löchrigen T-Shirts und einer Jogginghose etwas halbwegs Anständiges angehabt hätte?

Unten angekommen, mache ich mir an den vielen Riegeln und Schlössern zu schaffen, die an unserer Haustür angebracht sind. Endlich. Das letzte Schloss ist geöffnet.

Ohne nachzudenken, reiße ich die Tür auf.

Prompt zerfetzt der schrille Ton der Alarmanlage mein Trommelfell.

„Verflixt!“

Hastig tippe ich den Code ein, der dem Lärm ein Ende setzt.

„Tut mir leid, das passiert mir ständig.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen drehe ich mich zu den Polizisten um. Allein der Anblick ihrer Uniformen reicht aus, um mein Herz zu einem rasenden Tanz in meiner Brust zu inspirieren.

„Frau Krämer?“, fragt derjenige der beiden Beamten, der etwas älter ist. Mit seinem weißen Rauschebart sieht er aus wie ein Weihnachtsmann, der sich in der Jahreszeit geirrt hat.

„Noch nicht“, will ich gerade erwidern, aber dazu komme ich nicht, denn der Mann redet schon weiter.

„Wir haben einen Notruf erhalten.“

„Einen Notruf?“

„Ja, in unserer Zentrale ging ein Anruf ein. Jemand, der seinen Namen nicht genannt hat, hat einen Einbruch in Ihrem Haus gemeldet.“

„Ein Einbrecher?“ Ich klinge wie sein Echo. Es dauert einen Moment, bis ich den Sinn seiner Worte verstanden habe. Und dann werde ich richtig sauer. Welcher Idiot hat die Polizei angerufen? Für solche Scherze bin ich nicht zu haben, vor allem nicht, wenn ich dann am frühen Morgen ungeschminkt zwei Polizeibeamten gegenüberstehe. Wobei ungeschminkt zu sein um Klassen besser wäre, als mein derzeitiger Zustand: Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich gerade damit begonnen, eine Hälfte meines Gesichtes mit Make-up zu bedecken, während die andere noch immer in ihrem fahlen, unausgeschlafenen Glanz erstrahlt. Vom Anblick meiner Haare ganz zu schweigen.

„Hier ist kein Einbrecher“, entgegne ich. „Glauben Sie mir. Wenn es jemand versucht hätte, wüsste ich es. Dieses Haus ist besser geschützt als ein Hochsicherheitstrakt, das haben Sie ja gerade bemerkt.“ Mit einem matten Lächeln zeige ich zu dem Nummernpad, das ich eben attackiert habe.

„Wäre es nicht besser, wenn wir selbst kurz nach dem Rechten sehen würden?“

Nur über meine Leiche.

„Nein, das ist nicht nötig. Wirklich nicht. Mein Mann hat unser Haus mit den modernsten Sicherheitsvorkehrungen ausstatten lassen. Hier kommt niemand herein, ohne dass wir es merken. Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt. Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich weiß das zu schätzen.“

„Dann ist es ja gut. Tut mir leid, dass wir Sie gestört haben.“ Der Polizist sieht mich zweifelnd an, aber ich rühre mich nicht von der Stelle. Die Zwei lasse ich nur dann herein, wenn sie einen Durchsuchungsbefehl haben. Anscheinend sieht man mir die Entschlossenheit an, denn nach einigen Sekunden tippt er sich an die Mütze und dreht sich um.


Sie sind weg! Mit einem lauten Seufzer schließe ich die Tür und lehne mich mit dem Rücken an die Wand. Mein Herzschlag beruhigt sich. Nähert sich einem Tempo, das man fast als normal bezeichnen könnte.

Vor einigen Jahren hatte ich ziemlich oft Probleme mit der Polizei. Damals war ich politisch aktiv und habe mich für Umweltschutz, eine gerechtere Schulpolitik und die Dritte Welt engagiert. Aber das brachte mir nichts als Ärger mit den Gesetzeshütern und meinem Vater ein. Wie einen Gedankenblitz sehe ich diese eine vorübergehende Verhaftung wieder vor mir, die damals für ziemlich viel Wirbel in den Medien gesorgt hat.

Das für sich allein genommen wäre nicht so schlimm gewesen. Wirklich übel war, dass meine Mitstreiter mit einem Mal begannen, mich wie eine Außenseiterin zu behandeln, nachdem sie durch die Medienberichterstattung herausgefunden hatten, wie wohlhabend meine Eltern sind. Plötzlich war ich das reiche Mädchen, das sich aus Langeweile politisch engagiert.

Dabei war es nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit dieser Meinung konfrontiert wurde. Schon in der Schule lehnten mich Klassenkameraden nur deshalb ab, weil meine Familie Geld hat. Ich dachte allerdings, ich hätte im Laufe der Jahre gelernt, mit solchen Vorurteilen umzugehen.

Und dann war da noch mein Vater, auf dessen Reaktion auf meine Verhaftung ich nicht vorbereitet war. Dabei hätte ich es wissen müssen. Mit einem Ruck stoße ich mich von der Wand ab, versuche alle Gedanken an ihn aus meinem Kopf zu vertreiben. Noch immer fühlt sich sein damaliges Verhalten wie ein Verrat an.


Kaffee! Ich brauche unbedingt Koffein, um den unglücklichen Start in diesen Tag zu korrigieren. Mit diesem Gedanken setze ich mich in Bewegung und gehe den langen Flur entlang, Richtung Küche.

Leider komme ich nicht mehr dazu, meine Absicht in die Tat umzusetzen, denn an der Esstheke, die die Küche vom Wohnraum abtrennt, sitzt jemand.

Mit einem erschreckten Ausruf bleibe ich stehen, als ich den Fremden sehe. Wer ist das? Und vor allem, was hat er hier zu suchen?

Der Eindringling beachtet mich nicht, was nicht weiter verwunderlich ist, denn er scheint zu schlafen. Sein Kopf liegt in einer seltsamen Position auf der glatt polierten Oberfläche der Theke. Und dann ist da noch etwas …

Ein dunkler Fleck, der sich deutlich auf seinem hellen Jackett abzeichnet. Ich kenne diese rostrote Farbe, versuche trotzdem, eine plausible Erklärung dafür zu finden. Vielleicht hat er an einer schmutzigen Wand gelehnt und nicht gemerkt, dass er das Kleidungsstück besser in die Wäsche tun sollte. Vielleicht … ist er tot?

Er sieht aus, als sei er tot. Sehr tot.


Ich mache einen zögerlichen Schritt auf den Mann zu.

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Meine leisen Worte verlassen nur zaghaft meine Lippen; er hat sie bestimmt nicht gehört. Mit einem Räuspern versuche ich es noch einmal. „Hallo? Sind Sie wach?“

Blöde Frage. Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der weniger wach aussah. Um nicht zu sagen, noch lebloser. Dann bemerke ich sein Auge. Es blickt starr geradeaus an die Decke, so als sei da oben etwas Faszinierendes zu sehen. So faszinierend, dass er seinen Blick nicht davon losreißen kann.

Schweißtropfen treten auf meine Stirn. Kalter Schweiß. Mein Herz fängt an zu rasen, und ich merke, wie ich zu hyperventilieren anfange, denn eines ist klar: Meine erste Vermutung war richtig. Der Fremde, der irgendwie in unser Haus eingedrungen ist, ist nicht nur tot. Nein, das traf ihn unfreiwillig. Es sei denn, er hätte selbst ein kreisrundes Loch in die Rückseite seines Jacketts geschnitten. Ein Jackett, das voll Blut ist.

In dem Versuch, mich zu beruhigen, schließe ich die Augen. Probiere einige tiefe Atemzüge. Keine Chance. Ich bin froh, dass ich es überhaupt schaffe, Luft in meine Lungen zu zwängen. Ich muss die Polizei anrufen. Genau! Nachdem ich damals nicht wegen Körperverletzung eingebuchtet wurde, schaffe ich es dieses Mal vielleicht, wegen Mordes ins Gefängnis zu kommen.

Allein der Gedanke an ein Verhör führt dazu, dass meine Beine wegknicken wie dürres Laub. Ich kann das nicht! Ich kann nicht die Polizei anrufen! Du musst, rufe ich mich zur Ordnung. Was soll ich auch sonst tun?

Nach einer Weile habe ich mich soweit beruhigt, um aufstehen und zu dem Telefon, das auf einem Tischchen im Flur steht, wanken zu können. Ich will gerade die Notrufnummer eintippen, als die Worte, die ich zu dem Polizisten gesagt habe, mir durch den Kopf schießen: „Hier kommt niemand herein, ohne dass wir es merken. Dieses Haus ist besser gesichert als ein Hochsicherheitstrakt.“

Meine Hand, die noch immer den Telefonhörer hält, sinkt nach unten. Wenn ich jetzt die Polizei anrufe, werden sie denken, ich sei es gewesen.

2

Vielleicht habe ich mich getäuscht! Möglicherweise war es eine Halluzination, hervorgerufen von den Schlaftabletten. Ich muss an die ellenlange Liste der Nebenwirkungen denken, die auf dem Beipackzettel stehen und die ich nicht gelesen habe. Jede Wette, dass Wahnvorstellungen zu den gelisteten Übeln zählen, die einen heimsuchen können, wenn man das Zeug über längere Zeit schluckt. Genau. Das wird es sein.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich so darüber freuen kann, unter psychischen Störungen zu leiden. Mit neuem Mut eile ich den Flur entlang. Kann es kaum erwarten, dieses Missverständnis aus der Welt zu räumen. Das hätte ich mir gleich denken können. Nie wieder nehme ich eine Schlaftablette. Nie …

Verflixt! Noch immer sitzt dieser Fremde, der so blöd war, sich umbringen zu lassen, auf dem Barhocker.

„Was, verdammt noch mal, soll ich jetzt tun?“, brülle ich den Toten an. Aber der antwortet mir nicht.

Mit einem Mal wird mir schwindlig. Mit einem Stöhnen lasse ich mich zu Boden sinken. Irgendwie fehlt mir die Kraft, aufzustehen und das zu tun, was ich tun muss. Die Polizei rufen, erklären, warum ich so tat, als sei alles in Ordnung. Ich konnte ja nicht ahnen, dass tatsächlich jemand in das Haus eingedrungen ist. Die Alarmanlage war eingeschaltet! Das weiß ich genau. Schließlich musste ich sie deaktivieren, bevor ich die Tür öffnete.

Also hat jemand das Haus betreten und wieder verlassen, der den Code kennt. Und es gibt nur drei Menschen, die ihn kennen, Ron, meine Mutter und ich.

Ron … oder ich! Einer von uns beiden hat einen Mord begangen, und ich bin mir ziemlich sicher, ich war es nicht. Was nur eine Möglichkeit offenlässt: Ron. Oder meine Mutter hat sich verplappert. Nein. Ausgeschlossen. Meine Mutter mag gesprächig sein, aber den Code würde sie niemals verraten.

Ich schüttele den Kopf, versuche, diese Gedanken zu vertreiben. Ron ist zu einem Mord genauso wenig fähig wie ich oder meine Mutter. Es muss eine andere Erklärung für all das geben.


Kenne ich diesen Mann überhaupt? Bisher habe ich den Fremden nur aus ein, zwei Metern Entfernung betrachtet. Bin automatisch davon ausgegangen, dass ich nicht weiß, wer er ist. Aber was, wenn das nicht stimmt? Er liegt mit dem Gesicht auf der Theke, es ist also nicht klar zu erkennen.

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Taste mich an den Toten heran. Ein Schauer läuft meinen Rücken hinab. Ich habe noch nie zuvor einen toten Menschen gesehen.

Leiser jetzt, denn ich bin ihm schon sehr nahe.

Noch leiser. Ich halte die Luft an. Er ist tot, er kann mir nichts mehr tun. Trotzdem fürchte ich mich.

Noch näher.

Noch ein bisschen … Und dann stehe ich direkt vor ihm, kann erkennen, dass er blaue Augen hat. Ein schönes, dunkles Blau, das einen ungewöhnlichen Kontrast zu den schwarzen Haaren bildet. Der Mund ist leicht geöffnet, so als hätte er noch etwas sagen wollen.

Ich habe diesen Menschen noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.

Wie hat nur all das geschehen können, ohne dass ich etwas bemerkte?

„Was soll ich nur tun?“ Dieses Mal flüstere ich die Worte. Ich schüttele ratlos den Kopf und trete den Rückzug an. Gehe langsam nach hinten, ohne die Augen von dem Toten abzuwenden. So als bestünde die Möglichkeit, dass er sich plötzlich doch noch bewegt. Sich auf mich stürzt, wie man das immer in den Horrorfilmen sieht. Nein. Nicht mit mir. So blöd bin ich nicht, jemandem den Rücken zuzuwenden, der ermordet auf meinem Barhocker sitzt.

Als mir ein Gedanke kommt, der alles noch schlimmer macht, fährt mir der Schreck wie eine Faust in die Magengrube.


Was, wenn der Mörder noch im Haus ist? Darauf wartet, mich auch noch umzubringen? Ich muss schlucken. Spüre, wie Säure in meiner Kehle hochsteigt.

Es reicht! Wütend schließe ich die Augen, versuche mich auf das Atmen zu konzentrieren. Dieses Zittern muss aufhören, und ich habe keine Lust, mich zu übergeben. Einatmen, ausatmen. Einatmen … Ist gar nicht so schwer. Tue ich schließlich schon mein ganzes Leben lang. Einatmen, ausatmen.

3

Mit einem lauten Krachen schlägt die Tür des Gästezimmers an die Wand, um dann mit voller Wucht wieder zurückzuschwingen. „Au.“ Mein wütender Ausruf wird von einem lauten Knall begleitet. Verblüfft starre ich die Pistole, die ich mir aus Rons Nachttisch geholt habe, an. Das Ding ist geladen. Und entsichert!

Wie kann Ron nur so unverantwortlich sein, eine Waffe zu haben, die jederzeit losgehen kann?

„Verdammter Idiot.“

Mit einer Grimasse reibe ich meinen Arm, der noch immer schmerzt. Dort, wo die Tür ihn getroffen hat, bildet sich ein blauer Fleck. Dann wandern meine Augen nach unten, zu meinen Füßen, auf die Stelle, wohin die Pistole jetzt zeigt. Mist! Wenn ich nicht aufpasse, schieße ich mir noch die Zehen ab. Keine Ahnung, wie man das Ding wieder sichert. Also nehme ich sie lieber hoch. Halte sie so, dass ich höchstens die Decke durchlöchern kann, und betrete das Zimmer. Langsam.

Meine Augen suchen den Raum ab. Verharren kurz, als sie das Loch sehen, dass ich in die Wand geschossen habe. Vielleicht sollte ich da besser ein Bild drüber hängen. Dann schaue ich unter dem Bett nach, in den Schränken. Überall dort, wo sich jemand verstecken könnte. Nichts. Außer dem Loch in der Wand ist alles genau so, wie es sein sollte.


Eine halbe Stunde später ist klar, dass sich außer mir und dem Toten niemand in dem Haus aufhält. Nicht einmal ein Liliputaner hätte meiner Gründlichkeit entgehen können. Nach dem kleinen Zwischenfall mit der Pistole war ich vorsichtiger, habe die anderen Türen zwar aufgestoßen, aber auf die Lara-Croft-Imitation verzichtet. Der Keller war am schlimmsten. Dort gibt es nicht nur etliche dunkle Ecken, sondern auch jede Menge Spinnen.

Mit einem tiefen Atemzug lehne ich mich an die Wand in der Diele, schließe erschöpft die Augen. Jetzt weiß ich wenigstens, dass der Mörder nicht mehr im Haus ist. Allerdings bleibt damit eine andere Frage offen: Wer hat die Polizei gerufen, und vor allem, warum?

Der Gedanke kriecht wie ein kalter Schauer durch meinen Kopf. Aber das ist noch nicht alles. Eine andere Idee folgt ihm. Was, wenn Rons Pistole die Tatwaffe ist?

Oh Gott! Das ganze verdammte Ding ist mit meinen Fingerabdrücken übersät.


Es wird Zeit aufzuhören, wie ein kopfloses Huhn durch die Gegend zu rennen.

In Gedanken versuche ich mich erneut an einer Liste. Denn ich muss dieses Chaos endlich in den Griff bekommen.

Also … Warum ist es eine gute Idee, die Polizei zu rufen? Weil es das ist, was man macht, wenn man eine Leiche findet. Ein paar Minuten lang sitze ich da und zermartere mir das Hirn nach weiteren Argumenten.

Gut, dann also kontra: Es ist keine gute Idee, die Polizei anzurufen, weil:

Ich ahnte nicht, dass ein Fremder in unserem Haus war, als die Beamten vor meiner Tür standen und ich ihnen sagte, ich sei allein im Haus.

Ich habe keine Ahnung, wie dieser Mann in unser Haus gelangen konnte.

Ich weiß nicht, wer für den Tod meines ungebetenen Besuchers verantwortlich ist.

Okay, vielleicht ist es noch zu früh, um die Polizei mit diesem Problem zu konfrontieren.

4

Missmutig stapfe ich durch das nasse Gras in die hintere Ecke unseres Grundstücks. Ich habe eine Weile gebraucht, um mich zu beruhigen. Um mich wieder aufzurappeln, anstatt an die Wand gekauert auf dem Boden zu sitzen und mir die Seele aus dem Leib zu zittern.

Immerhin habe ich die Zeit genutzt, um einen Entschluss zu fassen. Es ist keine Entscheidung, für die ich viel Begeisterung aufbringe. Sie wird eher von den Worten Ich muss total verrückt sein begleitet. Andererseits fällt mir keine bessere Lösung für mein Problem ein. Und so kommt es, dass ich in der dampfigen Schwüle, die den sommerlichen Nieselregen abgelöst hat, unser riesiges Anwesen durchquere.

Schneller, als mir lieb ist, bin ich in dem Teil des Gartens angekommen, der von alten, knorrigen Bäumen dominiert wird. Eine Trauerweide, die ihre Äste tief auf den Boden hängen lässt, sorgt für eine melancholische Atmosphäre; eigentlich wie auf einem Friedhof.

Jetzt muss ich nur noch den … Toten hierher bringen. Bei dem Gedanken wird mir schlecht. Aber ich habe keine andere Wahl. Obwohl ich mein Hirn nach Auswegen zermartert habe, steht eines fest: Wenn ich die Polizei informiere, bin ich mit Sicherheit ihre Hauptverdächtige.

Am liebsten hätte ich mich ein paar Tage mit diesem Problem herumgeschlagen, um mich so lange wie möglich vor einer Entscheidung zu drücken. Aber in diesem Fall muss ich schnell handeln. Was, wenn meine Mutter plötzlich feststellt, dass sie mich vermisst, und mir einen Besuch abstattet? Oder eine meiner Freundinnen?

Nein. Das muss sofort erledigt werden, auch wenn ich nicht weiß, wie ich das schaffen soll.

Vielleicht sollte ich doch die Polizei …? Vor meinem inneren Auge läuft eine kurze eindringliche Bilderserie ab. Wie ich in Handschellen abgeführt werde und im Präsidium zu erklären versuche, warum auf der Pistole meine Fingerabdrücke sind.

Ron, der mich besorgt und verzweifelt ansieht und sagt: „Tamara wäre niemals fähig, einen Menschen zu töten. Niemals!“ Mein Vater in einem Fernsehinterview, wie er bedauernd feststellt, bei der Erziehung seiner Tochter versagt zu haben. Genau wie damals …

Die Erinnerung lässt ein altbekanntes Gefühl in mir hochsteigen: Entschlossenheit. Ich werde nicht zum zweiten Mal in meinem Leben für eine Straftat verantwortlich gemacht werden, die ich nicht begangen habe.

Wie so oft folgt diesem Entschluss sofort der Zweifel. Ich muss verrückt sein. Vollkommen verrückt.


Nachdem ich mich vergewissert habe, dass ich diese absurde Idee umsetzen könnte, falls es nicht eine bessere Lösung gibt, die mir bald einfallen wird, kehre ich ins Haus zurück. Es kann ja nicht schaden, so zu tun, als würde ich den Fremden im Garten vergraben. Das Planen der nächsten Schritte hilft mir dabei, meine Angst einzudämmen. Ich zittere nicht mehr so schlimm wie vorher, habe ein gewisses Maß an Ruhe gefunden. Nicht viel, aber immerhin genug, um nicht heulend in einer Ecke zu sitzen.

Ein wenig gelassener beschließe ich, die Schlösser auswechseln zu lassen. Gerade als ich nach dem Hörer greife, um einen Handwerker anzurufen, zerreißt ein Schrillen die Stille. Mein Herz macht einen Satz.

„Es war nur das Telefon. Das verdammte, blöde Telefon“, sage ich laut, um das rasende Herzklopfen in meiner Brust zu beruhigen. Mist! Ich kann meine Zeit nicht mit belanglosen Telefonaten verschwenden. Trotzdem nehme ich das Gespräch entgegen, als ich die Nummer im Display sehe. Meine Mutter.


„Tamara. Warum rufst du mich nicht zurück? Ich wollte dir Bescheid sagen, dass ich ganz wundervolle Vorhänge entdeckt habe. Ich bringe dir nachher ein paar Stoffmuster vorbei“, ertönt ihre Stimme, kaum dass ich „Hallo“ gemurmelt habe.

Nachher? Wann nachher?

Hastig versuche ich, diese Idee im Keim zu ersticken: „Du kannst heute nicht vorbeikommen!“

„Aber warum denn nicht? Ich bin schon auf dem Weg.“

„Du bist schon auf dem Weg?“ Ich muss mich zusammenreißen, um nicht in den Hörer zu brüllen. „Das geht nicht. Ich bin schon so gut wie weg. Ich habe den ganzen Tag Termine. Morgen kannst du kommen oder übermorgen“, oder nächste Woche, setze ich in Gedanken hinzu.

„Das ist doch kein Problem, Schatz. Ich schaue nur schnell bei dir vorbei, um zu sehen, ob die Stoffe passen. Da musst du ja nicht dabei sein.“

„Nein!“

„Was ist denn heute los mit dir?“

„Ich … Ich bin etwas im Stress. Unsere Putzfrau kommt gleich, später muss ich mit dem Caterer das Menü besprechen, und der Innenausstatter will, dass ich mir irgendwelche italienische Fliesen ansehe.“ Die Liste könnte ich endlos fortsetzen, aber so langsam geht mir der Atem aus.

„Es ist ohnehin besser, wenn ich bei diesen Gesprächen dabei bin“, stellt meine Mutter fest.

Verdammter Mist. Verzweifelt suche ich nach einer Erklärung, die meine Mutter davon abhält, mir bei diesen wichtigen Verhandlungen hilfreich zur Seite zu stehen. Andererseits habe ich gestern Abend beschlossen, mir nichts mehr gefallen zu lassen, also werde ich sie mit der Wahrheit konfrontieren. Sie muss sich in Zukunft aus meinem Leben heraushalten, wenn es um solche Entscheidungen und meine Hochzeit geht. Und dann wäre da noch die Leiche, die sie auf keinen Fall entdecken darf …

„Lieber nicht. Das ist wirklich furchtbar nett von dir, aber ich habe zwischendrin einen Frisörtermin und muss danach kurz bei Nigel vorbei. Er will, dass ich bei ihm in der Galerie anfange, sobald wir aus den Flitterwochen zurück sind.“ Immerhin. Das war doch schon ein Anfang. Wenigstens habe ich NEIN gesagt … irgendwie.

„Also gut. Wenn du meinst.“ Wie immer schafft sie es, in diesen wenigen Worten jede Menge Emotionen mitschwingen zu lassen. Ich kann sie förmlich vor mir sehen, wie sie mir mit strafendem Blick zu verstehen gibt, dass ich gerade dabei bin, einen riesigen Fehler zu begehen. Und dieses Mal hat sie sogar recht.

Meine Mutter beendet das Gespräch wie üblich abrupt, ohne sich mit Abschiedsfloskeln aufzuhalten. Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich auf die Couch sinken. Noch mal Glück gehabt. Wenn sie erst einmal auf dem Weg zu mir ist, gibt es kaum etwas, was sie von ihrem Vorhaben abbringen kann. Trotzdem muss ich unbedingt die Leiche aus dem Haus schaffen, bevor meine Mutter es sich anders überlegt und doch noch vorbeikommt. Aber erst muss ich den Schlosser anrufen. Ich will neue Schlösser, und zwar heute noch.


„Verdammt, verdammt, verdammt!” Das ausgiebige Fluchen ist das Einzige, was mich in dieser Situation ein wenig von meiner Anspannung befreit.

„Wo ist das verflixte Ding?“ Mit einem verzweifelten Blick suche ich die Garage ab. Die Abdeckplane des Swimmingpools lässt sich nirgends finden. Kein Wunder, Ron hat sie irgendwo verstaut. Stunden später – so kommt es mir zumindest vor – fällt mein Blick auf ein ordentlich zusammengelegtes blaues Paket, das in der hintersten Ecke eines Regals liegt.

Die Plane ist schon ziemlich zerschlissen, weshalb wir sie wegwerfen wollten. Jetzt habe ich die perfekte Verwendung dafür gefunden. Niemand wird sie vermissen, sondern denken, sie sei auf dem Sperrmüll gelandet, nicht ahnend, dass eine Leiche darin vermodert, während das Plastik wahrscheinlich in hundert Jahren biologisch noch nicht abgebaut sein wird.

Egal. Ich bin heute nicht in der Stimmung, mich um Umweltverschmutzung zu sorgen. Stattdessen ziehe ich ein Paar Gartenhandschuhe an und zerre das Teil aus der Garage hervor, schleife es über die Terrasse ins Haus und zur Esstheke. Dorthin, wo der Tote noch immer auf seinem Barhocker sitzt.

Okay. Ein tiefer Atemzug. Dann noch einer. Er ist schon tot. Ich tue ihm nicht weh. Am besten kippe ich ihn vom Hocker auf die Plane. Genau.


Mit einem dumpfen Schlag fällt er auf das Plastik. Mir dreht sich der Magen um und ich übergebe mich, aber nicht auf den weißen Teppich, sondern in den großen Blumenkübel, der direkt neben mir steht. Es dauert ziemlich lange, bis ich keine Sternchen mehr sehe. Fast bedauere ich, dass ich weitermachen kann. Irgendwie war es angenehmer, hilflos herumzustehen, denn das hat mich davor bewahrt, etwas tun zu müssen.

Jetzt aber muss ich ihn in den Garten bringen. Obwohl ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt, kann ich mich nicht dazu motivieren, diese Absicht in die Tat umzusetzen. Erst nach langem innerlichem Zureden ziehe ich eine Hälfte der Plane über den reglosen Körper. Das ist besser, denn jetzt ist er unter der Abdeckung nur noch zu erahnen und starrt mich nicht mehr anklagend an. Dann fasse ich die Abdeckung an einer Ecke, die so weit wie möglich von dem darauf liegenden Körper entfernt ist, und schleife das Ganze hinter mir her.

Ist das schwer. Ich schwitze, als wäre ich in der Sauna gewesen. Dabei bin ich noch nicht einmal über die Terrasse hinausgekommen.

Keuchend bleibe ich stehen und wische mir den Schweiß ab. Und dann weiter. Noch mindestens hundert Meter. Wenn ich in diesem Tempo weitermache, brauche ich dafür den ganzen Tag.

Und dann höre ich es. Schon wieder.

Die Türklingel.

Scheiße. Scheiße. Scheiße. Wenn das noch mal die Polizei ist, kann ich mir gleich lebenslänglich geben lassen.

5

Die Leiche muss weg. Zumindest so weit, dass sie von der Terrasse aus nicht mehr zu sehen ist. Ich komme mir vor wie ein chinesischer Kuli. Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, fette Touristen in einer Rikscha durch die Gegend zu kutschieren.

Wieder das Klingeln. Verdammt. Fünf Meter noch. Plötzlich ein Geräusch, das mir eine Gänsehaut über den Rücken jagt.

Die Türschlösser öffnen sich. Eines nach dem anderen. Da unser Eingang wie Fort Knox gesichert ist, dringen die Geräusche bis hier auf die Terrasse. Das kann nur meine Mutter sein.

Zwei Meter.

Der große Balken, der quer über der Tür liegt, quietscht. Den sollte Ron schon seit über einem Jahr ölen.

Eineinhalb Meter.

Jetzt fehlt nur noch das obere Schloss. Das Geräusch ist eigentlich zu leise, um es zu hören. Ich könnte schwören, dass ich das leise Klicken trotzdem wahrgenommen habe. Jetzt ist sie drin.

Ein Meter.


Mit einem heftigen Ruck zerre ich die Plane die letzten Zentimeter um die Ecke. Lasse das Ende los und sprinte ins Haus. Fast schlitternd komme ich vor meiner Mutter zum Stehen. Diese mustert mich ungläubig von oben bis unten. Fängt wieder oben an, öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Schließt ihn. Ist offensichtlich sprachlos. Ein Wunder.

„Tamara, wie siehst du denn aus?“

Leider hat ihre Sprachlosigkeit nicht lange angehalten. Mit einer Hand wische ich mir den Schweiß von der Stirn und versuche mit der anderen, meine Haare in Form zu bringen. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass das ein aussichtloses Unterfangen ist. Als ich den Gartenhandschuh anschaue, entdecke ich schwarze Striemen. Bei meinem Glück zieht sich jetzt eine schwarze Spur durch mein Gesicht. Ich bin mir fast sicher, dass die Entdeckung einer Leiche meine Mutter weniger geschockt hätte als mein derzeitiges Aussehen.

„Ich hatte noch im Garten zu tun.“

„Aber das macht doch sonst immer Ron!“

„Der kommt erst am Mittwoch und ich wollte schon einmal den Sperrmüll herrichten.“

„Muss das sein? Du siehst aus, ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Du siehst unmöglich aus. So aufgelöst habe ich dich noch nie erlebt.“

„Es ist heiß und schwül. Was glaubst du denn, welchen Eindruck jemand hinterlässt, der bei diesem Wetter Lei … Sachen durch die Gegend zerrt?“

„Kein Grund, pampig zu werden. Am besten duschst du erst einmal, dann zeige ich dir die Muster.“

„Du wolltest doch erst morgen kommen?“

„Ich musste direkt an deinem Haus vorbei. Da macht es ja keinen Sinn, morgen noch einmal die Umwelt zu verschmutzen.“

Ja, klar. Natürlich! Unser Haus liegt mitten in einem Wohngebiet. Meine Mutter hat keinen anderen Grund als einen Besuch bei mir, um hier vorbeizufahren.

„Und jetzt dusche endlich.“ Sie rümpft die Nase. „Du riechst ganz verschwitzt.“

Super. Der Gedanke, meine Mutter mit einer Leiche allein zu lassen, die nur wenige Meter von ihr entfernt hinter der Garage liegt, erfüllt mich mit Schrecken. Sie hat einen siebten Sinn, einen eingebauten Radar, die sie alles entdecken lassen, was ich vor ihr verbergen will. Dann fällt mein Blick auf ihre Schuhe. Cremefarbene Stilettos. Vielleicht ist mir Gott heute doch noch gnädig.

„Und sollte nicht längst eure Putzfrau da sein? Hier sieht es aus wie …“ Der Blick meiner Mutter fällt auf den Hocker, der im Rahmen meiner Aufräumaktion umgefallen ist, mitsamt der Leiche …

„Und was ist das?“ Sie zeigt auf den Blumenkübel. Verdammter Mist. Es entgeht ihr aber auch nichts. Sie hätte Polizistin werden sollen.

„Das war die Katze. Von unserem Nachbarn. Muss sich über Nacht hier hereingeschlichen haben. Ich bringe das verdammte Vieh um.“

„Tamara!“ Meine Mutter schaut mich erschrocken an. Nicht weil ich die Katze umbringen will, sondern weil ich geflucht habe. Das tue ich sonst nie … jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart.

„Naja, es ist aber auch ein blödes Mistvieh.“ Upps.

„Ich glaube, du duschst jetzt besser. Du weißt ja gar nicht, was du redest.“

Ich kann es zwar nicht sehen, aber ich weiß genau, dass sie mir mit einem Kopfschütteln hinterherschaut. Egal. Meine Kräfte für eine weitere Konfrontation sind erschöpft. Eigentlich war der Tag noch ganz in Ordnung, als es nur um die Leiche und mich ging.


Als ich in den Spiegel schaue, kann ich das Entsetzen meiner Mutter verstehen. Ich sehe wie eine Irre aus. Vor Kurzem hatte ich noch so etwas wie eine Frisur, jetzt aber stehen mir die Haare in wilden Locken vom Kopf ab. Über meine Wange ziehen sich zwei schwarze Streifen, die von zwei ebenso schwarzen Augenringen ergänzt werden. Ich hatte wohl mit meiner Vermutung recht: Als ich den Beamten so hastig die Tür öffnete, war ich tatsächlich nur zur Hälfte geschminkt. Die gute Nachricht ist, dass das bei meinem derzeitigen Zustand kaum auffällt.

Mit einem Seufzen mache ich mich daran, den Schaden zu beheben. Dann höre ich die Türklingel. Nicht schon wieder. Trotzdem mache ich mit meiner Reinigungsaktion weiter. Wenn jemand mit ungebetenem Besuch fertig wird, dann meine Mutter.


„Tamara? Der Herr hier sagt, er soll neue Türschlösser anbringen“, sagt meine Mutter, nachdem ich wieder unten bin.

Neben meiner Mutter steht ein Mann in einem dunkelblauen Overall. Express Schlüsseldienst prangt in roten Buchstaben auf seiner Brust. Tatsächlich.

„Sollten Sie nicht erst in einer Stunde da sein?“

Mit einem Grinsen zeigt er auf den Firmennamen. „Wir sind die Schnellsten und Besten“, verkündet er.

Toll. Ausgerechnet heute kommt ein Handwerker zu früh. Ich kann den fragenden Blick meiner Mutter spüren. Ich weiß, wie es in ihrem Gehirn arbeitet. Dafür werde ich eine gute Erklärung brauchen.

„Sämtliche Schlösser an der Eingangstür müssen ausgewechselt werden. Wie lange wird das dauern?“

Nachdenklich mustert er das, was auch einen Banksafe hätte sichern können. Ich kann es ihm nicht verdenken, ich fand es auch etwas übertrieben von Ron, als er, zusätzlich zum vorhandenen Türschloss und unserer Alarmanlage, ein Sicherheitsschloss und einen Riegel installieren ließ.

„Zwei Stunden. Mindestens.“

Zwei Stunden? „Ich gebe Ihnen hundert Euro extra, wenn Sie es in einer Stunde schaffen.“

Er grinst. „Okay. Ist so gut wie erledigt.“

„Tamara, bist du noch zu retten? Willst du euer Geld mit allen Mitteln aus dem Fenster werfen?“ Uff. Sparsam bis in den Tod. Selbst wenn es nicht ihr eigenes Geld ist. Wenigstens hat sie das von dem eigentlichen Thema abgelenkt.

„Ich habe heute keine Zeit. Das habe ich dir doch schon gesagt. Wo sind die Muster?“

Mit zweifelndem Blick und einem Kopfschütteln packt sie die Stoffe aus. Ich atme innerlich auf. Geschafft. Die Leiche ist außer Sichtweite und meine Mutter mit den Gedanken bei ihrem Lieblingsthema, der Einrichtung und Neugestaltung unseres Hauses. Auch wenn ich nicht weiß, wie ich auf die dämliche Idee kam, noch vor unserer Hochzeit das Wohnzimmer neu dekorieren zu wollen.

„Findest du nicht, dass dieses zarte Lila ganz wundervoll zu eurer weißen Couch passen würde?“

„Äh. Ja. Nein. Wir wollen eine schwarze Couch kaufen. Schwarz und viel Chrom.“ Da sieht man das Pulver für die Fingerabdrücke nicht drauf.

Meine Mutter sieht mich entgeistert an. „Schwarz und Chrom? Aber du hasst Schwarz und Chrom!“

„Ich finde, unsere Einrichtung ist viel zu konservativ. Schwarz und Chrom sind gerade enorm in, und dazu passen silberfarbene Vorhänge.“ Mit diesen Worten schiebe ich sie Richtung Tür. „Tut mir leid, ich hätte dir früher sagen sollen, dass ich meine Pläne geändert habe, aber der Gedanke ist mir erst heute Morgen gekommen.“ Nachdem ich eine Leiche gefunden habe und im Geiste schon die freundlichen Polizeibeamten sehe, die mich in Handschellen abführen. „Du musst jetzt wirklich gehen. Der Florist kann jeden Augenblick kommen, der Caterer ...“ Wer noch? Irgendwen hatte ich doch heute Morgen noch aufgezählt.

„Gut. Aber wir telefonieren heute Abend. Irgendetwas stimmt nicht mit dir, Tamara. Geht es dir wirklich gut?“

Mist. Niemand ist schlimmer als meine Mutter, wenn sie sich Sorgen um mich macht. „Ja, ja. Alles in Ordnung. Mir geht es blendend. Nur ein bisschen gestresst heute. Bin froh, wenn die Woche hinter mir liegt.“

Endlich. Sie ist weg.

Der Schlosser werkelt wie ein Wilder an unserer Tür herum. Der ist bestimmt auch bald fertig.