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John Horne und Alan Kramer

Deutsche
Kriegsgreuel 1914

Die umstrittene Wahrheit

Aus dem Englischen
von Udo Rennert

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

Inhalt

Zur Rezeption des Buches seit 2001

Einleitung

Teil I Invasion 1914

1. Deutsche Invasion, Teil 1

Der Schock von Lüttich

Die 1. und die 2. Armee auf dem Marsch zur französischen Grenze

Die Zerstörung Löwens

Die 3. Armee und Dinant

2. Deutsche Invasion, Teil 2

Die Ardennenschlacht

Die Deutschen im Département Meurthe-et-Moselle

Bis zur Marne und zurück: September/Oktober 1914

Das Muster deutscher militärischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung

Vergleiche

Teil II Krieg der Illusionen? »Franktireurs« und »deutsche Greuel« 1914

3. Das deutsche Heer und der Mythos der Franktireurs 1914

Begriffe und Präzedenzfälle

Der Mythenkomplex des »Franktireurkriegs«

Die militärische Lage und die Angst vor Franktireurs

Die innere Dynamik der Franktireurfurcht

4. Erinnerungen, Mentalitäten und die deutsche Reaktion auf den »Franktireurkrieg«

Erinnerungen an 1870 und das Kriegsrecht

Deutscher Nationalismus: Externalisierung des inneren Feindes

Eine deutsche Art der Kriegführung? Reaktionen auf den »Franktireurkrieg«

5. Die Alliierten und die »deutschen Greuel«, August–Oktober 1914

Flüchtlinge, Soldaten und die »Invasionsangst« der Alliierten 1914

Alliierte Erzählungen von Opfertum

Vergewaltigung, Verstümmelung und abgehackte Hände

Die Darstellung der »deutschen Greuel«: Die Rolle der Presse

Erinnerungen, Mentalitäten und die Konstruktion »deutscher Greuel«

Teil III Der Krieg der Worte, 1914–1918: Deutsche Greuel und die Bedeutungen des Krieges

6. Der Kampf der amtlichen Berichte und das Tribunal der Weltöffentlichkeit

Der Kampf der amtlichen Berichte: Die Beschuldigungen der Alliierten

Der deutsche Gegenangriff: Das »Weißbuch«

Die belgische Erwiderung: Das »Graubuch« und Fernand van Langenhove

Neutrale Zeugenschaft und das Tribunal der Weltöffentlichkeit

7. »Wahrheitsgemeinschaften« und die »Greuel«-Frage

Sozialisten

Katholiken

Intellektuelle

8. Kriegskulturen und feindliche Greuel

Kriegskulturen und der unversöhnliche Feind

Kriegskulturen und nationales Märtyrertum

Das Festhalten an der Bedeutung von 1914

Teil IV Der unmögliche Konsens: Deutsche Greuel und Kriegserinnerungen nach 1918

9. Die moralische Abrechnung: Versailles und die Kriegsverbrecherprozesse

Versailles

Die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Leipziger Reichsgericht 1921

Kriegskulturen nach dem Krieg

10. Deutsche Greuel und die Politik der Erinnerung

Die pazifistische Wende: Deutsche Greuel als alliierte Propaganda

Locarno und die Politik der Erinnerung

Der Zweite Weltkrieg und danach

Abschließende Bemerkungen und Perspektiven auf die Gewalt in der neueren Geschichte

Anhang

(1)Deutsche Kriegsgreuel 1914: Zwischenfälle mit zehn oder mehr getöteten Zivilisten

(2)Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges – Haager Landkriegsordnung (1907), Auszug

(3)Der Friedensvertrag von Versailles, Artikel 227–230

(4)Alliierte Forderungen nach einer Auslieferung von Kriegsverbrechern 1920

Abkürzungen

Militärische Terminologie

Orte und geographische Merkmale

Verzeichnis der Karten, Schaubilder und der Tabelle

Bibliographie

Danksagung

Register

Über die Autoren

Zur Rezeption des Buches seit 2001

Ziel unserer Untersuchung zu den deutschen Kriegsgreueln während der Invasion Frankreichs und Belgiens war es, ein Phänomen zu erklären, welches für weltweites Entsetzen sorgte: die Tötung Tausender Männer, Frauen und Kinder, die Verwüstung von Häusern sowie die Einäscherung der Universitätsbibliothek zu Löwen. Die damalige Reichsregierung und die Heeresleitung erklärten, die Truppen hätten einen völkerrechtswidrigen »Franktireurkrieg« unterdrücken müssen, die Repressalien seien mithin rechtens. Die Belgier und die Franzosen bestritten die Existenz eines solchen Widerstands der Zivilbevölkerung und erhoben ihrerseits den Vorwurf, die Deutschen hätten Kriegsgreuel gegen Zivilisten verübt. Nach 1918 bildete sich in Deutschland und im Ausland ein Konsens heraus, der bis 2001 bestand: Die deutschen Kriegsgreuel seien weitgehend eine Erfindung der perfiden alliierten Propaganda gewesen. In der deutschen Variante kam das Beharren auf den »Volkskrieg« hinzu. Trotz des Versuchs auf deutscher Seite in den 1950er Jahren, den »Volkskrieg« als Wirklichkeit in Frage zu stellen, bestand daher in Deutschland eine Art doppelter Konsens: Die Alliierten hätten den Topos der »deutschen Kriegsgreuel« erfunden, aber es habe einen belgischen zivilen Widerstand gegeben. Nicht einmal die bittere Kontroverse in den 1960er Jahren um die Thesen Fritz Fischers zu den deutschen Kriegszielen erschütterte diesen Konsens.

Unser Buch entzog diesem doppelten Konsens den Boden, indem es jenseits aller Propagandaübertreibungen auf alliierter Seite den grundlegenden Tatbestand feststellte, dass die deutschen Armeen beim Einmarsch in Nordfrankreich und Belgien massive Gewalt gegen Zivilisten ausübten, die ihrerseits weder einen organisierten noch einen weit verbreiteten Widerstand gegen die Invasion geleistet hatten. Den Hauptgrund für das gewalttätige Handeln der deutschen Truppen verorteten wir jedoch, anders als in den damaligen Anschuldigungen der Alliierten, nicht in einer angeborenen deutschen Brutalität, sondern im vorherrschenden Glauben daran, dass ein solcher ziviler Widerstand stattgefunden hatte. Dieser »Legendenzyklus«, wie der zeitgenössische Soziologe van Langenhove ihn nannte, oder »Mythenkomplex«, wie wir ihn beschreiben (siehe S. 139 – 145), war so wirkmächtig, dass er neben anderen Faktoren, auf die wir eingehen, eine zentrale Rolle in der Entfesselung der militärischen Gewalt spielte und einen bedeutenden schriftlichen Niederschlag in den Archiven hinterließ.

Bücher haben wie Menschen ihre eigene Biografie. Ort und Zeitpunkt ihrer Geburt prägen sie, ohne ihren Lebenslauf vorherzubestimmen. Dieses Buch haben wir 1988 konzipiert und in den 1990er Jahren dazu geforscht. Unser europäischer und transnationaler Ansatz entstand zu einer Zeit, als die rein national orientierte Geschichtsschreibung nach der Erfahrung zweier Weltkriege, die Europa in die Katastrophe geführt hatten, an ihre Grenzen gestoßen war. Vor allem für das Verständnis von Phänomenen wie Krieg war ein vergleichender, transnationaler Ansatz unerlässlich. Wir waren und wir sind nach wie vor der Meinung, dass nur eine transnationale Geschichtsschreibung, die auf Archivquellen in allen beteiligten Ländern basiert, in der Lage ist, die Perspektive jedes Kriegsteilnehmers einzunehmen und dessen Motive zu erklären. Jedweder rein nationaler Zugang zu diesem transnationalen Thema ist naturgemäß zum Scheitern verurteilt.

Die Rekonstruktion der Geschichte, »wie es eigentlich gewesen«, bildete jedoch lediglich einen Teil der Aufgabe. Daneben wurde die Kulturgeschichte zu einem unentbehrlichen Element in unserer Argumentation, denn wer erklären möchte, wie die »deutschen Kriegsgreuel« zu einem so vergifteten Thema wurden, muss nicht nur die Erfahrung der Generale und Minister, sondern auch die der einfachen Soldaten und Zivilisten begreifen. Die Kontroverse beschäftigte die Öffentlichkeit in den verfeindeten Staaten sowie in den neutralen Ländern, vor allem in den USA, der Schweiz, dem Vatikan und Italien. Die »eingefrorene Erinnerung«, die 1942 noch die Wahrnehmung der Nachrichten über den Holocaust verzerrte und noch lange in der Nachkriegszeit fortbestand, gehörte genauso zur Geschichte des Themas.

Die überwiegende Mehrheit der Rezensenten äußerte sich positiv, gerade auch in Deutschland. Der amerikanische Historiker Stanley Hoffmann bemerkte sogar: »Wenige Bücher können für sich reklamieren, maßgeblich zu sein. Das vorliegende Buch sollte jedoch als solches anerkannt werden.« Die grundlegenden Daten und Argumente des Buches wurden von der seriösen Geschichtswissenschaft akzeptiert; somit etablierte es einen neuen internationalen Forschungskonsens. Zitiert wurde es als Standardwerk nicht nur in Veröffentlichungen zur Geschichte Europas im Zeitalter der Weltkriege, sondern auch in Arbeiten zur Geschichte von Greueln und Verbrechen in anderen Kriegen und in anderen Epochen.1 Darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass unser Buch als ein Beitrag neben den Werken anderer Historiker_innen zu einer modernen Kriegsgeschichte anzusehen ist, die sich nicht auf Schlachtendarstellungen oder Ereignisgeschichte beschränken.

Dennoch lag es uns fern zu behaupten, das letzte Wort gesprochen zu haben. Forschung steht nie still. Ohnehin wurde das Buch nicht einhellig begrüßt. In einigen Besprechungen wurde bezweifelt, dass Sinnestäuschungen oder ein Legendengebilde das Handeln streng disziplinierter Soldaten leiten konnten. Jedoch legte keine Historikerin und kein Historiker eine quellengestützte Widerlegung vor.

Nun haben 2016 und 2017 zwei Autoren den Versuch unternommen, unser Buch radikal infrage zu stellen. Im Wesentlichen plädieren Gunter Spraul und Ulrich Keller für eine Rückkehr zu der These von Reichsregierung und Heer aus der Kriegszeit, die lange den Konsens in Deutschland gebildet hatte: Die Hinrichtung belgischer Zivilisten war die berechtigte Reaktion auf einen völkerrechtswidrigen, staatlich organisierten »Franktireurkrieg«. Horne und Kramer hätten wichtige deutsche Quellen ignoriert (»geächtet«, heißt es bei Keller) und selektiv gearbeitet, das heißt nur diejenigen deutschen Aussagen ausgewählt, die ihre These der belgischen »Unschuld« stützten. Damit sprechen sie uns die Wissenschaftlichkeit ab. Beide Kritiker sparen nicht mit beleidigender Polemik, die mit Übertreibungen und Entstellungen arbeitet. Sie behaupten, unsere zentrale These sei, »dass es einen Franktireurkrieg überhaupt nicht gegeben hat«.2

Und beide Autoren wollen gravierende handwerkliche Fehler entdeckt haben. So weist Spraul darauf hin, dass es sich bei der Tötung von 38 Einwohnern und der Verwüstung des Dorfes Herve am 8. August 1914 um das Infanterie-Regiment 39 handelte, nicht, wie wir auf Grund der belgischen Quellen angaben, um das Reserve-I.R. 39.3 Vermutlich war es nicht eine bayerische Landwehrkompanie, die das Dorf Parux niederbrannte, wie wir auf S. 40, Anmerkung 52 schrieben, sondern das bayerische Infanterie-Leib-Regiment.4 Es handelte sich beim Militärbefehlshaber in Brüssel nicht um General Walther von Lüttwitz, wie wir auf S. 493 schrieben, sondern um Generalmajor Arthur von Lüttwitz.5 In Bezug auf den französischen Ort Gerbéviller bemerkt Spraul: »I.R. 160 ist wohl ein Abschreibefehler, denn dieses Regiment gehörte zur 4. Armee; richtig ist I.R. 60.«6 In Bezug auf die Tötungen der Einwohner in Gerbéviller, die wir auf S. 106 – 108 beschreiben, nennen wir »I.R. Nr. 60 und 166«, Regiment 160 erwähnen wir nicht. Im Kontext des französischen Kriegsverbrecherprozesses im Jahr 1924 erwähnen wir das I.R. 160 auf S. 518 (Anmerkung 119) nach den Angaben in einer ungenannten Zeitung im Nachlass Berrer im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Diese ist möglicherweise falsch, bedarf aber weiterer Prüfung.

In anderen Fällen vermögen wir keinen Korrekturbedarf zu erkennen. Wir schätzen die Angriffsstärke für den »Handstreich auf Lüttich« Anfang August 1914 auf 39 000 Mann (S. 21). Spraul behauptet auf der Grundlage der problematischen Truppengeschichten, dass die Gesamtstärke nur 27 350, 25 000 oder vielleicht 22 550 Mann betrug und dass I.R. 25 nicht daran beteiligt gewesen sein kann.7 Das Werk des Reichsarchivs, »Der Weltkrieg 1914 bis 1918«, das für Spraul Vorbildcharakter hat, gibt bezüglich der Gesamtstärke für den »ersten Handstreich« an: »etwa 25 000 Gewehre, 8000 Reiter, 124 Geschütze«, was unserer Schätzung sehr nahekommt.8 Außerdem erwähnt es ausdrücklich den Einsatz des in Aachen liegenden I.R. 25; belgische Zeugen in Berneau bestätigten seine Beteiligung. Ob man Sprauls Neuberechnung nachvollziehen mag oder nicht: es bleibt dabei, dass die deutsche Militärführung die Stärke der belgischen Verteidigung unterschätzt hatte und ihre Truppen fast ungeschützt gegen Maschinengewehr- und Artilleriefeuer frontal anlaufen ließ. Die Folgen waren einerseits hohe Verluste sowie die Entscheidung am 8. August, weitere 60 000 Mann starke Truppen und schwere Belagerungsartillerie heranzubringen, andererseits die in mindestens 26 Ortschaften um Lüttich vorkommenden massenhaften Tötungen von Einwohnern.

Laut Spraul rückte das Infanterie-Regiment 49 »ohne Kampf in Aerschot« ein.9 Sogar die spärlichen Bemerkungen im »Weißbuch« zeigen das Gegenteil: Hauptmann Schleusener (I.R. 49) berichtete von Kämpfen in Aerschot am Nachmittag vom 19. August (Schüsse aus den Häusern, fliehende deutsche Kavallerie).10

Die Studie der Kriegsgeschichtlichen Abteilung 2 des Generalstabs vom April 1907 muss richtig heißen »Der Kampf in insurgierten Städten« und nicht »Vorschrift für den Kampf in insurgierten Städten«, wie wir versehentlich schrieben. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Konsequenzen für die Gegenwart gezogen wurden. Diese beinhalteten den offensiven Einsatz der Truppe gegen mögliche Aufstände in deutschen Städten, einschließlich der Verwendung von Artillerie. Der spätere Generalgouverneur von Belgien, General von Bissing, Kommandierender General des VII. Armeekorps in Münster, erstellte Ende April 1907 einen Befehl über das »Verhalten bei inneren Unruhen«, in dem es unter anderem hieß: »Eroberte Stadtteile sind genau abzusuchen […]. Alle Rädelsführer oder wer mit der Waffe in der Hand gefangen wird, ist dem Tode verfallen.«11 Die Grundsätze wurden, so Wilhelm Deist, »zu umfangreichen Instruktionen verarbeitet und damit von großen Teilen des Offizierskorps als verbindliche Richtlinien betrachtet«. Das preußische Kriegsministerium erließ 1912 entsprechende Bestimmungen an die Generalkommandos.12 Insofern hatte die Studie durchaus Weisungscharakter, was Spraul in Abrede stellt.13

Schließlich streitet sich Spraul mit uns über die Gesamtstärke der Truppen in Löwen am 25. August 1914. Wir hatten ausgerechnet, dass sich ca. 15 000 Mann in Löwen befanden. Wir bezogen uns auf die Angaben bei Peter Schöller, der anhand der Aussagen im »Weißbuch« eine Liste von Truppenteilen, allerdings ohne eine Gesamtzahl, aufführte.14 Wir haben seine Angaben noch einmal geprüft: 15 000 ist eine durchaus realistische Schätzung. Spraul kommt dagegen auf eine Zahl von 1500 Mann. Warum die Angaben im »Weißbuch« über deutsche Truppeneinheiten auf einmal nicht mehr glaubwürdig sein sollen, ist nicht ersichtlich. Allein die Landwehrbrigade 27, deren Anwesenheit in Löwen Spraul nicht bestreitet, wies eine Stärke von 6000 auf.15

Letztlich ist es schwer zu erkennen, wie solche Hinweise den wesentlichen Kern unserer Darstellung tangieren. In der überwiegenden Mehrzahl von Vorfällen haben wir die (verständlicherweise oft ungenauen) Beobachtungen der Zivilisten anhand deutscher militärischer Quellen und Literatur überprüft und korrigiert. Aber anstatt auf solche kleinlichen Einwände einzugehen, wollen wir an dieser Stelle die Hauptthesen der Kritiker, den Stellenwert der historischen Quellenanalyse sowie den Kontext der historischen Forschung der letzten Jahre verdeutlichen.

Vor allem ist festzuhalten, dass Spraul und Keller ein belgisches Phänomen belegen wollen. Sie ziehen jedoch einen äußerst problematischen deutschen Quellenkorpus heran: Spraul benutzt die veröffentlichten Regimentsgeschichten, Keller das vom Auswärtigen Amt 1915 veröffentlichte »Weißbuch« (»Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkkriegs«) und dessen Quellenmaterial sowie die Untersuchungen des Reichsgerichts unter deutschen Beschuldigten in den Jahren von 1920 bis 1926. Ein belgisches Archiv hat keiner von ihnen betreten.

Die letztgenannten Quellen haben wir mitnichten ignoriert, sondern extensiv benutzt.16 Die Denkschriften des Kriegsministeriums und das »Weißbuch« sowie ihr Verhältnis zueinander sind jedoch wie angedeutet komplex. Um sie richtig einzuordnen und zu verwenden, ist besonderes Fingerspitzengefühl vonnöten. Deshalb ist eine Einschätzung dieser Quellen lehrreich.

Der Stellenwert von Quellen – die Untersuchungen des Kriegsministeriums, das »Weißbuch« und die Untersuchungen des Reichsgerichts

Das »Weißbuch«, das das Auswärtige Amt im Mai 1915 veröffentlichte, beruhte auf einer großen Untersuchung, die das preußische Kriegsministerium bereits im September 1914 einleitete. Sie sollte auf die drängenden Anschuldigungen der Kriegsgegner, dass die deutschen Truppen Greuel gegen die Einwohner Belgiens und Frankreichs begangen hätten, eine überzeugende Widerlegung ermöglichen. Dieses »Weißbuch« war das Ergebnis eines dreistufigen Filtrationsprozesses: Zunächst erfolgte im Winter 1914/15 die Befragung der beteiligten Soldaten durch voreingenommene Militäranwälte des Kriegsministeriums, oft im Beisein der Vorgesetzten. Die gezielten Suggestivfragen sollten Material für die These des belgischen Volkskriegs erbringen.17 Zweitens wurden die Aussagen für die internen Denkschriften des Kriegsministeriums bearbeitet und drittens im Zuge der Redaktion für die Veröffentlichung durch das Auswärtige Amt. In den Kapiteln 1, 3 und 6 haben wir die ursprünglichen Aussagen der Soldaten und anderes Material aus den Untersuchungen benutzt, die wir im sogenannten Sonderarchiv in Moskau entdeckten, wohin sie nach dem Luftangriff auf das Reichsarchiv in Potsdam 1945 durch die sowjetische Armee gebracht worden waren. Die Denkschriften des Kriegsministeriums, die dieses Material bereits, allerdings nur auszugsweise, verwendeten, haben wir herangezogen, um (wie Peter Schöller im Jahr 1958 für den Fall Löwen) die redaktionellen Manipulationen sowie die weiteren Auslassungen und Sinnentstellungen im »Weißbuch« nachzuweisen. Wer diese Quellen in Kenntnis ihres dreistufigen Filtrationsprozesses kritisch benutzt, kann über die Umstände der Invasion von 1914 und den Willen der deutschen Regierung zu ihrer Verschleierung einiges an Klarheit gewinnen.

Die Untersuchungen des Reichsgerichts begannen im Frühjahr 1920, nachdem die Alliierten ihre Liste von 853 beschuldigten Deutschen veröffentlicht hatten, deren Auslieferung sie gemäß dem Friedensvertrag forderten (siehe Kapitel 9). Auch nach dem Scheitern der Prozesse gegen einige wenige Angeklagte vor dem Reichsgericht im Mai 1921 wurden die Untersuchungen mit dem Ziel der Entlastung der Beschuldigten fortgesetzt. Parallel dazu fanden in Frankreich und Belgien Kriegsgerichtsprozesse in Abwesenheit statt.

In den Untersuchungen des Reichsgerichts finden sich die Antworten der Veteranen auf die suggestiven Fragen. Dem Reichsgericht und der Reichsanwaltschaft stand außerdem das Aktenmaterial aus den Untersuchungen des Kriegsministeriums aus dem Winter 1914/15 zur Verfügung. Mehrheitlich wiederholten die Zeugen ihren festen Glauben daran, dass sie in Belgien und Frankreich von »Franktireurs« angegriffen worden seien; die Repressalien an den Zivilisten seien von Offizieren befohlen worden und gerechtfertigt. Belege für den »Franktireurkrieg« konnten sie allerdings genauso wenig wie im Jahr 1914 beibringen: Weder Namen von »Franktireurs«, noch Beweise, dass Beschuldigte nicht nur im Besitz einer Waffe, sondern diese auf die Deutschen abgefeuert hätten, oder rechtskonforme (Stand-)Gerichtsprozesse usw. Vielmehr beruhten ihre Angaben meist auf Hörensagen sowie auf Beobachtungen, oft aus großer Entfernung, dass von verdeckten Stellen, aus Hecken und Häusern, geschossen worden sei. Auch die offensichtliche Beteiligung regulärer Feindtruppen brachte sie vom festen Glauben an zivile Kämpfer nicht ab. Die Quellen sind damit selbst Zeugnis für die kulturelle Macht des Mythos.

So finden sich auch häufig stereotype Elemente in den Aussagen, gleich, ob sie 1914/15 oder nach dem Krieg entstanden. Beispielsweise hörte Oberst Kurt von Dambrowsky, Kommandeur des II. Bataillons, Grenadier-Regiment 100, am 23. August in Dinant Meldungen darüber, dass Leutnant von Buttlar durch den Schuss eines 14-jährigen Mädchens getötet worden sei. Aber er musste hinzufügen: »Wer mir dies erzählt hat, weiß ich nicht mehr.«18 Ein ähnliches Narrativ findet sich im Fall Andenne.19 Keller, den wie Spraul ein positivistischer, naiver Umgang mit Quellen auszeichnet, übernimmt unkritisch das Fantasiegebilde mancher Soldaten, wonach die Frauen von Andenne siedendes Wasser und Öl auf die Truppen gegossen hätten, ein Topos aus Belagerungsszenen im Mittelalter.20 Wir sind der Meinung, dass Historiker mit Quellen, besonders, wenn sie zur Mythenbildung beitragen, vorsichtig und kritisch umgehen müssen, eine Pflicht, die Spraul und Keller verletzen. Wie mehrere andere Zeugen verneinte der Arzt des in Andenne im Mittelpunkt stehenden Garde-Reserve-Schützen-Bataillons dieses Narrativ eindeutig: »Ich habe keine Wahrnehmungen gemacht, daß an einem dieser Tage Verwundungen von Leuten infolge von Verbrühen mit heißem Wasser oder ähnlichem vorgekommen sind.«21

Prüft man die Zeugenaussagen vorurteilsfrei, fallen die erstaunlich häufigen Zweifel an der amtlichen deutschen These auf. So sagte Hauptmann Haugk (im August 1914 Leutnant, Adjutant des I. Bataillons, Grenadier-Regiment 100) über die Kämpfe in Dinant aus, dass er seinem Kommandeur gemeldet hätte, »daß sich Einwohner am Kampfe beteiligten«. Er fügte aber hinzu: »Ich erinnere mich nicht, daß ich persönlich Zivilisten sich unmittelbar am Kampfe gegen die deutschen Truppen habe beteiligen sehen« – obwohl er dazu in der Lage gewesen sein musste.22 In mindestens zehn weiteren Fällen allein in einem Band der Akte Graf Kielmansegg bestätigten Soldaten, dass sie nicht sehen konnten, woher die Schüsse kamen oder dass sie keine bewaffneten Zivilisten fanden. Immerhin hatte der Gefechtsbericht des I. Bataillons des Leib-Grenadier-Regiments 100 unter dem 23. August 1914 sachlich notiert: »Feuern aus Häusern und vom jenseitigen Ufer, dessen Besetzung in Häusern und Hecken völlig unsichtbar blieb.«23

Ähnlich verhält es sich mit den Aussagen über Andenne: Aus vielen Häusern, aus denen angeblich gefeuert wurde, wurden Männer und Frauen herausgeholt, die aber nicht bewaffnet waren; Waffen wurden meist nicht gefunden.24 Die Analyse eines Bandes in der Akte Bronsart von Schellendorf ergibt, dass eine signifikante Minderheit von Soldaten die offizielle These trotz der Suggestivfragen nicht bestätigen mochte: Mindestens 13 (einschließlich Offiziere) sagten eindeutig aus, dass sie die feindlichen Schützen nicht als Zivilisten identifizieren konnten; im Kriegstagebuch des I. Pionier-Bataillons 28 vom 20. August 1914 war es ähnlich verzeichnet und es wurde offen auf Panik hingewiesen.25 Zahlreiche ähnliche Aussagen finden sich in der Akte Scheunemann.26

Sogar armeeinterne Berichte, die die »Franktireur«-These nicht infrage stellten, konnten nicht umhin, die Tatsache anzuerkennen, »daß die deutschen Truppen dauernd vom linken Maasufer unter Infanterie- und Maschinengewehrfeuer genommen wurden, während die beiden feindlichen Artillerien sich bekämpften und daß auch für manches Geschoß, das von dort kam, die Zivilbevölkerung von Dinant verantwortlich gemacht wurde«.27

Selbstverständlich waren viele Soldaten nach wie vor von der Existenz von »Franktireurs« überzeugt. Hauptmann Charles von Montbé etwa hatte eine bestimmte Erinnerung an Zivilisten, die aus den Häusern schossen, sowie an einen »Mann im Strohhut, der im Schornstein stand und aus ihm herausschoß.«28 Dres. med. Heinrich Clausnitzer und Heinrich Zeiß waren 1920 noch sicher, dass sie gesehen hätten, wie die Soldaten bewaffnete Zivilisten, u. a. zwei Jungen von 12 bis 15 Jahren, »standrechtlich« erschossen. Wir könnten beide Listen fast unbegrenzt weiterführen. Aussagen in Hunderten von Akten mit Zehntausenden eng beschriebenen Seiten wiederholen oft in identischen Formulierungen sowohl das mythische Narrativ als auch die skeptische, genau beobachtende Wahrnehmung.

Es handelt sich aber nicht um »Aussage gegen Aussage«, auch wäre eine statistische Auswertung aller bestätigenden und aller zweifelnden Aussagen wenig zielführend. Als Historiker muss man die Absicht hinter dieser Aussagensammlung berücksichtigen und in ihren Kontext einordnen. Es gehört zur Grundlage des Geschichtsstudiums, dass keine Quellengattung einfach für sich spricht. Wer die Intention des Reichsgerichts nicht versteht, verkennt den Stellenwert dieser Quelle. So schrieb im März 1920 das Abwicklungsamt XII, zuständig für das XII. (sächsische) Korps, an seine Veteranen:

»Das Abwicklungsamt XII ist mit der Bereitstellung des Entlastungsmaterials für die nach § 228 des Friedensvertrages […] gefährdeten Angehörigen des ehemaligen XII Armeekorps beauftragt.

Um die Verantwortlichkeit der angeschuldigten Führer für die Vorgänge in Dinant am 23. 8. 1914 zu klären, werden Sie gebeten, sich nach Ihrer Erinnerung zu folgenden Fragen zu äußern.

[…]

Wie haben sich die Einwohner gegen die Truppe verhalten? Haben sie sich am Kampfe gegen unsere Truppen beteiligt? Sind Ihnen besondere Fälle, die geeignet sind den Verdacht, daß die Einwohner sich am Kampfe beteiligt haben, zu erhärten, bekannt?

[…]

Was wissen Sie über die Erschießung der Einwohner? Wer hat den Befehl zum Erschießen gegeben?

[…]

Das Abwicklungsamt betont, daß diese Auskünfte lediglich zum Zwecke der Entlastung beschuldigter Persönlichkeiten benötigt werden […].«29

Eine möglichst objektive Suche nach den Umständen war somit nicht das Ziel der reichsgerichtlichen Untersuchungen.

Der Stellenwert von Quellen – Truppengeschichten

Für Spraul bieten die Truppengeschichten den schlagenden Nachweis für den belgischen »Franktireurkrieg«. Wir haben uns dagegen entschieden, davon Gebrauch zu machen. Wie Spraul selbst schreibt, sind sie oft unzuverlässig. Sie basieren auf amtlichen Kriegstagebüchern der Einheiten, die selbst manchmal falsche Angaben enthalten und unvollständig sind, sowie auf Erinnerungen.30 Mitunter sind in den Truppengeschichten die Ortsangaben ungenau, und zuweilen fehlen die Ortsangaben bei der Detachierung von kleinen Einheiten. Nicht nur belgische und französische Augenzeugen konnten deutsche Einheiten gelegentlich nicht zuverlässig identifizieren, deutschen Augenzeugen erging es manchmal genauso.31

Größtenteils wiederholten die Truppengeschichten das dominante nationale Narrativ. Dennoch liefern manche von ihnen unfreiwillig Beweise für unsere Darstellung, so im Fall der Ereignisse in Baranzy am 16. und 22. August. Wie wir erklärten (S. 190), hatten vier Steuerbeamte wahrscheinlich als Mitglieder der Garde Civique am 16. August eine deutsche Patrouille unter Feuer genommen und einen Ulanen erschossen, einen zweiten verwundet und einen Offizier gefangen genommen. Es handelte sich mit anderen Worten um ein Verteidigungsgefecht, das die deutschen Truppen als illegal auffassten. Sechs Tage später erlitten deutsche Infanteristen in einem unübersichtlichen Gefecht im Nebel gegen reguläre französische Einheiten schwere Verluste: Spraul zitiert Kronprinz Wilhelm, der von »Verwechslungen von Freund und Feind« schrieb; dadurch »traten Verluste durch eigenes Feuer ein«.32 In ihrer Panik und Wut nahmen sie an der Zivilbevölkerung blutige Rache. Für eine Korrektur unserer Darstellung sehen wir hier, wie in den meisten anderen von Spraul monierten Fällen keinen Anlass. Sprauls Behauptung, dass die Einwohner sich am Kampf beteiligten, wird nicht belegt.

In Verbindung mit anderen Quellen können Truppengeschichten durchaus nützlich sein. Dank der Recherche von Willem Driesen kann der Fall Linsmeau (Brabant) geklärt werden. Der Versuch der Bürgergarde, die nahegelegene Stadt St. Trond / Sint Truiden gegen die übermächtige deutsche Kavallerie zu verteidigen, führte am 9. August zur Tötung von Einwohnern. Driesen hat entdeckt, dass die Garde durch eine kleine Radfahrereinheit von Armeesoldaten unterstützt wurde, die sich nach dem Gefecht schnell in Richtung Diest zurückzog. Zwei Deutsche wurden getötet, mehrere verwundet. Möglicherweise schoss ein Notar namens Vanham mit seinem Gewehr auf einen deutschen Soldaten, der verwundet gefangen genommen wurde. Nach der Einnahme der Stadt wurden die 122 Mitglieder der Bürgergarde, von denen keiner verletzt worden war, entwaffnet und nach Deutschland deportiert; keiner wurde hingerichtet. 8 der insgesamt 21 getöteten Einwohner wurden als vermeintliche »Franktireurs« hingerichtet, die anderen waren Opfer des wilden Schießens auf Schaulustige.33 Nahe Linsmeau fiel am 10. August im Gefecht zwischen einer deutschen Kavalleriepatrouille und regulären belgischen Truppen der junge Leutnant von Stietencron. In der Annahme, dass es sich um einen »Franktireurüberfall« gehandelt habe, wurden mehrere Häuser und Bauernhöfe in Linsmeau in Brand geschossen und 18 Einwohner hingerichtet.34 Auf diese Weise können Truppengeschichten, wenn sie mit belgischen und französischen Quellen zusammen verwendet werden, es der künftigen Forschung ermöglichen, noch ausführlicher auf die 129 Zwischenfälle mit 10 oder mehr zivilen Getöteten einzugehen, die die Basis unseres Werks bildeten. Solche Beiträge wären selbstverständlich zu begrüßen. Wir vermögen jedoch nicht zu erkennen, wie sie unsere grundlegenden Ergebnisse infrage stellen.

Umfassende Erklärungen

Da Keller nicht nur die deutschen Quellen unkritisch und leichtgläubig interpretiert, sondern auch auf die Quellen der Belgier und Franzosen konsequent verzichtet, ist es kaum verwunderlich, dass er die zeitgenössische amtliche deutsche These des massenhaften belgischen Volksaufstands bestätigt hat. Wie wir (vor allem im 3. Kapitel) feststellen, griffen in den ersten zwei Kriegswochen (bis 18. August) vereinzelte Zivilisten in Belgien und Frankreich zu den Waffen. Belege für zivilen Widerstand nach diesem Datum, an dem der allgemeine Vormarsch der deutschen Armeen begann, sind dürftig oder wenig glaubhaft. Es ist gut möglich, dass die lokalhistorische Forschung weitere solcher kleinen Vorfälle wie am 9. August in St. Truiden aufdecken wird. Doch können das Ausmaß und die räumliche Ausdehnung der deutschen militärischen Gewalt – mit 129 Vorfällen, in denen 10 oder mehr Zivilisten getötet wurden und etwa 6500 Toten insgesamt – nicht mit einem »Franktireuraufstand« erklärt werden, es sei denn, dieser sei massiv und weit verbreitet gewesen und durch nationale und kommunale Behörden und Honoratioren wie Priester organisiert worden, wie die deutsche Armee und die Regierung behaupteten. Genau das wollte Keller für den Fall von Belgien belegen.

Für einen solchen orchestrierten Widerstand existieren aber keine belgischen Archivquellen. Hätte es zivilen Widerstand in diesem Ausmaß und Organisationsgrad gegeben, gäbe es eine schriftliche oder mündliche Überlieferung, zumindest von den beteiligten »Helden«. Nicht einmal amtliche oder kirchliche Schriftstücke existieren. Daher musste Keller auf seine Behauptung zurückgreifen, dass der (in Auflösung befindliche) belgische Staat alle Spuren seiner Beteiligung insgeheim beseitigte – eine unbelegbare Hypothese. Der unter den deutschen Soldaten verbreitete feste Glaube an den »Franktireurkrieg« war zwar ein Irrglaube, stellte sich jedoch als ausgesprochen wirkmächtig für das kriegerische Handeln dar. Die kulturgeschichtliche Analyse dieses Phänomens vervollständigend haben wir darauf geachtet, die analogen Mythen unter den Belgiern zu schildern, etwa die häufig vorkommende Erzählung, dass deutsche Soldaten Kinderhände abhackten oder andere Scheußlichkeiten begingen.

Militärische Umstände der Invasion

Oft wird vergessen, dass die Armeen in den ersten zwei Monaten des Krieges die höchsten Verluste verzeichneten. Die geballte Wucht der modernen Feuerkraft (hochexplosive Granaten, Gewehr- und Maschinengewehrfeuer mit großer Reichweite) traf mit verstörenden Folgen auf unerfahrene Soldaten. Das Ergebnis war oft extreme Nervosität und Panik unter den Soldaten, die sich durch feindliche Zivilisten angegriffen wähnten und unbeabsichtigt auf die eigenen Kameraden zurückschossen.

Ein solches friendly fire war nicht der einzige Auslöser für die Gewalt gegen Einwohner, aber zahlreiche Belege deuten darauf hin, dass es für mehrere der schlimmsten Vorfälle (mit-)verantwortlich war, wie in Andenne, Dinant und Löwen. Keller schließt in seinem Glauben an die »hoch disziplinierte preußische Armee« friendly fire aus.35 Die internen Truppenakten in den Denkschriften des Kriegsministeriums von 1914 – 1915 sowie die Aussagen vor dem Reichsgericht enthalten jedoch viele solcher Hinweise – nach weiteren Forschungen im Jahr 2018 viel mehr als ursprünglich angenommen.36 Viele Soldaten sagten aus, dass friendly fire Verluste unter den eigenen Leuten verursachten.37 Nur durch geschickte editorische Bearbeitung konnte im »Weißbuch« die Panik unter den deutschen Truppen etwa in Andenne wegretuschiert werden. Nach dem Krieg musste ein Offizier zugeben: »Es entstand eine ziemliche Panik, die nur mit Mühe unterdrückt wurde.«38 Soldaten wie Vizefeldwebel Sommerfeldt (3. Komp. Pionier-Bataillon 28), der den Beginn der wilden Schießerei an der Behelfsbrücke erlebte, bezeugten friendly fire. Nachdem die ersten Einheiten der Garde-Reserve-Division die Maas überschritten und Seilles erreicht hatten, begann das Schießen, »von dem man nicht wußte, woher es kam und wer es unterhalte.« Ohne Befehl wurde in alle Richtungen zurückgeschossen, »so wurde auch von Soldaten nach Seilles hinüber geschossen während die Truppen in Seilles nach Andenne hinüber schossen«.39 Bereits das Kriegstagebuch der 1. Kompagnie des Pionier-Bataillons 28 hatte notiert, dass nach dem Ausbruch der ersten Schüsse in Andenne Verluste durch Panik und friendly fire entstanden:

»Dadurch wurde, besonders weil nicht sofort zu erkennen war, woher die Geschosse kamen, eine große Aufregung unter den marschierenden Truppen hervorgerufen. […] Es begann ein regelloses Schießen. Niemand wußte, wohin. Zweifellos ist ein großer Teil der Verluste durch dieses Feuer der eigenen Truppen verursacht worden. Der Stab und die dabei befindlichen anderen Offiziere bemühten sich sofort, das Schießen […] zu verhindern. Dies gelang jedoch erst nach halbstündigem, energischem Eingreifen.«40

In Dinant dürften die Soldaten nicht nur durch das französische, sondern auch durch das eigene Artilleriefeuer gelitten haben. Die Artillerie der 45. Infanterie-Brigade erhielt gegen 11.35 Uhr den Befehl, »Dinant einzuschießen«. Gegen 19 Uhr hatte die Fußartillerie »die Häuser von Dinant einzeln eingeschossen«.41 Während des ganzen Tages befanden sich jedoch deutsche Infanteristen in Dinant. Bekanntlich verursachen Schrapnellgeschosse furchtbare Verletzungen, die die Annahme der Verwendung von Schrot nahelegen konnten, wie er angeblich von »Franktireurs« mit Flinten benutzt wurde.

Der Fall Löwen ist in zweifacher Hinsicht exemplarisch: für die Gefahren des undisziplinierten Schießens wie auch für die Schwierigkeit, den Quellenwert des »Weißbuchs« richtig einzuordnen. Unteroffizier Mohs, der Artilleriegeschosse auf mehrere Häuser feuerte, da er meinte, aus diesen Schüsse gesehen zu haben, gab zu:

»Ob es Soldaten oder Einwohner gewesen sind, weiß ich nicht, denn die Fenster waren dunkel […]. Ich habe nicht gesehen, daß Zivilisten geschossen haben. Gesehen habe ich aber, wie mehrfach Leute in Arbeiterkleidung erschossen wurden, weil sie angeblich […] mit Waffen in der Hand getroffen wurden.«

Diese Aussage in der internen Denkschrift des Kriegsministeriums ließ das Auswärtige Amt aus dem »Weißbuch« streichen; auch Keller führt dieses Geständnis nicht an.42

Der historisch-politische Kontext

Kein historisches Werk entsteht in einem Vakuum, wie wir eingangs bereits darlegten. Insofern ist der Kontext, in dem die Bücher von Spraul und Keller entstanden sind, interessant – vielleicht ist er sogar symptomatisch für einen politischen und historiografischen Wandel. Seit 2013 gibt es weltweit und somit auch in Deutschland eine Flut von Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg. Viele dieser Werke verfolgen zu Recht einen globalgeschichtlichen, transnationalen Ansatz.43 Andere Veröffentlichungen setzen hingegen die Nation als Referenzrahmen. Das wäre an sich unbedenklich, denn das Bedürfnis der Leser zu erfahren, wie es der eigenen Schicksalsgemeinschaft im Krieg erging, ist nicht verwerflich, auch wenn die unkritische Annahme von »Nation« unhistorisch und unreflektiert ist. Nationalgeschichten haben immer noch einen legitimen Platz, vorausgesetzt, deren Verfasser sind in der Lage, »Traditionen« zu hinterfragen, Mythenbildung zu analysieren und bei Bedarf transnationale Perspektiven zuzulassen.

Gerade bei denen, die einen Bestsellerstatus erstrebt und erreicht haben, fällt aber eine stark entlastende Intention auf. Sowohl Herfried Münklers Der Große Krieg als auch Christopher Clarks Die Schlafwandler, die den Forschungsstand nicht erweitern und die Erträge der innovativen Historiografie der letzten 30 Jahre nicht zur Kenntnis nehmen, wurden von der deutschen Öffentlichkeit wohlwollend, sogar mit Erleichterung aufgenommen.44 Münkler schildert das Kriegsgeschehen generell aus der deutschen, nie aus einer transnationalen Perspektive. Der damalige Reichskanzler Bethmann Hollweg, der angesichts der »Einkreisung« Deutschlands verantwortungsvoll gehandelt habe, wird rehabilitiert; die Legende des belgischen »Volkskrieges« nimmt Münkler für bare Münze und sogar für die Kriegsverbrechen an wehrlosen Zivilisten findet er Verständnis. Clarks Buch, das zwar keine allein nationale Perspektive einnimmt, hat durch die Charakterisierung Serbiens als Schurkenstaat, der den Krieg auslöste, eine für Deutschland stark entlastende Funktion. Endlich wird Deutschland vom angeblichen Vorwurf der »alleinigen Kriegsschuld« freigesprochen. Daher trägt es nicht mehr die Schuld an zwei Weltkriegen – Deutschland ist im Prinzip eine Nation wie jede andere, und nach der gelungenen Bewältigung der NS-Vergangenheit kann es seinen Platz neben den anderen großen Mächten einnehmen.45

So wird das Schlüsselwort im Titel von Kellers Werk verständlich: »Schuld«. In unserem Buch dienen die Kategorien »Schuld« und »Unschuld« nicht als Erklärungsbegriffe, sondern als Explanandum: als Glaubensätze, die zu erklären sind. Es geht uns um die Kausalität, wo auch immer die Erklärung hinführt. Mit der reinen Darstellung der Ereignisse ist die Geschichte nicht zu Ende; es geht auch um die Analyse der Repräsentation, der Propaganda und der Erinnerung. Keller dagegen ergreift Partei in einer alten Auseinandersetzung und sucht nach Entlastung, indem er Belgien beschuldigt. Nur eine transnationale Geschichtsschreibung vermag den Ausweg aus der historiografischen Sackgasse der Schuld zu finden.

Die selbst auferlegte Beschränkung auf die nationale Sicht zwingt Keller (wie auch Münkler) dazu, sich die alte These des »belgischen Franktireurkrieges« zu eigen zu machen. Frankreich kommt in dieser Darstellung nicht vor, obwohl Nordfrankreich zur gleichen Zeit und in gleichem Ausmaß von deutschen Repressalien betroffen war. Daher eignet sich diese Region für eine Kontrollstudie, denn dort gab es kaum noch Männer im wehrfähigen Alter, da diese eingezogen worden waren (in Belgien bestand keine Wehrpflicht) – und damit kaum mutmaßliche »Franktireurs«. Trotzdem herrschte unter den deutschen Truppen in Frankreich dieselbe Überzeugung vor, dass »Franktireurs« auf sie gefeuert hätten. Nicht nur entzieht der Fall Frankreich der belgischen »Franktireurthese« den Boden – er demonstriert eindrucksvoll die Wirkmächtigkeit von mythischen Vorstellungen.

Auch deshalb war die offene und begeisterte Parteinahme für Keller durch Gerd Krumeich, einen profilierten Historiker des Ersten Weltkriegs, unverständlich. Krumeich steuerte das Vorwort bei und bescheinigte Keller, eine »grundsolide« und »vorbildliche« Arbeit geschrieben zu haben. Das trug zum Eindruck bei, dass die Rückkehr zu einer nationalorientierten und einseitigen Geschichtsinterpretation angestrebt werden sollte.

Kulturgeschichte kontra Ereignisgeschichte?

Einige Kritiker hielten unseren kulturgeschichtlichen Ansatz für problematisch. Sie reduzierten unsere Erklärung darauf, dass die Erinnerung an die realen »Franktireurs« im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 handlungsbestimmend für die Soldaten im August 1914 gewesen sei. Die Zuspitzung dieser Kritik unterstellt uns – fälschlicherweise – die Behauptung, dass die Soldaten von 1914 durch 1871 »traumatisiert« gewesen seien. In den Kapiteln 3 und 4 legen wir dar, dass kulturelle Vorprägungen, wie das institutionelle Gedächtnis der Armee an 1870/71 und die militärische Ausbildung anhand historischer Beispiele, die Kriegführung im August 1914 durchaus mitbestimmten. Ebenso wichtig sind aber auch situative Faktoren, auf die wir eingehen: Gerade in den ersten Wochen des Krieges wurden den Soldaten fast unmenschliche Marschleistungen bei sommerlicher Hitze abverlangt, sie litten unter Erschöpfung und Durst und manchmal waren sie betrunken. Jedoch ist das Argument, dass die militärische Situation für den Ausbruch exzessiver Gewalt allein ausschlaggebend war, unzureichend.46 Das Massaker an 77 Einwohnern in Dinant-Les Rivages kann man nicht damit erklären, dass sich eine »höchst explosive Situation« zusammengebraut hatte und die Einwohner von den sächsischen Grenadieren in einer »Affekthandlung« erschossen worden seien.47 Vor allem greift das situative Argument zu kurz. »Die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, mit denen die Soldaten den besetzten Ländern und der Zivilbevölkerung […] gegenübertraten«, wie Klaus Latzel in Bezug auf die Wehrmachtsverbrechen im Zweiten Weltkrieg schrieb, waren prägend.48 Dazu gehörte eine einstudierte Gewaltbereitschaft, einschließlich der Erwartung des belgischen und französischen »Volkskrieges«. Schließlich war beispielsweise in Les Rivages entscheidend, dass Schlicks Brigadekommandeur Generalmajor Lucius wenige Stunden zuvor einen entsprechenden Befehl für die Hinrichtungen erteilt hatte. In fast allen größeren Vorfällen mit Massenhinrichtungen waren die Befehle höherer Offiziere maßgebend.

Die Kulturgeschichte der Gewalt könnte man unter Verwendung der Akten des Reichsgerichts weiter entwickeln als es uns damals möglich war. So vernahmen beispielsweise die belgischen Gerichtsbehörden nach dem Krieg auf Ersuchen des Reichsgerichts belgische Einwohner. Wir haben 2018 einen Querschnitt dieser Aussagen für den Fall Andenne durchgesehen.49 Wie in früheren Untersuchungen schlossen sie aus, dass die Einwohner auf die Deutschen gefeuert hätten. Detailreich schilderten die befragten Zeugen, was sie am 19. – 21. August erlebten. Dieses reichhaltige belgische Material erlaubt tiefe Einblicke in das, was im deutschen Pendant fehlt, nämlich in die Emotionen der Täter, der Opfer – viele von ihnen überlebten verletzt – und der Beobachter. Sie beschrieben, mit welcher Wut und ungehemmter Gewalt manche Soldaten und Offiziere willkürlich Zivilisten auf die Straße zerrten und peinigten oder in ihren Häusern vor den Augen der Familie mit dem Bajonett erstachen oder mit dem Gewehrkolben erschlugen. Es handelte sich somit keinesfalls um einen kaltherzigen, pseudogerichtlichen Strafprozess – den es allerdings ohne Anhörung der »Angeklagten« auch gab –, sondern um ein grausiges Gemetzel. Man könnte einwenden, es stünden erneut »Aussagen gegen Aussagen«. Doch sind die belgischen Angaben im Gegensatz zu den meist stereotypen und vagen deutschen Aussagen, die die »Franktireurthese« stützen, sehr präzise und differenziert: Betrachtet man sie zusammen mit den vielfachen deutschen Zweifeln an der amtlichen These, ergibt sich eine facettenreiche und plausible Erklärung der Entstehung und Durchführung der Gewalt.

Anfang 2018 ist eine weitere belgische Quelle verfügbar geworden. Das königliche Archiv Belgiens hat die aus Russland zurückgegebenen Akten der Gerichtsprozesse gegen die 200 deutschen Beschuldigten, die in den Jahren 1921 bis 1925 in absentia durchgeführt wurden, für die Forschung freigegeben. Diese Akten stellen das belgische Pendant zu der Überlieferung des Reichsgerichts dar.50 Wer künftig zur Frage der Kriegsgreuel forschen will, wird auch diesen Bestand nutzen müssen.

Mit weiterer Forschung ließen sich viele Details ergänzen. Am Gesamtbild werden sie jedoch nichts ändern: Deutsche Soldaten marschierten in Belgien und Frankreich mit der bereits bestehenden Vorstellung ein, dass »Franktireurs« Widerstand leisten würden. Die Beteiligung der belgischen Bürgergarde sowie vereinzelter Zivilisten (siehe z. B. S. 189 – 197) in der Zeit bis etwa 18. August könnte in einigen Orten den Eindruck bestärkt haben, dass Zivilisten sich am Kampf beteiligt hatten. Die meisten Massenhinrichtungen von Zivilisten fanden jedoch nach dem 18. August statt: Sie standen somit nicht in Verbindung mit konkreten Operationen der Garde Civique oder Angriffen von Zivilisten. Die kulturellen Prädispositionen und das sofort verfügbare Bild des »Franktireurkrieges« ermöglichten es den Soldaten, die verwirrenden Bedingungen und Gefahren des modernen Krieges in ein sinnvolles Narrativ zu bringen.