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Karl Ernst Laage zum 90. Geburtstag

 

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Einleitung:
Kindheitstrauma, Kindheitstraum

Auf meinem Schoße sitzet nun

Und ruht der kleine Mann;

Mich schauen aus der Dämmerung

Die zarten Augen an.


Er spielt nicht mehr, er ist bei mir,

Will nirgends anders sein;

Die kleine Seele tritt heraus

Und will zu mir herein.1

I

Schriftsteller, die eine besonders glückliche oder besonders unglückliche Kindheit erlebt haben, deren lebenslange Sehnsucht nach kindlicher Sicherheit, Liebe und Geborgenheit womöglich zu einer Obsession geworden ist, die sich um die eigene Kindheit betrogen gefühlt und in literarischen Phantasien das vermeintlich oder tatsächlich Entgangene zu kompensieren versuchten: solche Schriftsteller hat es vermutlich zu allen Zeiten gegeben. Diejenige literarhistorische Epoche aber, die bestimmt ist vom Übergang aus der späten Romantik in einen sich selbstbewusst dagegen absetzenden „Realismus“, gibt einem solchen Schriftsteller historisch einmalige Artikulationsmöglichkeiten: Was er als individuelle biographische Erfahrung zu formulieren (oder auszugeben) versucht, das trifft nun zusammen mit einer kollektiven philosophischen, psychologischen und literarischen Denkfigur. Die individuelle Kindheit, die eben erst, im 18. Jahrhundert, als sozialer und psychischer Erfahrungsraum entdeckt worden ist und deren Prophet Jean-Jacques Rousseau war:2 In Deutschland wird sie mit der Frühromantik zum Traumbild und, eben als Traumbild, zur geschichts- und kulturphilosophischen Leitmetapher. Und sie bleibt es in allen Ausläufern romantischen Denkens, bis in unsere Zeit.

Seine klassische und unüberbietbar knappe Formulierung hat dieses Bild bei Novalis gefunden. In dessen berühmtem 97. Blüthenstaub-Fragment von 1798 ist so lakonisch wie rätselhaft zu lesen:

Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter.3

Ausführlicher und anschaulicher lautet derselbe Gedanke bei Wilhelm Grimm, in der Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen 1819, so:

Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie haben gleichsam dieselben blaulichweißen makellosen glänzenden Augen, die nicht mehr wachsen können, während die andern Glieder noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind.4

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Kindheit und Goldenes Zeitalter: Entwurf von Philipp Otto Runge zu „Der Morgen“ (Ausschnitt). [1]

Diese beiden programmatischen Äußerungen umspannen zwei Jahrzehnte einer geschichtsphilosophischen Ideologisierung der Kindheit, für die sich eine Fülle weiterer Belege anführen ließe und die alle Wandlungen von Früh-, Hoch- und Spätromantik bemerkenswert überdauert. Das Kind ist danach der wahre, nämlich ursprünglich-unschuldige Mensch. Es repräsentiert deshalb das erste, ursprünglich-unschuldige Zeitalter der Menschheitsgeschichte; in der Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen wiederholt sich die große Geschichte der Menschheit, samt Paradies und Sündenfall. (Am Ende des 19. Jahrhunderts wird dieser Gedanke naturwissenschaftlich neu formuliert werden: in der Ontogenese wiederholt sich die Phylogenese.)

Was immer der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung an Dezentrierungs- und Fragmentierungserfahrungen mit sich bringt, von der arbeitsteiligen Gesellschaft über das Auseinandertreten von Mythos und Geschichte, Glaube und Wissenschaft bis zu den technischen, ökologischen, industriellen Umwälzungen der kapitalistischen Globalisierung: dem zum Idealbild erhobenen „Kind“ wird die Vereinigung des Entzweiten zugetraut, zugemutet. Was immer an Heils- und Erlösungsbedürftigkeit in der Welt der Erwachsenen erwacht, das Kind soll es heilen – wobei oft in der Schwebe bleibt, wie weit dabei von den jetzt lebenden Kindern und wie weit von jenem Kind die Rede ist, das die Erwachsenen einmal waren, wie weit von einem Idealbild und wie weit von kleinen Menschen aus Fleisch und Blut und mit „blaulichweißen Augen“. Gegen die gleichzeitig entdeckte Triebwelt der Geschlechtlichkeit soll das Kind eine unverdorbene Unschuld und Reinheit repräsentieren. Gegen die politischen Machtansprüche und Gewalten soll es die Flötentöne anstimmen, mit denen in Goethes Novelle der kindliche Knabe die ausgebrochenen Löwen und Tiger bezwingt. Gegen die sich immer weiter in Fachdisziplinen ausdifferenzierende Bildungskultur soll die Naivität der Volkskunst nicht aus irgendeinem wunderbaren Instrument ertönen, sondern aus dem kindlichen, also aus „Des Knaben Wunderhorn“.5

Weil für die Phantasie des Kindes noch „alles in der Natur belebt und beseelt“ ist, wie es Friedrich Schlegel in der Lucinde als „ein Ideal“ wahrer Kindlichkeit darstellt, 6 weil es in die Welt der Erwachsenen folglich „so neugierig und doch so bange“ hineinblickt, 7 deshalb soll das Kind gegen die Entzauberung der Welt die Geltung einer mythischen Weltsicht garantieren, die im Märchen ihre Spielform gefunden hat. So heißen denn auch die Geschichten, die gegen die napoleonische Besatzung eine vorgeblich unverfälschte deutsche Volkstradition mobilisieren sollen, nicht etwa in Analogie zu den weiteren Werken der Brüder Grimm ‚Deutsche Märchen‘, sondern unbedingt, mit einem zu diesem Zweck neu erfundenen Doppelbegriff, Kinder- und Hausmärchen.

Der beliebteste imaginäre Erlebnis- und Entfaltungsraum des solchermaßen romantisierten Kindes, sein deutsch-romantischer Paradiesgarten, ist der Wald. So sehr er in Volksmärchen und in der Kunstdichtung der Frühromantik als Inbegriff des Fremden, Unheimlichen und Bedrohenden figurieren kann, so deutlich erscheint er doch auch als räumliche Entsprechung heimatlicher Kindheit, als ein paradiesisch-zeitenthobener Naturraum. Das schlechthin vollkommene Bild romantischer Kindheit, ihr ikonographisches Grundmuster, ist deshalb das Bild der Kinder im wilden, aber im Hinblick auf sie und um ihretwillen traulichen Wald. Dem ersten Band der Kinder- und Hausmärchen haben die Brüder Grimm genau dieses Bild vorangestellt, als Illustration zu dem Märchen von Brüderchen und Schwesterchen.

Schlechterdings keine Sünde können solche per definitionem sündlos-unschuldigen Wesen begehen – außer der einzigen, die nicht vergeben werden kann: erwachsen zu werden. „Mir gegenüber das schöne Kind“, beginnt Achim von Arnims Gedicht Die arme Schönheit, und es erzählt vom Verlust der Unschuld in seiner anschaulichsten und drastischsten Erscheinungsform, der sexuellen. Seit das „schöne Kind“ angefangen hat, sich seiner Reize bewusst zu werden, sich zu schminken und kokett zu benehmen, seitdem ist es für den Sprecher dieser Verse zum Inbegriff der Verdorbenheit geworden. Wer das Gedicht nachlesen will, findet es leicht in einer der ambitioniertesten Gedichtanthologien des späteren 19. Jahrhunderts: in Theodor Storms Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie.8

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Ludwig Emil Grimms Entwurf und Titelillustration für die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm.

II

Storms Beschäftigung mit der deutschen Literatur setzte, das hat er selbst immer wieder betont, erst mit Verspätung ein. 1835 aus der deutsch-dänisch geprägten Husumer Gelehrtenschule (von deren Ausbildungsprinzipien hier im fünften Teil noch die Rede sein wird) ans Lübecker Katharineum gewechselt, an die nachmalige Schule Thomas Manns und Tonio Krögers, hat der achtzehn-, neunzehnjährige Storm in der Lektüre der deutschen Literatur seiner Zeit viel nachzuholen gehabt. In Lübeck habe er, so erinnert er sich später, zum ersten Mal gehört von dem, „was eben lebendig aufgetreten war, von den Romantikern“.9

Die erhaltenen Teile seiner Bibliothek bestätigen diese Erinnerung nachdrücklich. Die Werke von Novalis besaß bereits der junge Storm in der Ausgabe von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel (noch 1871 und 1872 werden sie in Briefen an Emil Kuh und Paul Heyse erwähnt).10 Schlegels Lucinde erwarb er bereits in der zweiten Auflage von 1835, 11 Clemens Brentano’s Frühlingskranz, herausgegeben von Bettine von Arnim, in der Ausgabe von 1844. Des Knaben Wunderhorn besaß er in der Erstausgabe (und kaufte es 1851 in der von Bettine und Wilhelm Grimm herausgegebenen Sammlung der Gesamtausgabe der Werke von Achim von Arnim gleich noch einmal).12 Die Schriften Ludwig Tiecks haben sich in seinem Nachlass immerhin in der achtundzwanzig Bände umfassenden Ausgabe erhalten, die von 1828 bis 1854 erschien. Auch Heines Gedichte, an denen er lebenslang mit großer Selbstverständlichkeit „fast ausschließlich die romantisch-liedhaften“ Züge wahrgenommen hat, 13 gehören zu den prägenden Leseeindrücken dieser frühen Zeit; das Buch der Lieder besaß Storm bereits in der Erstausgabe von 1827. Auf dem letzten Blatt hat er handschriftlich Heines Gedicht Frühlingsbotschaft von 1831 eingetragen: „Leise zieht durch mein Gemüth …“ Von der Bedeutung, die der Student den Dichtungen Eduard Mörikes beimaß, zeugt das Liederbuch dreier Freunde (später hat Storm von seiner Beziehung zu Mörike in dem Essay Meine Erinnerungen an Eduard Mörike berichtet);14 in nachgeordneter Position gehört schließlich auch Ludwig Uhland zu denen, deren lyrische Dichtungen sein Bild der Romantik bestimmten.

Vor allem mit Eichendorffs Werken aber habe er, so erinnert er sich später, seit 1836 „im intimsten Verkehr gestanden“; er habe „neben Heine schon in meiner Jugend den größten Einfluß auf mich gehabt“.15 Karl Ernst Laage hat darauf hingewiesen, dass Storm die einzige zu Lebzeiten erschienene Ausgabe von Eichendorffs Werken von 1841 besaß und dass er, wie eine im Storm-Archiv erhaltene Bücherliste zeigt, auch entlegenere Dichtungen wie die Dramen und Epen zur Kenntnis nahm. So überrascht es nicht, dass während der Potsdamer Zeit 1854 der Freund Franz Kugler auf Storms Drängen eine persönliche Begegnung arrangieren musste zwischen dem fünfundsechzigjährigen Dichter und seinem fast dreißig Jahre jüngeren Bewunderer; das (ins Hausbuch aufgenommene) Nachtigallen-Gedicht hatte ihm Eichendorff am 9. März 1854 in einer eigenhändigen Abschrift geschickt. Und noch im Mai 1868 schreibt er an Fontane, was „den lyrischen Bedarf“ angehe, da müsse er „bei Eichendorf [sic] zu Gaste gehn“.16 Wenn Storm seinen Eindruck in einem Brief an den Vater schildert, dann gebraucht er das denkbar romantischste Bild: „In seinen stillen blauen Augen liegt noch die ganze Romantik seiner wunderbar poetischen Welt“17 – als seien es noch immer ebenjene „blaulichweißen makellosen glänzenden Augen, die nicht mehr wachsen können“, von denen Wilhelm Grimm gesprochen hatte; ein Spiegel jener „Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen“. Der alte Eichendorff hat für Storm etwas von diesem reinen Kind behalten; ein Angehöriger jenes Goldenen Zeitalters, dem keine Zeit etwas anhaben kann.

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Brentano und Arnim in Storms „Hausbuch aus deutschen Dichtern“.

So sind es denn auch die Gedichte Eichendorffs, die er zusammen mit denen Heinrich Heines im Hausbuch am umfangreichsten zu Wort kommen lässt. Bezeichnend ist der Vorbehalt, mit dem Goethe im Vergleich mit Eichendorff beurteilt wird – „dessen Lyrik in die tiefen Gründe führt, welche erst nach Göthe die Romantik gefunden hatte.“18 Erst nach Goethe die Romantik: so spricht ein Autor, der sich selbst als einen Abkömmling der Romantik versteht. In ihrer Nachfolge sieht er seine eigene Dichtung ausdrücklich. Mit den frühen, in die Novelle Immensee aufgenommenen Gedichten, so erinnert sich noch der Siebzigjährige, „war mir, auch ich sei jener seltenen reinen und tiefen Lyrik mächtig, die ich nur bei Göthe, Uhland, Eichendorf [sic], Heine und Eduard Mörike gefunden hatte“.19

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Eichendorff in Storms „Hausbuch aus deutschen Dichtern“.

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„Die Nachtigallen“ in Eichendorffs Handschrift, aus Storms Nachlass.

Storms literarische Sozialisation ist geprägt von einer Romantik, die sich angesichts der aufbrechenden Moderne ihrer eigenen Ursprünge immer neu versichern muss, die folglich von der Literaturgeschichte teils als (mit einem problematischen Terminus) schon ‚biedermeierlich‘, teils als „antiromantische Romantik“20 bezeichnet worden ist und doch, mindestens in den für unsere Überlegungen zentralen Kategorien, früh- und hochromantische Vorstellungen fortschreibt und transformiert. Was in Storms Werk als Wirkung frühromantischer Reflexion sichtbar wird, das ist, trotz aller wiederholten Einwände gegen vermeintliche formale Nachlässigkeiten der Frühromantiker, fast immer gefiltert durch die Texte der spätromantischen Zeitgenossen. (Was schon an der beiläufigen Selbstverständlichkeit sichtbar wird, mit der das Programm einer romantischen Universalpoesie wieder zurückgeführt wird auf eine klare Gattungs-Trias, in den theoretischen Äußerungen ebenso wie in der Praxis der eigenen Gedichte, Märchen, Novellen.)

Auf Novalis, den er in den prägenden frühen Jahren ebenso gelesen hat wie Heines Gedichte und Schlegels Lucinde, hat Storm sich erst im Briefwechsel mit Heyse spät und kritisch bezogen21 – und dennoch ist die Fortwirkung der dort zuerst formulierten Gedanken zur Kindheit und zum Goldenen Zeitalter, zu Poesie und Märchen allenthalben zu erkennen. Tieck, Brentano und Arnim hat er als Lyriker kritisch beurteilt, aber ernst genommen und als die „ersten Romantiker“ gewürdigt;22 in sein Hausbuch hat er ihre Gedichte ebenso aufgenommen, wie er Brentanos Kinder-Gedicht Abendgebet an einer entscheidenden Stelle in der Novelle Aquis submersus zitiert (davon wird noch die Rede sein).23 Uneingeschränkt, ja manchmal leidenschaftlich fällt seine Anerkennung aber erst für ihre spätromantischen Nachfolger aus, namentlich für Eichendorff, in dessen Gedichten für ihn „die tiefsten Laute, welche je in der deutschen Lyrik gehört sind, […] hervorbrechen.“24

Von hier aus strebte der junge Storm noch keineswegs in die Zukunft einer neuen, „realistischen“ Literatur, zu deren kühnsten Experimenten er später ansetzen sollte, sondern zurück zu einer Vertiefung dessen, was die Frühromantik gewollt, aber noch nicht erreicht habe: in „die tiefen Gründe“ eben, in die er Eichendorff folgen will. Von ihm, von Heine und Mörike aus sucht er die Spuren, die ihn in die Vor- und Frühgeschichte der romantischen „Stimmungs“-Kunst führen sollten:

Die Romantiker suchten besonders das, was wir „Stimmung“ zu nennen pflegen, in ihren Gedichten auszubilden […] Allein fast in keinem ihrer Lieder ist der Strom der Empfindung stark genug, daß er die Phantasie des Dichters sich hätte dienstbar machen können. So geschah es denn, daß sie fast überall in den Detailanschauungen hängen blieben.25

Erst mit Heines Buch der Lieder sieht er dieses romantische Vorhaben an sein Ziel gelangt. Und genau hier setzt dann auch seine eigene Poetik an: als Bemühen um eine Verwirklichung dessen, was den Romantikern vor Augen gestanden habe und von ihnen noch nicht erreicht worden sei. Explizit über Heine, implizit über sein eigenes Lyrikideal schreibt er die vielzitierten Sätze:

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„Des Knaben Wunderhorn“, Titelbild des zweiten Bandes. [2]

Er, wie wenig Andere, hat gezeigt, was die einfachsten Worte vermögen, sobald nur die rhythmische Weise dazu gefunden ist; er erhob – man gestatte den Ausdruck – das „Stimmungsgedicht“ zu einer eigenen Gattung, indem er mit einem seltenen Sinn für das Wesentliche den Hörer in eine das Gemüt ergreifende Situation versetzt und ihn dann schweigend diesem Eindruck überläßt […].26

Nicht auf die Kategorie der „Stimmung“ selbst kommt es hier an – darauf ist noch einzugehen –, sondern auf die oft unterschätzte Selbstverständlichkeit, mit der Storm seine Leitbegriffe auf die Romantik zurückführt. Lebenslang haben romantische Vorbilder seine Poetik geprägt, in Nachahmung und Abwehr, Bewunderung und Überwindungsgestus. Gedichte wie Tiecks Waldeinsamkeit oder sein Herbstlied geben den Ton vor, auf den es ihm ankommt, 27 und wer diesen Ton nicht in derselben Reinheit erklingen lassen kann, der soll sich wenigstens sehnsuchtsvoll an ihn erinnern, in den Brechungen Heinescher Ironie oder im melancholischen Rückblick Eichendorffs. Der frühe Storm ist ein entlaufener Romantiker, auf einer sentimentalischen Suche nach dem Naiven.

Einmal aufmerksam geworden auf die Fäden, die Storms lyrisches und erzählerisches Werk – vor allem der frühen Jahre, aber auch der sich darauf zurückbeziehenden Teile des späteren Werks – mit der in seiner Frühzeit unwiderruflich zu Ende gehenden Romantik verbinden, wird man in ihrem Schnittpunkt immer wieder die eine Leitmetapher finden, in der das romantische Geschichtsdenken und die romantische Anthropologie zusammenfallen mit seinen eigenen, privatesten und intimsten Ängsten, Phantasien und Obsessionen. Dieser entlaufene Romantiker inszeniert sich von Beginn an selbst als einen erwachsen Gewordenen auf der Suche nach der verlorenen Kindheit.

III

In diesem Buch geht es deshalb um die unterschiedlichen Perspektiven, in denen das romantische Phantasma der Kindheit in Storms Schreiben erscheint, und um die krisenhaften Erschütterungen, in denen es literarisch produktiv wird. Nur eine, wenn auch die auffallendste dieser Erscheinungsformen ist die Kinder-Liebe im heikelsten Wortsinne der παιδοφιλ′ια, der paidophilía: die erotische. In den einschlägigen Texten Storms lässt sich beobachten, wie das zunächst vor- und übergeschlechtlich imaginierte Sehnsuchtsbild sich konkretisiert und gleichsam zusammenzieht zu einem bestimmten Mädchen: Die verlorene und erträumte Kindheit wird zum weiblichen Objekt männlichen Begehrens. Diese Kinderliebe verbindet sich, wie zu zeigen ist, geradezu mit der Initiationsszene von Storms eigenständigem Schreiben (Teil I). Denn Theodor Storms lyrische Dichtung verdankt ihre Selbständigkeit der Begegnung mit einem Kind. In der Liebe des jungen Erwachsenen zu dieser Bertha von Buchan, die buchstäblich noch ein Kind ist, nimmt die romantische Sehnsucht, unverhofft und ungeheuer, sehr konkrete Gestalt an – eine paradoxe Gestalt überdies, insofern ein geschlechtliches Begehren sich auf ein Wesen richtet, das gerade um seiner geschlechtlichen Unschuld willen begehrt wird.28

Da dieses biographische Geschehen aber in Texten artikuliert, interpretiert und vorangetrieben wird, mit denen sich der Autor von seinen epigonalen Anfängen frei schreibt, wird auch umgekehrt das reale, begehrte Kind zur Projektionsfläche von im Wortsinne auto-biographischen und epochalen Auseinandersetzungen. Diese Texte können ganz handfest instrumentell eingesetzt werden, als Mittel der Werbung, der Warnung oder der Selbstrechtfertigung. Und zugleich wird in ihnen die Spannung ausgetragen zwischen einer Kindheits-Sehnsucht, die sich auf das verlorene, romantisch verklärte eigene Kindsein richtet, und einer post-romantischen Desillusionierung – „Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht’ ich […], Doch konnt’ ich sie nicht finden.“

Die Wendung, die sich vor allem in den lyrischen Dichtungen dieser ersten bedeutenden Schreibphase Storms vollzieht, führt einerseits in eine kritische Selbstreflexion. Darin werden die romantischen Projektionen als Effekte seelischer Kränkungen diagnostiziert und der eigenen Analyse freigegeben. Und diese Wendung führt andererseits in neue Formen des lyrischen Schreibens, die sich zwar noch immer auf romantische Traditionen zurückbeziehen und in deren Kern noch immer das Konzept der Kindheit und Kindlichkeit sehen – nun aber wieder frei von den erotischen Reduktionen und im Gestus eines (freilich in zunehmender formaler Virtuosität artikulierten) resignierenden Abschieds. Die Formel für diese ästhetischen Konsequenzen gibt Storm in der Charakterisierung seiner selbst als des „letzten Lyrikers“. Bekanntlich fragt Storm ja nach dem Tod Geibels nicht ohne Bitterkeit, wie um alles in der Welt man jetzt in den Zeitungen „über den Tod des letzten Lyrikers“ klagen und gleichzeitig ignorieren könne, „daß Einer lebt, der wirklich der Letzte war.“29 Im Juli 1884 hat Storm das gesagt, vier Jahre vor seinem Tod. Bezogen auf einen ja noch Lebenden, erinnert sein eigentümliches Präteritum an den Satz des kleinen Hanno Buddenbrook, der unter den Familienstammbaum einen langen Strich gezogen hat: „Ich glaubte… ich glaubte… es käme nichts mehr …“30 Schärfere Konturen gewinnt dieses Bild im Kontrast zur Lyrik des frühen Freundes und Mentors Theodor Mommsen, gegen die Storms eigenes Schreiben sich behaupten musste und aus deren Ablehnung es seine Eigenständigkeit gewann (Teil II).

Erst in dem biographischen Augenblick, in dem der Dichter der an „das Kind“ gerichteten frühen Verse in die bürgerliche Norm eingetreten, verheiratet und selbst Vater eines Kindes geworden ist (eines Knaben, der ihm sogleich auch die eigene Kindheit wieder vergegenwärtigt): erst in diesem Augenblick gelingt ihm eine Modell-Erzählung, die von diesem Kind ausgeht und im Märchenton das romantische Bild zurückführt auf das Seelendrama des frühkindlichen Narzissmus, seiner Verschmelzungssehnsüchte und Größenphantasien und seiner radikalen Enttäuschung. Der kleine Häwelmann entwickelt im Kinderton die Psycho-Analyse einer romantischen Sehnsucht, die das eigene Werk bis jetzt mitbestimmt hat. Und er formuliert eine Rechtfertigung des Erzählens als einer Möglichkeit, den unvermeidbaren Verlust erzählend zu verarbeiten (Teil III).

Die beherrschende Kraft der fortwirkenden romantischen Kindheits-Konzepte zeigt sich am deutlichsten in den etwa in derselben Zeit entstandenen politischen Texten, in denen Storm seinen ideologischen Beitrag zu den Kämpfen der nationalliberalen Schleswig-Holsteiner um die Abschaffung der Monarchie und die nationale Eigenständigkeit leisten will. Auch hier zieht sich, inmitten der kriegerischen Konflikte, das positive Gegenbild einer zum irdischen Paradies verklärten Heimat zusammen zur Figur des königlichen Kindes, das ursprüngliche Unschuld und Reinheit verkörpern soll, gerade in dieser Rolle aber auch als erotisch begehrenswertes Mädchen wahrgenommen wird. Die biographische Rückfrage nach der realen politisch-kulturellen Sozialisation des jungen Storm selbst zeigt einen kultur- und mentalitätsgeschichtlich exemplarischen Fall: den Übergang vom vor- und übernationalen zum National-Staat, dessen Abgrenzungsbedürfnisse und Ursprungsphantasien nicht nur auf die Metapher der Kindheit, sondern auch in die gelebte eigene Kinder-Zeit zurückprojiziert werden (Teil IV).

Den Zusammenhang von romantischer Kindlichkeits-Religion und der Psychologie des Narzissmus hatte schon das frühe Häwelmann-Märchen spielerisch und todernst erkundet. In den religionskritischen Gedichten und Novellen seiner Zeit im Heiligenstädter Exil, die unmittelbar auf die Konfrontation mit einer vitalen katholischen Volksfrömmigkeit reagieren, greift Storm dieses Thema in ungleich größerer Komplexität wieder auf. Dabei wendet sich die kritische Reflexion nun in beide Richtungen. Die entschiedene Abkehr vom christlichen Glauben wird nun ihrerseits problematisch: in der Opposition nämlich zur ganz in romantischer Tradition verstandenen „Religion, wie sie die Kinder haben“. Und Storms zunächst als rituelle Gebrauchstexte für Familienfeiern entstandenen Weihnachts-Gedichte machen gleichsam die Probe auch auf dieses Exempel – in der Wiederkehr der nun gegen die eigene Religionskritik mobilisierten religiösen Ikonographie romantischer Kindheits-Bilder (Teil V).

Immer geht es dabei um seine poetische Kunst, um die Textualität seiner Texte. Deren Verständnis erfordert eine Zusammenführung von theoretischen Modellen und methodischen Zugängen, die in der Literaturwissenschaft zuweilen als Konkurrenten behandelt worden sind. Dieses Buch unternimmt den Versuch, psychologisch aufmerksame Textlektüren31 zu verbinden mit historischen, genauer: mit literatur-, sozial- und ideengeschichtlichen Beobachtungen und mit denjenigen biographischen Konstellationen, in denen diese epochalen Entwicklungslinien sich lebensweltlich konkretisieren und literarisch produktiv werden.

Im Unterschied zu Mareike Börners großer Studie über Die Kindfrau im Werk Storms geschieht das im vorliegenden Buch in hermeneutischer, nicht in psychoanalytisch-semiologischer Perspektive.32 Im Zentrum stehen dabei die Transformationen romantischer Kindheits-Bilder, in deren Spektrum die erotisch begehrte Kindfrau nur eine von mehreren Figurationen darstellt. Wenn deshalb in den folgenden Kapiteln die im engeren Sinne psychoanalytisch interessierten Passagen sich weitgehend beschränken auf Konzepte Freuds, die unter anderem aus den psychologischen Modellbildungen der realistischen Literatur hervorgegangen sind (und sich, wie im Fall von Storms Freund Wilhelm Jensen und seiner Novelle Gradiva unmittelbar darauf beziehen), 33 wenn hingegen die für Börners Arbeit so wichtige strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans nicht einbezogen wird:34 dann ergibt sich das aus einem anders ausgerichteten, aber kompatiblen Interesse, das die Spuren literaturgeschichtlicher, kulturgeschichtlicher und biographischer Konflikte in den Texten auffinden will. Dabei sollte die entschiedene Einbeziehung auch biographischer Sachverhalte, die in diesen Texten explizit erörtert oder implizit vorausgesetzt werden, nicht mit einem ‚Biographismus‘ verwechselt werden, der das Werk reduzierte auf die in es eingegangenen Entstehungsbedingungen.35 Auch für dieses Buch gilt vielmehr Mareike Börners Feststellung, dass jene „simple Gleichung, die Realität auf direktem Wege in Poesie überträgt, […] über die Komplexität literarischer Kunst wie über die (vermeintlich) prosaischer Gegenwart gleichermaßen hinweg“ täuscht. Wie die Kindfrau, so ist auch das romantische Kind zuerst und zuletzt nicht eine Person, sondern ein Phantasma. Aber dessen Konstruktion und Transformationen werden doch ausgehandelt zwischen sehr realen historischen Personen.36

In der Textauswahl wird keineswegs die vollständige Erschließung einer Denkfigur angestrebt, die in unendlich vielen Varianten und Verästelungen das Werk durchzieht. Ziel ist vielmehr die möglichst genaue Lektüre exemplarischer Texte, unabhängig vom Kanonisierungsgrad. Dazu gehören die Gedichte von den ersten Anfängen an, die Kinder-Märchen von Hans Bär bis zu Der kleine Häwelmann, Novellen aus den Sommergeschichten, Essayistisches wie die autobiographischen Aufzeichnungen, die literaturkritischen Rezensionen oder die programmatische Vorrede zum Hausbuch. Storms Briefe, an befreundete Schriftsteller, an seine Ehefrau und die eigenen Kinder, werden nur dort herangezogen, wo das für die Klärung biographischer und entstehungsgeschichtlicher Zusammenhänge sinnvoll scheint. Das ist eine schmerzliche, doch notwendige Beschränkung. Gerade die mustergültigen kritischen und kommentierten Editionen der Braut- und Ehebriefe sowie des Briefwechsels mit Ernst Storm, die Regina Fasold und David Jackson in jüngster Zeit vorgelegt haben, zeigen mit der menschlichen Problematik auch den eminenten Rang des epistolographischen Werks, das mit dem lyrischen und erzählerischen zwar auf das engste verbunden ist, jedoch unter anderen methodischen Prämissen gelesen werden muss. Nicht einbezogen werden auch die großen Vater-Sohn-Novellen, in die zwar immer wieder (wie in so viele Texte Storms) Kindheits-Muster und -Modelle hineinspielen, die aber doch von anderen Themen bestimmt werden. Denn gewiss geht es auch in Hans und Heinz Kirch oder Der Herr Etatsrat, Carsten Curator oder John Riew’, Ein Doppelgänger oder auch noch im Schimmelreiter in sozialgeschichtlich wie psychologisch hoch differenzierten und aufschlussreichen Darstellungen um Fragen der Kindererziehung, um familiäre Beziehungen und traumatische Kindheitserlebnisse.37 Doch tritt in diesen Erzählungen die Auseinandersetzung mit den romantischen Konzeptualisierungen von Kindheit und Kindlichkeit weit in den Hintergrund gegenüber den sozialen Ordnungen, die in Generationenkonflikten erschüttert und an ihnen ablesbar werden, gegenüber den problematisch werdenden bürgerlichen Normen, Erziehungskonventionen und Geschlechterrollen. Es wäre aber zu wünschen, dass von den folgenden Fallstudien aus, die immer wieder Randgänge in weniger bekannten Werkbereichen unternehmen, auch auf manche Aspekte der großen Novellen ein neues Licht fiele.

Hervorgegangen sind die Kapitel dieses Buches aus Aufsätzen und Vorträgen, die im Laufe der letzten Jahre entstanden sind, die jedoch für dieses Buch grundlegend überarbeitet und erheblich erweitert, um neue Abschnitte ergänzt und zu einem durchgängigen Argumentationsgang verbunden worden sind. Ausdrücklich und dankbar genannt werden soll hier nur eine dieser Gelegenheiten: die von Regina Fasold und Malte Stein initiierte Tagung im Husumer Storm-Zentrum 2009 über „Kindsbräute“ in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts.38 Dieses Symposion gab mir den Anlass dazu, das Thema im Blick auf Storms Werk neu aufzunehmen.

Gewidmet ist dieses Buch Karl Ernst Laage. Ohne seine unermüdlichen Forschungsinitiativen, ohne seine jahrzehntelange philologische und hermeneutische Arbeit an und mit Storms Werk, in der großen, gemeinsam mit Dieter Lohmeier veranstalteten vierbändigen Ausgabe und weiteren Editionen, in seinen Büchern, Aufsätzen und Vorträgen und ohne seine ebenso grundlegende und maßgebliche Arbeit für das Storm-Haus und das Storm-Archiv in Husum – ohne all dies wäre die moderne Storm-Forschung nicht zu denken.

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oben: Theodor Storm 1857, Ölgemälde von Nicolai Sunde.

unten: Bertha von Buchan 1833, drei Jahre vor ihrer ersten Begegnung mit Storm.

I. „Rückwärts in die Kindheit“: Kinderliebe und Kindheitstraum in Storms Dichtungen für Bertha von Buchan

1. „Kinderliebe“

Immer wieder hat Storm in seinen Briefen und autobiographischen Texten auf seine beschädigte Kindheit angespielt, manchmal nur andeutend bis an den Rand verklärender Beschönigung, manchmal in krasser Offenheit. Den Tenor dieser Darstellungen seiner frühen Sozialisation hat David A. Jackson in seiner Storm-Biographie prägnant zusammengefasst:

Die Angst seines Vaters, Gefühle zu zeigen, und seine Unfähigkeit, seinen Kindern gegenüber seine Liebe auszudrücken, hat er durchgehend kritisch bewertet. Solche Züge wurden durch ähnliche Tendenzen bei Storms Mutter verstärkt. Zeitlebens suchte Storm in Freundschaft und Liebe eine emotionale Sicherheit, die er als Kind entbehren musste. […] Storms Darstellungen seiner Mutter, Lucie Woldsen, betonen ihre Unfähigkeit, ihren Kindern Liebe zu zeigen, und in den frühen 1870er Jahren teilt er Emil Kuh mit, dass er sich nicht entsinnen könne, von ihr je geküsst oder umarmt worden zu sein.1

Erst spät, in einem Brief an Paul Heyse vom 27. März 1883, hat der alte Storm eine besonders schockierende frühe Kindheitserinnerung mitgeteilt. Darin erzählt er, wie er als kleiner Junge – „ich mag damals nicht über 6 oder 7 Jahre gewesen sein“ – beim kindlichen Spiel von seiner Mutter unverhofft („Zu meinem Erstaunen“) unterstützt worden sei:

Es war eine gute Mutter, meine Mutter; aber sie hatte doch gegen die allzu überschwangliche [!] Güte meiner Großmutter (ihrer Mutter) in gewisser Weise Stellung genommen; und daher wurde ich von dieser so augenblicklichen und Alles übersteigenden Erfüllung meiner Wünsche ganz betäubt in meinem Kindskopfe. […] als ich Abends oben allein in meinem Trallenbette lag, überkam es mich wieder: Diese unerhörte Güte mußte eine ganz bestimmte Ursache haben; was konnte es sein? Und als ich weiter grübelte, hatte ich es endlich herausgefunden: meine Mutter wollte mich ermorden! Ein Entsetzen überfiel mich, und als meine Großmutter, wohl um, wie sie pflegte, noch einmal nach mir zu sehen, in die Stube kam, fand sie mich in Todesangst und Thränen über mein erbärmliches Geschick. Als ich ihr gebeichtet, holte sie auch meine Mutter, und beide Frauen konnten mich erst nach langer Zeit beruhigen.

Seltsam übrigens, daß ich meine Mutter, obgleich ich sie erst vor vier Jahren verlor, später niemals an diese Geschichte erinnert habe.2

Seltsam? Wo die freundliche Hilfsbereitschaft der Mutter für das Kind eine so überraschende Ausnahme vom lieblosen Verhalten im Alltag bedeutet, dass es als Ursache nur tödliche Verstellung annehmen kann; wo die Gewohnheit, dass nicht etwa die Mutter, sondern die Großmutter abends nach dem Kind sieht und seinen Kummer anhört, noch immer in selbstverständlicher Beiläufigkeit erwähnt wird; wo noch fast siebzig Jahre später in der bloßen Erinnerung das „Entsetzen“ die Syntax in eine gehetzte Periode von Kleistscher Atemlosigkeit ausbrechen lässt (‚als meine Großmutter – wohl um – wie sie pflegte – noch einmal nach mir zu sehen – in die Stube kam – fand sie mich in Todesangst‘): da kann lebenslang keine klärende Kommunikation stattfinden. Da bleibt die lebendige Gegenwart eines nie bewältigten Traumas, das eben als solches immer neue literarische Produktivität erzwingt.3

Die Todesangst des Kindes vor der Mutter bezeichnet die Urszene der Stormschen Kindheitserinnerungen. Tatsächlich war sie ihm so wichtig, dass er sie noch am selben Tag, an dem er sie Heyse brieflich geschildert hat, in seine autobiographische Sammlung Was der Tag gibt aufnahm: „27. März. Aus meiner Knabenzeit schrieb ich heute an Heyse; Dodo hat es hier abgeschrieben“.4 Gegenüber Heyse nennt Storm die Erinnerung „eine Geschichte aus meiner Knaben-, vielmehr Kinderzeit“.5 Die kleine Selbstkorrrektur bezeichnet nicht nur die Altersdifferenz von Kind und Knabe, sie verbindet das erinnerte Geschehen auch mit dem Schlüsselwort, um das so viele Texte der frühen Jahre kreisen. Was durch den jähen Einbruch der Todesangst vor der eigenen Mutter zerstört wird, ist nicht nur eine bestimmte Lebensphase, sondern die „Kinderzeit“ selbst, das Goldene Zeitalter, die Heimat, in der dieses Kind seiner Erinnerung zufolge niemals war.

Storms Verhältnis schon zu seinen Ehefrauen Constanze und Do, denen beiden er zeitweise die Position des Kindes und zugleich diejenige der Mutter zuweist, 6 vor allem aber das Verhältnis zu seinen eigenen Kindern zeigt – wie die Braut- und Ehebriefe und der Briefwechsel mit Ernst Storm eindrucksvoll dokumentieren –, wie leicht er der Versuchung nachgab, sich für den lebenslangen Mangel bei seinen nächsten Angehörigen schadlos zu halten: als sollten sie ihm nachträglich jene unbedingte Liebe und Sicherheit garantieren – und fortwährend unter Beweis stellen –, die er bei seinen Eltern vermisst hatte. Literarisch greifbar wird dieses Bestreben zuerst in der Neigung zu seiner hingebungsvoll geliebten Schwester Lucie, mit der er das Bett teilt und auf deren frühen Tod 1829 er, selbst noch ein Kind, eines seiner ersten Gedichte schreibt;7 „sein starkes Interesse am Inzestthema“, vermutet Jackson, „mag auf dieses frühe Erlebnis zurückgehen.“8

Zur literarischen Obsession wird die Liebe zu einem Kind erst in dem Augenblick, in dem die Kinder- wie die Knabenzeit unwiderruflich vorüber ist. Nun soll dem erwachsen Gewordenen ein Kind die Kindheit ersetzen. Dieses Kind ist Bertha von Buchan. Die Liebe des jungen Autors zu ihr bewirkt und bezeichnet seinen Durchbruch von der Epigonalität der Schülerjahre zur literarischen Eigenständigkeit. Die zunächst in intimster Privatheit an sie gerichteten, dann nach und nach (und zuweilen mit den Vorkehrungen nuancierter Selbstzensur) publizierten Erzählversuche und Gedichte bilden die Grundlage jener Lyrik, in der er selbst bis an sein Lebensende den wichtigsten und dauerhaftesten Teil seines Werks, ja den geheimen Kern seiner Novellistik gesehen hat.

Denn das für sich genommen durchaus kontingente biographische Geschehen wird fast vom ersten Augenblick an literarisiert; intime Begegnungen werden alsbald in literarische Szenen transformiert, in Tagebuchaufzeichnungen, Erzählskizzen, Verse. Umgekehrt kann jeder dieser literarischen Texte umgehend wieder in das Beziehungsgeschehen zurückkehren, wenn er der Geliebten mündlich vorgetragen, als schriftliches Geschenk überreicht oder einfach als Fortsetzung brieflicher Kommunikation zugeschickt wird. Die Grenze zwischen lebensweltlichen Begebenheiten, literarisch geprägtem Rollenspiel und genuin literarischer Formulierung beginnt sich in dieser Konstellation ähnlich produktiv (und für den nachgeborenen Leser ähnlich verwirrend) aufzulösen, wie das etwa – mutatis mutandis – in den Texten des Wetzlarer Goethe der Fall ist oder in den frühen Novellen Thomas Manns. Wenn der spätere, poetologisch reflektierende Storm sich auf das „Erlebnis“-Postulat der Goetheschen Poetik beruft, dann beruft er sich unausgesprochen auch auf diese im Wortsinne auto-bio-graphischen Anfänge seiner eigenen Poesie.

Freilich gehört diese Begegnung, gehören die lebensweltlichen und kommunikativen Bezüge der Dichtungen an und über Bertha von Buchan noch immer zu den Gegenständen, über die auch in der Storm-Forschung selten ohne Vorbehalte gesprochen wird, ja über denen – auch wenn die grundlegenden Sachverhalte spätestens seit E. O. Wooleys reich dokumentiertem Beitrag von 1953 und seit Herrmanns Aufsatz aus demselben Jahr bekannt waren – lange Zeit ein Tabu gelegen hat.9 Das ist begreiflich. Denn in der Tat scheint das Drama, das sich da zwischen 1836 und 1842/43 zwischen Altona, Lübeck und Husum abgespielt hat, nicht ganz weit weg zu sein von einem Tatbestand, für den heute eben das Wort von der ‚Pädophilie‘ bereitsteht. In seinem bahnbrechenden Essay über Storm, diesen wie Tonio Kröger „entlaufenen Bürger“, hat Thomas Mann, mit der Hellsicht des Geistesbruders, von Storms eigentümlicher Werbung um Dorothea Jensen („Do“) aus auf die Bertha-Jahre zurückgeblickt und bemerkt:

Wer ist diese Lebende, die ein einziges Jahr nach Constanze’s Hingang seine zweite Frau wird? Sie heißt Dorothea Jensen und kommt eines Tages während seiner Brautzeit als dreizehnjähriges Mädchen, eine feine zarte Blondine, zusammen mit seiner Schwester Cäcilie auf sein Zimmer, wobei er mit Betroffenheit gewahr wird, daß dies Kind ihn liebt und daß sie auch ihrerseits „einen eigentümlichen Reiz“ auf ihn ausübt.

Dieser eigentümliche Reiz, einem Bräutigam als Sensation nicht ganz zukömmlich, erinnert an eine erotische Episode seiner Studentenzeit, da er sich in einem Hamburger Hause auch schon in ein Kind, ein noch jüngeres, in die zehnjährige Berta von Buchau, 10 verliebt und der Kleinen […] einen jahrelangen poetischen Kultus widmet. Diese Kinderliebe erscheint jedenfalls nicht ganz korrekt.11

Das war zart und zutreffend bemerkt. Auch Storm selbst war es im Rückblick bald schon unheimlich, was da eigentlich geschehen war. „Wie ich je so habe handeln können“, fragt er sich selbst in einem zwei Jahre später, am 11. Juni 1844 geschriebenen Brief an seine Verlobte Constanze Esmarch.12 Von Ahnungslosigkeit spricht er, aber auch von einer Sinnlichkeit, die weit stärker gewesen sei als eigentlich reife Liebe. Bezogen auf die erste, kindliche Liebe zu Emma Kühl, taucht dabei ein in den Bertha-Gedichten bestimmendes Motiv ein letztes Mal auf, in seiner redensartlich-konventionellen Form und gerade darin ganz unmissverständlich: „denn ich wußte damals noch nichts von Liebe, es war alles damals nur heißes Blut.“13 So redet er rückblickend von seinem Verhältnis zur kindlichen Emma. Dieselbe Leitmetapher aber durchzieht auch die Gedichte an Bertha. Bloß sexuelles Begehren also, keine romantische Liebe? Sonderlich beruhigend ist das wohl nicht. Aber, wie Thomas Mann seine Beobachtungen – wiederum in Storms wie in sehr eigener Sache – abschließt: „Dichtertum ist die lebensmögliche Form der Inkorrektheit.“14

Als der neunzehnjährige Storm sich Weihnachten 1836 in Altona zuerst in sie verliebt („Und jetzt muß ich Dir das Manchen vielleicht Unbegreifliche sagen, ich habe schon damals das Kind geliebt“), 15 da ist das Kind Bertha von Buchan noch zehn Jahre alt. Es ist also eine Zehn-, Elf-, Zwölfjährige, an die der junge Poet nun immer neue erotische Gedichte richtet. Nicht nur Berthas Ziehmutter ist angesichts dieses Drängens besorgt und weist darauf hin, dass er es immer noch mit einem Kind zu tun habe. Als Storm schließlich bei ihren Eltern offiziell um ihre Hand anhält, ist Bertha von Buchan erst sechzehn Jahre alt. „Bertha“, schreibt er im Frühjahr 1842, „ich glaubte einmal die Versicherung Deiner Liebe zu haben, dann aber wurde es dunkel zwischen uns. […] Es war mir todes bang [sic] zu Sinn“.16 Der Übergang von der Kindlichkeit zur Geschlechtsreife hat sich in der Zeitspanne seit seiner ersten Liebe zu ihr vollzogen. Aber in seinen Gedichten und in seiner frühen Prosa bleibt sie „das Kind“.

Unter den wenigen Literaturwissenschaftlern, die schon früh auf die nicht nur biographische, sondern auch werkgeschichtliche Bedeutung dieser heiklen Geschichte hingewiesen haben, sind neben Wooley besonders M. A. McHaffie und J. M. Ritchie zu nennen, die 1962 auf noch schmaler biographischer Faktengrundlage der süßlichen Stilisierung in Franz Stuckerts Storm-Biographie widersprachen.17 1995 hat Gerd Eversberg in seiner kommentierten Textsammlung Storms erste große Liebe das biographische als ein Text-Geschehen in beispielhafter Offenheit und Genauigkeit dokumentiert. Und er hat überzeugend herausgearbeitet, wie die Lösung des Poeten Storm aus den literarischen Konventionen der Goldschnittpoesie mit diesem Verhältnis verknüpft ist.18 Das sind zunächst ganz biographische Sachverhalte, sie werden aber schon von Storm selbst, in den an Bertha gerichteten Texten, auch textgenealogisch und poetologisch reflektiert. So ergibt sich eine eigentümliche Kontinuität von unveröffentlichten Texten und publizierten Dichtungen – zumal es Eversberg gelungen ist, weitere Texte als zu diesem Komplex gehörend zu erschließen.

Die literarische Produktion beginnt in privaten Tagebuchaufzeichnungen und Briefen an und über Bertha, die durchaus gleitend in fiktionale Texte übergehen. So ist Storms erstes Kunstmärchen, Hans Bär, 1837 in nur einem einzigen Exemplar an diese Leserin gerichtet. Und es ist zu seinen Lebzeiten auch nur an sie gerichtet geblieben; veröffentlicht wurde es erst fast ein Jahrhundert später im Jahr 1930. Sein erster, noch ganz unbeholfener und literarisch misslungener Novellen-Versuch Celeste, eine vermutlich im selben Zusammenhang entworfene erotische Knabenphantasie, bleibt unveröffentlicht. Viele der in den Bertha-Jahren entstandenen Gedichte wiederum balancieren zwischen privater Adressierung – als handle es sich um poetische Fortsetzungen der Briefe – und camouflierender Stilisierung zu publikationsfähiger Form. Diese Form ist erreicht mit dem 1843 in Kiel erschienenen Liederbuch dreier Freunde.19

2. „Sie nennen dich ein Kind“: Storms Liebesgedichte im Liederbuch dreier Freunde

So rollenhaft manche dieser Gedichte dank der Kontexteinbettung wirken mögen – in einer Sammlung, die ganz überwiegend aus artistischen Fingerübungen besteht –, so kühn gehen die von Storm verantworteten erotischen Gedichte (und nur sie) bis an die Grenze zum autobiographischen Bekenntnis. Das wird erst ganz bemerkbar, wenn man sie im Zusammenhang der Erstausgabe liest. Bis an den Rand fiktionaler Distanzierungen wird da die eigene Dichtung in den Dienst einer dezidiert erotischen Kinder-Liebe gestellt. Nur hier ist es angebracht, hier aber wird es auch unumgänglich, von poetischer Camouflage zu sprechen. Denn allein zwischen den vielen spielerischen Genrebildern, rhetorischen Demonstrationen, neckischen Scherzversen, aus denen der überwiegende Teil dieser Sammlung besteht, zwischen diesen politisch-patriotischen, anakreontischen, epigonal empfindsamen und spätromantischen Versen – allein hier umschreibt die Anrede „du […] Kind“ eine tändelnde Rollenfiktion. Nur deren beharrliche Wiederholung, die erotische Intensität der Verse und der leidenschaftliche Ton eines selbstquälerischen Ringens, die eine ganze, vierzehn Druckseiten umfassende Abteilung des Bandes ausschließlich beherrschen, konnten Lesern ohne Kenntnis der Entstehungsumstände und Wirkungsabsichten der Gedichte ins Auge fallen. Diese erste „Abtheilung“ des zweiten „Buches“ ist die einzige, die im Inhaltsverzeichnis als allein „von Storm“ stammend gekennzeichnet ist.20 Und sie enthält ausschließlich Liebesgedichte, alle offensichtlich an dieselbe, immer neu umschriebene Adressatin gerichtet und in ihrer Abfolge ganz ähnlich wie Heines Buch der Lieder lesbar wie die fortlaufende Geschichte ‚junger Leiden‘.

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Titelseite des „Liederbuchs dreier Freunde“, aus Storms Nachlass.

So muss das kommunikative Geschehen in der Leserwahrnehmung changieren zwischen einer Textoberfläche, die von Liebesschwüren eines Liebenden an eine junge Frau bestimmt ist, und der Ahnung eines im Wortsinn pädophilen Subtextes. Die defensive Funktion der Camouflage wird extern durch den Kontext der übrigen Sammlung mit ihrer dominierenden Rhetorizität, intern durch literarische Reminiszenzen gewährleistet, die zuweilen auf anakreontische Muster zurückverweisen, auf romantische Volksliedstrophen oder eben auf Heine, und damit auf die dort etablierten Korrelationen von Erotik und Kindlichkeit. Der produktive Mehrwert der Camouflage ergibt sich aus dem subtextuellen Thema einer nicht nur in diesem Fall, sondern grundsätzlich verbotenen und verwerflichen Liebe und der leidenschaftlichen Selbstbehauptung des Verworfenen.

Immer wieder gibt der Text zu verstehen, dass die ungenannte Geliebte nicht nur in konventioneller metaphorischer Stilisierung, sondern auch ganz real ein Kind ist:

Du bist so ein kleines Mädchen,

Und hast schon so helle Augen,

Du bist so ein kleines Mädchen

Und hast schon so rothe Lippen.

So die erste Strophe des neckischen Gedichts Rechenstunde, das dann unmerklich bedrohlichere Töne anschlägt:

So schau mich nur an, du Kleine,

Auch ich hab’ helle Augen,

Und laß dir alles deuten –

Auch ich hab’ rothe Lippen.

Nun rechne mir doch zusammen!

Vier Augen, die geben? – Blicke!

Und – mach mir keinen Fehler! –

Vier Lippen, die geben? – Küsse!21

Die beiden Imperative „Und laß dir alles deuten“, „Und – mach’ mir keinen Fehler!“ lassen unausgesprochen, welches „alles“ genau gemeint sein und worin etwa der Fehler der Kleinen bestehen könnte. Deutlicher wird ein anderes Gedicht auf derselben Druckseite:

Du bist so jung – sie nennen dich ein Kind –

Ob du mich liebst, du weißt es selber kaum.22

Das seit der Anakreontik vertraute literarische Rollenspiel, das Gedichte wie dieses anklingen lassen, ist die Initiation des zum ersten Mal verliebten Mädchens durch den erwachsenen Liebhaber, als der sich denn auch der Sprecher dieser Verse ausgibt. Bedenklich unterlaufen wird dieses Schema jedoch durch den Umstand, dass die Angeredete „so jung“ ist, dass andere sie geradezu „ein Kind“ nennen (ein Kind, das in der Schule eben erst die Grundrechenarten erlernt hat): dass also die Liebes-Unsicherheit nicht der Scheu eines noch unerfahrenen Begehrens geschuldet sein könnte, sondern der Tatsache, dass ihm das Begehren selbst noch unbekannt und unheimlich ist.

Die diesem Kind gleichwohl zugemutete Liebesforderung muss denn auch bereits zwei Druckseiten später gebieterisch, ja gewaltsam auftreten, unter einem zusehends dünneren Firnis liedhaft verspielter Verse. Meine Maid heißt das Gedicht, das Storm zunächst auf der Rückseite eines Briefentwurfs vom 22. März 1841 an Friederike Scherff skizziert hat. Dort steht, noch in weitem Abstand zu zwei Strophen, die ein „launisch Kind“ und sein „Widerstreben“ schildern, die folgende Strophe:

„Der Mutter sag ichs,“ ruft das tolle Kind

Und springt davon, doch hasch ich sie geschwind

Mit tausend Küssen zwing ich sie zu eigen,

Daß flehend sie gelobt ein ewig Schweigen.

Das ist die Beschreibung eines Gewaltakts. Den letzten Satz hat Storm korrigiert aus dem zunächst hingeschriebenen Satz: „Als flehend sie gelobt ein ewig Schweigen“ – hat also den Zwangscharakter noch hervorgehoben, so wie er am Blattrand auch den dritten Vers probehalber noch verstärkt hat zu: „Und zwing mit Küssen sie mir ganz zu eigen“.23

Im Liederbuch dreier Freunde steht das Gedicht unter der Überschrift Liebeslaunen (die den Ausdruck „das tolle Kind“ bereits als bloße Metapher zu lesen erlaubt); die letzte Strophe lautet nun

„Der Mutter sag’ ich’s!“ ruft das tolle Kind,

„Was für ein Traum!“ – Da hasch’ ich sie geschwind,

Und zwing’ mit tausend Küssen sie zu eigen,

Bis sie auf’s Neu mir Liebe schwört und Schweigen.24

Die Schlussverse hat Storm in der späteren Separatausgabe seiner Gedichte, unter der verschleiernden, an Heine erinnernden Überschrift Junge Liebe, verändert:

„Der Mutter sag’ ich’s!“ ruft das tolle Kind

Und springt zur Tür. Da hasch’ ich sie geschwind,

Und diese frevelhaften Lippen müssen,

Was sie verbrochen, ohne Gnade büßen.25