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Uwe Klausner

Walhalla-Code

Kriminalroman

 

 

 

 

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Katja Ernst

Korrektorat: Susanne Tachlinski, Katja Ernst

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Getty Images, Busy Berlin,

by Hans Hartz, Hulton Archive

ISBN 978-3-8392-3420-4

 

 

 

 

Die als ›fiktive Hauptpersonen‹ aufgelisteten

Charaktere sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Reale Hauptfiguren

 

 

Reinhard Heydrich (1904–1942), Oberleutnant der Reichsmarine, SS-Obergruppenführer, Leiter der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) der NSDAP, Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden, geschäftsführender Statthalter für das ›Protektorat Böhmen und Mähren‹

 

Adolf Eichmann (1906–1962), ›Judenreferent‹ im RSHA, ab 1939 für Deportation und Ermordung zuständiger Referatsleiter im RSHA, 1962 in Jerusalem hingerichtet

 

Heinrich Müller (1900–1945?), Chef des Amtes IV im RSHA (Gestapo), 1945 in Berlin verschollen

 

Jozef Gabcík (1912–1942), Jan Kubiš (1913-1942) und Josef Valcík (1914–1942), am Attentat auf Heydrich beteiligte Widerstandskämpfer

 

Karl Hermann Frank (1898–1946), Heydrichs Stellvertreter in Prag, 1939 Polizeichef und Staatssekretär, 1946 in Prag gehängt

 

Winston Churchill (1874–1965), britischer Premierminister von 1940–1945 bzw. 1951–1955

 

Stewart Menzies (1890–1968), Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6

 

Edvard Beneš (1884–1948), Mitbegründer, Außenminister, Regierungschef und Präsident der Tschechoslowakei

 

Josef Stalin (1878–1953), Generalsekretär der KPdSU und sowjetischer Diktator

 

Lawrenti Berija (1899–1953), sowjetischer Geheimdienstchef, 1953 exekutiert

 

 

Fiktive Hauptfiguren

 

 

Rebecca Kahn, 22 Jahre, Tochter eines jüdischen Arztes aus Berlin

 

Tom von Sydow, 29, Hauptkommissar der Berliner Kripo

 

Erich Kalinke, 27, genannt ›Klinke‹, sein Assistent

 

Friedemann Bonin, 56, untergetauchter Sozialdemokrat und ehemaliges Mitglied der Berliner Philharmoniker

 

Kruppke, 28, Untersturmführer und Gestapo-Agent

 

Carl Gustav Moebius, 41, Obersturmführer und Gestapo-Agent

 

Irene von Möllendorf, 35, Witwe von SS-Sturmbannführer Alfred von Möllendorf

 

›Der Marder‹, 29, Agent des britischen MI6

 

Magda Jannowitz alias ›Natascha, 30, Agentin des NKWD

 

Veronika Vehrenkamp, 25, Telefonistin im RSHA

 

Jason McLeod, 29, Wing Commander der Royal Air Force

 

 

 

 

Gunther und Brünnhilde  So soll es sein! Siegfried falle! Sühn er die Schmach, die er mir schuf! Des Eides Treue hat er getrogen: mit seinem Blut büß er die Schuld! Allrauner, rächender Gott! Schwurwissender Eideshorst! Wotan! Wende dich her! Weise die schrecklich heilige Schar, hierher zu horchen dem Racheschwur!

 

Hagen  Sterb er dahin, der strahlende Held! Mein ist der Hort, mir muss er gehören. Drum sei der Reif ihm entrissen. Alben-Vater, gefallner Fürst! Nachthüter! Nibelungenherr! Alberich! Achte auf mich! Weise von Neuem der Nibelungen Schar, dir zu gehorchen, des Ringes Herrn!

 

(Richard Wagner: Die Götterdämmerung, II. Akt, 5. Szene)

 

 

 

 

Für alle, die das gleiche oder ein ähnliches Schicksal durchleiden mussten wie die Heldin dieses Romans.

 

 

 

 

»Heydrich durchschaute die Geheimnisse des Dritten Reiches. Er wusste von Hitlers Krankheiten und Jugendsünden, hatte sogar seine Bekanntschaften um 1910 und den mysteriösen Selbstmord seiner ›Lieblingsnichte‹ Geli Rauball 1931 untersuchen lassen. Auch die Sünden der übrigen Mitglieder der Naziführungsriege kannte Heydrich.«

 

(Mario Dederichs: Heydrich. Das Gesicht des Bösen.München 2006, S. 101)

Ouvertüre

 

 

Berlin

 

(Montag, 19.01.1942/Dienstag, 20.01.1942)

1

 

Bahnhof Grunewald                19.01. | 9.00h

 

Sie wollte leben. Einfach nur leben. Und nicht abtransportiert werden wie ein Stück Vieh.

Rebecca schlug den Mantelkragen hoch und trat frierend auf der Stelle. Es war kalt an diesem Morgen. So bitterkalt, dass jeder Atemzug schmerzte und sich ihre Schritte auf dem vereisten Bahnsteig wie ein Gang über ein Meer von Glassplittern anhörten.

»Name?«, bellte der SS-Oberscharführer und baute sich breitbeinig vor ihr auf.

»Rebecca Kahn.«

»Alter?«

»22.«

»Wohnhaft in?«

Rebecca fröstelte. Ausnahmsweise jedoch nicht wegen der Kälte. Es lag an der Art und Weise, wie sie dieser Kerl taxierte. Der klirrende Frost war nichts dagegen.

»Berlin-Schöneberg, Hohenstaufenstraße…«

»Schon gut! So genau will ich es gar nicht wissen!«, kanzelte sie der Uniformierte mit dem vorspringenden Kinn ab. Dann strich er ihren Namen durch. »Hauptsache, eine arisierte Wohnung mehr! Und jetzt mach, dass du weiterkommst!«

Doch Rebecca rührte sich nicht vom Fleck. Sie konnte einfach nicht anders. »Was macht Sie so sicher, Herr Oberscharführer?«, antwortete sie und strich eine störrische dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.

Für den Bruchteil einer Sekunde geriet die stramme Haltung des SS-Mannes ins Wanken. Die Augen dieses Prototyps eines nordischen Recken wurden größer, nur um sich kurz darauf zu schmalen Schlitzen zu verengen.

»Was war das gerade eben, Judenbalg?«, knurrte er und wippte auf den Absätzen seiner blankpolierten Stiefel hin und her.

Rebecca setzte zu einer Erwiderung an. Es wurde jedoch nichts daraus. In das Menschenknäuel hinter der Absperrung kam Bewegung, und ihre Mutter tauchte auf. Grauhaarig, Mittelscheitel, Silberbrosche. Berlinerischer als die Berliner und preußischer als die Preußen. Sozusagen die Disziplin in Person. Und das, obwohl Vater anno 1938 von der SA wie ein räudiger Hund totgeschlagen worden war. Ein wehmütiges Lächeln trat auf Rebeccas Gesicht. Mutter war einfach nicht klein zu kriegen. Vaters Arztpraxis hatte sie per Strohmann einfach weitergeführt. Als ob nichts gewesen wäre. Bis gestern Abend. Da war selbst sie mit ihrer Weisheit am Ende gewesen.

»Rebecca, mein Kind, wo bleibst du denn?«, ereiferte sich die stattliche Matrone und zog sie mit sich fort. Dem SS-Mann blieb glatt die Luft weg. »Na, komm schon, oder willst du etwa hier Wurzeln schlagen?«

Ja, das wollte sie. Wurzeln schlagen. Und wenn, dann in Berlin. Selbst auf die Gefahr hin, untertauchen zu müssen. Zwei Jahre, höchstens drei. Dann wäre der Krieg sowieso vorbei. Rebecca setzte eine entschlossene Miene auf. Lieber ein Leben in Angst als Deportation. Lieber auf der Flucht vor der Gestapo als eine ungewisse Zukunft. Lieber frei sein als Freiwild für die SS.

So sie denn überhaupt in Riga ankommen würde.

In diesem Moment stand Rebeccas Entschluss fest. Daran konnte selbst ihre Mutter nichts ändern.

Sie riss sich los und blieb stehen. Das Gedränge auf dem Bahnsteig nahm zu. Es mussten Hunderte sein, wenn nicht mehr. Alles bekannte Gesichter. Leute aus der Nachbarschaft, aus demselben Viertel. Und immer wieder diese Kommandorufe. Scharf, durchdringend, gnadenlos. Rebecca hielt es nicht mehr aus.

Sie wollte leben. Einfach nur leben.

Was folgte, geschah mit rasanter Geschwindigkeit. Ohne dass Rebecca groß zum Nachdenken gekommen wäre. Für sie, die sie dem Tod zu entrinnen versuchte, bewegte sich die Welt jedoch wie in Zeitlupe voran.

Rebecca stellte ihren Koffer ab und sah sich um. SS-Männer, Polizei und Bahnbeamte in rauen Mengen. Trotzdem. Sie musste es riskieren. Etwas anderes blieb ihr nicht übrig.

Während sie sich die Hände in der Manteltasche wärmte, stieß sie auf etwas Kaltes, Metallisches. Das EK I ihres Vaters. Mit das Einzige, was sie in der Hektik hatte mitnehmen können.

Als sei dies ein Zeichen für sie, wanderte ihr Blick hinüber zu ihrer Mutter, die soeben in einen Güterwaggon stieg und den Blick über die Köpfe der wartenden Menge schweifen ließ.

Ihre Blicke trafen sich. Und ihre Mutter nickte ihr zu. Als wisse sie genau, was in ihrem Kopf vor sich ging.

Rebecca erwiderte ihren Blick und hob die Hand zum Gruß. Zeit, Abschied zu nehmen. Für immer. Der Schmerz war wie ein Keulenschlag für sie, ging durch Mark und Bein. Aber weinen konnte sie trotzdem nicht. Sie würde es nachholen. Später einmal, wenn sie der Hölle entronnen war.

Nur wie, das war die Frage.

Rebecca wandte sich ab und bewegte sich so unauffällig wie möglich auf die Bahnsteigkante zu. Das fiel zunächst nicht weiter auf, weil es an Gleis17 von Menschen nur so wimmelte. Die Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus. Kurz darauf stieg eine schmutziggraue Dampfwolke in die Luft und hüllte den Bahnsteig ein.

Das war ihre Chance. Jetzt oder nie. Jetzt oder dem sicheren Tod entgegengehen.

Sie wollte leben. Einfach nur leben.

Deshalb zögerte Rebecca keinen Augenblick. Sie sprang auf das gegenüberliegende Gleis, kletterte an der anderen Seite wieder hoch und begann zu rennen. Rannte, was das Zeug hielt.

Kurz darauf ein Schrei. Und Hunderte entgeisterte, zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Blicke. So intensiv, dass sie sich ihr wie Nadelstiche in den Rücken bohrten.

Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und alles, was auf dem Lande gewachsen war. Und Lots Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule. Rebecca geriet ins Straucheln, rappelte sich auf und rannte weiter. Das nächste Gleis. Und kurz darauf wieder das nächste. Was hinter ihr vor sich ging, konnte sie nicht sehen. Wollte es auch nicht. Aber dann geschah etwas Seltsames. Plötzlich war sie nicht mehr sie selbst, sondern steckte im Körper ihrer Mutter. Sie sah sich über die Gleise rennen, sah die Blicke der Umstehenden, den SS-Mann, der sein MG 42 in ihre Richtung schwenkte. 1.500 Schuss pro Minute. Er ließ sich Zeit, seiner Sache absolut sicher. Von der herannahenden S-Bahn nahm er kaum Notiz.

Als er abdrücken wollte, war es jedoch zu spät. Der Zug ratterte vorbei und nahm ihm die Sicht. Der SS-Mann fluchte. Der Zug schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Ein rot-gelber Waggon nach dem anderen. Und dann, als sein Blickfeld endlich wieder frei war, von der Geflüchteten keine Spur.

Es war zu spät. Rebecca war ihm entwischt. Daran konnten selbst die Hunde nichts ändern, die von der Leine gelassen wurden. Vor dem Stacheldrahtzaun, unter dem sich ihr vermeintliches Opfer soeben hindurchgezwängt hatte, war Endstation für sie.

Rebecca nahm das wütende Gekläffe kaum wahr. Eine Atempause, mehr nicht, fuhr es ihr durch den Sinn. Nur weiter, immer weiter. Durch die Unterführung, den Feldweg entlang und ins nächstbeste Gebüsch.

In dem Maße, wie sich das Gestrüpp ringsum verdichtete, wuchs Rebeccas Zuversicht. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihren Bewachern zu entkommen. Jetzt nur nicht schlappmachen, hämmerte sie sich ein. Und hastete unverdrossen weiter. Weder Dornen noch Hecken noch irgendwelche anderen Hindernisse konnten ihr etwas anhaben. Wie lange sie durch das Unterholz rannte, wusste sie schon bald nicht mehr.

Erst als die Dunkelheit hereinbrach, blieb Rebecca schwer atmend stehen. Sie hatte keine Ahnung, wo genau sie sich befand. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war allein, dass sie am Leben war.

Dem Tode entronnen. Fürs Erste jedenfalls.

Keuchend vor Anstrengung ließ sich die junge Frau mit dem südländischen Teint und den ausdrucksstarken dunklen Augen auf einen Baumstumpf nieder. Die Temperatur lag weit unter null, und der Himmel war vollkommen klar. Myriaden von Sternen funkelten auf sie herab, und als sich ihr Blick wieder der Erde zuwandte, brach Rebecca Kahn in hemmungsloses Schluchzen aus.

Dann riss sie den gelben Stern von ihrem Mantel ab und schleuderte ihn wütend ins Gebüsch.

Alles, was sie wollte, war leben. Einfach nur in Frieden leben.

2

 

Villa Marlier, Am Großen Wannsee 56–58      20.01. | 14.00h

 

»Das Protokoll, Obergruppenführer!«

Der Todesgott des Dritten Reiches lächelte, aber die blauen Wolfsaugen blickten kalt und starr.

»Danke, Sie können gehen.« Als die spinnenbeinförmigen Finger die Akte mit der Aufschrift ›Geheime Reichssache‹ umschlossen, verzog der knapp 38-jährige Hüne in der SS-Uniform keine Miene. Er war 1,89 m groß, blond und durchtrainiert, ein Mann nach Hitlers Geschmack. Und zum Fürchten. Selbst Himmler, Reichsführer-SS, traute ihm nicht über den Weg. Er kannte kein Pardon, und das Wort ›Skrupel‹ existierte für ihn nicht.

Die Akte war dünn, nur wenige Seiten lang. Aber sie hatte es in sich. Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Hitlers Mann in Prag, nahm sich Zeit damit. An der gelösten Stimmung im Speisezimmer der Nobelvilla änderte dies jedoch nichts. Die anwesenden Spitzenbeamten, SS-Leute und Parteibonzen amüsierten sich glänzend. Kaviar von der Krim, französischer Champagner und Lachs aus Norwegen. Alles vom Feinsten. Heydrich ließ sich eben nicht lumpen. Mit jeder Minute stieg der Alkoholkonsum, und das Speisezimmer, das einen ungestörten Blick auf die Winteridylle rund um den Wannsee bot, war in dichten Zigarrenrauch gehüllt.

»Zufrieden?« Wenn es jemand wagen konnte, Heydrich bei seiner Lektüre zu unterbrechen, dann der 35-jährige SD-Mann, der ihm neugierig über die Schulter sah.

Aber Heydrich war nicht in Stimmung, und das bekam Adolf Eichmann umgehend zu spüren.

»Zufrieden? Was soll das heißen?«, blaffte die Fistelstimme seines Herrn, worauf der servile Judenreferent im RSHA instinktiv Haltung annahm. »Apropos Zufriedenheitwie geht es mit den Deportationen voran?«

»Bestens!«, antwortete Eichmann, schenkte sich einen Rémy Martin nach und stellte die Flasche auf dem Kaminsims ab.

»So gut, dass eine der zu Deportierenden seit gestern flüchtig ist?«

Eichmann fiel vor Schreck fast das Cognacglas aus der Hand. »Die Fahndung läuft bereits auf vollen Touren!«, versuchte er erst gar nicht, sich herauszureden.

»Das will ich hoffen! Sonst noch irgendwelche Hiobsbotschaften?«

Eichmann zog ein Taschentuch aus der Uniformjacke und betupfte sich die Stirn. »Nein, Obergruppenführer!«, schnarrte er und schlug instinktiv die Hacken zusammen. »Alles läuft nach Plan!«

»Das will ich hoffen, Eichmann. Um Ihretwillen

»1002 Juden auf einen Schlag nach Riga zu verfrachten ist eben kein Pappenstiel.«

»1001, mein lieber Eichmann, 1001.«

»Ich denke, wenn wir unsere Anstrengungen verdoppeln…«

»Verdoppeln?« Heydrich klappte den Aktendeckel zu und trat bis auf Armlänge an Eichmann heran. »Habe ich da eben richtig gehört? Der Führer verlangt Ergebnisse, und zwar nicht erst in ein paar Jahren! Die Endlösung der Judenfrage muss weiter vorangetrieben werden. Effizient und mit rationalem Kalkül. Bar jeglicher Humanitätsduselei. Schon vergessen, worüber wir vorhin gesprochen haben?« Heydrich nahm die Akte und schlug mit dem Handrücken dagegen. »Das besetzte Europa muss judenfrei werden. Besser heute als morgen. Wir müssen und werden es von Westen nach Osten durchkämmen. Stück für Stück, Kilometer für Kilometer. Selbstverständlich ist zuerst das Reichsgebiet dran. Und da gibt es bedauerlicherweise erheblichen Nachholbedarf. Vor allem hier in Berlin. Die Zahl der zu Deportierenden geht in die Millionen. Und das genau ist der Punkt. Um eine reibungslose Durchführung der Endlösung zu gewährleisten, reicht eine Verdoppelung unserer Kräfte nicht aus. Was nützen mir die paar Tausend Juden, die seit Kriegsbeginn per Bahn von Berlin aus deportiert worden sind?«

»3957, Obergruppenführer.«

Heydrich kniff die Augenlider zusammen und fixierte seinen Untergebenen mit missbilligendem Blick. »Wissen Sie was, Eichmann?«, dämpfte er seine Fistelstimme, bis er kaum noch zu verstehen war. »Allmählich frage ich mich, ob Sie Ihrer Aufgabe überhaupt gewachsen sind.«

Eichmann schluckte. »Keine Sorge, Obergruppenführer. Ich werde mein Bestes tun.«

»Ich fürchte, das wird nicht reichen. Die Züge müssen pausenlos rollen, nicht nur alle paar Tage. Bedenken Sie, wie viele Juden allein hier in Berlin untergetaucht sind.«

»So an die 5.000, habe ich mir sagen lassen.«

»Umso schlimmer. Aber keine Bange. Bis zum Endsieg werden wir auch mit ihnen fertigwerden.«

»Ganz ohne Zweifel, Obergruppenführer.«

»Wie schön, dass wir in diesem Punkt einer Meinung sind.« Über Heydrichs Gesicht huschte ein zynisches Lächeln, und die Wolfsaugen flackerten kurz auf. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, Eichmann. Wir stehen vor einem logistischen Problem, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Sollten Sie folglich an der Durchführbarkeit der Endlösung Zweifel hegen oder sich Ihrer verantwortungsvollen Aufgabe nicht gewachsen fühlen, muss ich Sie ersuchen, mir dies umgehend…«

»Na, Obergruppenführer, Nachschub für Ihren Giftschrank?«

Heydrich konnte ziemlich ungemütlich werden, wenn man ihn einfach unterbrach. Selbst wenn es der Gestapochef höchstpersönlich war. Sein Glück, dass Heinrich Müller bereits leicht angetrunken war.

Einen Wimpernschlag lang schien Heydrichs Wolfsblick seinen Mann fürs Grobe zu durchbohren. »Informationen über unsere Gegner zu sammeln, ist bekanntlich unser aller Pflicht, oder nicht?«, fuhr er Müller barsch an.

Der trat denn auch prompt den Rückzug an.

»Selbstverständlich!«, knickte er sofort ein. »Es ist nur wegen der Gerüchte, die in Parteikreisen im Umlauf sind.«

»Gerüchte?«

»In der Tat.« Müller riss sich die Cognacflasche unter den Nagel und schenkte Eichmann und sich nach. »Es scheint da einige Leute zu geben, die erhebliche Manschetten vor Ihnen haben, Obergruppenführer.«

Heydrich setzte ein hintergründiges Lächeln auf. »Und aus welchem Grund?«

»Nun ja«, druckste Müller herum, »es geht eben das Gerücht, Sie, Obergruppenführer, hätten praktisch gegen jeden etwas in der Hand. Sogar gegen Reichsführer Himmler. Und beileibe nicht nur gegen ihn. Selbst gegen Göring und Goebbels und wahrscheinlich sogar auch gegen den…«

»Und selbst wenn es so wäre«, antwortete Heydrich gedehnt und fuhr mit seinen Spinnenbeinfingern an der Oberkante der Akte entlang, »wo läge dann das Problem?«

Der Gestapochef hüstelte und mied seinen Blick. Dann nahm er sich zusammen und sagte: »Das Problem, Obergruppenführer, liegt darin, was passiert, wenn Ihre Geheimunterlagen inklusive des heutigen Konferenzprotokolls in die falschen Hände geraten.«

»Ihre Fantasie in Ehren, mein lieber Müller, aber unter welchen Umständen sollte das geschehen?«

Der Angesprochene und Eichmann tauschten einen vielsagenden Blick. Da der Gestapochef keine Lust verspürte, sich weiter als nötig aus dem Fenster zu lehnen, nahm Eichmann den Ball vorsichtig auf. »Wir wollen nicht hoffen, dass dieser Fall eintritt, aber was passiert, wenn Sie, Obergruppenführer, unvorhergesehenerweise… nun, wie drücke ich mich jetzt aus…«

»Was passiert, wenn mir etwas zustößt, meinen Sie?«, fuhr Heydrich dazwischen und lächelte maliziös. »Keine Sorge, Eichmann. Für diesen Fall habe ich bereits vorgesorgt.« Dann fügte er hinzu: »Insofern es den sagenumwobenen Giftschrank überhaupt gibt.«

Der Gestapochef öffnete seinen Uniformkragen und schüttete ein weiteres Glas Rémy Martin in sich hinein. »Wobei wir alle hoffen, dass dieser Tag X niemals Wirklichkeit werden wird!«, sagte er und stand Eichmann in puncto Servilität in nichts nach.

»Hoffen?«, gab Heydrich kurz angebunden zurück. »Dessen bin ich mir absolut sicher!«

Er hatte noch vier Monate, zwei Wochen und einen Tag zu leben.

3

 

Großer Wannsee, Ostufer       20.01. | 14.10h

 

Tod durch Erfrieren. Das Beste in ihrer Situation. Besser, als der Gestapo in die Arme zu laufen.

Weshalb sie nicht schon längst aufgegeben hatte, war ihr ein Rätsel. Genauso wie die Frage, wie lange sie noch würde durchhalten können.

Rebecca konnte nicht mehr. Die Temperatur lag weit unter null, und ihr Körper war wie erstarrt. Sie bewegte sich mechanisch. Fast wie in Trance. Nicht einmal ihr Mantel hielt sie jetzt noch warm. Ein paar Stunden noch, und sie würde erfrieren.

Ein paar Stunden. Wenn überhaupt.

Und dann war da noch die Frage, wohin.

Zurück nach Hause? Keinen Sinn. Dort wartete doch schon längst die Gestapo auf sie. Das heißt, wenn sie überhaupt bis nach Schöneberg kommen würde.

Also nichts wie weg aus Berlin. Richtung Potsdam, wo sie Verwandte hatte. Eine vage Hoffnung. Aber das Einzige, was ihr anscheinend übrig blieb.

Rebecca torkelte mehr, als dass sie ging. Für die Schönheit der Winterlandschaft hatte sie keinen Blick. Ein Gutes hatte die Sache allerdings. Mit Ausnahme von einem Schwarm Graugänse, einem Fischreiher und ein paar Schwänen war sie das einzige Lebewesen weit und breit. Das konnte ihr nur recht sein. Rebecca beschleunigte ihren Schritt, blieb aber kurz darauf wie elektrisiert stehen.

Vor ihr lag der Wannsee, fast wie gemalt. Die Oberfläche glatt, in Ufernähe hie und da vereist. Darüber nichts als grauer Himmel. Von Blau keine Spur.

Wo genau sie sich befand, wusste Rebecca nicht. Sie wusste nur eines: Das Geräusch, das von irgendwoher aus der Nähe an ihr Ohr drang, passte nicht in die unwirtliche Szenerie.

Zuerst dachte sie, es seien die Nerven. Aber dann, in einem Moment blitzartiger Erkenntnis, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Musik, weniger als 100 Schritt entfernt. Töne einer Violine, die ihr auf eigentümliche Weise vertraut vorkamen und die grimmige Kälte vergessen machten. Sanft und voller Melancholie.

›Ele chambda libi‹. Vaters Lieblingslied.

Trotz der Gefahr, in der sie schwebte, wirkte die Musik wie ein Magnet auf sie. Es gab nichts, was Rebecca dagegen tun konnte. Und so dachte sie nicht weiter nach, als sie in Richtung Seeufer abbog und den Tönen der Klezmer-Musik folgte.

Den Mann, den sie dort antraf, hatte sie noch nie zuvor gesehen. Er war mittelgroß, über 50 und bis auf einen opulent sprießenden Haarkranz völlig kahl. Sein hervorstechendstes Merkmal war ein roter Schal, den er über dem zerschlissenen Mantel trug. Als Rebecca durch den knöcheltiefen Schnee auf ihn zustapfte, lächelte er ihr kurz zu, ließ sich jedoch nicht stören.

»Friedemann Bonin, Berliner Philharmoniker!«, stellte sich der Violinist schließlich mit einer leichten Verbeugung vor und sah Rebecca erwartungsvoll an.

»Rebecca Kahn!«, antwortete sie ohne Zögern und schüttelte seine ausgestreckte Hand. Auf den Gedanken, dies könne ein Fehler sein, kam sie nicht. »Ein ungewöhnlicher Ort für ein Konzert, finden Sie nicht auch?«

»Unerträgliche Zeiten erfordern eben besondere Konzerte!«, antwortete Bonin, bettete die Violine in einen Kasten und wandte sich anschließend wieder Rebecca zu. »Hab ich recht?«

Rebecca nickte, wollte sich mit dieser Antwort jedoch noch nicht zufrieden geben. Das Fernglas, das Bonin um den Hals trug, machte sie stutzig. »Aber warum gerade hier draußen?«, hakte sie neugierig nach.

Bonin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Zum einen, weil man als geschasster Sozi reichlich Zeit für derlei Extravaganzen hat.«

»Und zum anderen?«

»Zum anderen, weil ich böse Geister vertreiben will.«

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Rebecca, der gesetzte ältere Herr mit dem Violinenkasten in der Hand sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber dem war beileibe nicht so. »Sehen Sie die Villa dort drüben, mein Kind?«, schien er ihre Gedanken zu erraten und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger zum gegenüberliegenden Ufer.

»Welche denn?«

»Die mit der Terrasse, dem Riesengarten und den Steinfiguren drin.«

Rebeccas Blick folgte Bonins Finger. Sie nickte, obwohl mit bloßem Auge nicht übermäßig viel zu erkennen war. »Und was ist mit ihr?«, fragte sie.

»Der Hort des Bösen!«, antwortete der Violinist lapidar.

»Und wieso?«

»Das erkläre ich Ihnen später, mein Kind. Und zwar dann, wenn Sie wieder bei Kräften sind.« Bonin hakte sich bei Rebecca unter und zog sie mit sich fort. »Höchste Zeit, dass wir uns verdrücken!«, fügte er mit Blick auf ein paar ausgefranste gelbe Fasern an Rebeccas Mantel hinzu. »Bevor die da drüben Ihre Witterung aufnehmen!«

 

 

 

 

»Es ging das Gerücht, dass sein Geheimsafe umfangreiche Dossiers über die anderen führenden Nazis enthielt, deren Bloßstellung sich als äußerst peinlich hätte erweisen können.«

 

(Callum MacDonald: The Killing of Reinhard Heydrich. The SS ›Butcher of Prague‹. Da Capo Press, o.O. 1998, S. 6)

Götterdämmerung

 

 

Prag

 

(Mittwoch, 27.05.1942/Dienstag, 02.06.1942)

4

 

Prag-Libeň, Klein-Holeschowitz-Straße 27.05. | 10.15h

 

Sie waren zu dritt. Jan Kubiš, Josef Valcík und er. Es war ihr Tag. Der Tag, an dem sie Heydrich töten würden.

Falls nicht in letzter Minute noch etwas schiefging.

10.15 Uhr. Und heiß wie im Hochsommer. Jozef Gabcík atmete tief durch. Die Maschinenpistole vom Typ Sten Gun war schussbereit. Um keinen Verdacht zu erregen, hatte er sie erst in letzter Minute zusammengesetzt. Ohne hinzusehen. Eigentlich ein Kinderspiel. Handgriffe, die er im Schlaf beherrschte. Gabcík musste grinsen. Über die Briten konnte man sagen, was man wollte. Aber was die Fallschirmjägerausbildung anging, hatten sie eine Menge Ahnung. Die Sache mit dem Regenmantel als Tarnung war zwar keine besonders gute Idee von ihm gewesen. Aber immerhin eine erfolgreiche. Er war keinem der Passanten aufgefallen. Und nur darauf kam es im Moment an.

Gabcík warf einen Blick auf die Uhr. Fünf vor halb. Kein Wunder, dass Kubiš unter der Laterne da drüben langsam die Geduld verlor. Bei dem Attentat stand eben eine Menge auf dem Spiel. Wenn Heydrich draufging, würden es alle zu spüren kriegen. Die SS würde keine Gnade kennen. Und wenn nicht? In diesem Fall würde der allmächtige Protektor seinem Ruf als Henker einmal mehr gerecht werden. Gabcík machte ein nachdenkliches Gesicht. Die SS würde Vergeltung üben. So oder so. Trotzdem mussten sie es riskieren. Ein Fanal setzen. Hier und jetzt. Und nicht erst dann, wenn ihnen die Alliierten zu Hilfe kamen.

Das Aufblitzen von Valcíks Rasierspiegel holte den 30-jährigen slowakischen Schlosser aus seinen Gedanken. 10.29 Uhr. Endlich. Das lang erwartete Signal. Gabcík rannte zu Kubiš. Noch zwei, drei Minuten. Dann würde es Heydrich an den Kragen gehen.

Ein Fluch von Kubiš, fast gleichzeitig ein Rippenstoß. Gabcík stöhnte innerlich auf. Eine Straßenbahn. Und das ausgerechnet jetzt.

Doch es gab kein Zurück. Jetzt nicht mehr. Während Kubiš seine Aktentasche öffnete und den Sprengsatz klarmachte, rannte Gabcík ein paar Meter weiter. Um den Protektor aufs Korn zu nehmen, war seine Position jetzt nahezu ideal. Die Straße machte eine scharfe Biegung nach rechts. Was bedeutete, dass sein Wagen automatisch abbremsen musste.

Zeit genug, sollte man meinen.

Gabcík entsicherte sein MG. Der Mercedes 320 mit dem Kennzeichen ›SS-3‹ musste jeden Moment auftauchen. Zu dumm, das mit der Straßenbahn. Aber nicht zu ändern. Er würde die Sache durchziehen. Selbst auf die Gefahr hin, dass ein Unbeteiligter etwas abbekäme.

Er und Kubiš mussten es riskieren. So oder so. Eine Gelegenheit wie diese kam so schnell nicht wieder.

Und dann war es so weit. Fast im selben Moment, als die Straßenbahn rechts hinter ihm laut quietschend zum Stehen kam, tauchte Heydrichs Cabriolet auf, drosselte das Tempo und bog um die Kurve. Gabcík zögerte keine Sekunde. Er ließ den Mantel fallen, machte einen Schritt nach vorn und zielte.

Heydrich saß auf dem Beifahrersitz, keine drei Meter entfernt von ihm. Daneben sein Fahrer, ebenfalls von der SS. Ein offenes Cabriolet. Kaum zu glauben. Kein Begleitfahrzeug, kein Panzerglas. Keine Leibwächter. Ein nahezu perfektes Ziel.

Während sich Gabcíks Finger um den Abzug krümmten, hielt er für den Bruchteil eines Augenblicks inne. Täuschte er sich, oder hatte er die Wolfsaugen des Protektors höhnisch aufblitzen sehen?

Einerlei.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

In Erwartung des Feuerstoßes, der Reinhard Heydrich, Protektor von Böhmen und Mähren, innerhalb von ein paar Hundertstelsekunden in Stücke reißen würde, winkelte Gabcík den linken Fuß leicht an und drückte ab.

Doch nichts geschah.

Die Sten Gun funktionierte nicht.

Weder bei diesem noch beim nächsten noch beim dritten Versuch.

Gabcík war wie erstarrt. Kaum fähig, klar zu denken. Er stand einfach nur da, die Panik in Person.

Was zum Teufel war eigentlich mit Kubiš los?

Plötzlich geriet alles in Bewegung. Die ersten Passanten stiegen aus und wollten über die Straße. Und dann war es passiert. Heydrichs Fahrer gab Gas.

Gabcík stieß einen halblauten Fluch aus und schleuderte seine Waffe ins Gebüsch. Aus und vorbei. Er hatte versagt, wie ein blutiger Anfänger versagt.

Doch dann geschah das, womit niemand gerechnet hatte. Heydrichs Cabriolet blieb abrupt stehen. Gabcík traute seinen Augen nicht. Der Protektor erhob sich, drehte sich nach ihm um und zog seine Waffe.

Was zum Teufel war denn eigentlich mit Kubiš

Bevor Gabcík den Gedanken zu Ende führen konnte, riss ihn eine ohrenbetäubende Detonation fast zu Boden. Schreie ertönten, und die Scheiben der Straßenbahn gingen laut klirrend zu Bruch. Überall Rauch, Metallsplitter und scharfkantige Wrackteile, die wie bei einer Splitterbombe durch die Luft flogen. Aus Heydrichs Dienstwagen, vor dessen Hinterrad die Bombe explodiert war, stieg eine rußfarbene Rauchsäule empor. Die Explosion war so heftig gewesen, dass selbst die Oberleitung mit Uniformfetzen drapiert worden war.

Heftig, aber nicht effektiv genug. Kubiš’ Gesicht war blutüberströmt, genau wie das einiger Passanten. Tödlich getroffen war allerdings niemand.

Bedauerlicherweise auch Heydrich nicht.

Bevor Gabcík wusste, wie ihm geschah, war er aus dem Wrack geklettert, die Pistole im Anschlag, mit der er auf ihn, seinen Attentäter, zielte. Ebenso wie sein Fahrer, ein SS-Oberscharführer, der sich kurz darauf Kubiš vornahm. Doch der war geistesgegenwärtiger als gedacht, schwang sich auf sein Rad und feuerte mehrere Male in die Luft. Dann trat er in die Pedale und radelte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davon. Heydrichs Fahrer hatte das Nachsehen.

Nicht so der Mann, den er chauffiert hatte. Er war angeschlagen, aber nicht genug, um vor Gabcík zu kapitulieren. Heydrich ging hinter der Straßenbahn in Deckung, Gabcík hinter einem Telegrafenmast. Der Protektor feuerte, was sein Magazin hergab, aber die Schüsse verfehlten ihr Ziel.

Dann, genauso unvermittelt, wie er begonnen hatte, war der Spuk vorbei. Bevor Jozef Gabcík überhaupt Zeit hatte, sich darüber zu wundern, krümmte sich der Reichsprotektor zusammen und taumelte über die Straße hinweg auf einen Metallgitterzaun zu.

Dort brach Reinhard Heydrich, der Todesgott des Dritten Reiches, mit einer Schusswunde im Rücken zusammen.

Er hatte noch acht Tage zu leben.

Aber davon wusste Jozef Gabcík zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Er war geflüchtet, in der Überzeugung, auf ganzer Linie versagt zu haben.

 

 

Krankenhaus Na Bulovce, Budínova 2 27.05. | 12.30h

 

»Jawohl, mein Führer!« Karl Hermann Frank, einäugiger Polizeichef und Heydrichs Stellvertreter, hätte den Telefonhörer glatt auf den Tisch legen können. Verstanden hätte er seinen Gesprächspartner auch so. »Ich habe mir alles notiert. Durchgreifen ohne Wenn und Aber. Belohnung in Höhe von einer Million Reichsmark für die Ergreifung der Täter. Forcierung der Repressalien, Ausrottung sämtlicher Mitwisser mit Stumpf und Stiel. Falls nötig, samt ihrer Familien. Verhaftung von 10.000Tschechen. Erschießung von sämtlichen politischen Gefangenen.« Während sich eine Flut von Beschimpfungen und Verwünschungen über ihn ergoss, ließ der 44-jährige SS-Gruppenführer mit den graumelierten Schläfen und nach hinten gekämmten Haaren die angestaute Atemluft entweichen und rutschte nervös auf seinem Stuhl herum.

»Nein, mein Führer!«, ächzte er. »Soweit bekannt, mit einer ungepanzerten Limousine. Wie bitte? Personenschutz? Bedaure, mein Führer! Er war nur mit seinem Fahrer unterwegs. Bodenloser Leichtsinn, ganz… ganz Ihrer Meinung, mein Führer! Aber selbstverständlich werde ich die entsprechenden Konsequenzen aus dem Vorfall ziehen.« Frank machte ein gequältes Gesicht. Dass sich der Zorn des Diktators ausgerechnet über ihn entlud, hätte er sich gerne erspart. »Wie es ihm geht? Nicht so gut wie zunächst erhofft. Hollbaum und Dick mussten die Milz entfernen. Aus welchem Grund? Sie hat ein paar Splitter abgekriegt. Und reichlich Rosshaar aus der Polsterung. Das Zwerchfell musste geflickt werden. Das Zwerchfell, ganz richtig! Vertrackte Situationin der Tat, mein Führer! Und das Schlimmste: Es droht eine Infektion.«

Als in diesem Moment einer seiner Adjutanten den Kopf zur Tür hereinstreckte, war Frank einen Augenblick lang abgelenkt, schaffte es aber, den Mann mittels eindeutiger Gesten wieder hinauszukomplimentieren. Rechtzeitig genug, um die nun folgende Anweisung entgegenzunehmen.

Karl Hermann Frank war abgebrüht, um nicht zu sagen völlig skrupellos. Aber was er in diesem Moment zu hören bekam, war geeignet, selbst ihn in Erstaunen zu versetzen. Und zwar in einem Maße, dass es ihn nicht mehr auf seinem Lehnstuhl hielt.

»Habe ich Sie da richtig verstanden, mein Führer?«, stakste er irritiert hinter dem Schreibtisch im Chefarztzimmer auf und ab, wohin eigens eine Geheimleitung gelegt worden war. »Ich soll Heydrichs Telefonate abhören lassen?«

Die Antwort aus dem Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen ließ an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig.

»Abhören und aufzeichnenzu Befehl, mein Führer! Geheime Reichssache, ich verstehe. Mitstenographieren, versteht sich von selbst. Und anschließend per Sonderkurier ins Führerhauptquartier. Höchste Geheimhaltungsstufe. Zu niemandem ein Wort. Aufzeichnung sämtlicher Gespräche, auch solcher rein privater Natur. Kontrolle, Registrierung und nötigenfalls geheimdienstliche Überwachung der Besucher. Ohne Rücksicht auf Rang, Dienstgrad oder Namen. Rapport im Führerhauptquartier morgen um 15 Uhr. Sie können sich auf mich verlassen, mein Führer!« Frank holte tief Luft, doch bevor er seine Ergebenheitsadresse an den Mann bringen konnte, hatte sein Gesprächspartner aufgelegt.

Karl Hermann Frank atmete hörbar auf und ließ sich im Zeitlupentempo auf seinen Schreibtischsessel sinken. Heydrich bespitzeln, obwohl er auf der Kippe stand? Einen todgeweihten Mann? Auf den ersten Blick ergab der Befehl keinen Sinn. Aber dann, nach reiflicher Überlegung, begann der Gedanke zunehmend amüsant auf ihn zu wirken. Ausgerechnet Heydrich. Der Herr aller Spitzel. Der Schnüffler schlechthin. Die Frage war nur, weshalb der Führer einen derartigen Aufstand machte. Frank konnte sich keinen Reim darauf machen. Letztendlich war es ihm auch egal.

Was zählte, war sein Auftrag. Befehl war nun einmal Befehl. Und damit Schluss.

Schließlich musste er ja auch an seine Karriere denken.

Und wenn der etwas nützen konnte, dann ein erfolgreich ausgeführter Führerbefehl.

5

 

Krankenhaus Na Bulovce      02.06. | 20.50h

 

Eine Bluttransfusion nach der anderen. Und immer wieder Morphium. Dann die endgültige Diagnose. Bauchfellentzündung und sein Todesurteil, Blutvergiftung.

Es ging zu Ende mit ihm. Unweigerlich.

Heydrich rollte sich auf die Seite. Fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aber es gab noch etwas zu erledigen. Allen Höllenqualen zum Trotz.

Die Dränage machte es ihm nicht leicht. Doch dann war es geschafft. Seine Hand lag auf dem Telefon. Der Protektor biss die Zähne zusammen und wählte. Eine Nummer, die außer ihm niemand kannte. Es war eine qualvolle Prozedur, und mit jeder Sekunde, die verstrich, rückte der Tod ein Stück näher.

Dann das Freizeichen. Ein Knacken in der Leitung, das unter normalen Umständen seinen Argwohn geweckt hätte. Doch Heydrich hörte es nicht. Oder wollte es nicht hören. Er war so sehr auf sein Vorhaben fixiert, so geschwächt, dass ihm sein Instinkt völlig abhanden gekommen war.

Für immer.

Heydrich, Protektor und meistgefürchteter Mann im Reich, existierte nicht mehr. Der da lag, war ein schmerzgepeinigtes menschliches Wrack, das seinen letzten Trumpf ausspielen wollte.

»Sterb er dahin, der strahlende Held.« Das verabredete Codewort. Folglich war die Luft rein. Heydrich schloss erleichtert die Augen, trotz der Tatsache, dass die Stimme seines Gesprächspartners vor Anspannung vibrierte.

»Mein ist der Hort, mir muss er gehören!« Heydrich gab seine Antwort ohne zu zögern. »C hier!«, ergänzte er postwendend. »Walhalla auslösen!«

Die Antwort des Mannes am anderen Ende der Leitung ließ auf sich warten. Ein Räuspern, dann die Erwiderung, die wie eine Frage klang: »Walhalla auslösen.«

»Lina ist hochschwanger, schon vergessen?«

»Nein.«

»Und um sich auszumalen, was ihr und den Kindern passieren könnte, braucht man wohl keine Fantasie.«

»Bestimmt nicht!«

»Was bedeutet: Walhalla auslösen, wie abgemacht!«, flammte Heydrichs Jähzorn ein letztes Mal auf, ohne Rücksicht auf den Mann, der ihn wie kaum ein zweiter kannte.

Dann ließ er den Hörer auf die Gabel fallen.

Kaum lag Heydrich auf dem Rücken, als die Schmerzen in der Bauchgegend unerträglich wurden. Zeit für die nächste Dosis, schoss es ihm durch den Kopf, während er den Unterarm auf die fieberglühende Stirn presste. Der Herr über Leben und Tod, ein Mann, der Tausende auf dem Gewissen hatte, führte einen aussichtslosen Kampf. Sein Gegner war unbezwingbar, stärker, als er jemals gewesen war.

Heydrich war der Ohnmacht nahe, als ihn ein Geräusch am Fußende aufschrecken ließ. Er hatte Mühe, die Augen zu öffnen, aber als es ihm schließlich gelang, fuhr er wie elektrisiert in die Höhe.

»ReichsführerSie?«, keuchte er, während er sich mit letzter Kraft auf die Ellbogen stützte. »Was… was führt Sie hierher?«

Heinrich Himmler, Reichsführer-SS, antwortete nicht auf die Frage, sondern sah mit unbewegter Miene auf Heydrich herab. Die Nachttischlampe verbreitete diffuses Licht, und so fiel es Heydrich schwer, seinen Lehrmeister in Augenschein zu nehmen. Himmler blieb im Schatten. So wie immer.

Als Heydrich schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete, stützte sich Himmler plötzlich auf das Bettgestell, räusperte sich und sagte: »Ich habe mit Ihnen zu reden, Obergruppenführer. Unter vier Augen.«

»Wenn, dann aber schnell!«, retournierte Heydrich in sarkastischem Ton. »Mir bleibt nämlich nicht mehr viel Zeit.«

»Kein Problem. Was ich Ihnen zu sagen habe, wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.«

»Und das wäre?«

»Wie Sie selbst bereits sagten, Heydrich, bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit. Weshalb ich Sie dringend ersuchen muss, mir gegenüber sämtliche Karten auf den Tisch zu legen.«

»Ach, daher weht der Wind.«

»Schön, dass wir so schnell auf den Punkt kommen. Das spart viel Ärger und noch mehr Verdruss.« Himmler pausierte und rückte mit einer wohlkalkulierten Geste seine Brille zurecht. Dann schob er seinen Oberkörper ins Licht. »Machen wirs also kurz, Heydrich«, näselte er, während die Gläser das Licht der Stehlampe reflektierten. »Mir ist daran gelegen, in den Besitz Ihrer Geheimakten zu kommen. Und zwar umgehend. Damit sie nicht in die falschen Hände geraten.«

»Ich fürchte, Sie kommen zu spät, Reichsführer«, antwortete Heydrich süffisant, für Sekundenbruchteile wieder ganz der Alte.

»Was soll das heißen?«

Heydrich ließ sich zurück in sein Kissen sinken, schloss die Augen und lächelte maliziös. Dann begann er zur Verblüffung seines einstigen Lehrmeisters ein Lied zu summen. Es stammte aus einer Oper seines Vaters, dem er seine musische Begabung zu verdanken hatte. »Ja, die Welt ist nur ein Leierkasten, den unser Herrgott selber dreht, und jeder muss nach dem Liede tanzen, das grad auf der Walze…«

Mitten im Satz brach Heydrich ab. Als ihn der wutentbrannte Reichsführer rügen wollte, musste er feststellen, dass er zu spät gekommen war.

Reinhard Heydrich, Obergruppenführer und Massenmörder, hatte noch volle zwei Tage zu leben. Im Koma, wo er einen Vorgeschmack auf die Hölle bekam.

Walhalla

 

 

Berlin/London/Moskau

 

(Sonntag, 07.06.1942/Montag, 08.06.1942)

6

 

Berlin-Wilmersdorf, ›Kolonie Emser Platz‹       07.06. | 4.45h

 

Sie wollte schreien. Treten. Um sich schlagen. Aber sie konnte nicht. Ihre Füße fühlten sich an wie Blei, der Mund wie geknebelt. Was immer sie tat, es war umsonst. Von hier gab es kein Entrinnen.

Die Luft war zum Schneiden dick. Schweißdurchtränkt. Der Geruch nach Erbrochenem und Fäkalien nicht zu ertragen. Ringsum völlige Dunkelheit. Undurchdringlich. Die reinste Hölle.