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INHALT

Eine harte Nuss

Das Problem mit unserer Denktradition

Angewandte Hirnforschung

Neurowissenschaften: Wie wir unsere Gehirnregionen am besten nutzen

Frühstück mit Timmy

Psychoneuroimmunologie: Unser Immunsystem denkt mit

Herzensleid

Epigenetik: Wie die Genregulation unser Leben prägt

Vertrauen

Quantenmedizin: Was Gedanken und Gehirnströme steuert

Altes Wissen

Heilung aus dem eigenen Bewusstsein

EINE HARTE NUSS

Wenn Maximilian Knopfer so weitermacht, schaufelt er sich sein eigenes Grab. Seine Frau Theresa dreht ihm den Fernseher ab, als ich eintrete.

Dafür ernte ich einen missmutigen Blick von ihm. Breitbeinig sitzt er in der Mitte der Couch, dem Zentrum dieses vorwiegend dunkelbraun möblierten Wohnzimmers. Rechts von ihm steht eine Schüssel mit Chips. Links von ihm lag die Fernbedienung, die Theresa ihm soeben wegnahm.

So ungefähr stellte ich ihn mir vor, den ehemaligen Herrn Schuldirektor. Die schütteren Haare des 68-Jährigen sind schon völlig ergraut. Der Bauch auffällig gerundet, sonst eher schmächtig, aber mit ausgeprägter Kinnpartie, die auf dieselbe Sturheit hindeutet, wie ich sie von seiner Tochter Klara kenne. Mit einem freundlichen Lächeln gehe ich auf ihn zu und strecke ihm die Hand entgegen. »Guten Tag, Herr Knopfer!«

»Meine Hände sind schmutzig«, meint er, deutet auf die Chips und hebt mir nicht einmal das Handgelenk zum Gruß entgegen.

Theresa erstarrt und möchte augenscheinlich im Boden versinken. Sie hatte mir ihren Maximilian als klug, witzig und charmant beschrieben.

Aber schwierige Patienten bin ich gewohnt. Meine Hand bleibt ausgestreckt. Mit einem Lachen frage ich ihn geradeheraus: »Wollen Sie mich vor den Kopf stoßen?«

Kurz zeichnet sich Verblüffung in seinem Gesicht ab, dann ein Schmunzeln. Er nimmt meine hingestreckte Hand mit seiner Rechten und schüttelt sie.

Als er mich loslässt, kann ich das Fett und die Krümel an meiner Handfläche spüren. »Ihre Hand war wirklich schmutzig«, stelle ich lächelnd fest. »Danke für die Warnung.« Ich blicke mich suchend um, kann keine Servietten auf dem Couchtisch ausmachen.

Theresa errät meine Gedanken und ist flink mit Reinigungstüchern zur Stelle. Im Gegensatz zu ihm ist sie schlank und sehr agil. Bis vor vier Jahren hat sie an einem Gymnasium Deutsch und Latein unterrichtet. Seit sie in Pension ist, hat sie einige neue Hobbys für sich entdeckt. Erst seit sechs Monaten ist sie meine Patientin, ihre Tochter schon seit vielen Jahren. Daher weiß ich bereits recht viel über Maximilian Knopfer. Trotzdem verlangt es meine Professionalität als Ärztin, dass ich seine Krankengeschichte mit ihm persönlich durchgehe. Also frage ich: »Darf ich?«, nehme mir mit frisch abgewischten Händen den Stuhl neben der Couch und setze mich zu ihm.

»Wollen Sie Chips?« Mit schelmisch unschuldiger Miene streckt er mir die Schüssel hin.

»Chips sind ungesund«, halte ich ihm entgegen und greife zu.

Das verblüfft ihn offensichtlich einmal mehr.

Bei anfänglich verschlossenen Patienten agiere ich meistens so. Wenn sie überhaupt zugänglich sind, dann mit Humor. »Sechs von zehn Punkten«, bewerte ich die Chips. »Die Sünde wirklich wert sind die mit extra Chili. Aber die sollten Sie erst probieren, wenn es Ihren Nieren wieder besser geht.« Womit wir beim Thema wären.

Er verschränkt die Arme und lehnt sich zurück.

Ich bitte ihn und Theresa, mich zu unterbrechen, wenn etwas nicht stimmt, und referiere seine Krankengeschichte. Maximilian Knopfer leidet seit Jahren an einer chronischen Niereninsuffizienz, was ihn zunächst nicht beeinträchtigte. Denn selbst wenn, wie bei ihm, bereits mehr als die Hälfte des Nierengewebes nicht mehr funktionstüchtig ist, entgiften die Nieren das Blut noch ausreichend. Die Ursache für seine Nierenerkrankung ist ein seit vielen Jahren bestehender Bluthochdruck. Da ein zu hoher Blutdruck keine Schmerzen verursacht, bemerkte er ihn lange Zeit nicht. Er ging noch nie gerne zum Arzt. »Zum Schluss finden die noch was«, war sein Argument gegenüber Theresa. Ein über Monate und Jahre erhöhter Blutdruck schädigt allerdings die Blutgefäße. Sie verdicken und verengen sich, um dem zu hohen Blutdruck entgegenzuwirken. Dadurch werden die Organe aber nicht mehr ausreichend durchblutet, was wiederum Anlass zum Anstieg des Blutdrucks gibt. Ein Teufelskreis. Bei Maximilian Knopfer waren vor allem die Blutgefäße der Nieren betroffen. Er hat mit der Einnahme der Blutdrucktabletten zu spät begonnen, die Nierenfunktion war bereits beeinträchtigt. Doch immerhin normalisierte sich der Blutdruck wieder, und über eine längere Zeit verschlechterte sich die Nierenfunktion nicht weiter.

Aber seine Knieschmerzen nahmen zu. Wahrscheinlich wegen ungesunder Ernährung und dem bedenklichen Mangel an Bewegung.

An dieser Stelle meines kurzen Referats rümpft er die Nase.

»Ja, Sie sind eine extreme Couch-Potato«, sage ich ihm geradeheraus, aber ohne Vorwurf, und fahre mit den Fakten fort. Seit seiner Pensionierung vor sieben Jahren geht er kaum noch aus der Wohnung und lässt seine seit jeher schwache Muskulatur weiter verkümmern. Vor vier Monaten wurden seine Knieschmerzen unerträglich. Die Untersuchung beim Orthopäden ergab eine starke Abnutzung beider Kniegelenke.

Maximilian Knopfer nahm Schmerztabletten, um schmerzfrei schlafen zu können. Da passierte es: Die Schmerztabletten schädigten die ohnehin bereits angeschlagenen Nieren noch weiter. Ein akutes Nierenversagen war die Folge. Er musste sich im Krankenhaus einer Dialyse unterziehen. Eine vorübergehende Blutwäsche rettete ihn vorerst. Die Nieren erholten sich ein wenig. Maximilian Knopfer ist nun in engmaschiger Kontrolle beim Nierenfacharzt. Eine dauerhafte Dialyse steht im Raum. Das bedeutet: dreimal wöchentlich für mehrere Stunden ins Krankenhaus, um sich dort an einen Apparat für Blutwäsche anhängen zu lassen. Das ist selbst für eine Couch-Potato eine massive Einschränkung der Lebensqualität. »Um das abzuwenden, bin ich hier«, schließe ich meine Ausführungen.

Sein Kommentar besteht in einer wegwerfenden Handbewegung.

Prompt mache ich seine Bewegung nach und frage ihn amüsiert: »Was meinen Sie damit?«

Er zuckt die Achseln. »Mein Nierenarzt ist angeblich der allerbeste. Wenn der mir schon nicht helfen kann, was soll ich dann mit Ihnen?«

»Na etwas zusätzlich ausprobieren«, entgegne ich ihm und zwinkere ihn an. »Aber natürlich können Sie mich auch wegschicken und weiterhin schleichenden Selbstmord begehen«, sage ich leicht und fröhlich. »Es ist Ihr Leben.«

Daraufhin verschränkt er wieder die Arme und schaut an mir vorbei zum Fernseher.

»Was würde Sie wirklich glücklich machen?«, frage ich ihn. »Stellen Sie sich einen möglichst konkreten Moment vor, eine Szene in Ihrem Leben.«

Er schweigt.

»Wir können auch mit einer anderen Frage beginnen: Wovor haben Sie die meiste Angst?«

»Was soll das werden?«, fragt er mürrisch. »Eine Psychotherapie?«

»Nein. Ich will Ihnen die Art des Denkens vermitteln, die Ihre Gesundheit positiv beeinflusst.«

»Also Esoterik.«

»Nein. Knallharte Wissenschaft. Ich bin nämlich Pathologin. Wir Pathologen sind die mit dem Mikroskop, die sich Ihr kaputtes Nierengewebe anschauen. Wir nehmen es mit der Wissenschaft sehr genau.«

Darauf weiß er keine Antwort. Wieder lehnt er sich zurück, schaut an mir vorbei und schweigt.

»Ein Anfang wäre, sich einzugestehen, dass Sie wirklich Angst vor der dauerhaften Dialyse haben«, sage ich ihm. »Sie haben solche Angst, dass Ihre Frau es tatsächlich geschafft hat, Sie zu diesem Termin mit mir zu überreden. Obwohl Sie sich eigentlich nur in Ihrem Unglück eingraben und gar nicht mit mir reden wollen. Und weil Sie das nicht wollen …«, ich erhebe mich und strecke ihm die Hand hin, »… gehe ich jetzt wieder.«

Theresa wird schlagartig kreidebleich. Regelrecht angefleht hat sie mich um diesen Hausbesuch.

Ich weiß, ich bin ihre letzte Hoffnung. Aber so wird das nichts. Ihr Mann muss meine Hilfe von sich aus wollen. Sonst kann ich nicht mit ihm arbeiten. Da er meine Hand nicht ergreift, ziehe ich sie zurück. »Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute. Wenn Sie es sich anders überlegen, würde ich mich freuen.« Ich drehe mich um und gehe zur Tür.

Theresa kommt mir nach, geleitet mich durch das Vorzimmer zur Wohnungstür. »Ich geniere mich so sehr«, flüstert sie. »Er ist wirklich kein schlechter Mensch, wissen Sie?« In ihren Augen glitzern Tränen. »Er ist nur so verbittert.«

Ich lege meinen Arm um sie. »Versuchen Sie nicht mehr, ihn zu überreden. Es muss von ihm kommen.«

Sie nickt und wischt sich die Augen. »Mein Maximilian schafft das.«

Ich nehme ihre Hände und drücke sie. »Ich drücke Ihnen fest die Daumen.«

Wer glaubt, ein Patient wie Maximilian Knopfer sei ein extremer Fall, der irrt. Solche Fälle sind relativ häufig. Patienten wie Maximilian Knopfer ziehen sich im Endstadium ihres Leidensweges so weit wie möglich aus dem sozialen Leben zurück. Damit entziehen sie sich unserer Wahrnehmung. Es sind all jene, die im Grunde davon überzeugt sind, ihre Krankheit sei Schicksal. Die Gene seien eben schlecht. Oder die Krankheit sei eben Pech.

Es beginnt mit einem Schicksalsschlag. Wie bei Maximilian Knopfer. Dass sein Blutdruck unbemerkt die Niere zerstört, ist schon schlimm genug. Genau diese Patienten erhalten im Laufe der Zeit weitere Schicksalsschläge. Bei Maximilian Knopfer sind es die Knieprobleme, das akute Nierenversagen und obendrauf noch die drohende Dialyse. Das ist wirklich unfair.

Solche Patienten fragen sich: Womit habe ich dieses Pech verdient? Sie lassen sich in ihr Unglück fallen und unternehmen von sich aus keine nennenswerten Anstrengungen, um wieder gesund zu werden. Sie wollen behandelt werden, und fertig. Für ihre Gesundheit sind die Ärzte zuständig. Wenn diese nicht weiterwissen, dann ist das das Ende. Diese Patienten glauben einfach nicht daran, dass sie selbst maßgeblich über die Maßnahmen der Experten hinaus zu ihrer Gesundheit beitragen können. Manche hadern mit den versäumten Chancen. Sie hätten früher etwas für ihre Gesundheit tun sollen. Dass sie in der Gegenwart immer noch viel tun könnten, kommt ihnen nicht in den Sinn. Maximilian Knopfer hätte früher seine Muskulatur stärken sollen. Jetzt ist es für ihn wegen der Knie zu spät. Jede Bewegung schmerzt. Patienten wie er ergeben sich in ihre Krankheit und sind dabei verbittert über ihr Schicksal. Das sind die passiven Opfer.

Bei ihnen wird das Schicksal Krankheit zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Ihre Maßnahmen, um wieder gesund zu werden, bleiben bestenfalls halbherzig. Daher wird die Krankheit oft schwerer und schwerer. Die weiteren scheinbaren Schicksalsschläge sind in Wahrheit nichts anderes als die Folge des ersten, mit dem sich die Patienten noch irgendwie arrangieren konnten. Maximilian Knopfer nahm blutdrucksenkende Medikamente. Aber wirklich etwas für seine Gesundheit getan hat er nicht. In der Folge verschlechterte sich die Situation.

Diese Patienten bekommen es schließlich mit der Angst zu tun. Angst vor bleibenden Schäden, dauerhafter Behinderung und Einsamkeit. Sie fühlen sich ohnmächtig und schlittern immer tiefer in eine depressive Verstimmung. Viele haben sogar den Tod vor Augen. Mitunter erscheint er ihnen lohnenswerter als das Leben. In dieser Situation verschließen sie sich immer weiter und machen damit ihr Schicksal übermächtig. Am Ende fühlen sie sich ganz allein. Scheinbar kann sie niemand verstehen, niemand kann ihnen mehr helfen.

Maximilian Knopfer kann von Glück reden, dass er eine geduldige und treue Seele wie Theresa an seiner Seite hat. Allerdings kann er nicht sicher sein, wie lange sie diese extreme Belastung noch aushält. Denn sein passives schicksalsergebenes Verhalten ist gegenüber Theresa äußerst grausam.

Dass ich bei ihm von schleichendem Selbstmord spreche, meine ich nicht nur im übertragenen Sinne. Maximilian Knopfer steuert immer tiefer in die Katastrophe. Das geschehen zu lassen, ist ein Selbstmord in Etappen. Im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung haben Dialysepatienten eine bis zu zwanzig Jahre kürzere Lebenserwartung. Ein 68-jähriger Dialysepatient hat im schlimmsten Fall nur noch wenige Jahre zu leben. Das weiß auch Maximilian Knopfer. Theresa sagte es ihm schon oft. Sie kommt hin und wieder zu mir, erzählt mir von seinem sich verschlechternden Zustand, von dem, was die Ärzte sagen. Dass Theresa dennoch voller Lebensenergie ist, freut mich jedes Mal. Sie jammert und klagt nicht mehr. Sie geht mehrmals wöchentlich ihrem Fitnessprogramm nach, hat Freude an ihren drei Enkelkindern und an Treffen mit ihren Freundinnen.

Bevor sie zu mir kam, hatte sie es mit positivem Denken probiert. Sie versuchte, sich einzureden, dass mit ihrem Mann alles gut wird. Das machte sie jedoch nur umso verzweifelter. Jede kleine Verschlechterung des Zustandes von Maximilian war eine riesige Enttäuschung. Die enttäuschte Hoffnung auf Besserung war jedes Mal niederschmetternd.

Dass positiv denken nicht funktioniert, wissen wir aus etlichen Untersuchungen. Positives Denken setzt sich über die Realität hinweg und verdrängt, wie wir uns in einer Situation gerade fühlen.

Theresa hatte größte Angst, dass der Zustand von Maximilians Nieren über die Schwelle kippt, wo er unabänderlich zum Dialysepatienten wird. Es macht überhaupt keinen Sinn, sich einzureden, sie hätte diese Angst nicht. Ganz im Gegenteil.

In einem ersten Schritt brachte ich Theresa bei, diese Angst und die damit verbundene Aufregung zuzulassen, der Angst und der Aufregung Raum zu geben. Das bedeutet ein Eingeständnis und eine Anerkennung dessen, was gerade ist.

Sehr starke Emotionen blockieren uns. Theresa erzählte mir anfangs, sie fühle sich ständig wie benommen, manchmal auch wie auf einem schwankenden Schiff, ohne festen Boden unter den Füßen. Starke Emotionen benebeln den Geist. Umso mehr, wenn die Emotionen über Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre unterdrückt werden. Dann fließt so viel Energie in die Unterdrückung der Gefühle, dass fasst keine Energie mehr für den Alltag, geschweige denn klare Gedanken übrig bleibt. Die Unterdrückung birgt außerdem eine besondere Gefahr: Angst und Aufregung können zuweilen wie Vulkane ausbrechen und alles zerstören.

Auch Theresa hat einen solchen Ausbruch erlebt. Damals hätte sie ihren Maximilian beinahe verlassen. Nur der moralische Anspruch an sich selbst hielt sie davon zurück. Ihn in dieser Situation im Stich zu lassen, hätte sie mit einem schlechten Gewissen erfüllt. Auf Anraten ihrer Tochter kam sie dann zu mir.

In dieser Situation lautet meine Anleitung für Theresa, folgende Gedanken zu verinnerlichen, sie also ganz tief zu spüren: »Meine Angst und meine Aufregung sind eine vollkommen adäquate Reaktion auf eine für mich bedrohliche Situation mit ungewissem Ausgang. Damit bin ich mir gegenüber positiv eingestimmt. Ich gebe mir selbst, was ich mir als Kind von meinen Eltern gewünscht habe: Verständnis und das Gefühl, in Ordnung zu sein.«

Das Ergebnis des ersten gedanklichen Schritts besteht also darin, mit den eigenen Emotionen eine friedliche Koexistenz zu finden, um zur Ruhe zu kommen. Erst auf Basis dieser inneren Ruhe können wir klare Gedanken fassen und einen möglichst gesunden Umgang mit Problemen finden.

In einem nächsten Schritt entwickelt Theresa mit meiner Hilfe eine Vorgangsweise, die für sie passt und sie möglichst wenig belastet. Denn sie weiß: Das ist das Beste, was sie in dieser schwierigen Situation tun kann.

Sie negiert den dramatischen Zustand ihres Mannes nicht. Sie umsorgt ihn, weil er seine Knie schonen soll, und lindert sein Leiden, so gut sie es vermag. Aber sie lässt sich von seiner depressiven Verstimmung nicht anstecken. Sie ist genauso wie ich überzeugt: Das wäre das Ende. Also gönnt sie sich ihr eigenes Leben und unternimmt Dinge, die ihr Spaß machen. Aber sie sitzt auch gerne mit Maximilian vor dem Fernseher. Sie lässt es sich auch nicht nehmen, ihre Tochter und ihre Enkelkinder zu besuchen, obwohl Vater und Tochter im Streit leben. Das müssen die beiden miteinander ausmachen. Diese klare Linie gibt ihr Halt.

Sie hadert auch nicht mehr mit seinem Gesundheitszustand. Es ist so weit gekommen. Punkt. Es ist kontraproduktiv, sich deswegen zu grämen.

Indem sie ihren Lebenswillen seinem lebensfeindlichen Verhalten entgegenstellt, ihm auch selbstbewusst ihre Freude am Leben zeigt, lebt sie ihm vor, wie ein besseres Leben auch für ihn ausschauen könnte.

Noch etwas habe ich ihr beigebracht: Sie hat ein ganz konkretes Zielbild auf dem Weg in eine bessere Zukunft entwickelt. Dieses Zielbild sieht so aus: Maximilian geht mit ihr zur Behandlung in meine Praxis. Trotz seiner Knieschmerzen verlässt er seine Wohnung. Er schafft das aus eigenem Willen. Sie stützt ihn auf dem Weg zu mir. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie mich an der Eingangstür meiner Praxis. Dieses Bild in ihren Gedanken, wie ich sie gemeinsam in Empfang nehme, macht sie zutiefst glücklich.

Es ist durch wissenschaftliche Studien belegt, dass solche konkreten emotional positiv besetzten Zielbilder den Heilungsprozess von Krankheiten maßgeblich unterstützen. Sie unterstützen erst recht dabei, selbst nicht krank zu werden. Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um fromme Hoffnungen, die täglich enttäuscht werden, wenn sie sich nicht realisieren. Es handelt sich nicht um ein positives Denken im Sinne von: Alles wird gut. Ob sich das Zielbild tatsächlich realisiert, ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass das Zielbild in einer rundherum unglücklichen Situation Glücksgefühle und Kraft spendet. Dadurch wird Theresa handlungsfähiger und kann auf die Verwirklichung des Zielbilds wesentlich besser hinarbeiten.

Drei Monate nach meinem Hausbesuch bei den Knopfers erhalte ich einen Anruf von Theresa. Sie ist ganz aufgeregt. Maximilian meinte, es sei lächerlich, dass sich die eigene Gesundheit mit Gedanken beeinflussen ließe. Die wissenschaftlichen Studien möchte er sehen, die so etwas angeblich belegen könnten.

In diesem Moment kann auch ich mir einen Jubelschrei nicht verkneifen. Nach meiner Arbeit im Pathologielabor setze ich mich sofort an den Computer und suche Studien aus den verschiedenen wissenschaftlichen Fachrichtungen zusammen. Maximilian Knopfer war Schuldirektor, ist also intellektuell durchaus in der Lage, aus den in der Regel englischsprachigen Studien weiterführende Schlüsse zu ziehen, die auf ihn selbst zutreffen. Dennoch schreibe ich hie und da auch erläuternde Kommentare dazu.

Irgendwann spät in der Nacht wird mir, noch immer vor dem Computer sitzend, etwas bewusst: Es gibt kein Buch zu diesem Thema. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Blitz. Noch hat sich niemand die Mühe gemacht, dieses für Heilungsprozesse und für das Gesundbleiben so wichtige Wissen zusammenzufassen und in einer zugänglichen Weise zu verbreiten.

Die Studien sind quer durch verschiedenste, teilweise sehr junge medizinische Forschungsrichtungen verstreut. Da wimmelt es nur so von Nobelpreisen. Trotzdem dringt nicht zur breiten Bevölkerung durch, was diese Forschungsergebnisse für ungeheure Auswirkungen haben. Sie betreffen unser ganzes Denken über Medizin und Heilung. Die genialen Spezialisten bemühen sich offensichtlich kaum darum, ihr Wissen auch für medizinische Laien verständlich zu machen.

Diese Nacht arbeite ich durch. Ich durchforste das Internet nach allen möglichen Buchtiteln, die sich mit Heilkraft der Gedanken beschäftigen. Unter den deutschsprachigen Publikationen finde ich gar nichts von dem, was mir vorschwebt. In der englischsprachigen Literatur finde ich eine kleine Handvoll Bücher mit zaghaften Ansätzen, wissenschaftliche Erkenntnisse zur Begründung der heilenden Kraft der eigenen Gedanken heranzuziehen.

Zumeist beschreiben die Autoren nur persönliche Erfahrungen, die nicht allgemein anwendbar sind. Oder sie versuchen, traditionelles Wissen in eine moderne Form zu bringen, leider ohne wissenschaftliche Belege.

Dabei gibt es bereits Studien, die darauf schließen lassen, warum manche Methoden des heilenden Denkens wirklich funktionieren und andere wiederum nicht. Erst aus diesem Wissen lässt sich ableiten, was in welcher Situation funktionieren kann. Das ist viel mehr als bloße Autosuggestion und geht über positives Denken weit hinaus.

In den frühen Morgenstunden schicke ich eine E-Mail mit mehreren Studien und einigen Ausführungen dazu an die Knopfers. Ich bin elektrisiert.

Unter der Woche sitze ich die meiste Zeit am Mikroskop und begutachte Gewebeproben. In dem von mir 2009 gegründeten Labor in Straubing in Bayern bin ich Arbeitgeberin für mehrere Mitarbeiter. Am Wochenende habe ich meistens noch ein paar ärztliche Beratungsgespräche in Straubing oder in meiner Heimatstadt Wien, wo ich oft meine Wochenenden verbringe. Früher hatte ich in Wien auch eine Praxis als Ärztin für Allgemeinmedizin. Dort begann ich auch mit Behandlungen nach den Methoden der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Insbesondere die chinesische Kräuterheilkunde praktiziere ich auch heute noch bei Bedarf. Über einen Mangel an erfüllender Tätigkeit kann ich daher wirklich nicht klagen.

Ich verspürte auch nie den Wunsch, Autorin zu werden. Ja, zugegeben, hie und da arbeite ich bei wissenschaftlichen Studien mit, die hoffentlich für ein paar Spezialisten interessant sind. Aber ein Buch zu schreiben, noch dazu für ein breiteres Publikum, das lag mir wirklich fern.

Der Effekt, den meine E-Mail auf Theresa und Maximilian Knopfer hat, spornt mich allerdings an. Schon am Mittag desselben Tages ruft mich Theresa an. Ihr Mann möchte kurz mit mir sprechen. Wann ich denn Zeit für ein paar Worte hätte.

Die Zeit nehme ich mir gleich.

Maximilian Knopfer bittet mich um Verzeihung für sein abweisendes Verhalten letzthin und fragt mich, ob ich ihn immer noch als Patient akzeptieren würde.

Der Rest ist Geschichte. Das Zielbild von Theresa geht in Erfüllung. Gestützt auf sie kommt er zu mir in Behandlung. Seine Einstellung zu sich selbst und seiner Krankheitsgeschichte hatte sich davor schon verändert. Der entscheidende Impuls war die E-Mail mit den Studien. Die Möglichkeiten, die ihm noch bleiben, um trotz allem ein lebenswertes Leben zu führen, erarbeiten wir auf dieser Basis gemeinsam. Maximilian Knopfer versöhnt sich daraufhin mit seiner Tochter, sieht seine Enkelkinder wieder und hat mit ihnen das Singen für sich wiederentdeckt. Er ist kein Dialysepatient und unternimmt alles, damit das auch so bleibt. Nur seine Knieprobleme sind ihm geblieben. Eine Operation erachten die Ärzte wegen seiner Nieren als zu riskant. Das hält Maximilian Knopfer jedoch nicht davon ab, mit Krücken und Kniestützen mit Theresa ins Theater und ins Kino zu gehen und sogar mehrmals wöchentlich kleine Spaziergänge zu unternehmen.

Seither erkläre ich meinen Patienten immer wieder auch gerne die wissenschaftlichen Hintergründe, wenn ich sie motivieren möchte, ihre Einstellungen zu sich selbst und zu ihrer Krankheit zu verändern. Daher ließ mich die Idee für dieses Buch nicht mehr los. Allerdings fand ich keine Zeit, es zu schreiben. Schließlich wollte ich in meiner spärlichen Freizeit auch meine familiären Beziehungen pflegen und meine Sozialkontakte leben. Es wäre auch tatsächlich nie zu diesem Buch gekommen, hätte ich einfach meinen Mund gehalten. Aber alle Menschen, denen ich von der Idee erzählte, fanden sie großartig. Auch der Verleger, der mir – es kam, wie es kommen musste – bald vorgestellt wurde, wollte die Idee auf Anhieb verwirklicht sehen. Das traf mich unerwartet. Selbst J. K. Rowling musste mit Harry Potter bei unzähligen Verlagen hausieren gehen.

Kurzum: Ich hatte bald keine Ausrede mehr. Ich musste dieses Buch schreiben. Das bedeutete für mich zunächst Rückzug. Die meisten Menschen in meinem Umfeld bekamen mich monatelang überhaupt nicht mehr zu Gesicht. An den Wochenenden konnte ich auch kaum noch Patienten betreuen. So viel war mir im Vorhinein klar.

Allerdings hatte ich keine Ahnung, was mit diesem Buchprojekt sonst noch auf mich zukommen würde. Die Heilkraft der Gedanken war seit jeher so etwas wie mein Steckenpferd. Immer wieder habe ich bemerkenswerte Studien zu diesem Thema gefunden und gesammelt.

Aber für das Buch musste ich weiter in die Tiefe gehen. Ich musste zurück zu den Ursprüngen verschiedener Forschungsrichtungen gehen, um mit möglichst einfachen Worten die vielen Fortschritte erklären zu können.

Dabei, ich gebe es zu, war ich mitunter selbst überrascht. Einige wissenschaftliche Ergebnisse erscheinen auch mir wirklich ungeheuerlich. Vieles betrifft die Grundlagen der Medizin. Vieles, was ich vor rund 25 Jahren noch im Studium lernte, ist inzwischen überholt, wird aber vielfach in der medizinischen Praxis noch gar nicht infrage gestellt.

Anscheinend verbreitet sich dieses neue gesicherte Wissen selbst in Fachkreisen nur sehr langsam. Vielleicht weil es zu sehr an den Grundfesten der Medizin rüttelt und ein grundsätzliches Umdenken erfordert.

Aber jetzt erst einmal ganz langsam. Damit wirklich verständlich wird, wie sehr die neuen Erkenntnisse unser Denken über Medizin und Heilung verändern sollten, beginnen wir bei unserer Denktradition.

DAS PROBLEM MIT UNSERER DENK­TRADITION

In der europäischen Denktradition steckt ein Grundproblem, das uns alle betrifft und auch die naturwissenschaftlich geprägte Medizin bis heute schwer belastet: Die meisten Menschen glauben an die Trennung von Körper und Psyche.

Unter der Psyche verstehen wir üblicherweise das menschliche Denken und Fühlen. Die Psyche eines Menschen macht seine geistigen Eigenschaften und seine inneren Persönlichkeitsmerkmale aus. Dass wir in Europa die Psyche als vom Körper getrennt betrachten, hat seine Wurzeln in der kirchlichen Trennung von sündigem Körper und unsterblicher Seele. Diese Trennung zieht sich durch die europäische Philosophie und die Naturwissenschaften.

Der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) prägte ein Bild des menschlichen Körpers, das in der Medizin bis heute vorherrscht. Der menschliche Körper sei wie ein funktionierendes Uhrwerk. Zusammengesetzt aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut. Den kranken Menschen verglich Descartes hingegen mit einer Uhr, deren Uhrwerk nicht mehr richtig läuft. Nach seiner Auffassung existierten Körper und Seele voneinander unabhängig. Er begründete den sogenannten Körper-Seele-Dualismus. So wie die Kirche strikt den sterblichen Körper von der unsterblichen Seele trennte.

Zeitgleich wirkte der italienische Universalgelehrte Galileo Galilei (1564–1642). Von ihm stammt die Aussage: »Messen, was messbar ist. Messbar machen, was nicht messbar ist.« Dementsprechend hat sich die Wissenschaft seither auf jene Dinge konzentriert, die sie messbar machen konnte. Das Messen von Gedanken hingegen stellt uns nach wie vor vor große Herausforderungen.

Der englische Naturforscher Isaac Newton (1643–1727) begründete die klassische Physik. Er brachte 1687 ein Werk über die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie heraus. Darin formulierte er die Gravitationsgesetze und die Bewegungslehre.