Wenn der Mond am Himmel steht

Wenn der Mond am Himmel steht

Verliebt in Hamburg - Teil 3

Kerry Greine

OBO e-Books

Inhalt

Wenn der Mond am Himmel steht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Über den Autor

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Wenn der Mond am Himmel steht

1

Aus und vorbei

Wann lerne ich es endlich? Wann lerne ich endlich, dass ich auf meinen Kopf hören muss und nicht auf mein dummes kleines Herz, das mir im Zustand dämlicher Verliebtheit Sachen vorgaukelt, die gar nicht da sind? Wann lerne ich endlich, auf die Zeichen zu achten, die groß wie Reklameschilder blinkend vor meinen Augen tanzen?

Vermutlich gar nicht mehr, nicht in diesem Leben. Ich weiß nicht, woran es liegt. Man sollte doch glauben, eine Frau von 31 Jahren ist in der Lage, schöne Worte als genau das zu entlarven, was sie sind. Schöne Worte, nicht mehr und nicht weniger.

Aber nein, ich übersehe geflissentlich jedes noch so deutliche Anzeichen und träume mich davon in eine Welt, in der es diese vermeintlichen Traummänner tatsächlich gibt. Ich tauche ein und wünsche mir mein eigenes Happy End. Dabei sollte ich es eigentlich besser wissen. Immerhin ist es nicht das erste Mal, dass ich mir dadurch so dermaßen die Finger verbrannt habe, dass ich davon monatelang, nein, sogar jahrelang Brandblasen mit mir herumschleppte.

Mit jedem Mann werde ich vorsichtiger, misstrauischer, brauche ich länger, bis ich anfange zu vertrauen, aber dennoch komme ich irgendwann immer wieder an den Punkt, an dem ich meinen Kopf ausschalte und mein Herz zum Navigationsgerät erkläre. Super! Ganz blöde Idee! Das merke ich gerade, während ich hier auf meiner Couch sitze und SEINE letzten Sprachnachrichten wieder und wieder abspiele, nur, weil ich seine Stimme hören möchte.

Tränen laufen mir über die Wangen, mein Innerstes zieht sich schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken an ihn, und seine Worte hallen noch immer in meinen Ohren nach. „Es liegt nicht an dir, es liegt an mir. Ich fühle mich nicht bereit für eine Beziehung.“

Tja, Arsch lecken – 3,80 … Es ändert auch nichts an den Tatsachen. Ich sitze hier mit einem riesigen Haufen Gefühlen und er will sie einfach nicht haben.

Wütend wische ich mir die Tränen von den Wangen.

„Chili, komm. Wir gehen raus“, sage ich zu meinem Schäferhund und freue mich zu sehen, wie er schwanzwedelnd aufspringt.

Die Leine hänge ich mir nur über die Schulter, ich kann mich darauf verlassen, dass er nicht mehr als fünf Meter von meiner Seite weicht.

Vier Jahre ist der Große mittlerweile, und ich erinnere mich noch zu gut, wie ich ihn bekommen habe. Ein kleines Fellknäuel, tapsig und unbeholfen. Er stolperte in mein Leben, und innerhalb von Sekunden war mir klar, das ist meiner.

Mein damaliger Freund fand die Idee, dass wir uns einen Hund anschaffen, so gar nicht witzig, aber ich habe es geschafft und mich durchgesetzt. Natürlich nicht, ohne ihm versprechen zu müssen, dass es allein MEIN Hund ist. Ich müsste mit ihm rausgehen, Hundeschule machen, für sein Futter sorgen und seine Tierarztbesuche absolvieren. Ja, klar. Kein Problem. Ich bin mit Hunden aufgewachsen, da ich bereits als Jugendliche in einem Tierheim gejobbt habe. Für mich sind sie keine Arbeit wie für andere Menschen, sie sind Familienmitglieder, Vertraute und einfach die besten Freunde, die man sich wünschen kann.

Das Einzige, was mein Ex zum Hund beigetragen hat, ist sein Name. Okay, Chili ist jetzt nicht unbedingt ein gängiger Hundename, aber damals fand ich es süß, als mein Freund meinte, der Name passe zu ihm, weil er ja mein Hund sei und ich so scharf wie Chili sei. Dass ich nicht die einzige Frau war, die er „scharf wie Chili“ fand, habe ich leider erst einige Monate später herausgefunden.

Leise winselnd sieht Chili mich an. Mein Dicker spürt ganz genau, dass mit mir etwas nicht stimmt. Er ist wie ein Seismograf und fühlt, selbst wenn er im Nebenzimmer schläft, sofort die kleinste Stimmungsveränderung an mir. Im Moment hat sein Gefühlsradar mehr als gut zu tun. Wieder kommt mir der Kerl in den Sinn, mit dem ich mich die letzten Monate getroffen habe. Ich mag nicht mal seinen Namen denken, so sehr tut es weh.

Angefangen hatte es wie eine Liebesschnulze im Fernsehen. Er sprach mich an, lud mich zum Kaffee ein, und obwohl ich es eigentlich nicht wollte, weil ich noch immer an dem monatelangen Betrug durch meinen Ex knabberte, ließ ich mich darauf ein. Was auch immer es war, irgendetwas faszinierte mich von der ersten Sekunde an ihm und das Knistern zwischen uns war einfach nicht zu ignorieren. Bald schrieben wir den ganzen Tag per Handy, er sendete liebevolle WhatsApp, dass er an mich denke und mich vermisse. Schickte knutschende Smileys und Herzchenaugen. Wir versuchten, uns so oft es ging zu sehen. Was leider nur alle ein bis zwei Wochen klappte und für meinen Geschmack viel zu wenig war.

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich da schon stutzig werden müssen. Aber nein, die rosarote Brille saß felsenfest auf meiner Nase und ließ sich auch bei den deutlichsten Zeichen nicht abnehmen. Bis vor vier Tagen, als er mir auf vermeintlich nette Art mitteilte, dass es vorbei war. Seitdem fahren meine Gefühle Achterbahn. In der einen Sekunde möchte ich ihn anflehen, mich zurückzunehmen, dann wieder möchte ich vor Wut meine Faust in die Wand schlagen, und im nächsten Moment werde ich böse sarkastisch und zerpflücke seine Worte mit einem fiesen Grinsen.

Jetzt gerade habe ich mich von meiner Couch aufgerafft, weil ich plötzlich einen unbändigen Bewegungsdrang verspüre. Ich muss raus aus meinen vier Wänden und laufen. Dass es bereits dunkel ist, bemerke ich erst, als ich aus der Tür trete. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schaue auf die Uhr. Oha … Schon nach eins? Vielleicht sollte ich doch lieber umkehren und nicht mit Chili durch die Nacht schleichen? Nein! Sofort schüttele ich die Zweifel wieder ab und marschiere los in Richtung Stadtpark. Mein großer „böser“ Schäferhund wird mich beschützen. Was soll mir schon passieren? Außerdem wäre es mir in diesem Moment auch ziemlich egal. Ich fühle mich einfach nur betäubt und möchte irgendetwas spüren. Und wenn es die Schläge von irgendwelchen Typen wären, die mich ausrauben wollten. Die drei Gläser Rotwein, die ich im Laufe des Abends in mich hineingekippt habe, tun sicher ihr Übriges, dass ich diese ungesunde Einstellung habe.

Tatsächlich kommen uns nur wenige Minuten später ein paar Jugendliche in dunkle Sweatshirts gehüllt, die für diesen lauen Sommerabend viel zu warm sind, entgegen. Sofort geht mein vierbeiniger Beschützer in Habachtstellung, und ich bin fast ein bisschen enttäuscht, als die Gruppe mit Blick auf Chili die Straßenseite wechselt. So eine kleine Konfrontation wäre jetzt genau das Richtige, um meinen Frust und die Wut auf mich selbst abzubauen. Aber leider werde ich auch den Rest des Weges nicht mehr behelligt und bin eine Dreiviertelstunde später gesund und wohlbehalten zurück in meiner Wohnung.

Die frische Luft hat meinen Kopf so weit geklärt, dass ich mir, obwohl es nicht sein kann, stocknüchtern vorkomme. Allmählich schlägt der Schlafmangel der letzten Tage zu und ich verkrieche mich in mein Bett. Chili, der Gute, weicht mir weiterhin nicht von der Seite, aber da ich ihn nicht auffordere, zu mir ins Bett zu kommen, legt er sich seufzend direkt daneben auf das harte Laminat. Sollte ich heute Nacht noch einmal aufstehen müssen, muss ich aufpassen, ihn nicht aus Versehen zu treten. Denn dass er sich bis morgen früh nicht von seinem auserkorenen Schlafplatz regen wird, ist mir klar. Er lässt mich nie allein, wenn es mir nicht gut geht, und im Moment geht es mir – gelinde gesagt – beschissen.

Ich lösche das Licht und schließe die Augen, versuche Vergessen zu finden im Schlaf, doch kaum in der Dunkelheit, springt mein Kopfkino an und präsentiert mir in den leuchtendsten Farben all die wunderbaren Augenblicke der letzten Monate. Ich habe das Gefühl, jede einzelne SMS, jedes Foto, das ER mir geschickt hat, jedes Treffen und jeder einzelne Kuss laufen wie ein Film in HD vor meinem inneren Auge ab. Scheiße … wenn es doch nur nicht so wehtun würde!

Tränen quellen hinter meinen geschlossenen Augenlidern hervor und ich schniefe leise. Sofort sitzt Chili aufrecht neben mir, und im Schein des Mondes, der durch einen Spalt in den Vorhängen fällt, taste ich nach seinem Kopf. Ich muss ihn jetzt spüren, dieses einzige Lebewesen, das es immer schafft, mir Trost zu spenden. Sanft kraule ich ihn hinter den Ohren, fühle die Wärme, die durch das Fell an meine Finger dringt, bis ich es schaffe, mich zusammenzureißen und meine Tränen hinunterzuschlucken.

„Alles gut, Dicker. Leg dich hin“, murmele ich. Chili reagiert sofort und rollt sich wieder neben meinem Bett zusammen.

Erneut fängt der Film vor meinen Augen, der in den letzten Minuten kurzfristig auf Pause war, an zu laufen. Ich höre Worte, die er mir ins Ohr geflüstert hat, sehe seinen nackten Körper vor mir und in dieser Sekunde möchte ich mich selbst verfluchen. Obwohl ich weiß, dass ich für ihn nur eine Affäre war, obwohl mein Kopf es begriffen hat und mein Herz schmerzt wie noch nie zuvor in meinem Leben, reagiert mein verräterischer Körper genau so, wie er es nicht sollte. Mein Unterleib kribbelt, und ich spüre, wie ich feucht werde beim Gedanken an ihn. Nur noch einmal … Noch einmal seine Lippen auf meinen fühlen … Noch einmal mit den Händen über seine warme, glatte Brust streichen, noch einmal seinen schönen Schwanz in die Hand nehmen, ihn massieren und den hingebungsvollen Blick sehen, wenn er vor Lust den Kopf in den Nacken fallen lässt.

Wie von selbst wandert meine Hand über meinen nackten Bauch nach oben und fängt an, meine Brüste zu kneten, wie er es immer gemacht hat, während die andere in meinen Schoß gleitet und die Nässe mit den Fingerspitzen verteilt. Selbstzerstörerisch, wie ich gerade bin, genieße ich einen Moment das Gefühl der Erregung, die immer stärker durch meinen Körper jagt. Dann breche ich ab, ich kann es nicht, ich kann es mir nicht machen und IHN dabei vor Augen haben. Nicht, wo ich doch weiß, dass meine Träume nie wieder Realität werden.

Wütend schlage ich mit der Faust auf mein Kissen ein. Ich will diese Scheißgefühle nicht mehr haben. Ich will nur vergessen, dass es so etwas wie Liebe gibt. Mein Herz soll endlich kapieren, dass das Leben kein Liebesroman ist und Happy Ends nun einmal nicht für jeden Wirklichkeit werden.

Nach Ablenkung suchend schalte ich den Fernseher ein. Einfach nur berieseln lassen und nicht mehr grübeln, nicht mehr fühlen, nicht mehr träumen und sehnen.


Als ich am nächsten Morgen vom Klingeln meines Weckers geweckt werde, läuft der Fernseher noch immer, und Chili hat sich wie vermutet keinen Zentimeter von meinem Bett wegbewegt. Liebevoll sehe ich auf ihn hinab, und wieder einmal wird mir klar, ich brauche keinen Mann in meinem Leben – Chili gibt mir mehr Liebe, als ein Mann es jemals könnte. Ihm kann ich zu einhundert Prozent vertrauen und er wird mich niemals enttäuschen.

Winselnd rappelt er sich auf und legt seinen Kopf neben mich auf die Matratze. Ich streichele ihm über den Nacken und spüre, wie mein Herz ganz weit wird, als er sich gegen meine Hand schmiegt.

Nur ungern beende ich nach ein paar Minuten unsere Kuscheleinheit; die Arbeit ruft. Zum Glück ist Jesper, mein Chef, ein absoluter Hundefreund und hat nichts dagegen, dass Chili oftmals mit in den Laden kommt. Im Hinterzimmer des Smukke Indre hat er eine Ecke für sich mit seinem Körbchen, wo er die Zeit verbringt, während ich arbeite.

Wenn ich keine Kundentermine habe, nehme ich ihn meistens mit, so ist er nie wirklich allein, und ich kann meine Pausen nutzen, um ihm genug Bewegung zu verschaffen.


„Was ist denn mit dir los?“, fragt meine Kollegin Leo mich, als ich eine Stunde später in den Laden komme. „Hast du die Nacht durchgemacht?“

„Mhm, ja … so ähnlich“, murmele ich und gehe ins Hinterzimmer, um meine Tasche und den Hund wegzubringen. Als ich zurückkomme, steht Leo hinter dem Verkaufstresen und mustert mich fragend. Ich winke ab, ich möchte nicht darüber reden, dass ich mal wieder auf schöne Worte hereingefallen bin. Muss ja keiner wissen, was für ein Naivchen ich doch bin. Man sollte meinen, ich hätte ein bisschen mehr gesunden Menschenverstand und Intelligenz zu bieten. Immerhin bin ich studierte Innenarchitektin und somit darauf ausgebildet, den Leuten nicht nur ihre Häuser zu verschönern, sondern mich außerdem in sie hineinzufühlen, um genau das Richtige für den jeweiligen Kunden zu finden. Was würde es meinen Auftraggebern auch bringen, wenn ich ihnen etwas aufschwatze, was überhaupt nicht zu ihnen passt. Dann wird aus einer Wohnung schnell eine Möbel- und Dekoausstellung, aber ganz sicher kein Heim, wo man sich wohlfühlt und zu Hause ist.

„Was macht der Zwerg?“, frage ich und wechsele damit das Thema. Leo durchschaut mich natürlich sofort. Immerhin kennen wir uns schon einige Jahre, da ich bereits während des Studiums mit ihr zusammen hier im Smukke Indre gearbeitet habe. Auch wenn wir nicht wirklich befreundet sind, Leo ist einfach ein Mensch, der für alle immer ein offenes Ohr hat, eine Schulter zum Ausheulen oder einen guten Ratschlag. Feinfühlig, wie sie ist, übergeht sie meinen abrupten Themenwechsel. Sie merkt genau, dass ich gerade nicht reden möchte.

„Alles gut. Gestern waren wir wieder bei der Ärztin. Die kleine Maus entwickelt sich prächtig. Aber trotzdem bin ich froh, wenn die nächsten vier Wochen rum sind. So langsam wird das Arbeiten echt schwer. So fett, wie ich bin, hab ich immer Angst, gleich ein Regal mit meinem Bauch abzuräumen“, scherzt sie und zwinkert mir zu.

„Fett? Du bist gar nicht fett! Sieh dich doch an, du hast einen absoluten Vorzeigebauch. So ist das nun mal, wenn man schwanger ist. Warte mal ab, du bist die Kilos nach der Schwangerschaft ganz schnell wieder los. Und wenn die kleine Maus erst mal da ist, ist alles andere sowieso vergessen.“

Lächelnd sehe ich auf ihren wohlgerundeten Bauch. Ich freue mich wahnsinnig für Leo, dass sie ihr Glück gefunden hat. Sie musste in der Vergangenheit so viel durchmachen und jetzt … hat sie ihr verdientes Happy End bekommen. Luk, ihr Freund, ist ein absoluter Traummann, und man sieht bei jedem Blick, wie sehr er seine Freundin und auch diesen dicken Bauch liebt. Soweit es sein Dienstplan bei der Kripo zulässt, fährt er sie morgens zur Arbeit und holt sie abends wieder ab, damit sie nicht mit der S-Bahn fahren muss. Er verwöhnt sie nach Strich und Faden und trägt sie auf Händen. Manchmal, in einer schwachen Sekunde, bin ich fast ein wenig neidisch und wünsche mir auch so einen Mann wie Luk in meinem Leben. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Jemanden, der nicht nur schöne Worte für mich hat, die nicht in die Realität übertragbar sind. Jemanden, der es ernst mit mir meint und mich einfach so liebt, wie ich bin.

Leise seufze ich auf, nein, Jazz, hör auf, dir etwas zu wünschen, was es nicht für dich geben wird. Die Erfahrung sollte dich doch mittlerweile genug gelehrt haben, dass du nicht der Typ Frau bist, mit dem Männer eine Beziehung wollen. Zumindest keine ernsthafte …

Schnell greife ich nach dem Kalender, der hinter dem Tresen liegt, und schaue nach, ob in den nächsten Tagen irgendwelche Außentermine anliegen, für die ich noch etwas vorbereiten muss.

„Wenn du Arbeit suchst, ich hab dir ein bisschen was auf deinen Nähtisch oben gelegt.“ Leo ist leise hinter mich getreten und legt mir eine Hand auf die Schulter. „Manchmal ist Ablenkung einfach das Beste gegen Herzschmerz.“

Ich schlucke hart, als sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Leo hat mich durchschaut. Abgehackt nicke ich und atme tief durch.

„Okay, danke. Dann werde ich mal schauen, was es zu tun gibt.“

2

Projekt „Vergessen“

Den ganzen Vormittag über versinke ich derart in meiner Arbeit, dass ich kaum zum Luftholen komme. Ich arbeite wie aufgezogen, und doch schleicht ER immer wieder in meine Gedanken und hinterlässt ein schmerzhaft hohles Gefühl in meiner Brust. Jedes Mal schiebe ich ihn vehement beiseite, aber es ist nur von kurzer Dauer. Verdammtes Herz! Warum kann man Gefühle nicht einfach abstellen?

Immerhin schaffe ich es, mein Handy in der Tasche zu lassen. Ansonsten würde ich vermutlich alle paar Minuten schauen, ob er gerade bei WhatsApp online ist. Ja, manchmal bin ich ein wenig masochistisch veranlagt.

Als ich auf dem Nachhauseweg mit Chili meine übliche Runde durch den nahe gelegenen Park drehe, kann ich nicht länger widerstehen und sehe auf das Display. Keine neuen Nachrichten – war eigentlich klar. Dennoch schießt mir die Enttäuschung wie ein Stich ins Herz. Ich weiß, er hat keinen Grund mehr, sich bei mir zu melden. Trotzdem hat ein kleiner Teil von mir gehofft, dass er mich zumindest ein bisschen vermisst. Dass er seine Entscheidung bereut. Immerhin lief diese Affäre über drei Monate. Aber ich muss es wohl einsehen, auch wenn ich in ihn verliebt bin – er ist es nicht. Wahrscheinlich verschwendet er keinen Gedanken mehr an mich und ist eher froh, dass er mich los ist.

„Hey, so tief in deine Tagträume versunken, dass du nicht mal grüßen kannst? Was ist los, Mausi?“ Die Stimme meiner Nachbarin reißt mich aus den Gedanken, als ich den Weg zu meinem Wohnhaus hochlaufe, und ich schaue auf.

Lisa wirft gerade einen Müllbeutel in die Tonne auf unserem Hof.

„Ach herrje! Noch immer so schlimm?“, fragt sie besorgt und kommt auf mich zu. Tröstend streicht sie mir über den Arm. „Was hältst du von einem Tee auf meiner Terrasse? Und du heulst dich mal richtig aus.“ Achselzuckend nicke ich und folge ihr in das zu ihrer Wohnung gehörende Stückchen Garten. Ich nehme Chili die Leine ab und er sucht sich sofort ein schattiges Plätzchen unter einem Busch. Seitdem ich hier wohne, ist Lisas Terrasse und ihre Wohnung für uns beide fast wie ein zweites Zuhause geworden, und da der Garten eingezäunt ist, kann mein Hund sich frei bewegen. Seufzend lasse ich mich auf einen der Gartenstühle fallen und schließe die Augen. Meine Nachbarin hat sich in den letzten Monaten zu meiner besten Freundin entwickelt, sie kennt die Geschichte, war quasi von Anfang an dabei.

„Hier, trink.“ Ich öffne die Augen und blinzele gegen die Sonne, als Lisa mir einen Becher Tee in die Hand drückt und sich dann neben mich setzt.

„Magst du erzählen?“, fragt sie.

„Es gibt nichts zu erzählen“, antworte ich resigniert und schlucke den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildet.

„Hat er sich nicht mehr gemeldet?“ Ich schüttele den Kopf und stelle die Tasse auf den Tisch. Dann ziehe ich die Füße mit auf die Sitzfläche und schlinge meine Arme um die angezogenen Knie.

„Ach Mann, Mausi! Ich weiß, du bist ganz furchtbar verliebt, und ich weiß auch, dass es im Moment unendlich wehtut. Aber selbst wenn du es gerade nicht hören willst: Vergiss ihn! Der Kerl ist ein Arsch! Er weiß ja gar nicht, was er an dir hatte. Du bist so eine tolle und hübsche Frau, du hast es nicht nötig, einem Typen wie ihm hinterherzulaufen.“

„Lisa, ich weiß das doch alles. Aber es ist so schwer … Ich möchte den ganzen Tag nur heulen.“

„Der Mann ist es nicht wert, dass du um ihn weinst! Du hättest dich nie auf ihn einlassen dürfen.“

Ja, auch das ist mir in den letzten Tagen klar geworden.

„Hinterher ist man meistens schlauer“, gebe ich zurück und greife nach meiner Teetasse. Tee hilft immer! Während alle in meinem Umkreis eher Kaffeetrinker sind, konnte ich dem noch nie etwas abgewinnen. Viel zu bitter für meinen Geschmack, den trinke ich nur im allergrößten Notfall. Da bleibe ich lieber bei meinem Earl Grey mit einem Schuss Milch und Zucker. Das macht genauso wach, schmeckt aber deutlich besser, wie ich finde. Vorsichtig nehme ich einen Schluck von dem heißen Getränk.

„Weißt du was, ich könnte jetzt eine Zigarette gebrauchen“, sage ich und schiele auf Lisas Packung, die vor uns auf dem Tisch liegt.

„Nichts da! Du hast aufgehört! Und ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass du seinetwegen wieder zu rauchen anfängst.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen, nimmt sie die Schachtel und versteckt sie unter der Sitzauflage auf dem Stuhl neben sich. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, ja, sie hat recht! Er ist es nicht wert! Er ist das alles hier nicht wert. Diese ganze Gefühlsduselei muss jetzt einfach ein Ende haben. Ich habe mich lange genug dem Selbstmitleid hingegeben. Egal, wie sehr es wehtut, es ändert nichts an der Tatsache, dass ich nur eine Affäre für ihn war.

„Okay, stimmt. Ich will auch eigentlich gar nicht wieder anfangen. Ich bin froh, dass ich von dem Zeug los bin. Sag mir lieber, was ich machen kann, um ihn zu vergessen.“

Nachdenklich betrachtet Lisa ihre Blumenkübel. Eine bunte Flut aus Blüten, die über die Ränder der Töpfe quellen. Manchmal bin ich ein wenig neidisch auf Lisas grünen Daumen. Bei mir überleben selbst Palmen und Kakteen nicht. Völliger Schwachsinn eigentlich, dass ich an meiner Wohnung ebenso wie Lisa ein Stückchen Garten habe. Ich habe die Wohnung damals auch nur genommen, weil ich dachte, es wäre besser für Chili. Einen Schäferhund in einer Dreizimmerwohnung zu halten ohne Auslauf an der frischen Luft, wäre Tierquälerei. So kann er zumindest ein wenig nach draußen, und ich muss nicht immer zwingend lange Strecken mit ihm laufen, um ihn auszupowern.

„Na schön. Starten wir das Projekt ‚Mattis vergessen‘.“ Seinen Namen zu hören, den ich am liebsten nur verdrängen möchte, versetzt mir einen Stich, doch ich schiebe das Gefühl beiseite. Lisa hat recht. Genug getrauert, jetzt wird vergessen! Freudestrahlend sieht meine Freundin mich an. „Und ich hab auch schon ein paar Ideen!“

Na, da bin ich aber mal gespannt. Wie vermutet muss ich nicht lange warten, und Lisa erzählt mir, was sie für mich plant.

„Als Erstes gönnst du dir jetzt mal was. Nur für dich. Geh zum Friseur und lass dir die Haare schneiden oder eine neue Farbe machen. Geh shoppen und kauf dir ein paar richtig coole Klamotten. Und dann werden wir das Hamburger Nachtleben unsicher machen. Nicht, um Typen kennenzulernen, sondern einfach nur, um mal wieder Spaß zu haben. Wenn du magst, fahren wir zusammen auf ein Wellnesswochenende und lassen uns von einem sexy Masseur verwöhnen.“

Begeistert sieht sie mich an. Ja, wahrscheinlich ist das gar keine so schlechte Idee. Meine fast taillenlange Mähne nervt mich schon länger, vielleicht ist dies das Erste, was ich in Angriff nehmen sollte. Hochmotiviert hole ich mein Handy aus der Handtasche und rufe meinen Friseur an. Robert ist nicht nur mein Friseur, sondern gleichzeitig auch einer meiner besten Freunde. Ich habe Glück und bekomme für den nächsten Tag bereits einen Termin bei ihm, weil eine Kundin abgesagt hat. Als ich das Telefon wegstecken will, ertönt der typische Ton einer eingehenden WhatsApp. Ohne nachzudenken, öffne ich den Chat.

Wie geht’s dir?

Ein Lebenszeichen von Mattis. Sofort fangen meine Hände an zu zittern, und ich spüre, wie mir alles Blut aus dem Gesicht weicht. Wortlos reiche ich das Smartphone an Lisa, damit sie die Nachricht liest. Ihre Augen werden groß.

„So ein Arschloch! Muss er dich jetzt auch noch quälen? Was soll der Scheiß? Der kann sich doch denken, dass es dir beschissen geht!“, regt sie sich auf und gibt mir das Telefon zurück. Nach einem letzten Blick auf die Nachricht schließe ich den Chat. Dennoch ist mir ein kleines Wörtchen aufgefallen. „Online“ stand oben drüber. Wartet er etwa, dass ich ihm antworte?

Der Drang, genau das zu tun, wird immer größer. Obwohl ich nicht mal wüsste, was ich eigentlich schreiben sollte.

„Oh nein, meine Liebe! Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht! Aber das wirst du nicht machen. Ignorier ihn! Er hat es nicht anders verdient. Er ist es, der Schluss gemacht hat. Jetzt wieder anzukommen, ist einfach scheiße!“ Resolut nimmt Lisa mir das Handy aus der Hand und legt es außerhalb meiner Reichweite auf den Tisch.

Wieder muss ich ihr zustimmen, er hat es nicht mehr verdient, dass ich mir seinetwegen die Augen ausheule und sofort springe, wenn er ruft. Oder antworte, wenn er schreibt …

Erst als es dunkel wird, schnappe ich mir meinen Hund und gehe in meine Wohnung. Lisa hat es geschafft, mich den ganzen Abend von meinen dämlichen Gefühlen abzulenken. Wir haben zusammen Nudeln gekocht, auf der Terrasse im Schein der warmen Abendsonne gegessen und ein Gläschen Sekt dazu getrunken. Jetzt fühle ich mich einfach nur wohlig müde und falle erschöpft in mein Bett. Ein bisschen bin ich stolz auf mich, dass ich es geschafft habe, die WhatsApp zu ignorieren, und so schlafe ich mit einem Lächeln im Gesicht ein.


Am nächsten Tag mache ich mich direkt nach der Arbeit auf den Weg zu meinem Friseur.

„Hi, meine Süße! Du hast dich ja lange nicht gemeldet“, begrüßt Robert mich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. In seinen Worten schwingt kein Vorwurf mit, es kommt häufiger mal vor, dass wir wochen- oder auch monatelang nichts voneinander hören, doch jedes Mal, wenn wir uns wiedersehen, ist es, als wäre kein einziger Tag vergangen seit dem letzten Treffen. Nahtlos schließt unsere Freundschaft da wieder an, wo wir aufgehört haben.

„Ach, geht so“, antworte ich ausweichend und ernte eine hochgezogene Augenbraue und einen fragenden Blick, während Robert auf den Friseurstuhl deutet, wo ich mich setzen soll.

„Später, okay?“, sage ich und winke ab, als ich Platz nehme.

„Alles klar, dann fangen wir doch erst mal mit dem Wichtigsten an. Was wollen wir mit deinen Haaren machen?“, fragt er, setzt sich auf seinen Rollhocker und beginnt, meinen langen, geflochtenen Zopf aufzumachen.

„Abschneiden!“, antworte ich bestimmt und Robert hält mitten in der Bewegung inne. Den Rest meines Zopfes noch in der Hand starrt er mich über den Spiegel fragend an.

„Wie viel soll denn ab?“ Sein Blick wird ein wenig misstrauisch. Ich weiß, er wird nicht hören wollen, was ich sage. Er liebt meine taillenlange, dunkelblonde Mähne. Ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken.

„Viel! Ich dachte so an einen kinnlangen Bob.“ Robert lässt meine Haare los und steht auf. Er geht ein paar Schritte und kehrt wieder um, kommt zu mir zurück und lässt sich mit einem lauten Seufzen auf seinen Hocker fallen.

„Scheiße, Süße! Das kannst du doch nicht machen! Solange ich dich kenne, gibt es dich nur so. Ich weiß nicht, ob ich es übers Herz bringe, dir die Haare dermaßen zu kürzen. Was, wenn du dich hinterher ärgerst? Du würdest Jahre brauchen, bis sie wieder so lang sind!“ Er versucht mich von meinem Vorhaben abzubringen. Aber mein Entschluss steht fest.

„Genau das ist es doch. Mich gab es immer nur so. Seit ich dreizehn war, hatte ich nur lange Haare. Ich glaube, es ist einfach mal Zeit für eine grundlegende Typveränderung. Bitte, Robert. Ich hab mir das wirklich gut überlegt. Ich verspreche dir auch, ich werde es nicht bereuen.“

Okay, gut überlegt ist jetzt nicht so ganz richtig. Eigentlich ist der Entschluss recht spontan gefallen, als ich heute Morgen vor dem Spiegel stand und mal wieder eine halbe Stunde zum Haareföhnen brauchte. Ich war spät dran, und als ich dann auch noch ohne Ende Kletten ausbürsten musste, habe ich beschlossen, die langen Haare müssen ab!

Noch einmal tief seufzend nickt Robert und steht auf.

„Alles klar. Wenn du das unbedingt so möchtest. Aber ich will nachher kein Gejammer hören! Dann hol ich mal mein Werkzeug.“

„Ach, und Robert … Bring die Farbkarte mit. Ich möchte sie rot!“, rufe ich ihm noch mit einem Blick über die Schulter hinterher. Sein Kopf ruckt zu mir herum und sekundenlang sieht er mich nur fassungslos an. Dann nickt er resigniert und geht los, um alles Erforderliche zusammenzusuchen.

„Muss ich jetzt den Spiegel abhängen wie in einer dieser Vorher-Nachher-Shows?“, fragt er, als er mit allen notwendigen Utensilien zurückkommt, und zwinkert mir im Spiegel zu.

Lachend schüttele ich den Kopf.

„Nein, das ist nicht nötig. Schneid einfach drauflos und mach sie schön rot.“

„Gut, ich gebe mein Bestes. Und du erzählst mir währenddessen, welcher Kerl für diese radikale Typveränderung verantwortlich ist und was er dir angetan hat.“

Erstaunt sehe ich ihn an.

„Wie kommst du darauf, dass ein Mann etwas mit meiner neuen Frisur zu tun hat?“

„Jazz, ich bin Friseur! An dem Klischee, dass ein Friseur der beste Therapeut ist und die Kundinnen ihm alles erzählen, ist durchaus was Wahres dran. Und sowohl meine Erfahrung als auch die Tatsache, dass ich dich schon ewig kenne und weiß, wie du tickst, lassen bei mir alle Alarmglocken schrillen. Selbst wenn du lächelst wie ein Engel, du hast Liebeskummer. Ich durchschaue dich!“

Seufzend zucke ich mit den Achseln. „Ja, okay. Du hast ja recht. Es gibt da tatsächlich einen Mann. Oder besser gab … Mattis heißt er.“

Ich bin schon seit Ewigkeiten nicht mit Robert unterwegs gewesen, und unser Kontakt in der letzten Zeit war mehr als dürftig, da wir beide viel um die Ohren hatten. Außer per WhatsApp alle paar Wochen haben wir nichts voneinander gehört. Weshalb er auch bisher nichts von der ganzen Sache erfahren hatte.

Während Robert die Schere ansetzt und meine langen Strähnen zu einem schnittigen Bob kürzt, erzähle ich ihm, wie ich Mattis kennengelernt habe und wie meine letzten Monate verlaufen sind. Ich ende erst, als ich mit mittlerweile kurzen Haaren und Farbpaste auf dem Kopf unter der Wärmehaube sitze. Robert hat kaum Zwischenfragen gestellt, sondern einfach nur zugehört. Es tut gut, einmal die ganze Geschichte laut auszusprechen. Es kommt mir vor, als würde ich es dadurch in meinen Kopf sortieren, und ich habe das Gefühl, ich sehe das Ganze plötzlich viel klarer. Ich war so blind! Von Anfang an hätte mir bewusst sein müssen, dass ich für ihn nur eine Affäre bin. Ich verstehe mich selbst nicht, wie ich mich derart darin verlieren konnte. Immerhin weiß ich fast gar nichts über Mattis. Ich kenne gerade mal seinen Nachnamen, weiß aber nicht einmal, wo er überhaupt wohnt.

Ich hätte stutzig werden müssen, dass wir uns immer nur bei mir oder an öffentlichen Orten getroffen haben. Natürlich habe ich ihn darauf angesprochen, warum wir nie zu ihm gehen, aber ich habe ihm geglaubt, als er meinte, seine Wohnung sei noch nicht vorzeigbar. Er hat mir erklärt, er sei vor Kurzem erst eingezogen und habe bisher kaum Möbel, überall stünden Umzugskisten herum. Wie naiv war ich eigentlich?! Womöglich lebt er gar nicht allein, sondern hat eine Freundin oder ist bereits verheiratet.

Während ich die Wärme auf meinem Kopf genieße und nebenbei in einer Frauenzeitschrift blättere, komme ich wieder einmal zu dem Schluss, dass ich Mattis und die ganze Affäre hinter mir lassen muss. Ich sollte endlich aufhören, über diesen Mann nachzudenken, und nach vorne schauen. Wie meinte meine Oma doch immer so nett? „Andere Mütter haben auch schöne Söhne!“ Ein zugegeben dämlicher Spruch, aber dennoch steckt viel Wahrheit darin.

„So, meine Süße“, sagt Robert und schaltet die Wärmehaube aus. „Jetzt wollen wir mal die Farbe auswaschen und dann bist du auch schon fast fertig.“ Ich folge ihm zum Waschbecken, während er weiterredet.

„Ich glaube, deine neue Frisur ist richtig schick! Auch wenn ich erst etwas skeptisch war. Und was deinen Mattis angeht …“ Er deutet auf den Stuhl vor dem Waschbecken und ich setze mich. Zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen genieße ich das warme Wasser und seine magischen Hände, die mir sanft den Kopf massieren.

„Also, was diesen Kerl angeht. Süße, er hat dich nicht verdient! Aber ich glaube, vom Kopf her weißt du das auch, nur dein verliebtes Herz muss es noch begreifen.“

„Ja, und das ist gar nicht so einfach. Wenn ich nur eine Patentlösung fürs Gefühle-Abstellen hätte …“ Ich seufze auf und schlucke, als sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Nein, Jazz, an diesen Kerl verschwendest du keine Tränen mehr! Robert hat recht, er hat es nicht verdient.

„Es gibt keine Patentlösung. Man kann sich nicht so einfach ‚entlieben‘. Wenn das geht, dann weißt du, du hast ihn nie geliebt. Wahre Liebe vergisst man nicht, sie hört nie auf.“

Wie schön, dass Robert so viele schlaue Sprüche für mich hat. Aber leider hilft mir das gerade nicht weiter. Ich möchte nicht mehr in Mattis verliebt sein, es wird sowieso nichts daraus werden, sonst hätte er es nicht beendet. Ich will ihn einfach nur vergessen.

„Was mache ich denn jetzt?“, frage ich, während Robert mir ein Handtuch um die frisch ausgewaschenen Haare schlingt und wir auf meinen Platz zurückkehren.

Hinter mir stehend legt er mir die Hände auf die Schultern und drückt sie aufmunternd.

„Ich glaube, du brauchst einen Übergangsmann.“ Fragend sehe ich über den Spiegel zu ihm auf.

„Was bitte ist denn ein Übergangsmann?“

„Na, einer, der dich Mattis vergessen lässt. Ein Kerl, der dir eine Zeit lang zu Füßen liegt, dir guten Sex bietet und so dein Herz wieder bereinigt. Damit du wieder offen für echte Gefühle bist, verstehst du?“

Ich kann ihm noch immer nicht so recht folgen.

„Äh, nein. Das schnall ich nicht.“

„Gut, also … Die Regel besagt, dass der Mann, der nach einer langen Beziehung, oder auch nur nach schwerer Verliebtheit, kommt, ein so genannter Übergangsmann ist. Das ist niemand, mit dem man eine Beziehung will, sondern einfach nur ein Kerl, um das eigene Selbstbewusstsein, den verletzten Stolz und das gebrochene Herz ein wenig aufzupolieren. Damit man wieder frei ist für eine neue Liebe.“

Nachdenklich nicke ich. Stimmt, etwas Ähnliches habe ich mal in einer Zeitschrift gelesen. Irgendwelche Tipps gegen Liebeskummer. Damals habe ich den Artikel nur überflogen, und es ist auch schon lange her, doch so ganz dunkel klingelt da was bei Roberts Worten. Trotzdem weiß ich nicht, ob das die richtige Strategie für mich ist.

„Aber ich will ja gar keinen anderen. Da wäre es nicht fair, mir einen Kerl zu suchen, der mich nur vögelt. Damit wäre ich ja um keinen Deut besser als Mattis.“

„Süße, wer sagt denn, dass du besser sein musst? Außerdem kannst du ja auch von Anfang an mit offenen Karten spielen und demjenigen sagen, dass du keine Beziehung, sondern nur eine Affäre suchst.“

Manchmal bewundere ich Robert für seine Leichtigkeit. Mir scheint, als würde er selbst die schlimmsten Stürme des Lebens mit einem Schulterzucken und einer pragmatischen Lösung gemeistert bekommen.

3

Alles neu

„Und? Was sagst du?“ Robert hält den Handspiegel hoch, damit ich meine neue Frisur von allen Seiten begutachten kann.

„Wow!“ Ich bin restlos begeistert. Hätte ich vorher geahnt, dass mir kurze Haare so gut stehen würden, ich hätte sie mir schon vor Jahren abschneiden lassen. „Das ist ja unglaublich! Oh, Robert, das ist so großartig geworden!“ Ich springe auf und falle ihm um den Hals.

„Danke, danke, danke!“, jubele ich und küsse ihn auf die Wange. Er nimmt mich an den Schultern und schiebt mich ein Stückchen von sich.

„Lass mich dich erst mal genau ansehen, Süße.“ Wie ein kleines Kind drehe ich mich aufgeregt im Kreis und präsentiere mich ihm mit albernen Grimassen.

„Ja, ich muss sagen, die Farbe steht dir wirklich gut! Jetzt kommen deine niedlichen Sommersprossen auf der Nase noch besser zur Geltung.“

Gespielt genervt rolle ich mit den Augen. Ich hasse meine Sommersprossen und hätte viel lieber so makellos glatte Haut wie Lisa, aber ich weiß genau, Robert will mich nur aufziehen.

„So, meine Süße. Ich finde ja, wir sollten deine Typveränderung feiern. Was machst du morgen Abend?“

„Na, was soll ich schon machen. Es ist Freitagabend und ich bin Single. Vermutlich werde ich mich auf meine Couch fläzen, ein bis drei Biere trinken und mit meinem Hund kuscheln. Dazu eine Tiefkühlpizza und irgendwelche Sitcoms im Fernsehen. Ach, und um zehn ist Licht aus.“

Kopfschüttelnd sieht Robert mich an.

„Das ist so erbärmlich! Wird Zeit, dass du mal wieder unter Leute kommst. Außerdem haben wir schon viel zu lange nichts mehr gemacht. Morgen Abend gehen wir feiern!“

Grinsend stimme ich zu. Ich freue mich, endlich mal wieder mit Robert wegzugehen. Und da ich morgen einen freien Tag habe, nehme ich mir vor, shoppen zu gehen und mir ein neues Outfit zuzulegen.

Glücklich drehe ich mich noch einmal vor dem Spiegel. Ich sehe so komplett verändert aus, ich glaube, selbst Lisa würde mich nicht erkennen, wenn wir uns jetzt zufällig über den Weg laufen würden.


Als ich nach Hause komme, sitzt meine Freundin gerade auf ihrer Terrasse.

„Hallöchen, Frau Nachbarin!“, rufe ich gut gelaunt über den kleinen Zaun, der unsere Gärtchen voneinander trennt.

„Hi, Jazz. Wie ge… Ach du Scheiße! Wie siehst du denn aus?“ Okay, das war jetzt nicht unbedingt die Reaktion, die ich mir von ihr erhofft habe.

„Öhm … du meintest doch, ich sollte was für mich machen. Und … ich dachte … Also …“, stottere ich und sehe ihr unsicher entgegen, als sie über den Zaun steigt und zu mir kommt. Mit offenem Mund geht Lisa ein paarmal um mich herum, begutachtet mich von allen Seiten, als wäre ich ein Stück Vieh auf dem Markt.

„Mann, Lisa! Nun sag doch was!“, blaffe ich sie an, als es mir zu bunt wird.

„Das ist … WOW!“ Strahlend bleibt meine Freundin vor mir stehen, dann reißt sie mich in ihre Arme und juchzt auf.

„Oh mein Gott! Du siehst so wunderschön aus!“ Sie packt mich an den Schultern und dreht mich vor sich im Kreis. „Ich kann es gar nicht fassen! Ich meine, ich fand dich ja schon immer wirklich hübsch, aber jetzt … Also, wenn dir so die Männerherzen nicht zufliegen, weiß ich auch nicht. Okay, darauf müssen wir anstoßen. Hol Gläser, ich hab noch Sekt im Kühlschrank. Bin gleich wieder da.“ Damit klettert sie wieder über den Zaun und verschwindet durch die Terrassentür in ihrer Wohnung.

Erleichtert grinsend gehe ich rein und lasse mich als Erstes vor meinem Hund auf die Knie sinken.

„Mann, Chili. Die kann einem aber auch einen Schreck einjagen! Ich hab doch echt geglaubt, sie findet die Frisur scheiße“, murmele ich, die Nase in seinem Fell vergraben, während er sich glücklich an mich schmiegt. Da ich nach der Arbeit den Friseurtermin hatte, durfte er mich heute nicht begleiten, und weil das eher selten vorkommt, ist der arme Hund an solchen Tagen immer besonders liebesbedürftig und kuschelig.

Als ich mit den Sektgläsern in den Garten zurückkehre, weicht Chili mir nicht von der Seite. Es könnte ja sein, dass ich wieder verschwinde und ihn allein lasse. Seufzend lässt er sich auf meine Füße fallen und rollt sich zusammen, während ich mit Lisa auf meine neue Frisur anstoße.

„Sag mal, was machst du morgen? Hast du vielleicht Lust, mit mir shoppen zu gehen?“, frage ich meine Freundin.

„Nee, sorry. Ich fahr morgen nach Köln zu meinen Eltern. Meine Ma hat Samstag Geburtstag. Da ist doch die große Party zum Fünfzigsten.“

„Ach, stimmt ja. Schade. Ich will morgen Abend mit Robert losziehen und brauche noch ein Outfit.“

„Oh … Robert?“ Lisa grinst über das ganze Gesicht und wackelt mit den Augenbrauen. „Geht da vielleicht noch was?“

„Nee, Lisa. Vergiss es! Robert ist so was von abgehakt, wir sind nur noch Freunde.“ In der zwölften Klasse haben Robert und ich tatsächlich einmal versucht, zusammen zu sein. Aber wir haben ziemlich schnell festgestellt, dass uns außer Spaß an gutem Sex leider nichts verbindet, dass wir nicht wirklich Gefühle füreinander haben, die über das Freundschaftliche hinausgehen. So haben wir beschlossen, dass wir als Freunde besser funktionieren. Danach hatten wir eine Phase, die man wohl gemeinhin als Freundschaft mit gewissen Vorzügen bezeichnet, aber auch die ist seit Jahren vorbei.

„Aber Robert ist echt heiß!“

„Okay, er sieht nicht schlecht aus, aber was soll ich mit einem Kerl, der morgens länger im Bad braucht als ich? Und genau so einer ist er! Wenn nicht jedes einzelne Haar nach dem Stylen so liegt, wie der Herr es gern hätte, wäscht er sie noch mal und fängt von vorne an. Nee, alleine das wäre mir schon zu anstrengend!“

„Echt? Nö, ich mag es, wenn Männer auf ihr Äußeres achten.“