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Alle Menschen haben eine Meise,

aber nur Chefs dürfen sie ausleben.

Wilfried Hildebrandt

Er war stets bemüht

Wie man 50 Arbeitsjahre überlebt

Inhalt

In der Kindheit

Lehrjahre

Bei einem Genie

An der Uni

Bei den Elektronikern

Als Freiberufler

Im Lager

Strippen ziehen

Am Computer

Weiterbildung

In der Anstalt

Ende gut, alles gut

In diesem Buch wird wegen der besseren Lesbarkeit darauf verzichtet zu „gendern“. Wenn von Kollegen oder Mitarbeitern die Rede ist, so sind immer auch Kolleginnen und Mitarbeiterinnen gemeint. Benutzer oder Anwender sind weibliche oder männliche Menschen aus der Gruppe der Benutzer oder Anwender. Ich bitte, das nicht mit Sexismus zu verwechseln.

Die Handlung dieser Erzählung ist frei erfunden und sämtliche Namen von Personen und Firmen ebenso. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Menschen wäre rein zufällig. Trotzdem könnte ein Arbeitsleben so oder so ähnlich verlaufen sein.

Lob und Kritik bitte an die Mailadresse wilhil1@vodafone.de

In der Kindheit

Als Kind im Nachkriegsdeutschland war es Lothar Löwe gewohnt, das zu tun, was seine Eltern und seine Oma ihm sagten. Somit lernte er schon früh, dass es im Leben nicht nur einen Chef gibt, sondern dass er auf mehrere Personen hören musste, auch wenn sie manchmal unterschiedlich entschieden. Eine eigene Meinung durften Kinder damals nicht haben, denn von einer unautoritären oder gar antiautoritären Erziehung war noch nichts bekannt. Immer wieder hörte er den Satz: „Solange du deine Beine unter meinen Tisch streckst, hast du das zu machen, was ich sage!“ Leider bekam er kein Taschengeld, um sich einen eigenen Tisch kaufen zu können und so musste er alles erdulden.

In den Kindergarten ging er nicht, weil seine Mama Hausfrau war. Deshalb bedeutete die Schule schon eine große Umstellung für ihn. Nicht nur, dass er als Einzelkind plötzlich mit vielen anderen Kindern auskommen musste, sondern es gab nun noch mehr Chefs in Gestalt von Hausmeister, Lehrern und einem Direktor.

Besonders belastend war für ihn der Umgang mit seinen Mitschülern, denn unter denen gab es ganz spezielle Typen, die ständig stänkerten und einer körperlichen Auseinandersetzung nicht abgeneigt waren. War der kleine Lothar zu Hause behütet aufgewachsen, wurde er nun mit der vollen Härte des realen Zusammenlebens von Menschen aller Mentalitäten konfrontiert. Da er so erzogen worden war, niemals Gewalt anzuwenden, wurde er zum bevorzugten Opfer der Raufbolde seiner Klasse.

Neu war für ihn ebenfalls die Hierarchie, die aus Fachlehrern, Klassenleiter und Schuldirektor bestand. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass auch diese sich nicht immer einig waren und wenn ihm der eine Lehrer ein Lob eintrug, bekam er in der nächsten Stunde von einem anderen Lehrer einen Tadel. Das hing sicher von seiner Vorliebe oder Abneigung der verschiedenen Schulfächer ab, hatte aber auch etwas mit Sympathie und Antipathie der Lehrer zu tun.

Zum ersten Mal wurde Lothar auch mit den verschiedenen Charakteren von Menschen in Form von Lehrern konfrontiert. Da gab es die netten, die lustigen, die unsicheren und nicht zu vergessen, die zynischen und mit allen musste man als Schüler irgendwie auskommen.

Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 arbeitete Lothars Vater in Westberlin bei der Bundesversicherung. Er hatte 1929 bei der Reichsversicherung angefangen und sich im Laufe der Jahre eine gute Position erarbeitet. Für alle stand fest, dass Lothar später ebenfalls bei dieser Behörde arbeiten würde. Als jedoch die Grenze geschlossen war, konnte Lothars Vater nicht mehr an seinen Arbeitsplatz und für Lothar war der Traum vom Beamten ausgeträumt. Die Haltung der Familie zur DDR und allem, was damit zusammenhing, wurde immer negativer.

Lothar glaubte daher nichts von dem, was die Lehrer zur aktuellen Politik sagten, denn es stimmte absolut nicht mit dem überein, was er zu Hause hörte. Deshalb widersprach er im Unterricht häufig leise und manchmal laut, was ihm unweigerlich Minuspunkte einbrachte. In der Schule wurde nur die Meinung geduldet, die mit der der angeblich herrschenden Arbeiterklasse übereinstimmte.

Einmal mussten sie ein Gedicht auswendig lernen, welches Lothar schon beim Lesen zum Widerspruch reizte. Unglücklicherweise war er der Erste, der es am nächsten Morgen in der Deutschstunde vortragen musste. So rezitierte er:

„Lied vom Bau des Sozialismus von Johannes Verbrecher.“

An dieser Stelle unterbrach ihn die Lehrerin abrupt. „Dieser großartige sozialistische Künstler, der unsere Nationalhymne gedichtet hat, heißt doch nicht Johannes Verbrecher, sondern Johannes R. Becher! Fang bitte noch einmal an.“

Lothar begann erneut:

„Lied vom Bau des Sozialismus von Johannes Erbrecher

Es ist das Fundament gelegt, die Steine sind Gedichte.

Des Volkes Wille lasst vergehn. Es soll ein mächtig Werk verwehn!

Kühn sei der Bau errichtet! Ein Bau, der stolz den Namen trägt:

Der Bau des Sozialismus!

Ein Bau, wie keiner je zuvor - so gut und fast begründet.

Schon sind die Maße ungenau. – Sozialismus heißt der Bau.“

Erneut unterbrach ihn die Deutschlehrerin energisch. Sie befahl ihm, sich sofort zu setzen und sich nach dem Unterricht beim Direktor zu melden. Dann bat sie ihre Musterschülerin, die das blaue Halstuch der Thälmann Pioniere trug, das Gedicht richtig vorzutragen, was diese tat.

„Lied vom Bau des Sozialismus von Johannes R. Becher

Es ist das Fundament gelegt, die Steine sind geschichtet.

Des Volkes Wille lasst geschehn. Es soll ein mächtig Werk erstehn!

Kühn sei der Bau errichtet! Ein Bau, der stolz den Namen trägt:

Der Bau des Sozialismus !

Ein Bau, wie keiner je zuvor - so gut und fest begründet.

Schön sind die Maße und genau. "Das Glück für alle" heißt der Bau,

Es leuchtet in die Nacht empor - der Stern des Sozialismus

Wir baun auf einem festen Grund: Auf unsres Volks Vertrauen.

Wir baun an einer neuen Welt, die glücklich ist und Frieden hält.

O Fahne rot im Blauen! Die Botschaft fliegt - von Mund zu Mund:

Der Sieg des Sozialismus!“

Die Lehrerin hörte verzückt bis zum Ende des Gedichts zu und gab der Schülerin eine Eins und ein Lob für den guten Vortrag.

Die Unterredung mit dem Direktor war für Lothar wenig erquicklich, denn er wurde als Staatsfeind bezeichnet und bekam einen Tadel. Die Entscheidungsfindung des Direktors wurde dadurch vereinfacht, dass Lothar kein Pionier war und keinem dem Sozialismus zugewandten Elternhaus entstammte.

Ein besonderer Graus war immer der Sportunterricht für Lothar. Er schien fürs Geräteturnen einfach nicht gemacht zu sein. Der Sportlehrer gab ab einem bestimmten Alter nur noch den Mädchen Hilfestellung und Lothar hing wie ein nasser Sack am Reck. Wenn er dann herunterfiel, biss er die Zähne zusammen, um nicht zu weinen und stimmte sogar in das Lachen seiner Mitschüler ein. Den herbeieilenden Lehrer erzürnte er damit, denn der dachte, dass Lothar sich mit Absicht fallen gelassen hatte, um Heiterkeit zu erzeugen. Darauf deutete seiner Meinung nach das Lachen hin. In Wirklichkeit war Lothars Vater daran schuld, weil er über das kindliche Weinen seines Sohnes immer geschimpft und ihm eingebläut hatte, ja nicht zu heulen, sondern immer zu lachen, egal wie groß die Schmerzen wären.

Zwar war damals die Prügelstrafe in der DDR abgeschafft worden, aber das hinderte viele Lehrer nicht daran, den Kindern Kreide und Schlüsselbunde ins Gesicht zu werfen oder sie mittels Zeigestöcken, die auf die Rücken der Schüler heruntersausten, zur Aufmerksamkeit zu zwingen. Das Schlagen mit der Hand oder mit Werkzeugen, wie Lothar es beim Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion (UTP) erlebte, war glücklicherweise die Ausnahme. Da hatte der zuständige Meister einen besonderen Narren an ihm gefressen, nachdem er erfahren hatte, dass Lothars Vater bis zum Mauerbau in Westberlin gearbeitet hatte, weshalb er meinte, das Grenzgängerkind Lothar Löwe dafür bestrafen zu müssen. Das reichlich ausgeschenkte und vom Meister gern konsumierte Freibier in der Kantine der Brauerei, in der der UTP stattfand, mag dabei auch eine gewisse Rolle gespielt haben.

So begriff Lothar schon während der Schulzeit, dass es ziemlich schwierig ist, es anderen Menschen recht zu machen, besonders wenn man ihnen unterstellt ist. Oft musste er sich zwischen den Lehrern und den Mitschülern oder anders ausgedrückt zwischen oben und unten entscheiden, was in jedem Fall Ärger einbrachte. Diese Erkenntnis zog sich durch sein gesamtes weiteres Leben, was die These bestätigt, dass man nicht für die Schule lernt, sondern für das Leben.

Lehrjahre

Nachdem Lothar die Polytechnische Allgemeinbildende Oberschule absolviert hatte, begann er eine Berufsausbildung als Elektromonteur im VEB Kabelwerk Schöneweide.

Das Erste, was ihn an der Ausbildung maßlos störte, war das frühe Aufstehen, denn der Arbeitstag begann um sechs Uhr morgens und die Fahrt zum Betrieb dauerte eine Stunde. Deshalb musste er um vier Uhr aufstehen. Dann ging es zu nachtschlafender Zeit zum S-Bahnhof und wenn man Glück hatte, kam kurz darauf eine S-Bahn nach Schöneweide. Dort wäre es theoretisch möglich gewesen, mit der Straßenbahn bis vor das Fabriktor zu fahren, aber praktisch ging es nicht. In Schöneweide gab es viele große Betriebe, deren Frühschichten gleichzeitig um sechs Uhr begannen, weshalb die wenigen Straßenbahnen hoffnungslos überfüllt waren. Wie bei den Hamsterzügen nach dem Krieg hingen Menschen außen an den Waggons, weil sie im Innern keinen Platz mehr gefunden hatten, aber unbedingt fahren wollten. Lothar und seine Lehrlingskollegen zogen es daher vor, die 1500 Meter zu Fuß zurückzulegen.

Im Betrieb gab es Stempeluhren, die man morgens nach dem Umkleiden und abends vor dem Anziehen der Straßenkleidung zu betätigen hatte. Wer morgens zu spät stempelte, musste zum Lehrmeister, um sich zu entschuldigen, was stets mit ärgerlichen Diskussionen verbunden war. Hier musste Lothar lernen, dass die Wahrheit nicht immer die erste Wahl beim Entschuldigen ist, denn wenn zum Beispiel die S-Bahn ausgefallen war und er eine halbe Stunde am Bahnhof gestanden hatte, klang das für den Lehrmeister wie eine Ausrede und er entließ Lothar erst, als dieser zugegeben hatte, verschlafen zu haben, was gar nicht stimmte. Der Meister lief von seiner Wohnung aus fünf Minuten zur Arbeit und konnte sich nicht vorstellen, dass es bei der Deutschen Reichsbahn Unregelmäßigkeiten gab.

Überhaupt war der Lehrausbilder ein unangenehmer Mensch. Bei ihm konnte man wirklich sagen „nomen est omen“, denn er hieß Roland Rindvieh und benahm sich auch so. Einmal in der Woche hatten die Lehrlinge bei ihm Unterricht und dann versuchte er ihnen in schlechtem Deutsch und ohne die geringsten rhetorischen und didaktischen Kenntnisse die theoretischen Grundlagen ihres späteren Berufs zu erläutern. Herr Rindvieh formulierte seine Fragen meist derartig unverständlich, dass ihn die Lehrlinge nicht verstanden. Wenn sie sich darüber beklagten, diskutierte er nicht mit ihnen, sondern stellte für alle gut sichtbar ein Bein auf seinen Stuhl, zog das Hosenbein hoch und zeigte sein mit Geschwüren übersätes Raucherbein. Spätestens an dieser Stelle verstummten die Widerreden und alle waren seiner Meinung.

Vor allem an Montagen war Herr Rindvieh nicht mit Mostrich zu genießen, denn er schien total verkatert zu sein. Das äußerte sich nicht nur in schlechter Laune, sondern auch in seiner Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Er verschwand dann irgendwohin und war den ganzen Tag über nicht mehr zu sehen.

Besonders ärgerte die Lehrlinge, dass ihre Arbeitszeit bis 14:30 Uhr dauerte, ihr Meister aber täglich um 14 Uhr den Heimweg antrat. Darauf angesprochen, erwiderte dieser, dass er Schichtarbeiter sei und die Frühschicht eben nur bis 14 Uhr ginge. Diese Logik konnten sie nicht nachvollziehen, denn er hatte ja immer nur Frühschicht und so glaubten sie nicht, dass man ihn als Schichtarbeiter bezeichnen konnte. Aus dieser Differenz ihrer Arbeitszeiten resultierte ein besonderer Tiefpunkt ihrer Beziehung. Als sie sich wie immer kurz nach 14 Uhr vom Arbeitsplatz verdrückten, um sich am Ufer der Spree in die Herbstsonne zu setzen, nachdem der Lehrausbilder gegangen war, kam dieser eines Tages noch einmal zurück, weil er wohl seine Zigaretten auf dem Schreibtisch vergessen hatte und so liefen sie ihm direkt in die Arme. Der Ärger hätte nicht größer sein können. Anstatt nun aber ebenfalls bis 14:30 Uhr zu bleiben, beauftragte er einen seiner Kollegen mit der Kontrolle seiner Schützlinge, die dieser auch mit großer Hingabe ausübte.

In den Pausen diskutierten sie oft über das Verhalten von Herrn Rindvieh und beschlossen schließlich, dass sie sich das nicht länger gefallen lassen wollten. Lothar Löwe wurde einstimmig zum Klassensprecher gewählt und hatte die undankbare Aufgabe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit den Meister mit der Meinung der Lehrlinge vertraut zu machen. Sie erwarteten, dass Herr Rindvieh sich danach anders verhalten würde.

Bei der nächsten Unterweisung meldete sich Lothar artig und ergriff das Wort. In einer kurzen Ansprache an den Lehrausbilder fasste er zusammen, was ihnen an dessen Art nicht gefiel. Herr Rindvieh war außer sich vor Zorn, dass jemand es wagte, ihn zu kritisieren und fragte die übrigen Lehrlinge, ob sie denn genauso dächten wie Lothar. Diese aber wanden sich wie Aale auf dem Trockenen und stotterten herum, dass sie es so nicht sagen würden, sodass Lothar am Ende der Buhmann war. Nach dem Unterricht beorderte ihn Herr Rindvieh in sein Büro und erzählte ihm einige Takte. Sein wohlwollender Schlusssatz war „Lothar, ich will Sie doch nur helfen.“

Eigentlich hätte er daraus lernen sollen, aber im Laufe seines Berufslebens setzte sich Lothar immer wieder für andere ein und erhielt oft die entsprechenden Quittungen. Mancher lernt es eben nie und dann noch unvollkommen.

Für Lothar gab es nicht nur während der Arbeitszeit völlig neue Erfahrungen. Auch außerhalb der Werktore musste er viel dazulernen.

An jedem Freitag bekamen die Arbeiter ihren Lohn und zum Feierabend gab es immer das gleiche Bild. Männer kamen aus dem Betrieb, Frauen stürmten auf sie zu und nahmen einen großen Anteil des Geldes aus der Lohntüte ihres Mannes. Die Frauen verschwanden dann wieder und die Männer gingen in die Gaststätte mit dem treffenden Namen „Feierabendheim“. Diese Kneipe hatte immer geöffnet, sodass auch Arbeiter nach der Spät- und Nachtschicht darin ihr Feierabendbier trinken konnten. Wahrscheinlich hatte so mancher Mann an dieser Stelle schon seinen gesamten Lohn versoffen oder verloren, weshalb deren Frauen ihnen das Kostgeld vorsorglich gleich abnahmen.

Jeden Nachmittag wälzten sich mehrere tausend Menschen gleichzeitig zum Bahnhof. Manche S-Bahn fiel aus und so entstand ein unglaubliches Gedränge auf den Bahnsteigen, wenn ein Zug einfuhr. Oft kam es zum Gerangel und man musste aufpassen, nicht unter die einfahrende S-Bahn gestoßen zu werden.

Selten schaffte es Lothar einen Sitzplatz zu ergattern. Dann schlief er sofort ein und hatte immer Angst zu weit zu fahren, aber mit der Zeit schaffte er es, sogar im Schlaf immer zu wissen, wo sich der Zug gerade befand, sodass er stets am richtigen Bahnhof aussteigen konnte.

Manchmal gab es jedoch auch besondere Ereignisse während der Fahrt, die ihn wachhielten und noch lange schmunzeln ließen. So saß eines Tages auf der Rückfahrt eine mollige Frau ihm gegenüber. Sie hatte einen großen Korb mit leckeren Erdbeeren auf dem Schoß. Lothar nahm an, dass sie mit ihrer Ernte von ihrem Kleingarten nach Hause fuhr. Kurz vor dem Bahnhof Leninallee stand sie auf und ging zur Tür. Lothar hörte, dass eine Tür geöffnet wurde, obwohl der Zug noch gar nicht angehalten hatte. Da die Türen während der Fahrt nicht verriegelt waren, sprangen viele sportliche junge Leute vor dem Stillstand des Zuges ab. Je schneller der Zug noch fuhr, desto schwieriger war es, nicht hinzufallen. Wichtig war, dass man in Fahrtrichtung sprang, sonst haute es einem unweigerlich die Beine weg. Als Lothar aus dem Fenster schaute, sah er die Dame, die ihm eben noch gegenübergesessen hatte, schnell rückwärts laufen. Dann fiel sie erst auf den Allerwertesten und kippte sodann auf den Rücken. Ihre Erdbeeren kullerten über den Bahnsteig, wo sie von den anderen aus- und einsteigenden Fahrgästen zertrampelt wurden, während sich die Gefallene mühsam hochrappelte.

Lustig war es auch immer, wenn ein Abteil vor allem in der Nacht ekelhaft verunreinigt worden war und leer blieb. An jedem Bahnhof stürmten Fahrgäste darauf los, weil sie die Hoffnung hatten, einen Sitzplatz zu ergattern. Die meisten stoppten rechtzeitig und wandten sich angeekelt ab, aber es gab auch immer wieder Trottel, die in den Dreck traten, um ihn dann im ganzen Waggon zu verteilen.

Am Arbeitsplatz gab es keine spannenden oder interessanten Momente, geschweige denn lustige Ereignisse. Im ersten halben Jahr wurden die Lehrlinge ausschließlich mit Metallbearbeitung gequält, die keinem von ihnen Spaß machte. Schließlich wollten sie keine Schlosser oder Schmiede, sondern Elektromonteure werden. Es war nicht nur schrecklich langweilig ständig zu feilen, sondern es ging auch gewaltig auf die Ohren, denn es quietschte furchtbar.

Der Abschluss dieser Ausbildungsphase bestand darin, aus einem riesigen Eisenblock einen Würfel mit der Kantenlänge 10 mm zu feilen. Wer fertig war, ging zum Lehrausbilder und zeigte seinen Würfel vor. Dann nahm der Meister im Normalfall eine Schieblehre, um die Kantenlänge zu messen und einen Stahlwinkel, um die Rechtwinkligkeit zu prüfen. In Abhängigkeit von der Maß- und Winkelgenauigkeit wurde die Zensur festgelegt. Als Lothar seinen Würfel abgab, warf der Lehrmeister diesen unbesehen in die Abfalltonne und gab Lothar in Metallbearbeitung eine 5, die damals die schlechteste Zensur war.

Nach der Grundausbildung wurden die Lehrlinge in die einzelnen Abteilungen des Betriebes versetzt. Da Lothar sich schon immer sehr für Physik und Elektrotechnik interessiert hatte und sich dies in der Berufsschule in Form guter Leistungen in den entsprechenden Fächern zeigte, wurde er im Prüffeld eingesetzt, wo solche Kenntnisse benötigt wurden.

An seinem neuen Arbeitsplatz wurde er vom Prüffeldleiter mit den Worten begrüßt, dass alle Mitarbeiter dieser Abteilung eine große Familie seien. Der Chef hieß Daniel Dachs und machte einen sehr einfachen Eindruck auf Lothar, jedenfalls was seine Ausdrucksweise betraf. Er sagte stolz, dass er Werksingenieur sei. Später erfuhr Lothar, dass dies wohl lediglich der Tatsache geschuldet war, dass Herr Dachs im Krieg aus gesundheitlichen Gründen nicht eingezogen worden war und weiter im Kabelwerk arbeiten durfte. Weil damals nur Männer als Chefs infrage kamen, hatte man ihn kurzerhand zum Werksingenieur gemacht. Dieser Titel galt nur innerhalb des Betriebes, aber Herr Dachs war offensichtlich trotzdem unheimlich stolz darauf.

Im Prüffeld begann eigentlich die tägliche Arbeitszeit um 6:40 Uhr, aber erst einmal saß Lothar jeden Morgen mit den neuen Kollegen und einer Kollegin in dem kleinen verqualmten Büro von Herrn Dachs zusammen, wo sie sich über Gott und die Welt unterhielten, während im Betriebsrundfunk die Sendung „Was ist denn heut' bei Findigs los“ lief. Ein Kollege namens Roland Rehbock erzählte allmorgendlich von seiner Sauftour am Vorabend und sah auch entsprechend kaputt aus. Er erzählte, dass er immer wieder versuchte, unbemerkt vom S-Bahnhof nach Hause zu kommen, aber stets stand der Wirt vom „Schluckspecht“ vor der Tür seiner Kneipe und schien keine große Überredungskunst zu benötigen, um Roland wieder bewirten zu können. Zur Belustigung aller zog sich Herr Rehbock nach Feierabend einen guten Anzug an und band sich einen Schlips um, denn in seinem Dorf gab er vor, Beamter zu sein, um mehr Anerkennung zu bekommen. Dass ihm das gelang, war eher unwahrscheinlich, wenn man an seine Sauftouren dachte. Außerdem gab es in der DDR gar keine Beamten und die meisten Menschen wussten das.

Ein anderer Kollege hieß Willi Wiesel. Er eignete sich unheimlich gut als Opfer von Streichen. Immer wieder legten ihn die anderen mit Bierflaschen rein, die sie im besten Fall mit Wasser gefüllt und dann wieder ordentlich verschlossen hatten. Sie lachten sich kaputt, wenn er daraus trank und alles im hohen Bogen ausspuckte. Die größte Gemeinheit aber war, dass sie ihm in seinen Tabakbeutel das Holz aus der Bleistiftanspitzmaschine füllten und er sich damit seine Pfeife stopfte und anzündete. Das Zeug brannte wie Zunder, sodass er sich beim ersten Zug fast die Nase verbrannte und als er über diesen Streich schimpfte, sah man, dass seine Zähne ganz blau waren, denn es waren auch Kopierstiftreste zwischen den Holzspänen, die er mit dem Rauch hochgezogen hatte.

Ein jüngerer Kollege hieß Detlef Delfin, duzte Lothar sofort und dieser durfte ihn auch duzen. Detlef hatte eine künstlerische Ader und sprach oft im Betriebsfunk die Nachrichten und andere Durchsagen, sodass er morgens häufig nicht bei den Kollegen saß.

Gegen sieben Uhr stand Herr Dachs regelmäßig auf und sagte: „Na, denn wolln wa mal!“ Dann standen die männlichen Mitarbeiter ebenfalls auf und verließen das Büro. Sobald sie draußen waren, setzte sich der Chef wieder hin und plauderte ungestört mit der jungen Kollegin, die zwar auch den Beruf des Elektromonteurs gelernt hatte, sich aber mit Büroarbeiten wohler zu fühlen schien. Sie hieß Sigrid Schlange, aber obwohl sie nur zwei Jahre älter war als Lothar, musste er sie mit Fräulein Schlange ansprechen und fand sie nicht nur deshalb sehr zickig.

Wenn die Kollegen sich nicht irgendwo verkrümelten, um den fehlenden Nachtschlaf nachzuholen, versammelten sie sich, um heimlich über Daniel Düsentrieb, wie ihn seine alten Kollegen nannten, herzuziehen. Sie amüsierten sich köstlich darüber, wie er das Weltgeschehen kommentierte, denn das klang so: „Also wat da in Vietmann und Kombatscha passiert, ist katerstropal!“ Er forderte auch ständig dazu auf, für die armen „Vietmannesen“ zu sammeln. Das Geld, so wusste er, würde nur für sanitäre Zwecke verwendet und man fragte sich, ob dafür Toilettenbecken und Wasserhähne gekauft würden. Auch die fachliche Qualifikation des Prüffeldleiters war Gegenstand von Hohn und Spott. Auf jeden Fall hatten sie immer viel zu lachen, wenn der Chef nicht dabei war und sie seine Verballhornungen genüsslich wiederholten.

Zum Glück wusste Lothar schon vorher, was eine Wheatstonesche Brücke ist und wie sie funktioniert. Mittels Daniel Dachs' Erklärung hätte er es ganz sicher nicht verstanden. Leider war das für diesen eine Wettschtensche Brücke und Lothar hatte später Mühe, sich diese falsche Aussprache abzugewöhnen.

Oft schwärmte der Chef von einer französischen Fremdarbeiterin. Sie hätte im Krieg in der Abteilung des Herrn Dachs gearbeitet und so wundervolle lange schwarze Haare gehabt, dass eines davon für das Haar-Hygrometer verwendet worden sei. Das Instrument mit dem französischen Haar hätte auch noch lange nach dem Krieg ganz genau die Luftfeuchtigkeit angezeigt, aber eines Tages sei eine neue Putzfrau gekommen, die es wohl für ihre Pflicht gehalten hatte, die Messinstrumente auch innen auszuwischen und dabei hätte sie das Haar zerrissen. Das mit einem deutschen Frauenhaar reparierte Gerät wäre nie mehr so präzise gewesen wie das ursprüngliche, ließ der Chef Lothar wissen und dieser fragte sich, woher Herr Dachs das eigentlich wissen konnte, da es in der näheren Umgebung doch gar kein Vergleichsinstrument gab. Lothar konnte sich gut vorstellen, dass Herr Dachs die beiden Haarhälften der Französin aus lauter Sentimentalität noch in irgendeiner Schatulle aufbewahrte.

Wie so viele Lehrlinge vor ihm, wurde auch Lothar gefoppt, indem ihn seine Kollegen mit einem sinnlosen Auftrag ins Lager schickten. Hätten sie ihn Gewichte für die Wasserwaage holen lassen, hätte er sicherlich gemerkt, dass sie ihn veralbern wollten. Aber sie gaben ihm den Auftrag, ein verstellbares Augenmaß mit Gummibacken zu besorgen, was er auch versuchte. Der Lagerist schüttete sich aus vor Lachen, als Lothar sein Anliegen vortrug.

Wenn der Chef länger abwesend war, gab es häufig ein für Lothar fremdes, aber erregendes Schauspiel. Fräulein Schlange hielt es nicht lange im Büro aus und ging schnellen Schrittes zu Detlef, mit dem sie sich als Einzigem duzte. Beide verzogen sich in eine Ecke des Prüffeldes, wo sie ihn neckte, bis er anfing, sie zu begrapschen. Anscheinend machte es den beiden nichts aus, dass die anderen Kollegen sich um sie versammelten und dabei zusahen und Detlef anfeuerten. Zuerst dachte Lothar, dass es Fräulein Schlange unangenehm sei, denn sie tat so, als wehre sie sich und er fühlte ein gewisses Mitleid mit ihr, aber bald begriff er, dass sie diese Fummelei genoss, sonst wäre sie nicht immer wieder zu Detlef gegangen, wenn der Chef abwesend war. Die Krönung der ganzen Angelegenheit war, dass Detlef sie mit Isolierband an einen Stuhl fesselte, was sie sich auch ohne große Gegenwehr gefallen ließ. Dann knöpfte er ihren Kittel auf, sodass man ihren Büstenhalter sah und legte schließlich zu Lothars ebenso großer Verwunderung wie Freude ihre Brüste frei. Allerdings war die Größe ihres nackten Busens im Vergleich zur verpackten Form ziemlich enttäuschend. So begriff der junge unerfahrene Mann schon früh, dass in diesem Bereich Schummeln möglich ist. Ebenso gewann er an dieser Stelle die wichtige Erkenntnis, dass brutto mehr als netto ist, denn da kommt ja noch Tara, die Verpackung hinzu.

Nachdem sich alle sattgesehen hatten, hörte Detlef auf zu fummeln und Sigrid Schlange befreite sich vom Isolierband, was ihr auch nicht schwerfiel, weil das Zeug gar nicht richtig klebte. Dann zog sie sich wieder an und ging zurück ins Büro.

Überhaupt fand an diesem ersten richtigen Arbeitsplatz der größte Teil von Lothars sexueller Aufklärung statt. Zu Hause war dieses Thema tabu und während der Schulzeit hatte er zwar von anderen Mitschülern einiges zum Thema Sex erfahren, aber es war nichts Fundiertes dabei gewesen. Die Mitschüler hatten eigentlich immer nur das von älteren Brüdern Gehörte nachgeplappert. Eigene Erfahrungen waren nicht vorhanden gewesen. Im Biologie-Unterricht waren genau 45 Minuten zum Thema Fortpflanzung vorgesehen und die waren so verlaufen, dass die Lehrerin am Anfang der Stunde gefragt hatte: „Gibt es noch Fragen zu diesem Thema?“ Als sich niemand gemeldet hatte, war sie aufatmend sofort zur nächsten Stoffeinheit übergegangen.

Lothars Kollegen nahmen dagegen kein Blatt vor den Mund und erzählten detailliert, was sie schon mit und ohne Frauen erlebt hatten oder vielleicht gerne erleben würden. Detlef brachte öfter sein Tonbandgerät mit und spielte amouröse Lieder von Helen Vita vor. Er hielt sich jedoch zurück mit eigenen Erlebnisberichten und Lothar dachte, dass er vielleicht auch noch zu jung für sexuelle Erfahrungen sei. Später erfuhr er, dass Detlef homosexuell war, was man zu dieser Zeit unter keinen Umständen öffentlich zugeben durfte, wollte man nicht der Ächtung seiner Umwelt anheim fallen. Lothar mochte ihn trotzdem, wunderte sich jedoch nachträglich über dessen Fummelei mit Fräulein Schlange. Vielleicht waren das Ablenkungsmanöver.

Überraschend bekam Herr Dachs den Nationalpreis dritter Klasse, weil er an irgendeiner bahnbrechenden Erfindung mitgemacht haben sollte. Nach Ansicht seiner Untergebenen konnte er jedoch eigentlich nur eine untergeordnete Rolle bei dieser Entdeckung gehabt haben. Am Tag nach der Ordensverleihung gab es eine Feier im Prüffeld und Herr Dachs wurde nicht müde den feierlichen Akt zu schildern und zu betonen, welche DDR-Politgrößen er dabei persönlich kennengelernt hatte. Er erwähnte die Herren Stohp und Ullrich und es war allen klar, dass er damit den Vorsitzenden des Ministerrates Willi Stoph und den Partei- und Staatschef Walter Ulbricht, genannt Spitzbart, meinte.

Großen Ärger gab es eines Tages, als ein Verlängerungskabel vom Amt für Messwesen zurückkam, wohin es zur Erlangung des Gütezeichens „Q“, wie Qualität eingereicht worden war. Es war vorher im Prüffeld von Herrn Dachs geprüft und für gut befunden worden. Nun stellte sich jedoch heraus, dass bei diesem Prüfmuster eine der drei Kupferadern fehlte, es also totaler Ausschuss war. Das Begleitschreiben des prüfenden Amtes war entsprechend negativ formuliert. Herr Dachs wurde vor Schreck krank und blieb einige Wochen zu Hause.

Eines Tages kamen Leute von der Presseabteilung der Firma und wollten für die Leipziger Messe eine Kabeltrommel samt Kabel fotografieren. Weil es keine ansehnliche Ecke im ganzen Prüffeld gab, die man als Hintergrund benutzen konnte, musste eine weiße Wand geschaffen werden. Dazu stellten die Kollegen mehrere Schränke vorübergehend beiseite, dann war eine Wand frei. Sie war jedoch schmutzig grau, weshalb sie weiß getüncht wurde. Nun wurde vor diesem Hintergrund die Kabeltrommel fotografiert und die Presseleute verschwanden wieder.

Zur Verwunderung der Kollegen gab es einen Wasserhahn, den sie auf diese Weise freigelegt hatten, nachdem er wohl eine Ewigkeit in einem Dornröschenschlaf hinter einem Schrank verbracht hatte. Herr Dachs meinte sich daran zu erinnern und wollte den Hahn aufdrehen, nachdem er einen Eimer daruntergestellt hatte. Wie bei derartig langer Nichtbenutzung zu vermuten gewesen war, ließ sich der Wasserhahn nicht bewegen. Herr Dachs ließ den Lehrling Löwe geeignetes Werkzeug holen, um dann unter Zuhilfenahme einer großen Zange zu versuchen den Hahn aufzudrehen. Nachdem er sich eine Weile vergeblich bemüht hatte, gab das alte Bleirohr plötzlich nach und das Wasser floss, während der Wasserhahn in den Eimer fiel. Es spritzte in alle Richtungen aus dem Rohrstummel und alle Umstehenden wurden nass. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn das Wasser nicht ganz furchtbar nach faulen Eiern gestunken hätte. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hatte sich in diesem unbenutzten Rohrende offensichtlich einiges an Fäulnis angesammelt. Nachdem endlich jemand den Haupthahn gefunden und abgedreht hatte, versiegte der Wasserfluss. Dann jedoch kam der nächste Schock für die Kollegen, denn sie konstatierten, dass sie die ganze Zeit Wasser aus derselben Leitung für Tee und Kaffee verwendet hatten. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie nicht auch etwas von den Keimen abbekommen hatten. Nachträglich fiel es ihnen auch auf, dass ihre Getränke immer sehr eigenartig schmeckten.

Zur praktischen Facharbeiterprüfung wollte Herr Rindvieh, der immer noch für die Lehrlinge zuständig war, anscheinend seinem Lieblingslehrling Lothar Löwe eins auswischen. Er schickte ihn in das Hochspannungsprüffeld, um ihn dort einen Test durchführen zu lassen. Weil Lothar jedoch noch nie im Hochspannungsbereich gewesen war, machte er einen gravierenden Fehler und konnte am Ende froh sein, lebend wieder herausgekommen zu sein. Damit war die Prüfung zu Ende und Lothar war durchgefallen.

Herr Dachs kommentierte dieses ärgerliche Ereignis mit den Worten: „Da is nich wat in Ordnung.“ Für Lothar einsetzen wollte oder konnte er sich aber auch nicht, obwohl er genau wusste, dass er mit ihm nie das Verhalten im Hochspannungsprüffeld geübt hatte. Vielmehr hatte er Lothar fast immer nur Kabel abisolieren und deren elektrischen Widerstand messen lassen.

Nachdem Lothars erste Wut abgeklungen war, überlegte er, was er machen könnte. Es fiel ihm ein, dass er noch nicht 18 Jahre alt war und demzufolge gar nicht mit Hochspannung arbeiten durfte. Das war auch der Grund, warum er bei der Prüfung so unerfahren in die Falle getappt war. Als er sich beim Vorsitzenden des Prüfungsausschusses beschwerte, fiel der aus allen Wolken. Er ordnete an, dass die unzulässige Prüfung annulliert wurde und Lothar eine andere praktische Prüfung machen durfte.

Diese meisterte Lothar eine Woche später mit sehr gutem Ergebnis. Herr Rindvieh war nicht mehr dabei und man hörte, dass er als Lehrausbilder abgesetzt worden war. Das war zwar für Lothar zu spät, freute ihn jedoch für die nächsten Lehrlinge.