Mami – Jubiläumsbox 9 – E-Book 1775-1780

Mami
– Jubiläumsbox 9–

E-Book 1775-1780

Eva-Maria Horn
Susanne Svanberg
Isabell Rohde
Claudia Torwegge

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-428-6

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Melanie geht ihren Weg

  Durch das Küchenfenster sah Hanna Bibi kommen. Unwillkürlich mußte sie lächeln: Bibis rechter Fuß lief geradeaus, ihr linker schlenderte wild nach innen.

  »Kombifüße«, hatte Fabian sie genannt, »einen zum Klettern und einen zum Schwimmen.«

  Fabian, ach, Fabian!

  Wie hatten sie damals darüber gelacht. Damals – da wurde überhaupt viel gelacht in diesem Hause. Es war ein Haus des Glücks gewesen, bis Fabian Naumann, ihr Sohn, durch einen Autounfall ums Leben kam. Er hinterließ sie, Hanna, und er hinterließ Melanie, seine Frau, mit den drei Kindern Fabian junior, Mark und Bibiane.

  Auch dieses Haus hinterließ er, beladen mit Schulden, die Melanie nun keine andere Wahl ließen, als es zu verkaufen. Es fiel ihr schwer, Hanna wußte das. Wer trennt sich schon gern von dem Platz, an dem er die schönsten Augenblicke seines Lebens verbracht hatte?

  Bibi stand atemlos vor dem geöffneten Fenster.

  »Da sind schon wieder welche«, flüsterte sie so laut, daß Herr Berking aus dem Nachbarhaus, wenn er gewollt hätte, es mühelos verstanden hätte.

  »Welche?« fragte Hanna.

  »Na, Intrissierten oder so.«

  »Für Bibi und ihre Brüder war die Welt in Ordnung geblieben. Gott sei Dank! Zu klein, um die Tragweite des Verlustes zu verstehen, vermißten sie ihren ohnehin sporadisch anwesenden Vater nicht allzusehr. Fabian war in seinem Eifer, für seine Familie ein Paradies zu schaffen, mehr unterwegs als daheim gewesen.

  Daß man aus diesem Haus ausziehen, in ein anderes oder in eine Wohnung ziehen würde, war für die Kinder lediglich spannend und nicht problematisch.

  Hanna nahm die Schürze ab und ging hinaus.

  Ein Paar, etwa Anfang dreißig, kam den Weg hinauf. Sie passen nicht in dieses Haus, dachte Hanna niedergeschlagen, hätte aber nicht zu sagen vermocht, warum das so war. Vielleicht waren sie zu elegant, vielleicht auch zu jung. Denn das Haus war alt. Es hatte den umwerfenden Charme der zwanziger Jahre, aber auch dessen kleine Räume, vielen Treppchen, Erker und Fensterchen. Ein eigenwilliges Haus, das man lieben mußte, um es zu bewohnen.

  Die Besichtigung verlief wie viele vorher. Der junge Mann sprach zwar von Umbaumöglichkeiten, weil doch der Garten so schön und eigentlich unverhältnismäßig groß sei, doch die junge Frau sagte lediglich:

  »Um Gottes willen!«

  »Das tut mir leid«, Hanna hätte gern hinzugefügt: für sie, doch sie tat es natürlich nicht, »aber alte Häuser sind ja auch wirklich nicht jedermanns Sache. Sie machen viel Arbeit.«

  Die junge Frau schenkte der Zwanziger-Jahre-Schönheit einen mitleidigen Abschiedsblick, sagte: »Das außerdem!« und verabschiedete sich.

  Hanna streichelte im Vorübergehen die hölzernen Treppengeländer. Sie hatten Patina und Grazie. Die Hände, die sie gestreichelt hatten, waren nicht zu zählen. Vielleicht hatte sich auch jemand manchmal daran geklammert, krank oder verzweifelt. Es war ein geschwungenes Geländer, mit Sicherheit waren schon vor Fabian, Mark und Bibiane andere Kinder auf dem Hosenboden darauf heruntergerutscht, kreischend, lachend, fröhlich. Oder heimlich! Wie der große Fabian einmal, kurz nachdem sie das Haus bezogen hatten. Hanna hatte ihn erwischt, und er war verlegen gewesen wie ein Schuljunge. Dabei hatte sie ihn so gut verstanden!

  Ja, es war richtig, daß das junge Paar, das eben in einen weißen Sportwagen stieg, sich gegen das Haus entschieden hatte. Sie hätten einander nicht verstanden. Und das muß man! Man muß mit dem Haus eine Ehe eingehen, die mit einer Liebesheirat begonnen hat. Alles andere, Hanna schüttelte über ihre Gedankengänge selbst den Kopf, sind nur Verhältnisse.

  Bibiane hockte vor dem Kühlschrank und verzehrte in aller Seelenruhe ein Stück Käse. Sie lächelte ihr schmelzendstes Lächeln, als Omi so überraschend schnell zurückkam, und stöhnte dabei dramatisch:

  »Ich war ja beinahe verhungert!«

  Hanna nahm ihr den Käse aus der Hand.

  »Genauso siehst du auch aus!«

  »Ja, ja, das meinen alle. Dabei war mir schon ganz schlecht vor Hunger.«

  »Tatsächlich?« Hanna tat sehr interessiert. »Wo denn?«

  Bibi war zwar erst vier, aber was ihre Essens-Leidenschaft betraf, war sie gewitzt.

  Sie ließ ihre Hände blitzschnell über ihren drallen Leib gleiten und behauptete: »Überall!«

  Hanna nahm das Wonnepaket hoch. Sofort legten sich warme, weiche Kinderarme um ihren Hals. Sekundenlang schloß Hanna die Augen in diesem immer wieder überwältigenden Augenblick.

  »Das gibt es nicht, daß einem überall schlecht ist, Bibi! Also? Hier?« Sie legte die Hand gegen Bibis Magen. »Oder vielleicht«, die Hand wanderte auf den kleinen Bauch, »hier?«

  Bibiane Naumann haßte es, Entscheidungen zu treffen. Und da der Zufall die Glücklichen nicht im Stich läßt, fiel ihr genau in diesem Augenblick ein, was Mark, ihr immerhin siebenjähriger Bruder, der auch schon in die Schule ging, neulich gesagt hatte:

  »Wenn ich sage, überall, dann meine ich auch überall!«

  Und so sagte sie das jetzt ebenfalls. Omi war beeindruckt, denn sie blieb ernst.

  »Wenn das so ist«, meinte sie bekümmert, »dann muß ich dich ins Bett packen. Vielleicht sollte ich auch den Doktor rufen…?«

  Es gab eine Menge Dinge, die Bibi nicht mochte, und es gab einige, die sie haßte. Zu denen gehörte Bettliegen am hellichten Tag. Schon abends ging sie äußerst ungern schlafen! Was man da nicht alles verpaßte! Urplötzlich kam ihr der richtige Gedankenblitz: »Jetzt…«, sie schubbelte ihre Nase gegen Omis Wange, »wo ich ja den Käse gegessen habe, isses ja gut.«

  »Nun«, beinahe widerstrebend ließ Hanna Bibi auf den Boden gleiten, man kann schließlich nicht ständig im Arm halten, was man so sehr liebt, »wenn es gut ist, dann darfst du jetzt die Löffel abtrocknen.«

  An diesem Tage lernte Bibiane Naumann, daß man doch jede Antwort sehr gut überlegen mußte.

  »Wann kommt Mami endlich zurück?« erkundigte sie sich, entdeckte – nein, soo was! – in der Besteckschublade ein Stück Schokolade und schob es blitzschnell in den Mund. Hanna unterdrückte ihr Lächeln, tat, als habe sie nichts gesehen. Als ob sie Bibi Arbeit tun ließe, ohne sie zu belohnen!

  »Ich weiß es nicht, mein Schatz. Aber wie wäre es, wenn wir zwei in der Zwischenzeit einen Kuchen backen würden?«

  Bibi griff bereits nach ihrer kleinen rotgepunkteten Schürze, während Hanna überlegte, ob es denn wohl wirklich richtig gewesen war, darauf zu bestehen, daß Melanie die Hilfe einer Psychotherapeutin suchte. Aber irgend etwas mußte doch schließlich getan werden, um sie aus dieser Starre zu befreien, in die sie seit dem Unglück gefallen war. Es muß doch weitergehen, das Leben. Wie auch immer. So oder so.

*

  Melanie hatte sich geweigert, sich auf die Ledercouch zu legen. Sie saß ruhig, die Hände flach auf ihre Tasche im Schoß gelegt, der Frau gegenüber, die sie über ihr Leben ausfragte. Den folgenden Ausführungen lauschte sie höflich und interessiert. Und während sie lauschte, wurde ihr klar, daß niemand ihr helfen konnte, wenn sie sich nicht selbst half. Auch diese Frau nicht, die auf Melanie den Eindruck machte, als habe sie genug damit zu tun, ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen.

  Die Rückschlüsse, die Frau – sie sah auf das kleine Schild mit dem Namen auf dem Schreibtisch – Leiendecker zog, näherten sich gefährlich rasch dem Absurden, und sie entfernten sich fast noch schneller vom gesunden Menschenverstand.

  »Hören Sie bitte«, hörte Melanie sich zu ihrer eigenen Verwunderung plötzlich fest sagen, »ich bin nicht zu Ihnen gekommen, damit Sie mein Leben auseinandernehmen; ich hatte eigentlich mehr an Ihre Hilfe im Wiederzusammensetzen gedacht.«

  Frau Leiendecker starrte Melanie an. Melanie erwiderte den Blick mit der Gelassenheit einer Frau, die begriffen hat, daß fremde Hilfe gleich welcher Art immer fremd bleiben wird.

  »Aber…«, sie hatte nervöse Hände und eine exaltierte Stimme, »dazu brauche ich doch Angaben aus Ihrem Leben.«

  »Die habe ich Ihnen ja gegeben. Aber finden Sie nicht selbst, daß Sie sie wie – wie Trümmer behandeln statt wie Bausteine?«

  Frau Leiendecker erhob sich. Melanie stand ebenfalls auf.

  »Es tut mir leid, wenn Sie glauben, daß ich Ihnen nicht helfen kann.«

  »Ach…«, in einem warmen Strom fühlte Melanie, daß sie die Wahrheit aussprach, »Sie haben mir ja geholfen, Frau Leiendecker!«

  »Ich habe…?«

  »Ja. Ich bin wieder aufgewacht. Endlich. Wer weiß, wie lange das noch gedauert hätte, wenn ich nicht zu Ihnen gekommen wäre.« Sie streckte ihre Hand aus, die Frau Leiendecker nahm, wobei sie erstaunlich herzlich lächelte.

  »Vielleicht ist das mehr wert als eine Therapie, oder?«

  »Bestimmt sogar! Ich danke Ihnen.«

  Inge Leiendecker sah der Frau nach, die all das besaß, was eine Frau sich erträumte. Außerdem war sie schön. Und jung. Gut, sie hatte nun einen Verlust hinnehmen müssen. Guter Gott! Was hatte sie, Inge Leiendecker, nicht schon alles verloren im Leben! Und meist, sie rückte ihre Brille zurecht, bevor sie es wirklich besessen hatte.

  Sie öffnete die Tür zum Wartezimmer.

  »Der Nächste, bitte!«

  Der Gedanke, wenigstens ein bißchen Schuld an ihrem Leben bei sich selbst zu suchen, kam ihr nicht.

*

  Schon fast zu Hause, änderte Melanie ihre Meinung. Nein, sie würde noch nicht mit Hanna reden. Erst später. Erst einmal mußte sie weinen. Sie hatte das Gefühl, als drängten nun alle Tränen, die sie in ihrer Versteinerung nicht hatte weinen können, hinaus. Sie wendete, beschleunigte dann das Tempo und fuhr in das kleine Waldstück, in dem sie früher so gerne spazierengegangen waren. Als sie aus dem Wagen stieg, überlegte sie, daß es vielleicht keine so gute Idee war, gerade hierher zu fahren. Doch dann schloß sie die Wagentür und lief zu dem sumpfigen Weiher, wo erfahrungsgemäß kaum ein Mensch anzutreffen war. Wenn sie immer und immer wieder die Stellen mied, an denen sie mit Fabian gewesen war, müßte sie sich irgendwo einschließen. Auf eine vermaledeite, eigentlich unverantwortliche Art und Weise hatte sie das im übertragenen Sinne lange genug getan!

  Nun aber, sie setzte sich trotz des hellen Rockes in das hier stets feuchte Gras, nicht mehr! Nie mehr! Fabian hätte das nie gewollt. Sonderbar, daß ihr dieser Gedanke nicht vorher schon gekommen war.

  Mit einer geradezu sinnlichen Wärme fühlte Melanie die Woge der Tränen. Und ließ ihr freien Lauf. Es war eine riesige Woge, die kein Ende zu nehmen schien.

  Über dem Weiher tanzten Mükkenschwärme. Sie waren der Grund dafür, daß die Menschen ihn mieden. Mückenstiche konnten schrecklich sein. Melanie wußte das nicht aus Erfahrung, nur vom Hörensagen. Sie hatte wohl kein süßes Blut, das Mücken angeblich bevorzugten. Jedenfalls war sie noch nie im Leben von ihnen gestochen worden. Schon als Kind nicht.

  Das Summen verstärkte das Wärmegefühl, füllte es, und Melanie bemerkte, wie der Strom der Tränen ganz, ganz langsam versiegte.

  Sie warf sich mit gestreckten Armen nach hinten, blickte durch die wiegenden Baumäste in einen so makellos blauen Himmel, daß die Augen beim Hineinblicken brannten. Sie schloß sie.

  Es gab das ja alles noch. Es gab den Himmel, es gab die Erde, es gab die Sonne, es gab den Mond. Es gab die Wärme, es gab die Kälte…

  Und es gab ihre Familie. Die Kinder; die vor allem. So sehr gewünscht, so heiß geliebt. So zärtlich umsorgt.

  Und es gab die Freunde.

  Melanie richtete sich langsam wieder auf und öffnete die Augen. Die Mücken tanzten immer noch. Unermüdlich. Ihr Summen klang plötzlich nicht nur nach Sommer, sondern auch nach guter Laune.

  Lieber Gott! Wie hat dieses Weinen mir gutgetan!

  Hinter den Büschen, von dem breiten Weg her, klangen Stimmen. Dann Radiomusik. Laut natürlich. Schöne Maid – hast du heut’ für mich Zeit… Die Unterhaltung, man mußte ja die Musik übertönen, wurde lauter. Dann waren Leute und Musik vorüber. Warum nur mußten die Menschen immer und immer wieder die Stille zerstören?

  Als Melanie aufgestanden war, betastete sie ihr Gesicht, ihren Hals, ihren Blusenkragen. Keine Spur mehr von den Tränen. In dem kleinen Taschenspiegel betrachtete sie sich. Sie lächelte sich zu. Wir leben wieder…!

  Einem Impuls folgend fuhr sie zu einem Blumengeschäft und kaufte blaue Iris. Einen ganzen Arm voll. Dazu eine breite Plastikvase. Iris waren Fabians Lieblingsblumen gewesen. Der Garten zeugte noch heute davon. Sie gab am Friedhofseingang Wasser in die Vase und trug sie behutsam und lächelnd, sie fühlte das ganz genau! – zu Fabians Grab. Dann stand sie lange davor und hielt stumme Zwiesprache mit dem Mann, der einmal ihr Leben war, ihr ganzes; ihre Liebe und ihre Erfüllung.

  Es gab ihn nicht mehr.

  Aber das Leben, das gab es. Man muß es leben und leben wollen, was immer auch geschah. Man muß es lieben, damit man von ihm zurückgeliebt wird. Es ist ein Geschenk.

  Auch Liebe ist ist Geschenk. Jede Liebe.

*

  »Wie war’s?« fragte Jutta und zog Melanie mit sich in das kleine Büro hinter der Apotheke. Es war Jutta Kellers Apotheke, ihr ganzer Stolz, und Jutta war Melanies Freundin. Seit I-Männchen beziehungsweise I-Frauchen-Zeiten. Ihre Freundschaft war eine von jenen mit dem Gütesiegel: Lebenslang. Jutta war Junggesellin, sie vermied das Modewort Single, weil es ihrer Meinung nach voll danebentraf in ihrem Fall. Sie hatte eine große Liebe hinter sich, die sie mit dem Satz abgehakt hatte: »Den, den ich will, kann ich nicht kriegen, die, die ich kriegen kann, will ich nicht.«

  Nur Melanie wußte, daß sie Herzblut gelassen hatte. Der Mann hatte ihr lange verschwiegen, daß er verheiratet war. Eine reine Liebe war einem Abenteurer zum Opfer gefallen.

  »Kann ich vielleicht erst ein Glas Wasser haben?« fragte Melanie.

  Jutta reichte es ihr und sah sie an.

  »Hier. Scheint gut gelaufen zu sein.«

  »Es ist…«, Melanie nahm einen langen Schluck, »überhaupt nicht gelaufen, aber es war trotzdem gut.«

  Schweigend lauschte Jutta Melanies Bericht, der auch all ihre Empfindungen während des Gesprächs mit Frau Leiendecker, während ihres Weinens am Weiher und während ihrer Zwiesprache mit Fabian an seinem Grab enthielt.

  Danach füllte sie noch einmal Melanies inzwischen geleertes Glas.

  »Ich bin so froh«, sie küßte eine Fingerspitze und legte sie kurz gegen Melanies Gesicht, »weißt du das?«

  »Ich weiß es.«

  »Weißt du auch, daß ich zeitweilig geglaubt habe, du würdest daran zerbrechen?«

  Sekundenlang verlor sich Melanies Blick.

  »Ich auch. Aber man zerbricht nicht, wenn man Kinder hat.«

  »Da ist was dran. Ich mache gleich Mittag. Gehst du mit mir einen Happen essen, oder wartet Hanna auf dich?«

  Und ungestüm und überraschend durchfuhr Melanie etwas, von dem sie geglaubt hatte, es nie wieder zu bekommen: Hunger!

  »Ich gehe mit dir. Ich denke, daß Hanna mich erst am Nachmittag zurückerwartet.«

  Arm in Arm schlenderten sie über den besonnten Marktplatz zu dem kleinen italienischen Lokal, das Jutta bevorzugte. Die vielen Pasta schlugen sich bei ihr nicht nieder, sie war rank und schlank wie eine Abiturientin. Und würde es bleiben. Juttas Disziplin war vorbildlich. Und nur mit Disziplin erreicht man, was man erreichen will. Nicht nur bei der Figur!

  »Wenn du sie nicht hättest, was?«

  »Hanna? O ja! – Aber auch wenn ich dich nicht hätte, und überhaupt…«

  Melanies Freundeskreis war klein. Der von den Leuten so sehr betonte und angestrebte »große« Freundeskreis stellte sich in der Regel bei näherem Hinsehen als Bekanntenkreis heraus.

  Ihrer war mit Hannas Wort »handverlesen«. Fabians Tod forderte seine erste Bewährungsprobe. Er hatte sie mit Auszeichnung bestanden. Erst jetzt wurde Melanie das klar.

  »Hör bloß auf!« Jutta ertrug Lob nur in winzigen Dosen.

  Im La Luce war es dämmerig und kühl. Ein paar Leute spielten ruhig und konzentriert Billard, ein Getränk auf dem Abstelltischchen. Im provisorisch getrennten Speiseraum waren alle Tische besetzt. Die Gespräche waren leise. Hin und wieder klang ein Lachen auf. Eine einfache, aber sehr gemütliche Atmosphäre.

  »Schade…«, murmelte Jutta, als jemand vom hinteren Ecktisch winkte.

  »Da ist Max!« Sie setzte sich schon in Bewegung, denn Max saß allein an dem Vierertisch. »Ist das Glück oder ist es keins?«

  Es blieb unklar, ob sie die Tatsache meinte, Max zufällig zu treffen, oder die, dadurch einen Tisch zu bekommen.

  Max Paulsen. Juttas Uralt-Freund, der sie liebte, seit Jutta ihm im vorletzten Schuljahr aus Versehen mit einem Ball ein blaues Auge verpaßt hatte. Niemandem tat es mehr leid, den so redlichen und treuen Max nicht wieder lieben zu können, als Jutta selbst. Sie wären das ideale Paar! Optisch und geistig. Jede andere Frau hätte ihre ja vorhandene Zuneigung zu Liebe geschönt und Max geheiratet. Er war Arzt und eine sogenannte gute Partie. Max war ihr zu schade dafür. Er verdiente alles. Keine Brosamen, schon gar keine geschönten. In Juttas Augen war das Betrug. O ja! Auch sie wußte, daß der tausendfach praktiziert wurde. Jedoch niemals von ihr.

  Sie umarmte Max in ihre burschikosherzlichen Art, die so leicht in Nebel versinken ließ, daß Jutta Keller eine Mimose war.

  Max lächelte Melanie zu, breitete brüderlich die Arme aus, in die Melanie leicht zögernd dann doch hineinging. Sie fühlte den festen kameradschaftlichen Druck von Max’ Hand auf ihrem Nacken. Es tat gut. Sekundenlang verspürte sie das Bedürfnis, ihre Arme um Max’ Hals zu schlingen, wunderte sich sehr darüber und ließ es natürlich.

  »Kommst du oder gehst du?« erkundigte sich Jutta, denn der Tisch war bis auf ein Mineralwasser leer.

  »Ich gehe. Leider. Hätte ich geahnt, daß ihr kommt…«

  »Dann bleib doch einfach noch so ein bißchen hier!«

  Max tickte jetzt mit dem Zeigefingernagel auf sein Uhrglas. »Dienst!« erklärte er düster. »Und wenn die Pflicht ruft – na, ihr wißt schon.«

  »Dann danke für den Tisch.«

  »Zu irgend etwas muß der Mensch ja nutze sein«, murmelte Max und ging.

  Er überlegte im Hinübergehen zum St. Josefs-Hospital, wie lange Fabians Tod zurücklag. Es mußte sich in Kürze jähren. Und immer noch trug Melanie die schwarze Kleidung. Und immer noch war ihre Haut ohne Farbe, ihr Haar achtlos zusammengezurrt und ihre Augen leer. Das heißt – heute – heute hatte sie eigentlich ein bißchen lebendiger ausgesehen. Es wäre schön. Wäre so sehr zu wünschen. Sie war noch so jung, so jung! Viel jünger als die vierunddreißig, die sie an Jahren alt war.

  Max seufzte. Über das Leid von Melanie Naumann, über die Krankheit von Frau Bauer, zu der er gleich als erstes gehen würde, über seine ungelebte Liebe zu Jutta, über deren Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen, und pauschal eigentlich über den traurigen Zustand der Menschheit und der ganzen Welt.

  »So schlimm?« erkundigte sich der Kollege Merzien, der unbemerkt bereits seit sechs Schritten neben Max ging. Max lachte. Es klang nicht allzu fröhlich.

  »Noch schlimmer, Jupp. Noch viel schlimmer!«

*

  »So!« sagte Mark gewichtig und klopfte die Erde von seinen Händen, »das ist fertig.«

  Voller Stolz betrachtete er das geharkte Beet, ohne zu ahnen, daß Herr Berking in der Dämmerung heimlich nacharbeiten würde. Jetzt aber hielt Berking sich den Rücken, stöhnte über seinen Ischias und anerkannte lobend:

  »Großartig! Ach, Mark, wenn ich dich nicht hätte.«

  Mark Naumann brauchte Lob wie eine Pflanze Wasser. Und er half doch so gerne. Immer und überall und jedem. Besonders gern natürlich dem Nachbarn Berking, mit dem man sich so gut unterhalten konnte.

  »Tu ich doch alles gern für Sie. Ist noch was zu machen bei Ihnen?«

  Berking kratzte mit dem Mützenschirm über seinen bleigrauen Igelschnitt.

  »Na ja, aber ich weiß nicht, ob ich dich nicht zu lange von deinen Schularbeiten abhalte.«

  Eine schmale Knabenhand wischte bagatellisierend durch die Luft. »Null problemo! Also, was ist es?«

  In männlicher Manier schob er die T-Shirt-Ärmel noch weiter hinauf und stemmte die Hände in die Hüften.

  »Die Karnickel…«

  Mark ging das Herz auf, und er mußte sich zusammenreißen, um keinen Freudensprung zu tun. Herrn Berkings Kaninchen waren seine große Liebe.

  »Ja? Was ist mit ihnen?«

  »Nein, nein, laß nur. Ist schon gut. Das schaffe ich schon noch trotz Ischias.«

  Mark reckte sich zu voller siebenjähriger Größe auf. Seine

dunklen Augen – Melanies Augen – wetterleuchteten.

  »Das kommt nicht in Frage! Was, glauben Sie, macht meine Oma mit mir, wenn ich ihr erzähle, daß ich Ihnen nicht geholfen habe?«

  »Ach?« Herr Berking war unvermittelt mehr als interessiert. »Was macht sie denn?«

  »Schimpfen!« Mark reckte das Kinn. »Und sie kann schimpfen, das können Sie mir glauben! Sie sieht nicht so aus, aber auweia, sage ich Ihnen.«

  Herr Berking schien sich für Omis Schimpftalent außerordentlich zu interessieren. Dennoch brachte Mark ganz geschickt wieder das Gespräch auf die Kaninchen.

  Er mußte die Ställe ausmisten, neu einstreuen, die Viecher füttern und, und, und. Eine schweißtreibende Heidenarbeit, weiß Gott. Aber Herr Berking war so nett. Und die Karnickel erst. Er würde wochenlang auf Nachtisch verzichten, wenn nur ein paar, ach, ein paar! Nur zwei von ihnen seine wären!

  Aber – das wußte er schon vom Leben – alles kann man nicht haben. Zum Abschied streichelte er die seidenweichen Felle eines jeden Kaninchens, die weißen waren besonders weich, und murmelte in die wuscheligen Nacken sein: »Tschüs, ihr süßen Süßen, bis morgen dann!«

  Als er die offenstehende Haustür passierte, klingelte in der Diele das Telefon. Mark sah sich um. Herr Berking werkelte hinten bei den Mistbeeten. Ehe er ihm Bescheid gesagt hätte – und ehe er mit seinem Ischias angekommen wäre, würde das Telefon bestimmt aufgehört haben zu läuten. Also lief er ins Haus, nahm den Hörer ab.

  »Hier bei Berking. Mark Naumann am Apparat.«

  Einen Augenblick blieb es still, dann fragte eine dunkle Männerstimme: »Kann ich bitte Herrn Berking sprechen?«

  »Ist es denn wichtig?« erkundigte sich Mark.

  »Oh, ich – nun – ich denke schon.«

  »Na ja, wenn es wichtig ist, dann hole ich ihn natürlich. Das wird aber etwas dauern. Er hat doch wieder so schlimm seinen Ischias.«

  Wieder war da eine sonderbare kleine Stille. Dann: »Hat er das? Das tut mir leid.«

  Durch die Tür sah Mark, wie Herr Berking sich sichtlich mühsam aufrichtete und mit beiden Händen seinen Rücken abstützte. Er sah so leidend aus…

  »Ja, uns auch. Wollen Sie trotzdem, daß ich ihn hole?«

  »Ja, bitte.«

  »Und Sie, Sie warten auch bestimmt? Nicht, daß er mit seinen Schmerzen hierher kommt, und Sie sind dann weg.«

  Ein sonderbar kehliges, für Marks Begriffe reichlich mickriges Lachen kam jetzt durch die Leitung.

  »Ich schwöre, daß ich noch da sein werde. Okay?«

  »Okay, dann hole ich ihn jetzt. Er kann sich ja…« Mark reckte seine schmalen Knabenschultern, »bei mir aufstützen.«

  »Du bist, glaube ich, sehr nett. Wer bist du denn?«

  »Der Nachbar. Ich meine, ein Kind von Herrn Berkings Nachbarn. Wir sind doch die Naumanns.«

  Noch war für Mark Naumann seine Familie der Nabel der Welt und gänzlich unvorstellbar, daß es Menschen gab, die sie nicht kannten. Wenigstens vom Erzählen oder so.

  »Ah ja! Freut mich, dich kennenzulernen, wenn auch nur erst telefonisch.«

  »Freut mich auch, Sie kennenzulernen.« Manieren, erklärte Omi immer, sind es, die den Untergang des Abendlandes verhinderten. Und daß er diesen Untergang keinesfalls unterstützen wollte, war ja wohl klar. »Ich laufe dann jetzt los.«

  »Vielleicht könntest du ja auch einfach rufen?«

  Die Möglichkeit gab es natürlich. Aber…

  »Und auf wen soll er sich dann stützen?«

  »Ach ja! Bitte entschuldige. Ich hatte für einen Augenblick den Ischias vergessen.«

  »Macht ja nichts. Ich hole ihn also.«

  Erst im Trab durch die Gemüsebeete fiel ihm ein, daß er gar nicht gefragt hatte, wer denn da überhaupt am Telefon war. Aber jetzt noch einmal zurücklaufen? Nee. Davon würde das Abendland (was war das überhaupt? Mußte er gleich erst mal fragen!) schon nicht gleich untergehen.

  »Nanu?« Berking kam ihm schon entgegen. »Warum rennst du denn so? Ist was mit den Karnickeln?«

  »Nein, nein, da ist alles in Ordnung. Aber es ist jemand am Telefon für Sie.«

  »So? Wer denn?«

  Mark hielt einladend seine Schultern hoch, auf die Berking sich auch sofort stützte, wobei er »danke« murmelte.

  »Hab ganz vergessen zu fragen«, gestand Mark. »Aber er hat gesagt, daß er wartet, auch wenn es lange dauert.«

  »Warum sollte es lange dauern?«

  »Wegen Ihrem Ischias, hab ich ihm gesagt.«

  Im Weitergehen sah Berking zu Mark hinab. In seinen müden Augen stand viel Zärtlichkeit und auch ein bißchen Rührung. Seit die Naumans vor fünf Jahren seine Nachbarn geworden waren, war seine Einsamkeit nur noch halb so groß.

  »Du bist wirklich ein richtiger Schatz.«

  Und dann waren sie auch schon in der Diele. Eifrig nahm Mark den Hörer auf und rief da hinein: »Hallo, hallo? Sind Sie auch wirklich noch da? Ja? Jetzt kommt Herr Berking an den Apparat.«

  Während der den Hörer nahm und sich meldete, schob Mark umsichtig einen Hocker heran, damit der Ischiasgeplagte sich setzen konnte.

  Das schien auch nötig zu sein, denn Herr Berking war plötzlich leichenblaß. Schade, daß das mit den Manieren so war, aber er hatte eingebläut bekommen, daß man Telefonierende allein zu lassen hatte. Wegen Intim und Atmosphäre oder so. Also ging er hinaus, schloß die Tür hinter sich und setzte sich auf die unterste Treppenstufe. In seiner Hosentasche fand er noch ein verdötschtes Kaugummi, auf dem er genüßlich herumzukauen begann.

  Er sah Fabian mit dem Fahrrad lossausen. Vermutlich für Omi noch irgend etwas zum Abendbrot holen. Zu Hause – er konnte durch die Büsche einen Teil des Rasens sehen – schaukelte Bibi wie wild und sang dabei. Er konnte nicht verstehen, was sie sang, und aus der Melodie wurde niemand bei Bibi schlau. Tonhalten war nicht ihr Ding. Vielleicht lernte sie es ja noch! Also wie lange Herr Berking telefonierte…

  Im selben Moment ging die Tür hinter ihm auf. Mark blickte freundlich hoch und erschrak. Herr Berking war immer noch so blaß! Sich bei Mark abstützend, setzte er sich langsam neben ihn. »Ich glaube«, sagte er dabei, »für heute können wir Feierabend machen.«

  »Jetzt schon?«

  »Ja, mein Junge. Ich – ich bin ziemlich müde heute. Wahrscheinlich gehe ich mal sehr früh schlafen.«

  Dabei war er doch, so Omi, ein Uhu! Immer, wenn sie sich nachts so zwischen eins und zwei ihr Glas Wasser eingoß, sah sie bei ihm noch Licht.

  »Sollen Mami oder Omi vielleicht kommen?«

  Denn die versorgten Herrn Berking, wenn er krank war. Und krank sah er echt aus.

  »Nein, danke. Wirklich nicht nötig.«

  Eine Weile starrten sie in vertrauter Verbundenheit in die sommerliche Pracht des Gartens. Marks Frage, wer denn da eigentlich am Telefon gewesen war, lag so greifbar in der Luft, daß der alte Berking ungefragt und ruhig erklärte: »Das war übrigens mein Sohn, da am Telefon.«

  Mark hätte um ein Haar seinen Kaugummi verschluckt. »Ihr

S o h n ?«

  Das blasse Gesicht von Herrn Berking belebte sich etwas, lächelte sogar ein bißchen. »Ja, mein Sohn.«

  »Ich hab gar nicht gewußt, daß Sie einen Sohn haben.«

  Zwei Amseln spazierten eilig über den Gartenweg, als hätten sie vergessen, daß sie fliegen konnten. In dem alten Apfelbaum rauschte ein leiser Wind, und die Schatten wurden länger. Ein Sommer neigte sich gemächlich dem Ende zu. Noch leuchteten die Dahlien in allen Farben des Regenbogens, noch hatten die herbstkündenden Astern Knospen neben den ersten Blüten, aber schon warf der Ahorn hin und wieder ein angewelktes Blatt zu Boden.

  »Er war auch sehr lange nicht mehr zu Hause.«

  »Aber jetzt kommt er?« fragte Mark erfreut. Er fand es immer wieder erregend, neue Menschen kennenzulernen.

  »Ja, jetzt kommt er.«

  Die Neuigkeit, überlegte Mark, muß ich gleich zu Hause erzählen. Aber dazu brauchte er natürlich weitere Informationen.

  »Wie lange«, er umschlang seine schmutzigen Knie, die abgeschnittenen Fransenjeans waren auch nicht viel sauberer, »war er denn weg?«

  Die Stimme von Herrn Berking klang leicht heiser. Vielleicht hatte er sich jetzt auch noch erkältet!

  »Fast zehn Jahre, mein Junge, fast zehn Jahre.«

  Das war eine Zeitspanne, die Marks Vorstellungsvermögen überschritt. Klar war allerdings, daß es sich in keinem Falle um einen neuen Spielkameraden handelte.

  »War er weit weg?«

  »Zu weit«, murmelte Berking, »viel zu weit.«

  »Wie heißt er denn?«

  »Daniel.«

  »Und wie alt ist er?«

  Endlich lachte Berking wieder in alter, vertrauter Freundlichkeit.

  »Achtunddreißig ist er, Mark. Achtunddreißig! Aber du wirst ihn ja nun bald kennenlernen. Es wäre schön, wenn ihr miteinander auskommen würdet.«

  »Oh!« Mark sprang auf, Fabian kam nämlich schon, ein gefülltes Einkaufsnetz an der Fahrradstange, zurück. »Bestimmt! Ich werde ganz, ganz nett zu ihm sein.« Er reichte Berking seine Hand und vollendete seinen Satz: »Weil er doch Ihr Sohn ist.«

  Es wunderte ihn, daß Herr Berking nicht mehr antwortete, sondern nur trocken schluckte, und ihm einen Klaps auf das Hinterteil gab. Jedenfalls schaffte er es, vor Fabian zu Hause zu sein, weil er den Weg durch die Büsche nahm. Und Bibiane schaukelte immer noch singend. Aber jetzt konnte er wenigstens verstehen, was sie sang: Butter und Salz, Zucker und Schmalz, Rosinen und Mehl – Safran macht den Kuchen gel…

  Typisch! Bibiane dachte immer nur ans Essen.

  Mami kam ums Haus, einen Salatkopf in der einen Hand, ein Messer und Petersilie, Schnittlauch und Zwiebeln in der anderen. Sie lächelte ihm zu. Hach, Mami war so wunderwunderschön, wenn sie lächelte. Und heute hatte sie auch endlich wieder ein schönes Kleid an, mit bunten Streifen und einen wehenden Rock. Nicht mehr diese ollen schwarzen Sachen. Und sie hatte sich – vorgestern erst – die langen Haare abschneiden lassen. Ganz kurz und ganz klasse.

  Und gleich – erst mußte er sich die Hände waschen – gleich würde sie sich sogar noch freuen. Wenn er ihr nämlich erzählte, daß Herr Berking auch einen Sohn hatte. Alle Menschen, die keine Kinder hatten, waren für Mami arme Menschen. Und das stimmte auch. Er wußte das schließlich, denn er war ja ein Kind.

*

  An diesem Abend setzte Melanie sich zum ersten Male wieder an Fabians Schreibtisch, den sie sich früher so oft geteilt hatten. Abends und an den Wochenenden arbeitete Fabian daran, an den Vormittagen Melanie, wenn sie von Leo Walz wieder einen Übersetzungsauftrag für ein Buch bekommen hatte.

  Heute ließ sie sich an dem alten Tisch – sie hatten ihn bei einem Trödler entdeckt und in mühsamer Kleinarbeit restauriert – nieder, um ihrem Leben eine neue Linie zu geben. Wie, das wußte sie noch nicht. Nur eines wußte sie seit gestern abend, als sie allein bis nach Mitternacht auf der Terrasse nachgedacht hatte. Sie würde dieses Haus nicht verkaufen. Es war ihr Zuhause. Hier hatten die Kinder ihre noch zarten Wurzeln. Sie würde sie nicht herausreißen. Sie würde sie wachsen lassen. Denn das wirklich Wichtige, das man seinen Kindern für das Leben geben kann, sind Wurzeln und Flügel.

  Sie lehnte ihren Kopf gegen die hohe Sessellehne und schloß die Augen.

  Was konnte sie einbringen in ihr neues Leben?

  Vierunddreißig Lebensjahre, drei Kinder, eine kleine Rente und ein schuldenbeladenes Haus.

  Was konnte sie tun?

  Arbeiten. Sie beherrschte zwei Sprachen, hatte vor ihrer Heirat in London und Brüssel als Dolmetscherin gearbeitet. Später als Übersetzerin für Leo Walz. Sie konnte maschineschreiben und mit dem Computer umgehen.

  Was konnte sie noch?

  Einen Haushalt führen, einschließlich kochen, putzen, waschen und Kinder erziehen; einen Garten pflegen und bearbeiten, Gemüse und Obst ziehen einschließlich seiner Wintervorratshaltung.

  Gut, aber reichlich wenig, um eine vielköpfige Familie durchzubringen und Hausschulden zu bezahlen.

  Wenig, aber nicht nichts.

  Sie richtete sich plötzlich auf und öffnete die Augen. Warum nur meinen wir Frauen immer, wir könnten nichts oder nicht viel? Mit rascher Hand brachte sie die eben überlegten Fähig- und Möglichkeiten auf ein weißes Blatt Papier. Es füllte sich rasch, und als sie es zum Schluß noch einmal in Ruhe durchlas, dachte sie nicht mehr: Wenig, aber nicht nichts, sondern sie dachte: Eine ganze Menge! Wahrhaftig eine ganze Menge!

  Und, sie stand auf und stellte sich an das Fenster, ich habe noch etwas, ich habe Schneid. Ich habe ihn doch noch, oder? Vor dem nachtdunklen Himmel sah sie ihr Spiegelbild in der Scheibe.

  Es nickte zustimmend.

  Melanie zog die Vorhänge zu und ging die Treppe hinauf. Niemals ging sie schlafen, ohne vorher noch bei den Kindern hineinzuschauen. Auch heute. Um keines aufzuwecken, ließ sie stets die Türen spaltbreit geöffnet, damit das Flurlicht in die Zimmer fiel.

  Bibiane schlief zusammengerollt wie eine rosige Kugel. Sie hatte den Daumen im Mund und sah so zufrieden aus, als träume sie von einem prächtigen Napfkuchen, der nur für sie ganz allein da war. Melanie küßte die warme Kinderstirn, strich das Haar zu-rück und ging zu den Jungens.

  Fabian lag in der Königshaltung unter seiner leichten Decke: Rückenlage, die Arme leicht hochgereckt. Sein helles Haar, ein Erbe seines Vaters, war an den Ansätzen feucht. Das kleine Gesicht wirkte angespannt, der feste Mund geschlossen. Ein Bein war unter der Decke hervorgekommen, und Melanie schob es behutsam zurück. Ihr Großer! Trotz seiner acht Jahre machte er sich bereits Sorgen um die Familie. Und das, dachte Melanie, während sie auf Zehenspitzen zu Marks Bett ging, soll er nicht. Er soll eine Kindheit haben, eine schöne, eine, die ihn durch sein ganzes Leben trägt.

  Bevor sie sich zu Mark hinabbeugte, durchfuhr sie die heiße Erkenntnis, daß sie ihre neu erwachte Kraft aus den Kindern bezog. Aus der Verantwortung für sie, ja, aber mehr noch aus der Liebe zu ihnen.

  Mark, der ihr am ähnlichsten war in seiner dunkeläugigen Sanftheit. Ein kleiner immer bereiter Helfer, fast harmoniesüchtig stets um Ausgleich bemüht, ein Weltverbesserer, ein Gebender, ein Anspruchsloser, der so leicht zu verletzen war. Gott im Himmel, bitte, hilf, daß man seine reine Seele niemals verletzt. Behüte ihn. Und gib mir die Kraft, ihn zu schützen, so lange ich Atem habe.

  Sie zog die Decke bis unter Marks Kinn, küßte seinen warmen, schlafstarren Mund und ging hinaus.

  Unter Hannas Zimmertür war ein Lichtstreifen. Melanie sah auf die Uhr. O nein! Hannas Glas-Wasser-Zeit! So lange hatte sie hinter dem Schreibtisch nachgedacht.

  Sie klopfte an Hannas Tür.

  »Komm nur rein!«

  Hanna, im weißen langärmeligen Nachthemd – sie trug nur weiße langärmelige Nachthemden – saß mit dem Glas in der Hand im Bett.

  »Ich sah Licht bei dir…«

  Hanna stellte das Glas auf den Nachttisch und klopfte einladend auf die Kante ihres Bettes.

  »Und ich habe deinen Rundgang gehört. Was hast du so lange unten gemacht?«

  »Nur etwas nachgedacht, sonst nichts.«

  »Nur ist gut. Und?«

  Sekundenlang sah Melanie in die hellen Augen ihrer Schwiegermutter – Fabians Augen. Nicht so blitzend wie die Fabians, aber mit der gleichen milden Güte. Sie nahm Hannas Hände.

  »Komm«, sagte sie eindringlich, »ich möchte dir etwas zeigen und sagen. Natürlich nur, wenn du nicht zu müde bist.«

  Hanna hatte bereits die Beine aus dem Bett geschwungen. Es waren hübsche Beine, junge Beine, glatt und ohne die Spur auch nur eines einzigen blauen Äderchens. Da Hanna vorwiegend Kleider und Röcke trug, ganz selten Hosen über den strumpflosen Beinen, hatten sie einen sanften bräunlichen Schimmer. Hanna cremte sie ebenso häufig wie ihr Gesicht und ihre Hände.

  »Ältere Leute brauchen nicht mehr so viel Schlaf.« Hanna stand bereits in ihren Pantoletten und angelte nach ihrem Hausmantel.

  »Ein Gerücht. Das sich aber hartnäckig hält.«

  »Stimmt. Aber das war es doch sicher nicht, was du mir sagen wolltest?«

  »Nein.« Melanie hörte fast entgeistert ihrem eigenen leisen Lachen zu. Es kam satt und tief aus dem Bauch heraus. Ein Lachen, ein wirkliches Lachen nach so langer Zeit. Sie fühlte Hannas Blick, dann ihre Hand auf ihrem Arm.

  »Gut so, mein Mädchen. Wie wunderbar, daß ich es miterleben durfte.«

  Impulsiv umarmte Melanie die Mutter ihres Mannes. Dann gingen sie gemeinsam leise die Treppe hinab. Der beschriebene Bogen lag noch auf dem Schreibtisch.

  Hanna nahm ihn in die Hand und Melanie begann zu erzählen. »Und dazu, Hanna, brauche ich deine Hilfe. Ganz allein schaffe ich es nicht. Kann ich auf dich rechnen?«

  Hanna drehte ihren Kopf zu Melanie. »Die Frage war völlig überflüssig. Ich gehöre zu dir und den Kindern wie eure Arme und Beine. Fragt ihr die, ob ihr auf sie rechnen könnt?«

  Wieder mußte Melanie die alte Frau einfach stumm umarmen. »Ich habe schon überlegt«, sagte sie dann an deren Ohr, »ob du nicht vielleicht deine Wohnung aufgeben und ganz zu uns ziehen möchtest.«

  Sie dachte in diesem Moment dabei nicht an Geld, nicht an Hannas zwar nicht große, aber immerhin regelmäßige Rente, aber Hanna dachte daran und plante sie im Geiste bereits in diesen dann fünfköpfigen Haushalt ein. Hanna stöhnte auf, Melanie entfernte sich auf Armeslänge von ihr und sah sie an.

  »Ich dachte schon«, Hanna drehte einen ihrer Schaumstofflockenwickler fester, »du würdest mich nie darum bitten. Ich konnte mich doch nicht anbieten, wie – wie…«

  Weiter kam sie nicht, denn auf ihrer Schulter lag plötzlich Melanies weinendes Gesicht. Das weiße Nachthemd wurde durchnäßt, das Tränennaß erreichte Hannas Haut. Mit gleichmäßigen Bewegungen fuhr Hannas Hand über Melanies kurzes Haar. Irgendwo tief innen spürte sie ein großes Glücksgefühl. Ein Mensch, der wieder lachen und weinen kann, ist ein glücklicher Mensch. In diesem Falle vielleicht: auf dem Wege, ein glücklicher zu werden.

  Ihr Blick ging zu Fabians Foto. Ein lachender Fabian, braungebrannt, offenes weißes Hemd, kräftige Zähne und fröhliche Augen, die verkündeten: Was kostet die Welt?

  Sie verspürte einen unbekannten Schmerz in der Brust, wußte es nicht genau, ahnte aber, daß sie den Verlust ihres einzigen nie überwinden würde. Sie mußte damit leben. Würde damit leben. Er hatte ihr hinterlassen, was er geliebt hatte: Melanie und die Kinder. Sie wurde wieder gebraucht. Ihr kleines, eintöniges Leben in der nicht sehr großen Wohnung, unterbrochen von den gelegentlichen gegenseitigen Besuchen, hatte wieder einen Sinn bekommen. Fast war sie dankbar dafür, hätte es nicht einen solchen Preis gehabt.

  Hanna Naumann hatte ihren Fabian allein aufgezogen. Sein Vater hatte die kleine Familie verlassen, da war Fabian vier Jahre alt gewesen. Er hatte eine Frau gefunden, die reich war und sehr jung. Hanna war vier Jahre älter als er gewesen. Sie hatte sich mit der Scheidung einverstanden erklärt, wenn er ihr das Sorgerecht für Fabian überließ, was Adrian Naumann ohnehin nie beansprucht hätte. Er besaß nicht die Fähigkeit zu tiefen Gefühlen, hielt sich für einen glücklichen, unverwundbaren Menschen. Sein Versprechen, für sie und den Jungen finanziell zu sorgen, hatte er nicht eingehalten. Hanna hatte das niemals eingeklagt, sondern wieder mit dem Nähen begonnen. Sie war eine ganz passable Schneiderin, die in kurzer Zeit wieder über einen kleinen, zuverlässigen Kundenkreis verfügte. Sie lebten nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht. Damit sie ihrem Sohn nicht eines Tages zur Last fallen müßte, hatte sie Monat für Monat in eine Rentenversicherung eingezahlt, die ihr jetzt einen Lebensabend sicherte, mit dem sie zufrieden war. Große Sprünge zu machen, vermißte sie nicht, sie hatte sie nie kennengelernt.