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Über Daniela Dröscher

DANIELA DRÖSCHER, geboren 1977, wuchs in Rheinland-Pfalz auf. Nach ihrem Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Trier und London promovierte sie im Fach Medienwissenschaft an der Universität Potsdam mit einer Arbeit zur Poetologie Yoko Tawadas. Sie veröffentlichte in Zeitschriften und Anthologien. Von 2008 bis 2010 studierte sie Szenisches Schreiben an der Uni Graz. Ihren ersten Roman Die Lichter des George Psalmanazar, eine Romandoppelbiographie über Samuel Johnson und den Orientbetrüger George Psalmanazar, nannte Martin Halter in der FAZ eine »barocke Wunderkammer voll wunderlicher Fata, herzzerreißender Melancholie und Klugheit«. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Daniela Dröscher lebt heute in Berlin.

Fußnoten

Dabei haben auch die feministische bzw. postkoloniale Kritik an den wesenhaften Bildern von Frau bzw. Fremdheit ihren Ursprung in der Dialektik von Herrschenden und Beherrschten. Marx machte sie für die Klassenfrage stark, doch für mich blieb die Dimension der sozialen Herkunft trotzdem abstrakt.

Lange Zeit dachte ich, sie sei eine Art Sekretärin gewesen, aber nein, als Fremdsprachenkorrespondentin betreute sie Vorgänge in der Importabteilung der Lederwarenfabrik Jakob Müller.

Ich verwende im Folgenden kein Gender-Sternchen, sondern bewusst das generische Maskulinum. Im Selbstverständnis meiner Eltern und den 70er- bis 80er-Jahren gab es noch wenig Bewusstsein für das Kontinuum der Geschlechter. Auch ich musste diesen Sprachgebrauch erst erlernen.

Einen migrantischen Hintergrund hat so ziemlich jeder Mensch in diesem Land. Auf dieser Bedeutungsebene grenzt der Begriff ›Migrationshintergrund‹ keine Gruppe ein, ab oder aus: Die Migrationserfahrung der Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern steht im Hintergrund. Sie findet sich nicht krampfhaft thematisiert, widerspricht nicht dem ›Deutschsein‹ – gleich, wie und von wem dieses mit Inhalt gefüllt wird. (Deniz Utlu)

Die Mittelklasse dieser Zeit ist eine Kopie ohne Original (Fatima El-Tayeb), die für sich selbst und andere in ihrer Gemachtheit unsichtbar bleiben sollte, ähnlich wie Whiteness und Heterosexualität.

Was Menschen nicht daran hindert, sich selbst als zur Mittelschicht zugehörig zu fühlen: MITTELSTAND: Gesellschaftsschicht, der, seitdem es sie nicht mehr gibt, alle anzugehören glauben. (Richard Schuberth/Ulf Kraditzke)

Die Farb-Metaphorik, die Marx für die Arbeiterklasse verwendet, erinnert an den Begriff »people of colour«, der alle nicht-weißen Menschen mit der Absicht vereint, sich als heterogene Gruppe wahrzunehmen.

Es gibt die obere Mittelklasse und die mittlere Mittelklasse und die untere Mittelklasse, die wiederum zu unterteilen sind in Konservativ-Etablierte, Liberal-Intellektuelle, Performer, Expeditive, Adaptiv-Pragmatische, Sozialökologische, Bürgerliche Mitte, Traditionelle, kreative Prekäre, Hedonisten.

Was man als ›Demokratisierung‹ bezeichnet hat, ist nichts anderes als eine Verschiebung, bei der die Struktur, trotz aller Veränderungen an der Oberfläche, unverändert erhalten bleibt – kaum weniger starr als zuvor. (Didier Eribon)

Ein 20-jähriger Junge, den ich anhimmelte. Pedros Eltern waren spanische Gastarbeiter, er stammte aus viel einfacheren Verhältnissen als ich.

Als ich 15 Jahre alt war, lief der zweite Teil des Mehrteilers zur Prime Time im Fernsehen, hochdeutsch untertitelt. Ich konnte den Dialekt der Laiendarsteller nicht verstehen, dabei ist der Drehort, das fiktive »Schabbach«, von meinem Heimatdorf keine 30 km entfernt. Als Pubertierende verschreckte mich die Ästhetik der Serie. Seit ich sie vor einigen Jahren wiedersah, bekommt Edgar Reitz in meiner Imagination Fanbriefe von mir.

An der Universität trat eine vierte Scham, ein viertes D hinzu; die Scham, deutsch zu sein. Auch das ist eine Herkunftsscham – allerdings keine gemachte. Es ist eine primäre, ähnlich aufrichtig empfundene wie die Scham, die ich in London, genauer gesagt einem schwarzen Viertel, lernte: die Scham, weiß zu sein.

Verleugnet oder verdrängt wird meist das, was in einem kindlichen Bewusstsein lange Zeit große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, dann aber tabuisiert wurde, weil es aus irgendeinem Grund zu gefährlich schien, um ausgiebiger betrachtet oder verbalisiert zu werden – ein komplizierter Abwehrmechanismus. (Freud)

Es waren zumeist Bürgerkinder, die hier im Namen der Unterdrückten für etwas viel Größeres als soziale Gerechtigkeit kämpften, sprich, für die Freiheit jedes Einzelnen (Heinz Bude).

Dass ich einen solchen Namensvetter habe, fiel mir erst wieder ein, als mich 2008 der damalige rheinland-pfälzische Kulturreferent Sigrid Gauch bei unserem ersten Kennenlernen fragte, ob ich verwandt mit dem guten Menschen sei, er hielt mich für seine Enkeltochter – die ich nicht bin.

Was erstaunt, denn laut der jüngsten OECD-Studien belegt Deutschland gemeinsam mit Lettland in Europa den letzten Platz, was die sogenannte Schichttransparenz betrifft.

Die Phantasie setzt ganze Welten aus Holunderstängeln und Nachttopfscherben (Flaubert) wieder zusammen.

Zu diesem Ergebnis kommt die Pädagogin Emmy Werner, die Begründerin der Resilienz-Forschung. Gerade bei Kindern aus wohlhabenden Mittelklassen-Familien lässt sich häufig ein Mangel an psychischer Widerstandsfähigkeit beobachten. Als Gründe gelten Überbehütung sowie die unzureichende Vermittlung von Werten. Das therapeutische Ethos ist zum Eigentum der Mittelschicht und ihrer Arbeit geworden. (Eva Illouz)

Diese Ignoranz ist eine Strategie, die zur Neutralisierung, also der Leugnung der faktischen Machtverhältnisse führt (Bourdieu).

Bourdieu spricht von der Schwerkraft des Don-Quijote-Effekts, der Menschen daran hindert, ihr jeweiliges Herkunftsmilieu zu verlassen, obwohl es faktisch keinen Grund dafür gibt. Man kämpft wie Cervantes’ Held mit Gespenstern.

Als hätte jemand meine Hörspielkassetten einfach mittendrin angeschaltet, ohne dass ich den Anfang hätte hören dürfen, und das, wo ich gerade die Anfänge liebte: die beschwingte Musik, das freudige Erwarten bei der Ankündigung des Titels – den akustischen Theatervorhang.

Lapidarer Kommentar meiner Mutter, als ich sie danach frage: »Du hast etwas Wasser geschluckt und hast dich erschrocken – mehr nicht.«

Hier führte ich meine Zaubertricks vor, hier stand im Sommer das heißgeliebte Planschbecken.

Ausdruck meiner deutschen Oma für »Gästezimmer«.

Er war Gelegenheitsraucher und rauchte nur draußen.

Für meine deutsche Oma blieben die Eltern meiner Mutter zeitlebens die »Hochstetter«, von Hochstetten-Dhaun, dem etwa 20 km von unserem Dorf entfernten Ort, wo die beiden lebten.

An sein rußgefärbtes Gesicht auf den alten Bildern musste ich denken, als bei einer Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt zuletzt von den europäischen Arbeiterklassen als slaves of Europe die Rede war. Der Gedanke dahinter: Der Kolonialismus wurde nicht erst in den Kolonien erfunden, er wurde aus Europa dorthin importiert (Kelly Gyllespie).

Ein einziges Mal besuchte er in Bad Kreuznach ein Vertriebenentreffen und verließ es, schockiert von den verklärenden Heimatgesängen, mit vor Wut mahlendem Kiefer: »Sollen sie doch in ihre ›Heimat‹ zurückgehen, wenn sie die so vermissen.«

Meine Mutter erzählte mir später, wie es bei ihnen zu Hause Jahr um Jahr immer weniger Möbel gab, irgendwann war es so leer, dass sie problemlos mit dem Fahrrad in der Wohnung herumfahren konnte.

Die fehlende Mobilisierung als Gruppe (…) führt dazu, dass rassistische Kategorien die sozialen ersetzen. (Eribon)

Der sich dann wieder zurückbildete, doch meine Oma hatte ihn zunächst nicht erkannt, als er nach Kriegsende plötzlich vor der Tür stand.

Nie wieder wollte er in einem Grenzgebiet wie im Saarland und vormals Schlesien leben. Er nahm lieber die lange Fahrt und das Männerheim in Kauf.

Anruf bei meinem Vater: »Berta Oma hat gesagt: ›Och, geh fott.‹« Und das hat er wörtlich genommen.

Ich glaube meiner Mutter kein Wort. Zu oft hat sie versucht, ihren Luxusgeschmack als Notwendigkeitsgeschmack (Bourdieu) – also einen der Nützlichkeit verpflichteten Geschmack – zu tarnen.

Kinderkriegen ist bei Lohnabhängigen noch immer häufig gleichbedeutend mit dem empfundenen gesellschaftlichen Abseits oder – im Falle von Alleinerziehenden – dem faktischen Abstieg.

Eine Traurigkeit, die schon vor der Heirat begonnen hatte. Meine Mutter war als Kind ihrem Empfinden nach immer DAS FÜNFTE RAD AM WAGEN gewesen, so symbiotisch empfand sie die Ehe ihrer Eltern. – Wenn ich im Folgenden von Melancholie spreche, so meine ich mit Melancholie keine Depression, sondern die hellere Seite des Kontinuums, den Hang zur Grübelei, zum Nachdenklichsein, zum Zaudern.

Mein Vater war 1968 bereits 22, meine Mutter gerade einmal 17 Jahre alt. Wie viele Arbeiter- und Bauernkinder, zumal in der Provinz, erreichte die neue Freiheit sie v.a. in Sachen Mode und Popkultur. Sie trugen Schlaghosen und Rollkragenpullover, hörten Beatles und Joan Baez. Die Studentenbewegung war weit weg. Kein einziges Mal besuchten sie eine außerparlamentarische Versammlung o.Ä.

Meine schlesiendeutsche Großmutter hat ihre fünf (!) Geschwister in Schlesien zurückgelassen.

Als Teenager hat es mich provoziert, dass sie im Gespräch oft den Dialekt ihres jeweiligen Gegenübers annahm. Sprach jemand Bayrisch, sprach sie Bayrisch, sprach er Hessisch, sprach sie Hessisch.

Meine Mutter ist eine passionierte Köchin. Kaum etwas macht sie glücklicher als eine satte Familie. Sie kochte häufig Gerichte mit mediterranen oder orientalischen Einflüssen. Schlesiendeutsche Gerichte – »schläs’sche Kiche« – kochte sie nie. Keinen Karpfen Blau, keine Mohnklöße, kein Schlesisches Himmelreich.

Bis auf eine rumäniendeutsche Familie, vier Familien aus Ostpreußen, eine Philippinin waren alle weiß und deutsch.

Meine Geburt gab den Impuls für den Rückzug. Nicht nur sollte sein Kind in der Natur aufwachsen, auch war meinem Vater die Miete ein Dorn im Auge. München-Schwabing war damals schon teuer.

Anders als die Bauern im Norden und im Süden Deutschlands waren die meisten Bauern in meiner Heimatregion Kleinbauern. Landschaftlich macht sich dieser Unterschied auf jeder Zugfahrt bemerkbar: Riesige Felder im Norden, je südwestlicher, desto kleiner werden die Parzellen.

An meiner Mutter gibt es nichts in dieser Art. Ich könnte an ihrer Gestik keinerlei soziale Herkunft ablesen.

Da er von Berufs wegen sogenannte Sondergetriebe konstruiert, die in unterschiedlichsten Maschinenanlagen hohe Zuverlässigkeit gewährleisten sollen, ist das auch sehr gut so.

Der Topos des Tagträumers findet sich in der Literatur klassenübergreifend: Aus dem Leben eines Taugenichts, Erziehung des Herzens, Das Bildnis des Dorian Gray.

Meine deutsche Oma duldete nichts Altes in ihrem Haushalt, was an die Zeit des Bauernhofs erinnerte. Außer ein paar Schränken rettete meine Mutter kaum etwas.

Ein Lieblingsmerkmal aus der Zeichentrickserie Tom & Jerry: Man sieht die Erwachsenen nur von den Knien hüftabwärts und hört dazu ihre Stimmen.

Nicht einmal der gleichnamige Sahnepudding hielt mich von dieser VERUNSTALTUNG ab, wie meine entsetzte Mutter es nannte.

So nannte ihre eigene Mutter sie einmal, um meiner Mutter begreiflich zu machen, dass ihre Tochter doch unmöglich ein Gymnasium besuchen könnte.

mhd. normen, »regeln«, »einrichten«, aus lat. nōrmāre, nach dem Winkelmaß abmessen.

Meine Kategorien waren eher so etwas wie: interessante/neue Räume, interessante/neue Spielsachen.

»Kein Respekt vor der Materie«, sagt mein Vater noch heute, wenn er sieht, wie nachlässig ich meinen Computer behandle, oder er mitkriegt, dass ich meine Katze mit dem Silberbesteck füttere, das meine Tante als Kind für mich gesammelt hat: Jedes Jahr lag ein WMF-Messer unter dem Weihnachtsbaum.

Im Grunde predigte mir meine Mutter eine Art frühen Lookismus. Der Lookismus opponiert gegen die Überbewertung von klassischen Attributen: schön, schlank, jung, nett, sympathisch etc.

Viele Märchen beschreiben den Gang in die Fremde und stellen klassenübergreifende Fragen nach inneren Werten. Gern ist der Bauerntölpel am Ende der König – und zwar ein gerechterer König.

Meine Mutter war Katholikin, aber meine Eltern hatten evangelisch geheiratet, die unterschiedlichen Konfessionen waren kein Thema zwischen ihnen.

Was er häufig in seinen Predigten thematisierte: die »weiße Schuld«.

Die Kinder der Goldmanns wiederum beneideten uns um unsere Selbstverständlichkeiten – so wie der Pastorensohn Stuckrad-Barre in Panikherz seine Klassenkameraden um die Milchschnitten beneidet.

Niemand übte eifriger Flöte oder lauschte andächtiger den Predigten als Betty. Bei ihr zu Hause gab es keine Musik, weder klassische noch Pop. Singend, betend, wie tausend andere Deklassierte in den Jahrhunderten vor ihr, wählte Betty das einzige Schlupfloch, um ihrem Milieu zu entkommen: die Insel der Seligen – die Kirche.

Damals gab es vielleicht noch zwanzig Landwirte im Ort, heute ist es ein einziger.

Auch die Riten, um außer sich zu treten, Spiele und Bräuche – etwa die traditionellen Blumenfeste der Arbeiterklasse, die Patrick Eiden-Offe in Die Poesie der Klasse beschreibt – waren verschwunden.

Ähnlich wachsen Mädchen oft mit einer paradoxen Anforderung auf: Sei hübsch, aber nicht zu hübsch, wehr dich, aber nicht zu sehr. Was aber soll das Maß für dieses »zu sehr« sein?

Mit diesem Gedicht begann meine Leidenschaft für Sinnsprüche. Die ganze Pubertät hindurch plakatierte ich mein Zimmer mit Sätzen wie: MAN KANN SEIN LEBEN NICHT VERLÄNGERN, NUR VERTIEFEN – MACHT KAPUTT, WAS EUCH KAPUTTMACHT – HÖHER, SCHNELLER, WEITER, ABER WOHIN?

Vielleicht spürten meine Mutter und ich, dass Tucholsky ebenfalls ein sozialer Überläufer war, wenngleich er als Kind einer gutbürgerlichen jüdischen Industriellenfamilie aus umgekehrter Richtung die Seiten gewechselt hatte.

Mein Lieblingsspiel: Schule spielen! Ich konnte nicht genug davon kriegen. Ich war die Lehrerin – eine bessere Autorität als unsere Direktorin, eine bessere Königin – und führte Regie, Betty war Betty, meine Mutter abwechselnd Hans Müller in der Ecke oder der dicke Dirk, Rollen, die sie mit Passion und Selbstironie spielte, meine Katze die stille Beobachterin dieses ethnologischen Kammerspiels.

Meine Mutter erklärt heute: Die Direktorin war eine einsame Frau, eine schwere Alkoholikerin – und trotzdem eine gute Lehrerin, die kurz vor der Pensionierung stand. Ein Nachbar hatte ihre Katzen vergiftet, und meine Mutter hatte Mitleid: »Sie war gestraft genug.«

Meine Schwester war acht Jahre jünger als ich und nicht der Spielkamerad, wie ich ihn mir gewünscht hatte. Nach meiner anfänglichen Euphorie wollte ich die sehnlich erwartete Schwester »umtauschen« – so sagte ich das tatsächlich: Sie hatte keine Haare, keine Zähne, war blaurot und schrie in einem fort. Schon nach zwei Tagen aber sah sie entzückend aus, und fortan trug ich sie zu den Klängen von Rondo Veneziano durch unser Wohnzimmer und spielte große Schwester.

In unserem Dorf verhielt sich die Größe eines Hauses oder eines Anwesens nicht proportional zum Vermögen oder dem gesellschaftlichen Ansehen der jeweiligen Bewohner. Die wohlhabendsten Menschen im Ort besaßen die unscheinbarsten Anwesen. Sie sparten ihr Geld oder trugen es zumindest nicht zur Schau.

Betty brachte keine unserer neuen Schulkameradinnen zu sich mit. Sie sah die neuen Mädchen bei mir ein und aus gehen – Symptome meiner unerwiderten Liebe zu ihr.

Mein Vater war Anhänger von 1860 München, kein Bayern-München-Fan

Meine Eltern ließen ihre konkurrierenden Wertesysteme nicht auf einer Meta-Ebene gegeneinander antreten, es war ihnen nur teilweise bewusst, was konkurrierte.

Kinder fordern von ihren Eltern vergleichsweise konservative Strukturen – aber nur, um ihren eigenen Anarchismus ausleben zu können.

Ich erinnere mich, mit meiner »Biela Oma« Bilderbücher angeschaut zu haben, nicht aber daran, dass meine Mutter mir vorgelesen hätte.

Lindgren ist nicht mit der Vorlesestimme meiner Mutter verknüpft, sondern mit Jutta, einer engen Freundin der Goldmanns, die uns jeden Freitagnachmittag vorlas. Ort des Geschehens war die sogenannte »Brücke«, die direkt gegenüber der Kirche lag, ein Probenraum: Etwa 20 Kinder im Alter zwischen zwei und zwölf rekelten sich bäuchlings oder saßen im Schneidersitz auf einem riesigen flauschigen beigefarbenen Teppich. Es gab Kekse und Saft, der auf keinen Fall auf dem Klavier abgestellt werden durfte: No drinks on the piano. Wir teilten eine Welt und tauchten ein in eine Welt, in der geteilt wurde.

In Kirn gab es damals keine Buchhandlung. Die Bücher, die meine Mutter für mich kaufte, stammten aus einem Schreibwarenladen. Meine Mutter und die Betreiberin, Tochter einer alteingesessenen wohlhabenden Kirner Familie, waren zusammen zur Schule gegangen, und einige der Buchtipps hatte meine Mutter aus Gesprächen mit ihr.

Es werde Stadt! porträtiert die Stadt Marl, in der alljährlich der Grimme-Preis verliehen wird. Der Film dokumentiert die sozialutopische Gropius-Architektur der Wohnmaschinen und der Volkshochschulen.

Deren mädchenhafte Stimme und Physiognomie meine Mutter tolerierte. Trotzdem sang ich die Zeilen hielten sich für schlaue Leute / witterten schon fette Beute / riefen, Krieg und wollten Macht betont inbrünstig mit. So schnell, wie Prinzessinnen auf den Index gerieten, konnte auch Nena nicht sicher sein.

Ich weiß, dass man die Fastnacht/den Karneval oder Fasching heute noch als klassenübergreifendes Fest feiern kann. Die sogenannte fünfte Jahreszeit hatte Menschen einst erlaubt, Kritik an den Obrigen zu üben. Der Brauch ist nicht seiner Natur nach tumb – er wird dazu gemacht.

In meiner Vorstellung eine Art gigantischer Eisblock, der irgendwo kurz hinter dieser geteilten Stadt mit Namen Berlin begann.

Meine Eltern waren mit einer Magdeburger Familie befreundet, entfernten Verwandten meines Vaters. Vor meiner Geburt hatten sie sie hin und wieder im Osten besucht. Die Kinderbücher in diesen Paketen, welche die Familie an uns schickten, rochen geheimnisvoll, immer leicht nach Antiquariat.

Eifrig plante ich meine Clownskarriere. Mein bester Trick: Ich trete sichtbar für alle hinter das leere aufrechtstehende Planschbecken, das Betty vor den Augen von Mama, Papa, Oma, Opa, Tante UND Cousins wie ein Rad von rechts nach links über die Wiese rollt: »Wenn Betty am linken Rand angekommen ist, bin ich verschwunden!«

Lieder wie »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern« von Franz Josef Degenhardt (von 1965!) kannte ich nicht. Biermann-Platten hörte mein Vater ab und zu, aber nicht oft.

Gudrun Pausewangs Die Wolke und Die Kinder von Schewenborn las ich allein, mit knapp zehn Jahren. Ich bekam das Buch von Freunden meiner Eltern, meine Mutter hätte niemals erlaubt, dass ich so etwas Gruseliges lese. Bis heute kann ich an keinem blühenden Rapsfeld vorbeifahren, ohne daran zu denken, wie die Ich-Erzählerin in einem solch gelben Feld ihren kleinen toten Bruder zurücklässt.

Von der sich dann später herausstellte, dass ihr Inhalt doch zusammen mit Restmüll verbrannt wurde.

Verewigt von Katherine Mansfield, die dort einmal zur Kur war (als »Käthe Beauchamp-Bowden«).

Mein Ur-Liebespaar: Atreju und die Kindliche Kaiserin aus der Unendlichen Geschichte. Auf Fuchurs zotteligem weißen Fell flog ich meinen ersten Träumen entgegen. Der Film wurde zu einem Grundstein meiner kindlichen Romantik und ihrer heterosexuellen Matrix.

Auch das »Herrmännche« aus Edgar Reitz’ Heimat zieht es nach München, ausgerechnet …

So populär die Diagnose »Leseschwäche« heute ist, so selten stellte man sie damals in der Provinz.

Nach Peggy McIntosh: White Privilege.

Betty weinte bitterlich, wenn Hansi Müller zu ihr sagte: »Du stinkst« – nach Bauernhof. Das war ihre größte Angst, auch später, auf dem Gymnasium: dass jemand buchstäblich ihren »Stallgeruch« wahrnahm. Dagegen verteidigte ich sie, immerhin.

Es gab dort nur Frauen, wie in der Vorabendserie Büro, Büro. Schreibkräfte waren damals grundsätzlich weiblich. Der muskuläre Akt des Schreibens (Roland Barthes) lag in Frauenhand.

Pädagogik bestand im Wesentlichen in einer Art Orthopädie. Statt auf die schwache Seite einzugehen oder einen Ausgleich zwischen beiden Seiten zu suchen, (…) (entschied man), sich so weit wie möglich auf die Seite des Stärkeren zu schlagen, sich zur Einseitigkeit zu bekennen. (Adriano Sofri)

Von etwas windiger Eleganz, der jeweils herrschenden Mode immer einen Schritt vorausstolzierend, hat der Stenz die Pflege seines Haupthaares sowie die Pflege seiner Schuhe (von denen er unzählige besitzt) zu kultischen Handlungen entwickelt. Er legt Wert auf Umgangsformen bzw. auf das, was er dafür hält, und schafft es, das oberste Ausstrahlungsziel dabei nicht aus den Augen zu verlieren: immer cool und lässig zu sein. Seine Sprache ist cool und lässig, die Art, wie er ein Glas, eine Zeitung oder eine Sonnenbrille hält, ist cool und lässig. (Helmut Dietl)

Das Honnefer-Modell, der Vorläufer des BAFÖG, bot keine Garantie, erst das BAFÖG ermöglichte ab 1971 einem breiteren Kreis das Studium und war durch Rechtsanspruch einklagbar.

Vorbilder sind wesentlich, auch für Erwachsene. If you can’t see it, you can’t be it. – Solange man das Bedürfnis nach wirklichen Autoritätsgestalten nicht als eine positive, dem Erwachsenen gemäße Haltung akzeptiert, bleiben die verschleierten Autoritätsgestalten unangefochten. (Richard Sennett)

Einzige Ausnahme: Das »GUTE DEUTSCHE« Rechtssystem. Meine Mutter schrieb zahlreiche Beschwerdebriefe an Ämter, wenn diese ihr die zustehenden Rechte verwehrten. Meistens gewann sie. Ihre Briefe waren sachlich, aber bestimmt. Sie kannte ihre Rechte bzw. machte sich kundig. Oft wurden sie ihr gewährt, indem man ihren exakten Wortlaut zitierte.

Der Ungezwungenheit des Großbürgers steht die Gezwungenheit und Gehemmtheit des Kleinbürgers gegenüber, dem in seinem Leib und seiner Sprache nicht wohl ist, der beides, statt mit ihnen eins zu sein, gewissermaßen von außen, mit den Augen der anderen betrachtet, der sich fortwährend überwacht, sich kontrolliert und korrigiert, der sich tadelt und züchtigt und gerade durch seine verzweifelten Versuche zur Wiederaneignung eines entfremdeten »Seins-für-den-Anderen« sich dem Zugriff der anderen preisgibt, der in seiner Überkorrektheit so gut sich verrät wie in seiner Ungeschicklichkeit. (Bourdieu)

Vermutlich ist deshalb das Bild, das mir automatisch in den Sinn kommt, wenn ich das Wort »Gymnasium« höre, das Wort »Gymnastik«, und mit ihm verbunden ein schamvoll-schamloses Genießen. In der fünften oder sechsten Klasse hänge ich rücklings an der Sprossenleiter und erlebe – beide Hände um die glatte Kiefernholzstange geklammert, die Füße über der blauen Turnmatte auf und ab hebend – meinen ersten Orgasmus: heimlich, elektrisiert von diesem unverhofft ausströmenden, unbekannten famosen Gefühl im Inneren meiner Scham, unbeobachtet von anderen – und doch in aller Öffentlichkeit.

Die örtliche Volkshochschule in Kirn, ein verwaistes Gebäude neben der Kirche, in der unser Chor sang, befand sich außerhalb des Horizonts meiner Eltern. Volkshochschulen im heutigen Sinne wurden nach dem Ersten Weltkrieg gegründet, in den 70er-Jahren verbreiteten sie sich flächendeckend.

Über der Stadt, ganz für sich allein, thronte die Kyrburg samt Nobelrestaurant.

Darin hatte meine deutsche Oma sich früher ihr langes schwarzes Schneewittchenhaar gewaschen.

Als ich einmal das Dreschen als Beispiel für fröhliche, solidarische Zusammenarbeit anführte, lachte mein Vater mich aus vollem Herzen aus. Der sozialromantische Blick seiner Akademikertochter auf die harte bäuerliche Lebenswelt erschien ihm lächerlich weltfremd.

Meine Mutter hat nie Frauenmagazine gelesen. »Zu unrealistisch«, die Ideale, sagte sie.

Das ist die These von Laurie Penny in Fleischmarkt.

Ich selbst wiederum bin erstaunt, wenn ich dieser aufgeklärten Arglosigkeit begegne.

Mir ist kein einziger Fall in der Weltgeschichte bekannt, in dem ein schweigendes Lächeln eine Ungerechtigkeit abgeschafft hätte. (Margarete Stokowski)

Ihre Interpretation heute: Meine Mutter sagt, dass es meinem Vater primär darum ging, so schnell wie möglich »das neue Haus« zu bauen, und nicht um ihr Übergewicht. Meine Mutter glaubt, sie war zeitlebens die Repräsentation dessen, was es zu überwinden galt. Ihr Körper wurde demnach mit einem alten Haus verwechselt.

In einer Performance der spanischen Regisseurin Angélica Liddell – der populärsten Schmerzensfrau des zeitgenössischen Theaters – heißt es: Mein Körper ist mein Protest gegen die Gesellschaft.

NORMAL ist auch die frühkindliche Schuld – die Existenzschuld gegenüber den Eltern – nicht.

Ich mag ein anderer sein, gewiss, aber diese Art von Selbstkenntnis halte ich für elementar. Kenne ich meine soziale Herkunft, verstehe ich besser, wem ich die Macht über meine Gefühle und Gedanken zugestehe, warum ich mich bedroht oder beschämt fühle. Ich kenne den Maßstab für meine Gefühle.

Leerer Koffer = leere weiße Blätter.

Ein Clown ist alles, aber nicht NORMAL.

Der Imperativ des Besonderen kann zu Abgrenzungen zwischen einer als »elitär« empfundenen urbanen intellektuell-künstlerischen Elite und den »alten« Mittelklassen führen, weil Letztere das Gefühl haben, nicht mehr mithalten zu können angesichts des aus ihrer Sicht immer als »kryptischer« empfundenen Jargons und der immer verfeinerteren Ästhetik (Andreas Reckwitz).

Kinder sind nicht zufällig empfänglich für solche David-gegen-Goliath- oder Robin-Hood-Geschichten. Jedes Kind weiß, was es bedeutet, in einer Position der Ohnmacht zu sein. Abhängig von Eltern. – Aus postkolonialer Perspektive ließe sich einwenden: Im Denker wird ein weißer Junger zum weißen Retter eines schwarzen Jungen, die Geschichte folgt der Logik des white saviour. Immerhin aber helfen alle vier Freunde, auch der Sir selbst, an der Aufklärung mit.

Auch meine Mutter blieb passiv. Selbst sie, die stets versuchte, alle zu integrieren (und es dabei nicht schaffte, sich selbst zu integrieren), fand es »übergriffig«, sich in Anjas Leben zu drängen.

Wer als Arbeiterkind aufsteigt, agiert oft sehr selbstbezogen und relativ unkritisch gegenüber dem gehobenen Milieu (Aladin El-Mafaalani).

Für meine Tante hatte die RAF zu sehr den Unrechts- statt den Ungerechtigkeitsstaat im Visier und nahm in ihrer Wahrnehmung zu wenig auf die Klassenfrage Bezug. Rudi Dutschke warf der RAF deshalb auch vor, den politischen Klassenkampf zu hemmen. – Wenn ich das Kürzel »RAF« höre, sehe ich automatisch das berühmte Plakat von Klaus Staeck, das viele Jahre in Inge-Lores Ludwigshafener Wohnung hing. Es zeigt eine originalgetreue Kopie von Dürers gezeichnetem Porträt seiner Mutter: eine grimmige alte Frau mit eingefallenen Wangen und starrem Blick, die über dem Haar ein drapiertes Kopftuch trägt. Staeck ergänzt es um die Zeile Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten? – Ich weiß noch, wie unheimlich ich das Bild als Kind fand. Vermutlich hatte ich aufgeschnappt, wie Inge-Lore die Argumente Heinrich Bölls aus dem Jahr 1972 wieder hervorholte, der (anders als sie selbst) dafür plädiert hatte, Ulrike Meinhof freies Geleit zu gewähren: »Zimmer vermieten« und »freies Geleit« verschmolzen interessanterweise in eins.

Das Haus, das sie damals als Jugendliche dazu veranlasst hatte, nur noch weiße Blätter abzugeben.

Françoise Sagan hat den Mythos des polygamen Jetsets der kulturellen Boheme in Bonjour tristesse verewigt, bzw. hat sie diesen überhaupt erst hervorgebracht.

Olli blieb nicht lange auf dem Gymnasium. Nach der achten Klasse verließ er die Schule und machte eine Lehre, aber auch die brach er ab. Mit nicht einmal sechzehn starb er an Heroin. Unsere Region rangierte zu der damaligen Zeit statistisch über der Heroinstadt Nummer eins, dem 100 km entfernten Frankfurt a.M.

Alles, was ich wusste, wusste ich aus der Bravo. Die Intimseiten konfiszierte meine Mutter, sie fand sie »ordinär«. Betty und ich aber fanden unsere Wege, an Nacktbilder heranzukommen. Wir durchsuchten die Versandhauskataloge in den Haushalten unserer Eltern nach der Abbildung von Sonnenbänken: Wo sich ein Apparat zur künstlichen Bräunung fand, waren nackte Frauen nicht weit.

In Hinblick auf die 60-jährige Geschichte der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter wird zu selten fokussiert, wie viel Mut und Kraft es all diese Menschen kostete, sich in der Fremde ein Leben aufzubauen, und welche Bereicherung sie darstellen und darstellen könnten, wenn man Integration nicht als Anpassung verstehen würde. (Jagoda Marinić)

Meine Mutter stand mir bei, indem sie mir von meiner frühen Rebellion gegen die unpersönliche grammatische Fügung des MAN erzählte. Schon als Kind, behauptete sie, hatte ich keine Sätze geduldet, in denen dieser »man« als Erklärung herhalten musste: »Ich hasse diesen Mann mit dem einen n.«

Mit bürgerlichem Namen Johannes Buckler oder Jean Buckler. – Ein Schinder war ein Abdecker, also jemand, der tierische Kadaver entsorgte, daher das umgangssprachliche »schinden« = »enthäuten«, im Mittelhochdeutschen auch schon »quälen«.

Die BBC-Serie Peaky Blinders – Gangs of Birmingham, die nach dem Ersten Weltkrieg spielt, legt dem arrivierten Anführer der Bande, Tommy Shelby, eine interessante Replik in den Mund, als ein Vorarbeiter ihm vorwirft, in seinen Fabriken jene Arbeiterklasse auszubeuten, der er doch selbst entstamme. Tommy Shelby sagt – smart und stolz: »Ich bin kein Verräter meiner Klasse – ich bin nur ein verdammt gutes Exemplar meiner Klasse.«

Die Struwwellise wird angefahren und landet mit gebrochenem Bein im Krankenhaus: Auf der Straße noch zu lesen / ist noch niemals gut gewesen.

Jakob Müller, der ehemalige Maurermeister, zählte Mitte der 60er-Jahre zu den Reichsten des Landes. Er besaß in Kirn eine Villa, die auf einem eigens dafür aufgeschütteten Hügel und hinter einer eigens dafür gebauten Mauer verborgen lag. Ich habe kein Bild von diesem Gebäude, nicht einmal die genaue Lage könnte ich benennen. Das alles war vor meiner Zeit. Ende der 1980er-Jahre war die Firma schon fast wieder bankrott. Vertraut sind mir lediglich noch die Firmengebäude am Stadtrand.

In meinem Viertel gehe ich am Tag durchschnittlich an mindestens sechs Obdachlosen vorbei. Jedem täglich 50 Cent zu geben würde 90 Euro im Monat kosten. Ruinieren würde es mich also nicht.

Pop-Ikone meiner Wahrhaftigkeit war Sinéad O’Connor, eine weibliche Paria-Figur, die mit zarter Millimeterfrisur und Babyface in Großaufnahme Nothing Compares To You für mich singt.

Als Bauernsohn widerstrebte ihm die Metaphorik der blühenden Landschaften. Er wusste, wieviel Hege und Pflege es bedeutete, einen Acker neu zu bestellen, und kannte die Gefahren der Monokultur. – Meine Mutter reagierte ganz anders, emotional und ekstatisch – als gelte die Befreiung der ostdeutschen Bevölkerung niemand geringerem als ihr selbst.

Symptomatisch, dass mein Vater, das Bauernkind, keine Bauhaus-Villa baute.

Die Pflege aber galt, wenngleich staatlich entlohnt, ihrem eigenen Dafürhalten nach nicht als Arbeit.