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Über den Autor

Martin Balluch, Jahrgang 1964, studierte Astronomie, Mathematik und Physik in Wien und ging 1989 an die Universität Cambridge. In England schloss er sich der Tierrechtsbewegung an und durchlebte acht wilde Jahre. 1997 zurück in Österreich, beendete er seine akademische Laufbahn und begann den Verein Gegen Tierfabriken aufzubauen, den er 21 Jahre später noch immer leitet. Von Martin Balluch sind bei Promedia erschienen: »Widerstand in der Demokratie« (2009, 3. Auflage 2015), »Tierschützer. Staatsfeind« (2011, 2. Auflage 2014) und »Der Hund und sein Philosoph« (2014, 2. Auflage 2015).

Vorwort

Nein, Sie halten keine Autobiografie von mir in Händen. Zwar ist die Geschichte der Hauptperson des Buches an meine Lebensgeschichte angelehnt, doch stimmt einiges nicht überein. Und dennoch, alles in diesem Buch ist insofern wahr, als dass jede beschriebene Aktivität genau so stattgefunden hat, wie hier dargestellt. Aus meinem Archiv könnte ich alle Daten, wie Ort, Zeitpunkt und Namen der Protagonisten und Protagonistinnen zu jedem Vorfall heraussuchen. Nichts ist übertrieben, nichts ist erfunden. Fiktiv sind dagegen sowohl die auftretenden Charaktere als auch die Chronologie der Ereignisse. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden Personen ist rein zufällig.

Die Tierrechtsbewegung in England in den 1980er-, 1990er- und frühen 2000er-Jahren war wild. Es lag eine revolutionäre Stimmung in der Luft. Die öffentliche Meinung, die Medien und die Justiz wurden ignoriert. »There is no justice, just us«, war der Slogan. Man begann in einer abgeschlossenen Blase zu leben, die sich verselbstständigte und ihre eigene Realität entwickelte. Die Gefahr durch die Entfremdung vom Rest der Gesellschaft wurde viel zu spät erkannt.

Die brutalen Gewalttaten gegen die Aktivisten und Aktivistinnen werden genau so dargestellt, wie sie wirklich geschehen sind. Und es gab noch deutlich mehr. Weil die Öffentlichkeit zunehmend weniger Verständnis und Sympathie für die Tierrechtsbewegung hatte, wurden deren Akteure und Akteurinnen zu Freiwild. Einige hat man ermordet, andere landeten für mehr als 10 Jahre im Gefängnis. Auch das ist Teil dieser Geschichte.

Martin Balluch,
Wien, im September 2018

Kapitel 1.
Animal Welfare oder Animal Warfare

Noch zehn Autos, dann stehe ich an der Grenzkontrolle. Eine lange Schlange von PKWs kriecht Schritt für Schritt in den Bauch des Zuges hinein, der gleich in dem erst kürzlich fertiggestellten Tunnel unter dem Ärmelkanal von England nach Frankreich fahren wird. Doch bevor es soweit ist, werden Grenzwachebeamte noch meinen Pass kontrollieren. Und das ist brandgefährlich.

Noch neun Autos. Es gibt einen aufrechten Haftbefehl gegen mich. Wenn die Grenzer meinen Ausweis in ihren Computer einlesen, dann werde ich mit Sicherheit mitgenommen. Dann ist es aus mit meiner Freiheit. Leise prasselt der Regen auf das Autodach. Ich habe absichtlich Schlechtwetter und eine späte Nachtstunde für meinen Grenzübertritt gewählt, in der Hoffnung, dass die Beamten dann keine Lust auf detaillierte Kontrollen haben. Doch das scheint sie bei den Fahrzeugen vor mir nicht davon abzuhalten, in den Gepäckraum zu schauen und viele Fragen zu stellen.

Aber welcher andere Weg als mit dem Zug durch den Tunnel wäre mir geblieben? England liegt auf einer Insel. Hier komme ich nur mit dem Flugzeug oder dem Schiff weg. Für beides hätte ich meinen Namen angeben müssen. Da versuche ich doch lieber hier mein Glück mit dem PKW.

Noch acht Autos. Die Nervosität steigt, ich spüre einen Druck in der Magengrube. Na ja, lieber Paul, denke ich mir, hättest du dich nur nicht in diese Situation begeben. Welche Situation eigentlich? Wann hat die Situation begonnen, in der ich mich jetzt befinde, und ab wann war es zu spät, wieder herauszukommen? Irgendwie bin ich da hineingerutscht, ohne dass ich es je an einer bestimmten Stelle bewusst entschieden habe. Angefangen hat alles bereits mit meinem Abflug von Wien nach London vor acht Jahren.

»Lift off«, dröhnte es aus dem Lautsprecher, als die Räder unseres Flugzeugs den Boden verließen. Jetzt musste ich mich daran gewöhnen, Englisch reden zu hören, Englisch zu sprechen, und eines Tages auch Englisch zu denken. Ich war auf dem Weg nach Großbritannien, um dort an der Universität Cambridge einen Job als Universitätsassistent am Institut für Angewandte Mathematik und Theoretische Physik anzunehmen. Es handelte sich um jenes Institut, an dem der berühmte Physiker Stephen Hawking forschte und lehrte. Neben seinen großartigen wissenschaftlichen Leistungen war Hawking dafür bekannt, wegen einer Muskelkrankheit an den Rollstuhl gefesselt zu sein. Man hatte ihm schon vor drei Jahrzehnten nur noch wenige Jahre zu leben gegeben. Doch er war noch immer mit ungeheurer Kraft bei der Sache. Und ich würde morgen früh bei ihm am Institut zu arbeiten beginnen. Ein aufregendes Abenteuer erwartete mich!

Ich war seit Beginn meines Studiums von Mathematik und theoretischer Physik begeistert. Mir scheint, dass diese Disziplinen uns so viel mehr über die objektive Realität lehren können als jede andere Wissenschaft. Die letzten fünf Jahre hatte ich fast schon fanatisch dem Studium geopfert. Meine Dissertation war als beste meiner Fakultät für den Ruprecht-Karls-Preis der Universität Heidelberg in Deutschland nominiert worden. Magna cum laude hatte ich abgeschlossen, meine Diplome in Mathematik und Astronomie an der Universität Wien jeweils mit Auszeichnung beendet. Nichts konnte mich davon abhalten, nun in das Zentrum der wissenschaftlichen Welt in meinem Fachbereich zu gehen und dort direkt an der Quelle von den besten Wissenschaftlern der Welt zu lernen. Auch meine Freundin nicht.

Ich musste Alice zurücklassen. Schweren Herzens. Aber diese Chance gibt es nur einmal im Leben. Verständnis hatte sie dafür keines, aber mitgekommen war sie auch nicht. Sie habe ihr eigenes Leben, meinte sie, und natürlich konnte ich das nachvollziehen. Ihr Leben war die Kunst, und da ist man in Wien besser aufgehoben als in Cambridge.

Drei Jahre lang hatten wir eine sehr schöne Beziehung. Was hieß »hatten«, wir könnten ja eine Fernbeziehung führen. Sie fehlte mir jetzt schon sehr und ich wollte ihr sofort nach der Ankunft schreiben. Sie aber sah das etwas anders. Ohne körperlichen Kontakt sei das keine Beziehung mehr, meinte sie, sich nur alle paar Monate einmal zu sehen sei ihr zu wenig. Ich dürfe nicht erwarten, dass sie mir treu bliebe. Bei diesem Gedanken schnürte sich mir das Herz zusammen. War es wirklich richtig, trotzdem nach England zu gehen? Meinem Naturell entsprach das jedenfalls nicht. Eigentlich bin ich ein sehr verwurzelter Mensch, will dort bleiben, wo ich immer war. Vor allem in meinen Bergen.

Ja, die Berge, das ist der zweite große Grund neben Alice, der mich jetzt still weinen ließ. Meine geliebten Berge! Schon seit frühester Kindheit wollte ich nichts lieber tun, als draußen in der Natur zu sein. Sicher, ich klettere auch mit Begeisterung in Fels und Eis, besteige vergletscherte Gipfel und befahre Steilflanken mit den Ski, aber das Wichtigste ist mir, einfach draußen zu sein, am besten im Wald. In einem ursprünglichen Wald allerdings, nicht in diesen Fichtenmonokulturen, die man fast überall findet. Ich brauche eine Vielfalt von alten und jungen Bäumen, von Pflanzen verschiedenster Arten im wilden Chaos zusammengewachsen. Nichts ist schöner, als in einem Urwald am Moosboden zu liegen und den Geräuschen zu lauschen, die Gerüche einzuatmen und das beruhigende Grün in allen Schattierungen auf sich wirken zu lassen.

Als ich sieben Jahre alt war, wollten meine Eltern mich erstmals über Nacht alleine zu Hause lassen. Sie drehten ein kleines Schlaflicht an und versicherten mir, dass nichts passieren werde. Dann kam der Abend und mit ihm die Dunkelheit, und eine unheimliche Geräusch­kulisse. Der Kasten knarrte schauerlich und in der Zimmerecke dahinter, wo das Nachtlicht seinen Schatten hinwarf, schien plötzlich ein Mann zu stehen. An schlafen konnte ich nicht mehr denken. Die Decke über den Kopf zu ziehen war keine Option, ich war mir sicher, dass der Mann sofort hervorkommen würde, wenn ich nicht hinschaute. Also stand ich auf, zog mich an und verließ die Wohnung. Ich ging direkt hinaus in den dunklen Wald. Dort fühlte ich mich geborgen, dort war ich zu Hause. Ich legte die mitgebrachte Decke auf den Boden und mich darauf. Auch hier gab es Geräusche, ein Rascheln im Gebüsch, ein Rauschen der Blätter im Wind. Aber ich hatte das Gefühl, in einem Versteck zu sein. Hier gab es keine bösen Einbrecher. Die waren in den Häusern der Menschen. Hier gab es nur Tiere, mit denen ich mich verbunden fühlte. Schon bald war ich eingeschlafen.

Mit vier Jahren hatten mich meine Eltern erstmals auf eine große Bergtour auf den Hochobir in den Karawanken nach Kärnten mitgenommen. Wir übernachteten auf der Eisenkappler Hütte. Damals konnte man noch nicht mit dem Auto bis dorthin fahren, wie heute. Genaue Erinnerungen an diese Tour habe ich nicht mehr, außer, dass sie für mich wunderschön war. Sie sollte der Beginn einer lebenslangen Liebesbeziehung zu den Bergen werden. Und nun ließ ich die Berge einfach so zurück, um mich der Wissenschaft zu widmen. Gerade jetzt zogen sie unter mir vorbei, deutlich zu sehen. Mir war, als würden sie mir zum Abschied zuwinken. Sie würden mich nicht vergessen und nie verstoßen. Im Gegensatz zu Alice.

Das Flugzeug flog nun über den Ärmelkanal und verließ Kontinentaleuropa. Da unten lag die Insel, die nun bis auf weiteres meine neue Heimat werden sollte. Das erzeugte in mir gemischte Gefühle. Ja, ich war neugierig auf diese Hochburg der Wissenschaft in Cambridge und ich wollte mich voller Begeisterung der mathematischen Forschung widmen. Aber nein, ich wollte nicht fort von meiner Freundin, fort von meinen Bergen, fort von allen Menschen, die ich kannte, in eine völlig fremde Gegend, in der mir niemand vertraut war. Hätte ich umkehren können, ich hätte es in diesem Moment getan. Aber das Flugzeug flog unaufhaltsam weiter.

Der Kapitän rief die Crew auf, sich zur Landung fertigzumachen. Im Sinkflug ging es nach Gatwick, einem Flughafen südlich von London. Die Sonne verschwand gerade am Horizont. »Touch down«, wir hatten den Boden berührt. Nun war es Realität. Mein neues Leben in einer fremden Welt hatte begonnen. Ich war ganz auf mich allein gestellt.

»Wo finde ich den Bus nach Cambridge?«, fragte ich an der Information in gebrochenem Englisch. Unter zahlreichen Buslinien entdeckte ich schließlich die richtige. Daheim wäre mir das leichter gefallen. Auf der 90-minütigen Fahrt hatte ich wieder Zeit, über meine Einsamkeit nachzudenken. Ich muss, nahm ich mir vor, sofort Kontakte knüpfen, zu Veranstaltungen gehen. Ich darf mich nicht einigeln und Depression oder Heimweh zulassen.

Die Landschaft flog an mir vorbei. Häuser neben Häusern, dann wieder Felder, aber nirgends unberührte Natur. Die kleinen Wäldchen ab und zu machen noch keinen Wald aus. Ich hatte erste Zweifel, ob ich es hier aushalten würde.

Ankunft in Cambridge, es war bereits Nacht. Ich schleppte meinen Koffer auf den Gehsteig. Der Bus fuhr wieder ab und mit seinem Verschwinden schien mir der letzte Kontakt zur Heimat abgerissen. Plötzlich raste mein Herz. Falsch war das, völlig falsch, hierher zu kommen! Du wirst das nicht aushalten, flüsterte mir ein Teufelchen ins Ohr. Du bist ein geselliges, soziales Wesen. Du brauchst Menschen um dich, die du kennst. Na, dann werden wir eben so rasch wie möglich welche kennenlernen, antwortete die Vernunft. Ich blickte mich um und sah ein Plakat. Es lud zu einer Diskussionsrunde ein. »Animal Welfare versus Animal Warfare« stand da in dicken Lettern. Was, bitte schön, sollte das sein? Animal Welfare, darunter konnte ich mir etwas vorstellen. Tierschutz eben, wie er von diesen Tierheimen betrieben wird. Die nehmen Streunerhunde und -katzen auf, und kastrieren sie. Aber Animal Warfare? Was konnte damit gemeint sein?

Die Veranstaltung findet am nächsten Abend im Bath House statt, stand geschrieben. Ich wollte doch Menschen kennenlernen. Da würde ich dann einfach hingehen. Ich notierte mir rasch die Adresse. Gleich am nächsten Tag würde ich mir einen Stadtplan besorgen.

Mein neuer Arbeitgeber, das Institut für Angewandte Mathematik und Theoretische Physik der Universität Cambridge, hatte mir einen temporären Schlafplatz zur Verfügung gestellt. Und zwar in einem der alten Colleges mit dem Namen Queens. So etwas wie ein College gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Das ist eine Universität in der Universität. Die Colleges zusammen machen die Universität Cambridge aus. Und das älteste College lautet auf den Namen Trinity.

Um zu meinem College zu gelangen, ging ich zu Fuß durch die Straßen. Man hatte mir eine Wegbeschreibung geschickt, die mich vom Busbahnhof bis zum College leitete. In so kleinen Universitätsstädten wie Cambridge war alles zu Fuß erreichbar, ganz anders als in einer Millionenstadt wie Wien. Ich werde mir so rasch wie möglich ein Fahrrad besorgen, nahm ich mir vor. Das soll hier jeder benutzen, hatte ich gehört.

Am nächsten Tag meldete ich mich im Institut für Angewandte Mathematik und Theoretische Physik. Ein uraltes Gebäude mit einem wunderschönen gotischen Turm. Die Wände waren von Efeu umrankt. Genauso hatte ich mir Cambridge vorgestellt. Der für meine Arbeitsgruppe zuständige Professor mit Namen Michael McIntyre zeigte mir mein Büro. Am nächsten Tag sollte ich Stephen Hawking vorgestellt werden. Nachdem ich mich ein bisschen eingerichtet hatte, streunte ich durch die Stadt. Die vielen Colleges mit ihren Prachtbauten säumten den Uferrand des Flusses Cam. Dort fuhren Studierende mit Booten, die mich an venezianische Gondeln erinnerten. Wie dort bewegen sie sich mit Stöcken fort, mit denen sie sich am Boden abstoßen. Das schien eine eigene Kunst zu sein, weil sich manche nur im Kreis drehten.

Die Stadt wirkte, als würde sie nur aus Studierenden bestehen. Überall helles Lachen. Am Flussufer saßen viele Menschen und unterhielten sich bestens. Ich war völlig allein. Die Einsamkeit wird dann am stärksten, wenn man unter vielen Menschen ist, die sich gut verstehen, aber niemand mit einem redet. Doch ich wollte keine negativen Gedanken zulassen.

Am Nachmittag telefonierte ich vom Postamt aus mit Alice. Es war so wunderbar, ihre Stimme zu hören. Allerdings schien sie schon mit unserer Beziehung abgeschlossen zu haben. Vielleicht aus Selbstschutz. Sie gab sich wortkarg und wenig herzlich. Das Telefonat verschaffte mir keine Erleichterung. Also machte ich mich auf den Weg ins Bath House. Ich ging die Mill Road entlang über die Eisenbahnbrücke hinaus bis zu diesem alten Badhaus in der Gwydir Street, das als Veranstaltungsort genutzt wurde. Die Quäker hatten hier ihren Sitz. Hoffentlich ist das keine religiöse Veranstaltung, dachte ich mir.

Im Saal herrschte bereits großer Trubel, vielleicht 100 Personen waren da. Die Menschen kannten sich offenbar. Ich setzte mich in die hinterste Reihe, um gleich abhauen zu können, sollte es uninteressant werden.

»Willkommen zu unserer heutigen Diskussion über Animal Welfare versus Animal Warfare«, begann eine Moderatorin zu sprechen. Sie war eine Frau höheren Alters, vielleicht 70, und wirkte konservativ bürgerlich. Diskussionsteilnehmer waren ein junger Mann namens John und ein älterer Herr namens Robin. Dieser ergriff zuerst das Wort und erklärte, was seine Tierschutzorganisation so alles mache. Sie sei die älteste der Welt und würde sich auch für Verbesserungen im Tierschutzgesetz einsetzen. Dabei ging ein Raunen durch die Menge, als würden die Anwesenden dieses Vorgehen nicht goutieren. Dann sprach John und sofort brachen Begeisterungsstürme los. Er komme gerade aus dem Gefängnis, sagte er, wo er wegen »Tierrechtsaktivismus« eingesessen sei. Dies schien die Menschen sehr zu beeindrucken.

Kurz überlegte ich, ob ich an dieser Stelle gehen sollte. Der Tier­schutz des älteren Herren hatte mich schon nicht interessiert, aber die Reaktion des Publikums auf diesen jungen Mann schien mir irgendwie fanatisch. Doch dann blieb ich doch, weil ich wissen wollte, was einen Menschen dazu treibt, für Tierrechtsaktivismus ins Gefängnis zu gehen. Tierschutz, wie ihn Robin und sein Verein betrieben, führte John aus, würde die Herrschaft der Menschen über die Tiere nicht infrage stellen. Dazu bedürfe es Tierrechten analog zu Menschenrechten. Leider gebe es sehr viele Leute, so John weiter, die das nicht verstehen und einfach kein Mitgefühl mit Tieren hätten. Und deshalb müsse man direkte Aktionen starten, um Tieren zu helfen. Die Zuschauer und Zuschauerinnen johlten in Ekstase. Er selbst sei im Gefängnis gewesen, weil er eine Kampagne gegen die Jagd geführt habe. Aber keine Kampagne, meinte er mit Nachdruck, um die Jägerschaft zu überzeugen, die Tiere zu schonen. Jäger und Jägerinnen könne man nicht überzeugen. Vielmehr habe er einfach verhindern wollen, dass sie Tiere töten. Direkt. Nur so könne man Tiere effektiv schützen.

Die Jagd war auch mir in meinen langen Wanderungen durch die Alpen ein Dorn im Auge geworden. Ständig gab es Betretungsverbote und ganze Wege wurden gesperrt. Nicht nur einmal hatte mich ein Jäger mitten im Wald angepöbelt und bedroht, was ich hier mache und dass ich verschwinde solle, weil er einen Hirsch schießen wollte. Aber hier ging es um eine andere, mir unbekannte Art der Jagd. Hier würden die Adeligen, so wurde es erklärt, mit Hundemeuten Füchse hetzen. Ich konnte mir davon keine Vorstellung machen.

John wirkte sehr sympathisch, aber seine Anhängerschaft stieß mich ab. Die unfreundlichen Worte für den netten Herren vom Tierschutzverein und die derben Zwischenrufe schienen mir zu radikal. Am Ende der Veranstaltung drängten sich alle um John, während Robin alleine seinen Weg Richtung Ausgang suchte. Ich ergriff die Chance, endlich mit jemandem zu sprechen.

»Ihr Vortrag hat mir sehr gefallen«, flunkerte ich etwas, um ins Gespräch zu kommen. »Aber warum wollen Sie ein Verbot von Zoos erreichen? Ich kenne den Innsbrucker Alpenzoo und dort leben nur heimische Tiere, denen es sicher gut geht.« »Das mag sein«, antwortete Robin freundlich, »aber im Zoo werden Tiere zu Ausstellungsobjekten erniedrigt.« Der Innsbrucker Alpenzoo sei aber der letzte auf seiner Liste für ein Verbot, fügte er lächelnd hinzu, da würden die Tiere sicher gut gehalten. Durch sein Entgegenkommen beflügelt, meinte ich, dass dieses radikale Plädoyer von John, kein Fleisch mehr zu essen, doch völlig übertrieben und extrem gewesen wäre.

»Fleisch bedeutet immer, dass Tiere gewaltsam zu Tode kommen, nur damit jemand ihre Körper statt Pflanzen essen kann«, sagte Robin dazu. Ich war erstaunt. Hatte Robin also in Essenz dieselbe Meinung wie John? »Aber Pflanzen leben auch!«, warf ich ein. »Abgesehen davon ist es doch natürlich für uns Menschen, Tiere zu essen. Dürften wir das nicht mehr tun, dann müssten die Bergbauern in Österreich die Berge verlassen. Dort kann man nur von Tieren leben, weil auf den Almen kein Getreide wächst.« »Aber die meisten Menschen leben nicht oben in den Bergen, sondern in Städten«, antwortete Robin. »Und für die wird das Fleisch in Tierfabriken produziert. Kein Mensch, der Tiere liebt, kann das in Ordnung finden.«

Von Tierfabriken hatte ich noch nie etwas gehört. Ich hielt das für eine Propagandaphrase. Und wenn, dann fand sich so etwas nur in England. Daheim in Österreich gibt es nur kleine Bauernhöfe, in denen die Tiere mit der Bauernfamilie leben, war ich überzeugt. Und da kann doch niemand etwas dagegen haben, sie zu töten, um sie zu essen, wie das seit Menschengedenken der Fall ist.

Robin lächelte mir zu und erklärte, dass er nun gehen müsse. Aber ich könne mit den Menschen von der hiesigen Tierrechtsgruppe »Animal Rights Cambridge« sprechen. Die seien sehr nett und würden mir sicher alle Fragen beantworten. Mit diesen Worten schob er mich zu einem Infostand, hinter dem einige junge Frauen plauderten. »Dieser Mann möchte gerne mehr über eure Arbeit erfahren«, sagte Robin und verabschiedete sich. Um Infostände hatte ich bis dahin nur einen Bogen gemacht. Ich wollte nicht mit irgendwelchem Firlefanz angesprochen werden. Ich hatte meine eigenen Probleme. Jetzt stand ich verlegen da.

»Wir treffen uns alle zwei Wochen hier im Bath House, um neue Aktivitäten zu planen«, sagte eine der Frauen. Sie war vielleicht 25 Jahre alt, genau wie ich, hatte gewellte lange Haare und Sommersprossen im Gesicht. Dann gab sie mir ein Flugblatt. Ich nahm es, ohne es zu lesen, und schaute mich auf dem Tisch um. Dort sah ich T-Shirts, die mit einer Ratte bedruckt waren. Darüber stand der Name der Organisation: »Animal Rights Cambridge«. Sonst lagen noch zahlreiche Fotos von gequälten Tieren herum, die ich nicht anschauen wollte. Warum man sich freiwillig mit solchen Bildern umgibt, konnte ich nicht nachvollziehen.

Im Augenwinkel nahm ich wahr, wie zwei der Frauen kurz miteinander tuschelten. Schließlich kam eine zu mir herüber und sagte, dass es übermorgen eine Aktion gebe. »Willst du mitkommen?«, fragte sie mich, und blickte mir dabei offen ins Gesicht. »Okay«, antwortete ich, ohne nachzudenken. »Um was geht es?«. »Am Physiologieinstitut der Uni werden Schweine lebendig aufgeschnitten«, sagte sie mit emotionalem Nachdruck. »Und das mitten in einem Vorlesungssaal vor hunderten Studierenden. Damit soll die Nierenfunktion der Schweine am lebenden Objekt demonstriert werden. Wir wollen den Eingang in den Saal blockieren, um das zu verhindern.«

Wow, dachte ich. Da geht’s gleich zur Sache. Na ja, es klang schon unnötig, was die Uni da machen wollte. Abgesehen davon müsste ich nur dabei sein, sozusagen danebenstehen. Ich musste ja nicht gleich selbst blockieren. Also sagte ich zu, allein schon, weil ich auf diese Weise Menschen treffen und mit ihnen zusammen etwas unternehmen würde. Auch wenn ich dieser Gruppe nicht viel abgewinnen konnte. Aber wir würden ja sehen.

Kapitel 2.
»Boots Torture Beagles, Boycott Boots!«

Es kam der Tag, an dem ich dem berühmten Mathematiker und Physiker Stephen Hawking vorgestellt wurde. Sein Büro lag direkt neben dem Teeraum. Und das hatte ich bereits gelernt: Den Menschen hier in England ist die Teepause um 16 Uhr sehr wichtig. Da versammeln sich alle Angestellten des Instituts, auch alle Stars. Und einer davon, der bekannteste von allen, war Stephen Hawking.

Professor Michael McIntyre, der meine Arbeitsgruppe leitete, klopfte leise an Hawkings Bürotür. »Herein«, sagte eine Frauenstimme. Ich betrat ein elegant eingerichtetes Zimmer. An der Wand hingen riesengroße Fotos vom Weltraum und von Sternensystemen, Galaxien und riesigen Gaswolken, alles vom neuen Hubble-Space-Teleskop aufgenommen. In den Regalen rechts lagen zahlreiche Utensilien, mit denen seine Pflegerin Hawking ernähren und versorgen konnte. Er war fast völlig gelähmt. Als wir hereinkamen, drehte er mit einer Fingerbewegung seinen elektrisch betriebenen Stuhl zu uns um und lächelte. Dann sprach er. Es war für mich sehr schwierig, zu verstehen, was er sagen wollte. Seine Pflegerin sah meinen fragenden Blick und übersetzte. Hawking hieß mich an seinem Institut willkommen. Er trug in Cambridge den Titel eines Lucasian Professor of Mathematics, wie seinerzeit Isaak Newton vor ihm. Eine große Auszeichnung. Und das mit erst 47 Jahren!

Die Konversation mit ihm war schwierig, aber langsam konnte ich seine spezielle Art, gewisse Worte auszusprechen, verstehen. Er freue sich schon, mit mir über die kosmische Zensur zu diskutieren, sagte er noch, dann wurde ich wieder hinausgeführt. Kosmische Zensur war seine Hypothese, dass Unendlichkeiten im Universum, sogenannte Singularitäten wie Schwarze Löcher, immer nach außen hin abgeschirmt sind. Mit Unendlichkeiten, wie 1 dividiert durch 0, lässt sich mathematisch nämlich nichts mehr berechnen. Wenn also eine Unendlichkeit Auswirkungen in ihre Umgebung hat, statt abgeschirmt zu sein, wird auch diese unberechenbar. Hawking hatte die Vermutung, dass man mathematisch beweisen könne, dass unser Universum so beschaffen ist, dass solche Unendlichkeiten letztlich immer auf einen kleinen Raum beschränkt bleiben müssen. Ich war von diesen Fragestellungen fasziniert!

Von meinem Bürofenster aus blickte ich direkt auf den gotischen Turm des Instituts. Die grünen Blätter an seinen Wänden bedeckten ihn fast völlig. Man konnte sich gut vorstellen, dass hier seit fast 900 Jahren ein Unibetrieb lief. Eine Ehre, nun Teil dieser Geschichte sein zu dürfen. Allerdings sollte ich am nächsten Tag bei einer Aktion gegen dieselbe Uni mithelfen, gegen meinen eigenen Arbeitgeber. Besonders intelligent war das nicht. Ich beschloss daher, zwar dabei zu sein, mich aber nur abseits aufzuhalten.

Um 7 Uhr morgens treffen wir uns beim Bath House. Acht Personen sind da. Reicht das, frage ich mich. »Studierende können nicht mitmachen«, erklärt mir Francis. Sie ist jene Frau, die mich zu dieser Aktion eingeladen hat. »Als Student kann man leicht von der Uni fliegen, wenn die Verantwortlichen davon Wind bekommen, dass man hier Lehrveranstaltungen blockiert.« Was mach ich dann eigentlich hier, denke ich. Aber jetzt plötzlich zu gehen, wäre mir peinlich.

Ben erklärt den Ablauf. Er ist ein Mann von etwa 30 Jahren, mit kräftiger Statur und Vollbart. Auf mich wirkt er gutmütig wie ein Bär. »Wir wissen, wie das Fahrzeug aussieht, das die beiden Schweine bringt. Es ist ein Anhänger. Die Schweine werden aber nicht zu sehen sein, der Anhänger ist dicht verschlossen. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Tiere in den Hörsaal zu bekommen, auf jeder Seite des Gebäudes ist nämlich ein ausreichend großes Tor. Wir müssen daher beide abdecken. Das wird nicht einfach.« Ich stehe abseits und fühle mich eher als Beobachter. Daher frage ich gar nicht, was meine Rolle sein könnte.

Also los. Um 7:45 Uhr treffen wir vor dem Physiologieinstitut ein. Die Studierenden gingen bereits in den Hörsaal. Früher seien in dieser Vorlesung auch Kaninchen aufgeschlitzt worden, erzählt mir Francis. Aber durch die Proteste sei das nun abgeschafft worden. Nicht aber das Aufschneiden der Schweine. Diese seien ja Nutztiere und würden auch gegessen. Da hätten die Menschen viel weniger Mitleid. Die meisten Studierenden würden sich nun weigern, an dieser Veranstaltung teilzunehmen. Zwar gingen sie in die Vorlesung, boykottierten aber diesen Tierversuch.

Da plötzlich pfeift Tony. Er ist um die 40, eher klein und hat kurze schwarze Haare. »Das Fahrzeug kommt!« Jetzt geht alles sehr schnell. Die acht Personen rennen zur Einfahrt, auf die das Auto mit dem Anhänger zuzusteuern scheint, und setzen sich direkt davor. Das Fahrzeug stoppt, der Fahrer wirkt ratlos. Ich gehe hin, klopfe leicht an die Wand des Anhängers. »Hände weg!«, ruft der Fahrer. Ich höre die Schweine grunzen. Irgendwie tun sie mir schon leid.

Einige Studierende versammeln sich um die Sitzblockade. »Geht was arbeiten!«, ruft ein junger Mann. »Lass sie in Ruh, sie haben recht«, meint ein anderer. »Heutzutage sollte man eigentlich solche Präsentationen der Nierenfunktion durch einen Film oder eine gute Computersimulation ersetzen können.« »Das geht diese Leute gar nichts an, das ist eine Uni-interne Angelegenheit«, wirft eine Studentin ein. »Tierschutz geht alle etwas an, das ist keine Privatsache«, sagt Ben.

Plötzlich sehe ich zehn Männer im Frack und Zylinderhut auf uns zukommen. Wer kann das sein, frage ich mich. »Proctors«, raunt es durch die Menge, »die Security der Universität.« Ich stehe mitten unter den Studierenden und warte ab, was jetzt passieren wird. Die Proctors fordern die Aktivisten und Aktivistinnen nun auf, das Tor freizugeben. »Warum kommt keine Polizei?«, frage ich die Person neben mir. »Das ist Privatsache der Universität«, höre ich zur Antwort, »die hat am Unigelände ihre eigenen Sicherheitskräfte.« »Und was dürfen diese Proctors tun?«, frage ich. »Alles«, antwortet mein Gesprächspartner. »Wenn Studierende unter den Aktiven sind, dann wird es ein Ausschlussverfahren von der Uni geben.«

Die Proctors in ihren lächerlichen Aufzügen bilden einen Ring um die Aktivisten und Aktivistinnen. Der erste packt Ben unsanft am Hals und an den Haaren und zerrt ihn weg. Ben schreit laut auf vor Schmerz. »He!«, sage ich, stürze vor, packe den Proctor an seiner Krawatte und reiße daran. Das hat dieser Mann nicht erwartet. Er lässt Ben los und schaut mich erstaunt an. »Keine Gewalt!«, ruft Ben. »Nur passiver Widerstand.« »Aber er hat dir wehgetan«, sage ich. »Trotzdem«, antwortet Ben, »wir dürfen uns nicht wehren.«

»Das Auto fährt zum anderen Eingang!«, ruft plötzlich jemand. Die acht Blockierer springen auf und rennen um das Haus herum. Als ich dort ankomme, sitzen sie bereits wieder direkt an dem Tor vor dem Fahrzeug mit den Schweinen. Nun schreiten die Proctors zur Tat, ziehen die Menschen vom Tor und schleifen sie über die Straße. Ich schaue zu, ohne einzugreifen. Es tut mir weh, mit ansehen zu müssen, wie meine neuen Freunde behandelt werden. Doch kaum lassen die Proctors den einen Aktivisten wieder los, um den nächsten zu fassen, läuft der erste wieder zurück. Zehn Proctors sind mit der Räumung überfordert. Sie brechen die Aktion ab, stellen sich in einiger Distanz zusammen und beraten.

»Was wird jetzt passieren?«, frage ich Francis. »Sie werden abwägen, ob es wert ist, Verstärkung zu holen, oder ob sie den Tierversuch lieber doch nicht stattfinden lassen«, meint sie. »Keine Tierversuche! Keine Tierversuche! Keine Tierversuche!«, schreit plötzlich eine Gruppe von Studierenden. Das scheint den Ausschlag zu geben. Die Proctors reden mit dem Fahrer des Schweinetransports und dieser dreht ab. Die Freude unter uns ist groß.

»Die werden sich zweimal überlegen, diesen Tierversuch noch einmal durchzuführen«, strahlt Ben. »Warum habt ihr nicht die Medien eingeschaltet?«, frage ich. »Wäre das nicht viel einfacher?«. »Aber geh«, meint Tony, »die Medien gehören den Reichen und die stecken mit denen unter einer Decke. Dagegen kommt man nur mit direkten Aktionen wie dieser an. Da spricht das Volk. Wenn nicht wir den Tieren helfen, dann wird das niemand tun.«

Am Abend bin ich erstmals bei einem Treffen von Animal Rights Cambridge dabei. Den Vorsitz führt Joan, jene Dame von etwa 70 Jahren, die die Podiumsdiskussion zu Animal Welfare und Animal Warfare moderiert hat. Sie habe Mahatma Gandhi in Kalkutta noch persönlich gekannt, erklärt man mir auf die Frage nach ihrer Biografie, und sich dann als Sozialarbeiterin gegen häusliche Gewalt an Kindern eingesetzt. Zu ihrer Pensionierung gründete sie dann die Tierrechtsgruppe. Neben ihren zehn Katzen, mit denen sie zusammenlebt, sei das ihr Baby.

Zuerst geht die Spendenbüchse herum. Ich drücke mich davor, etwas hineinzuwerfen. Das Bath House für unsere Treffen zu mieten koste Geld, sagt Joan, deshalb bitte sie um eine Gabe. Gut 20 Personen sind da, viele haben ihre Hunde mitgebracht. Alle scheinen sich zu kennen und begrüßen einander herzlich. Auch ich werde willkommen geheißen. Joan schüttelt mir die Hand. Als sie erfährt, dass ich an der Uni arbeite, ist sie begeistert. »Wir brauchen Intellektuelle in der Bewegung«, meint sie. Alle, die sich für Tierrechte einsetzen, würden immer als zu emotional und zu wenig rational bezeichnet. Da sei jeder, der diesem Klischee widerspreche, wichtig.

Dann beginnt die Sitzung. Eine junge Frau erzählt von einem Infostand, der in der Stadt abgehalten wurde, und der 50 Pfund eingebracht hat. Eine andere fasst die Diskussion zwischen Animal Welfare und Animal Warfare zusammen, die von der Gruppe organisiert wurde. Ben schildert stolz, wie wir heute die Tierversuche an Schweinen im Physiologieinstitut verhindert haben. Dann werden die Aktionen für die nächsten zwei Wochen geplant.

»Wir wollen nach Nottingham fahren«, erklärt Tony. »Dort gibt es eine Demo gegen Boots.« »Was ist Boots?«, flüstere ich Francis zu. »Eine Pharmazie- und Kosmetikfirma mit über 1000 Filialen«, antwortet sie. »Die haben ihre eigenen Tierversuchslabors, nämlich zwei, beide in Nottingham. Das größere ist in Thurgarton, 10 Meilen außerhalb, das andere direkt in der Stadt über einer Boots-Filiale. Wegen der Tierversuche gibt es eine landesweite Kampagne gegen sie, bis sie aufhören, für Kosmetika Tiere zu quälen. Und deshalb gibt es gerade in Nottingham viele Demos.« »Wer fährt mit?«, fragt Tony in die Runde. Sieben Arme gehen in die Höhe. Einer davon ist von mir. Zwar kenne ich Boots nicht und weiß nicht viel von Tierversuchen für Kosmetika, aber mir graut vor einem Wochenende in der Fremde, ohne irgendetwas zu tun. Abgesehen davon habe ich schon Mitleid mit den Tieren, wenn sie für so sinnlose Versuche verwendet werden. Egal ist mir das nicht.

Die Gruppe hat ein Auto, in dem nur fünf Leute Platz finden. Ich werde dazu eingeteilt, mit Angela in ihrem Van zu fahren. Angela arbeitet in einem Tierheim und wird mich in der Früh vom College abholen.

Bis zum Wochenende verbringe ich die meiste Zeit damit, eine Wohnung zu finden. Ist gar nicht so leicht in einer Studentenstadt. Da gibt es sehr viele Menschen, die auch Wohnungen suchen. Schließlich komme ich in der Trafalgar Road 24 unter. Ein Mann mit österreichischem Großvater, wie er mir stolz erzählt, vermietet das Haus an mich und eine Frau namens Gaynor. Sie und ich können jeweils ein Schlafzimmer im oberen Stock nutzen. Das Wohnzimmer unten, die Küche und das Badezimmer sind für uns beide zugänglich. Dazu hat das Haus zur Straße hin eine kleine Rasenfläche und auf der anderen Seite einen richtigen Garten. Ich bin zufrieden damit, auch wenn die Miete ziemlich hoch ist. Aber mit meinem neuen Job an der Uni werde ich mir das leisten können.

Am liebsten wäre mir, meine Freundin Alice käme aus Österreich und würde hier mit mir leben. Bei meinem nächsten Anruf frage ich sie rundheraus. Nein, sagt sie trocken. Ihr Lebensmittelpunkt sei in Österreich. Nur hier könne sie sich künstlerisch verwirklichen. So sehr mich das schmerzt, so sehr kann ich sie verstehen.

Am Samstag in der Früh fährt Angela vor meinem College vor. Ihr Fahrzeug hat hinten eine große Ladefläche und vorne drei Sitze. Als ich neben sie zusteigen will, herrscht sie mich an, dass sie keine Männer vorne dulde. »Männer zu den Hunden in den Laderaum!«, sagt sie, und meint das gar nicht witzig. Ich bin irritiert, füge mich aber. Allein in einem fremden Land, da lässt man sich viel gefallen.

Die Fahrt ist äußerst unangenehm. Der Laderaum hat keine Fenster. Angelas drei Hunde und ich werden bei jeder Kurve hin und her gebeutelt. Und die Strecke von Cambridge nach Nottingham ist lange.

Schließlich kommen wir an. Ich werde aus dem Laderaum befreit und schließe mich einer bunten Gruppe von gut 50 Personen an, die sich auf den Weg zu einer Filiale von Boots in der Fußgängerzone macht. Auch Francis und Tony sind wieder da. »Boots verwendet auch Beagles«, erklärt mir Tony. An diesen Tieren würden Hautcremen getestet, indem man sie rasiert, ihnen die Haut aufschürft und die Creme dann aufträgt. Das Ganze diene lediglich dem Versicherungsschutz. Boots, so Tony weiter, könnte auf Schadenersatz geklagt werden, wenn jemand ihre Produkte kauft und dadurch verletzt oder krank wird. Um gegen eine solche Klage etwas in der Hand zu haben, würden sie diese Tierversuche durchführen. Die würden nämlich so angelegt, dass die Produkte nicht als schädlich gelten.

»Hast du die Bilder von den Mäusen gesehen?«, fragt mich Francis. Ein Tierrechtler habe nämlich undercover Fotos aufgenommen, wie in einem der Tierversuchslabors von Boots Mäuse auf brennheiße Platten gesetzt wurden. Die Brandwunden habe man dann mit Hautcremes behandeln. Nein, gesehen hatte ich solche Bilder nicht. »Aber wer sind diese Leute, die solche Aufnahmen machen?«, frage ich. »Mike zum Beispiel«, antwortet Francis. »Er wird in Kürze bei uns im Bath House einen Vortrag darüber halten. Mike hat auch gefilmt, wie eine adelige Jagdgesellschaft gefangene Füchse aus einem Sack vor den wartenden Hunden ausgesetzt hat. Das machen die immer, wenn sie hohen Besuch haben und die Suche nach einem Fuchs zu langwierig wäre. Wenn sie zusätzlich noch ganz sicher gehen wollen, dass die Füchse wirklich nach 45 Minuten Hetze von der Hundemeute erwischt und zerrissen werden, statt zu entkommen, schneiden sie ihnen die Pfoten auf. Die Blutspur kann der dümmste Hund nicht mehr verfehlen.«

Als wir um die nächste Hausecke kommen, stehen wir schon vor der Boots-Filiale. Wie auf ein Kommando laufen einige von uns los und klettern auf das Vordach. Dort wird ein Transparent gehisst. »Boots Torture Beagles, Boycott Boots« steht da drauf. Der Rest der Gruppe beginnt mit einer Demo vor dem Eingang.

»Habt ihr das der Polizei gemeldet?«, frage ich Tony, der gerade neben mir steht. »Aber nein«, antwortet der. »Hier in England muss man Demos nicht anmelden. Man macht sie einfach. Das ist Meinungsfreiheit.«

Eine Angestellte von Boots kommt heraus. »Runter da!«, schreit sie. »Ich werde die Polizei rufen.« »Machen Sie nur«, sagt ein Tierrechtler gelassen, während er einer Passantin ein Flugblatt in die Hand drückt. »Sie sollten lieber aufhören, Beagles für Hautcremes zu missbrauchen!«

Tony gibt mir einen Stoß Flyer. »Mach dich nützlich«, sagt er. Ich bin verlegen. Es ist mir schon peinlich genug, hier zu stehen, unter diesen Leuten und neben diesen Transparenten. Jetzt auch noch Passanten und Passantinnen mit Flugblättern zu belästigen, ist mir echt zu viel. Zu allem Überdruss beginnen nun auch noch die Leute auf dem Vordach »Boots Torture Beagles, Boycott Boots!« zu skandieren.

Die erste Frau, der ich ein Flugblatt hinhalte, reißt es mir aus der Hand und schreit: »Verschwindet, ihr Fanatiker!« Ich nicht, will ich noch sagen. Ich gehöre nicht dazu. Nicht wirklich.

Dann kommt die Polizei. Sie geht um das Vordach herum, will mit den Besetzern reden. Die reagieren nicht. Um auf das Vordach zu kommen, müsste die Polizei eine Leiter bringen. Vielleicht ist ihr auch der Aufwand zu groß, um zehn schreiende Personen vom Dach zu zerren. Jedenfalls ziehen sich die Beamten und Beamtinnen in einige Distanz zurück und beobachten das Geschehen.

»Sind die immer so lahm?«, frage ich Tony. »Einmal so, einmal so«, sagt er. »Darauf verlassen kann man sich nicht.« »Warum verlangen sie nicht unsere Ausweise?«, will ich wissen. »In England braucht man keine Ausweise zu zeigen«, erklärt mir Tony. »Wir dürfen anonym bleiben. Unsere Identität geht niemanden etwas an. Deswegen ist es auch besser, du lässt dich von der Polizei nicht filmen und fotografieren. In England gibt es eine eigene Tierrechtspolizei mit Namen ARNI. Die haben ein großes Archiv aller bekannten Aktivisten und Aktivistinnen, das sie ständig erweitern. Wenn die dich einmal im Visier haben, dann dauert es nicht lange, und sie informieren deinen Arbeitgeber und deinen Vermieter. Die wissen schon, wie man Protest zum Schweigen bringt. Und wenn Boots von der Polizei deine Identität erfährt, dann klagen sie dich vor Gericht.« »Das kann wohl nicht so einfach gehen«, sage ich. »Immerhin haben wir das Recht zu demonstrieren.« »Das schon«, antwortet Tony, »aber wenn unsere Demos Boots einen finanziellen Verlust bescheren, dann können sie vom Gericht eine Injunction, eine Art Bannmeile gegen dich verlangen. Wenn die bewilligt wird, heißt das, du darfst dich nicht mehr soundso weit an eine Filiale von Boots annähern. Dann bist du aus dem Rennen, die Kampagne muss ohne dich weiterlaufen.«

Später lag ich wieder in meinem kleinen Collegezimmer im Bett. Am Montag musste ich hier ausziehen. Draußen lärmten Studenten und Studentinnen, es gab wieder einmal eine Stiegenhausparty, wie sie das nannten. Haben solche Demos, wie heute vor Boots, einen Sinn, fragte ich mich. Sind sie berechtigt? Dürfen wir einer Firma mit legitimer Geschäftspraxis so auf die Nerven gehen? Oder ist das Geschäft von Boots tatsächlich nicht legitim? Sind meine neuen Freunde Fanatiker und Extremisten? Oder sind es Boots und andere Kosmetikfirmen, die Tierversuche durchführen, die extremistisch sind? Extrem gewalttätig zu Tieren, nämlich. Viele Fragen, auf die ich noch keine Antwort fand.