image

Sophie Oliver

Der Fall des
lachenden
Kranichs

Ein viktorianischer Krimi
mit den Ermittlern
des Sebastian Club

image

Der Kranich – chinesisch: image

In der chinesischen Mythologie

symbolisiert der Kranich

Langlebigkeit, Weisheit und die Beziehung

zwischen Vater und Sohn.

Von allen Kranicharten erreicht der schwarze Kranich

angeblich das höchste Alter,

und es heißt,

dass er ab seinem sechshundertsten Lebensjahr

aufhört zu fressen und nur noch Wasser braucht.

Hat der Kranich einen Partner gefunden,

lebt er normalerweise

bis zum Tod monogam.

Inhalt

1895

PROLOG: Hongkong, British China

Poebene, Italien

Brindisi

Suezkanal, Ägypten

Limehouse, London

Hongkong, British China

Victoria Harbour

Victoria Peak

Queen’s Road Central

Central Market

Daya Bay

Happy Valley

Whitechapel, London

Im Hong Kong Club, British China

Victoria Peak

Queen’s Road Central

Auf Reisen

Whitechapel, London

Im Club

Limehouse

Mayfair

Knightsbridge

Belgravia

Im Club

Shoreditch

Victoria Embankment

Limehouse

Shadwell

Belgravia

Im Club

Epilog

GLOSSAR

1895

PROLOG

Hongkong, British China

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne küssten die Magnolien wach. Ihre Blütenkelche öffneten sich bereitwillig, und auf Wellen morgenfrischer Luft getragen, breitete sich im Garten ein betörender Duft aus. Anfangs noch dezent, mit zunehmender Wärme intensiver.

Lien stand barfuß auf der kleinen Brücke, die sich über den Karpfenteich spannte, und machte wie jeden Tag ihre Übungen. Dafür trug sie einen Anzug, bestehend aus weiter Hose und einer dazu passenden, kastig geschnittenen Jacke mit Stehkragen aus blütenweißem Stoff. Sieben knebelartige Knöpfe hielten sie geschlossen. Schon als Kind hatte sie mit dem Qigong begonnen, und nun, als junge Frau von achtzehn Jahren, konnte sie sich keinen Tagesbeginn ohne vorstellen. Anfangs nahm Lien das Aroma von Champaka und Purpur-Magnolien noch wahr, aber je mehr sie in ihrer Konzentration versank, desto weniger Eindrücke von außen erreichten sie.

Ein Zuschauer hätte die eleganten, fließenden Bewegungen der zierlichen Lien ansprechend gefunden, jedoch schenkten ihr dicht gepflanzte Bäume und enge, verschlungene Wege absolute Abgeschiedenheit, sodass sie sich sicher sein konnte, von niemandem beobachtet zu werden. Zudem hatte ihr Vater, Hu Yong, mit hohen Mauern dafür gesorgt, dass ungebetene Gäste keinen Zutritt zu seinem weitläufigen Grundstück hatten. Das Anwesen der Familie Hu lag auf einer Anhöhe im Norden von Hongkong Island, mit einem spektakulären Blick bis hinüber nach Kowloon. Wenn die feuchte Hitze unten in der Stadt die Menschen in ihrem Schweiß badete, ließ es sich hier oben angenehm aushalten. Nur wohlhabende Bürger lebten in Villen in den Hügeln, und Hu Yong war einer der reichsten. Er schottete seine Familie von allem ab, was sie mit der gefährlichen, harten und bedürftigen Welt draußen in Kontakt hätte bringen können.

Leider versagten die Sicherheitsvorkehrungen an diesem Tag. Aber es konnte schließlich niemand ahnen, dass der Eindringling ausgerechnet die steile Klippe bezwingen würde. Um das zu schaffen, musste er erstens klettern können wie eine Bergziege und zweitens unten in der Bucht ein Boot liegen haben, was angesichts der starken Strömung ohnehin schon ein kniffeliges Unterfangen war.

Fast unmöglich, doch nicht gänzlich, schien die Einnahme des Hu’schen Grundstücks von der Seeseite aus. Der drahtige junge Kerl bewältigte seine Aufgabe meisterhaft. Nachdem er sich vom Felsen auf das abrupt abbrechende hintere Ende des Gartens geschwungen hatte, befestigte er sein um den Bauch geknotetes Seil an einem Banyanbaum und zog daran einen großen Bastkorb herauf. Anschließend schlich er sich mit der lautlosen Sicherheit derer, die sich vorab über die Örtlichkeiten informiert haben, durchs Gebüsch, pirschte sich an die ahnungslose Lien heran und setzte sie mit einem gezielten Schlag außer Gefecht. Sie sackte so schnell in sich zusammen, dass ihr zu einem langen Zopf geflochtenes Haar wie eine schwarz glänzende Peitsche hinter ihr herschwang.

Mühelos schulterte der Mann seine Last, trug das Mädchen zum Korb und ließ es hineingleiten. Aufgrund Liens zierlicher Gestalt verschwand sie komplett darin – und das war gut so. Denn bestimmt hätte sie nicht sehen mögen, wie sie samt Transportgefäß über die steile Felswand nach unten abgeseilt wurde. Selbst als helfende Hände sie auf dem wartenden Boot in Empfang nahmen, kam sie nicht zu sich. Mit ruhiger Sicherheit navigierte ein alter Mann am Ruder das Boot um Hongkong Island herum, bis er den Hafen von Aberdeen erreichte. Nicht einmal als das kleine Gefährt in den schwimmenden Markt eintauchte, Teil von ihm wurde und mit den unzähligen anderen Booten verschmolz, auf denen Menschen Handel trieben, lebten und starben, Dinge transportierten und ihren täglichen Geschäften nachgingen, wachte Lien auf. Erst als irgendwann jemand den Deckel des Korbes abnahm und grelles Sonnenlicht sie kitzelte, schlug sie blinzelnd die Augen auf. Freilich war es da längst zu spät, um noch irgendwie Alarm zu schlagen, geschweige denn davonlaufen zu können.

Hu Yong erfuhr von seiner Gattin vom Verschwinden der Tochter. Zusammen mit seinem Freund und Vertrauten Liu Wen befragte er sämtliche Dienstboten, doch niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Allen war schleierhaft, wie Lien das gesicherte Anwesen hatte verlassen können, und einem jeden war sofort klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.

»Schicke nach Zhen«, verlangte Hu Yong dunkel, »und sag ihm, Lien wurde entführt. Dieser Sohn einer Wasserschlange hat sie geholt. Wir müssen sie finden.«

»Was ist mit der Kolonialpolizei?«, fragte Liu Wen.

Hu Yong zuckte geringschätzig mit den Schultern. »Wir sollten auch sie informieren, doch wissen wir beide, dass die Engländer nichts ausrichten werden.«

Poebene, Italien

Die Ausstattung der ersten Klasse in der Dampfeisenbahn von Calais nach Brindisi ließ keine Wünsche offen. Brandneue Pullman-Palace-Car-Waggons brachten ihre vornehmen Passagiere komfortabelst vom Ärmelkanal bis ans Mittelmeer.

Professor Brown, der Vorsitzende des ehrenwerten Sebastian Club vom Berkeley Square in London, saß in seinem Abteil, die Times lesend, während sich ein dünner Rauchschwaden wie eine tanzende Kobra aus der Pfeife hochschlängelte, ein wenig über seinem Kopf in der Luft verharrte und sich dann mit dem Pfeifennebel vermischte, der unter der gewölbten Decke stand.

»Interessant«, murmelte er vor sich hin – es hatte den Anschein, mehr zu sich als zu Crispin Fox, der ihm gegenüber saß und die vorbeifliegendende Landschaft durch das Fenster beobachtete. »Zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sterben am selben Tag.«

Crispin horchte auf. »Wie bitte? Wer ist tot?«

»Ares Christoforou und Paddi Latimer.«

»Ich fürchte, weder der eine noch der andere Name sagt mir etwas.« Mit einer unauffälligen Geste lockerte Crispin seine Krawatte, denn die Luft im Abteil heizte sich zusehends auf. Draußen schien die Sonne, und nachdem sie die Alpen hinter sich gelassen hatten, glitt der Zug nun durch die sommerlich verbrannte Poebene.

Der Professor nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete damit auf das Fenster. »Öffnen Sie es ruhig. Ein wenig frische Luft kann nicht schaden.«

Ein Altersunterschied von vierzig Jahren trennte die beiden Männer. Während der gesetzte Professor Brown gerne las und die Fälle seines Sebastian Club durch Nachdenken löste, lag dem jungen Crispin ein eher aktiver Ansatz besser. Er recherchierte, observierte und scheute sich auch nicht vor Verfolgungsjagden. Redete er sich zumindest ein, denn er war so neu im Ermittlerteam des gediegenen Herrenclubs, dass er bisher noch nie jemandem wirklich hatte hinterherlaufen müssen. Er freute sich tagtäglich über seine Aufnahme. Der Sebastian Club beschäftigte nämlich eine Riege besonders begabter Gentlemen, die sich der Klärung außergewöhnlicher Verbrechen verschrieben hatten, und für Crispin war es eine Ehre, dazuzugehören. Dies war sein zweiter Fall. Für den sie sich ans andere Ende der Welt begeben mussten, und das in aller Eile. Eigentlich arbeitete der hochbegabte Jurist als Anwalt in der Kanzlei seines Vaters Harold Fox, die er eines Tages übernehmen sollte. Seitdem er in den Sebastian Club eingetreten war, hatte er allerdings kaum Zeit für seinen Beruf, denn die Berufung, das Ermitteln, kam ihm ständig dazwischen. So auch jetzt. Sein Vater war nicht begeistert gewesen, als Crispin ihm mitgeteilt hatte, bis auf Weiteres nicht zur Verfügung zu stehen, weil er mit den Clubkollegen nach British China reisen würde, um eine entführte junge Frau zu finden.

Nachdem er dankbar die Scheibe halb heruntergeschoben, eine Nase voller Frischluft genommen und sich wieder gesetzt hatte, fuhr der Professor fort.

»Ares Christoforou ist, vielmehr war, ein schwerreicher Geschäftsmann aus Zypern, der zusammen mit seiner Familie eines der größten Stadthäuser in Mayfair bewohnte und seit ungefähr zwanzig Jahren erfolglos versuchte, sich in der Gesellschaft zu etablieren. Natürlich kennt man ihn, und er wird, beziehungsweise wurde, auch zu der ein oder anderen Veranstaltung geladen, aber er gehörte nicht wirklich dazu. Wie ich diesem Bericht entnehme, hatte er einen tödlichen Unfall. Paddi Latimer hingegen war ein berüchtigter Londoner Unterweltstrolch. Ein schlimmer Bursche. Dass der nicht friedlich daheim in seinem Bett das Zeitliche segnete, verwundert nicht.«

»Wie starb er denn?«

»Hier steht, er wurde regelrecht geschlachtet. Mit einer außerordentlich scharfen und breiten Klinge.«

Crispin runzelte die Stirn. Zwei Morde, davon einer an einem Kriminellen, in einer Stadt wie London, in der täglich weiß Gott wie viele Menschen den Tod fanden. Klang nicht gerade wie eine Sensation. Crispin hatte allerdings den Eindruck, als würde der Professor regelrecht nach einer ebensolchen suchen. Kurz bevor sie in Calais in den Zug gestiegen waren, hatte er sich am Bahnhof noch rasch eine Ausgabe der Times besorgt, die er seitdem auswendig zu lernen schien – gemessen an der Zeit, die er mit Lesen verbrachte. Professor Brown saugte jedes einzelne Wort auf, runzelte bisweilen die Stirn, brummte Unverständliches oder schob die Lesebrille auf seiner Nase rauf und runter. Ein unterhaltsamer Reisegefährte war er nicht gerade.

»Ich gehe zu den anderen in den Speisewagen«, teilte Crispin dem älteren Herrn mit. »Es ist Zeit für den Tee. Kommen Sie auch?«

»Wie bitte?« Irritiert blickte Professor Brown von seiner Lektüre auf.

»Möchten Sie eine Tasse Tee?«

»Nein, vielen Dank, Mister Fox. Ich werde noch ein wenig lesen. Aber gehen Sie ruhig. Wir sehen uns dann beim Abendessen.«

Draußen auf dem Gang war es weitaus stickiger als im Abteil.

Wie kann man nur in einem derartig heißen Land leben?, fragte sich Crispin kopfschüttelnd, während er den Speisewagen betrat und sich nach seinen Reisebegleitern umsah. Ich bin froh, wenn wir es durchquert haben, obgleich ich befürchte, dass es eher unangenehmer als frischer werden wird.

Lord Philip Dabinott, Anfang dreißig, groß, schlank, mit interessant geschnittenem Gesicht und stets makellos gekleidet, sein Neffe Freddie Westbrook, nur zwölf Jahre jünger als sein Onkel und das Küken der Ermittlerriege, sowie ein Chinese namens Zhen, der nicht zu den Detektiven gehörte, sondern genau genommen ihr Auftraggeber war, hatten es sich bereits an einem Tisch bequem gemacht. Crispin setzte sich auf den freien Platz neben Freddie. Der Tee war serviert worden, Crispin ließ sich eine Tasse bringen und beäugte skeptisch das Gebräu in der Kanne.

»Wir haben lediglich heißes Wasser bestellt, weil wir uns etwas Besonderes gönnen wollen«, klärte Lord Philip ihn auf. »Long Jing Grüntee aus China. Zhen hat ihn mitgebracht, er misstraut dem hiesigen Teeangebot.« Er zwinkerte Zhen zu, da der sich anschickte zu protestieren.

Freddie goss Crispin ein. »›Long Jing‹ bedeutet ›Drachenquelle‹. Der Tee ist in Asien sehr berühmt und von hervorragender Qualität.«

Dieses Wissen überraschte Crispin nicht, immerhin war Freddie bei Lord Philips Schwester in Hongkong aufgewachsen, durch eine langjährige Freundschaft seit Kindertagen mit Zhen verbunden und sprach fließend Chinesisch. Genau genommen hatten die Herren es Zhen und ebenjener Freundschaft zu verdanken, dass sie nun um den halben Erdball reisen mussten, da er ein Versprechen von Freddie einforderte. Vor Jahren hatten die beiden einander geschworen, sich gegenseitig zu Hilfe zu kommen, egal wann oder wo.

Und nun brauchte dieser Liu Zhen Freddie Westbrooks Unterstützung, denn ihm war seine Verlobte abhandengekommen. Entführt, wie er sagte. Innerlich verdrehte Crispin die Augen, ließ sich aber die Abneigung gegen den jungen Hongkong-Chinesen nicht anmerken, sondern nippte mit gleichmütigem Gesichtsausdruck an seinem Tee. Der erstaunlich gut schmeckte für etwas, das so wässrig aussah.

Jedenfalls war es natürlich nicht infrage gekommen, Freddie alleine nach Asien reisen zu lassen, daher hatten sich die Ermittler des Sebastian Club geschlossen auf den Weg gemacht, um die entführte Verlobte wiederzufinden.

Wobei – einer der Gentlemen-Detektive war in London verblieben. Doktor Pebsworth sollte sich daheim zur Verfügung halten, falls man Hilfe dort brauchte. Crispin wusste, dass der Clubvorsitzende Professor Brown nur zu gerne mit dem Doktor getauscht hätte, aber anscheinend betrachtete er es als seine Pflicht, mitzukommen.

»Wann werden wir Brindisi erreichen?«, fragte Freddie gerade.

»Etwa zwei Stunden bevor unser Schiff nach Alexandria ausläuft«, antwortete Lord Philip.

Unauffällig griff Crispin unter dem Tisch nach Freddies Hand und drückte sie. Wahrscheinlich nicht unauffällig genug, denn Lord Philip warf ihm einen ebenso alarmierten wie missbilligenden Blick zu und fragte betont auffällig: »Noch mehr Tee, Mister Fox?«

»Aber gerne. Schmeckt sehr erfrischend, dieser Long Jing!«

Zum Abendessen gesellte sich auch der Professor zu den anderen. Man speiste standesgemäß gekleidet unter einer gewölbten, opulent bemalten Decke, an der ausladende Kronleuchter befestigt waren, sodass Crispin sich beinahe wie in einem Ballsaal vorkam und nicht wie in einem Zug. Damasttischdecken und schweres Silberbesteck trugen ebenso zum gediegenen Ambiente bei wie feines Porzellan und geschliffene Kristallgläser.

Bei der Hitze verspürte Crispin keinen Appetit, daher entschied er sich für Fisch und nahm als Dessert lediglich ein wenig Obst. Dazu trank er einen exzellenten Pinot Blanc aus dem Rheingau. Während die Gentlemen ihr Dinner genossen, stocherte Zhen nur lustlos darin herum und aß kaum etwas. Wahrscheinlich war sein Gaumen exotischere Aromen gewohnt, mutmaßte Crispin. Es war ja hinlänglich bekannt, dass die Chinesen alles scharf würzten und unaussprechliche Dinge aßen.

»Lassen Sie uns die Fakten noch einmal zusammenfassen«, schlug Professor Brown vor, nachdem der Kaffee serviert worden war.

Zhen sah von seiner Tasse auf. Er blieb bei Grüntee. »Aber ich habe Ihnen alles schon mehrfach erzählt.«

Lord Philip nickte. »Richtig. Und jedes Mal sind Ihnen weitere Details eingefallen, die sich als wichtig erweisen könnten. Die Vorgehensweise des Professors hat sich bewährt, also bleiben wir dabei.«

Da musste ihm Crispin zustimmen. Obwohl er selbst erst an einem Fall mitgewirkt hatte – wie übrigens auch Freddie Westbrook, man hatte sie quasi gemeinsam rekrutiert –, konnte er mit Sicherheit sagen, dass die zahlreichen Sitzungen, bei denen die Detektive ihre Informationen zusammengetragen und durchdiskutiert hatten, sehr hilfreich bei der Lösung gewesen waren. Und wenn Professor Brown es für nötig befand, den Sachverhalt nochmals zu besprechen, würde er seine Gründe haben.

»Na schön.« Zhen seufzte und warf aus dunklen Augen einen Blick in die Runde, bevor er begann.

»Bereits als Kind wurde ich mit einem Mädchen namens Hu Lien verlobt. Ihr Vater, Hu Yong, und der meine, Liu Wen, beschlossen dies. Am fünfzehnten Juni verschwand Lien morgens spurlos aus dem Garten des Familienwohnsitzes. Wenige Stunden später erhielten mein Vater und Mister Hu ein Schreiben, in dem stand, dass ich Lien niemals heiraten würde, weil durch unsere Verbindung die Familien Hu und Liu zu einflussreich in Hongkong würden.«

»Zhen stammt aus einer alteingesessenen Kaufmannsdynastie. Zusammen mit einigen anderen Familien bestreiten sie einen Großteil des Import-Export-Geschäftes in Hongkong. Was die Chinesen angeht. Dazu kommen natürlich die Handelshäuser unter westlicher Führung«, warf Freddie ein. »Im Zuge seiner Vermählung sollte der Zusammenschluss der Familienunternehmen bekannt gegeben werden und die Gründung der Hu Liu Hongkong Company.«

Lord Philip stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte die Handflächen wie in einer betenden Geste aneinander und tippte mit den Fingerspitzen leicht gegen sein Kinn. Wieder einmal fiel Crispin auf, wie lang und feingliedrig seine Finger waren, ganz genauso wie die von Freddie. Auch die Augen der beiden leuchteten im selben intensiven Blau. Freddies Gesicht allerdings war voller und runder als das schmale Antlitz von Lord Philip mit seinen hohen Wangenknochen und dem breiten Mund. »Dann liegt der Schluss nahe, dass die Entführung von einer der anderen Familien durchgeführt wurde«, konstatierte er gerade.

»Das ist unwahrscheinlich, da keine Feindschaften bestehen. Darüber hinaus wäre es zu naheliegend«, widersprach Zhen. »Aber es gäbe noch eine weitere Möglichkeit, jemand, den mein Vater und Mister Hu verdächtigen.«

»Ach ja? Wer soll das sein?«

»Seit einigen Jahren versucht ein Mann namens Wu Bai geschäftlich in Hongkong Fuß zu fassen. Das geht natürlich nicht so einfach. Erstens ist der Kuchen längst aufgeteilt, und zweitens gehören ordentliche chinesische Geschäftsmänner den alten Clans an. Wu Bai ist ein Emporkömmling mit lächerlichen Vorstellungen. Er wird niemals als Händler akzeptiert werden. Gut möglich, dass er glaubt, wenn er sich Lien nimmt, dann steht ihm ein Platz unter uns zu.«

»Interessante Theorie.« Zum ersten Mal an diesem Abend kam Leben in Professor Browns unbeteiligtes Gesicht. Seine braunen Augen blitzten, als er nachfragte: »Welchem Clan entstammt Wu Bai denn?«

Zhen schnalzte geringschätzig mit der Zunge. »Keinem ordentlichen. Er ist ein Tanka.« Weil ihn sämtliche Herren verständnislos anstarrten, erklärte er weiter: »Die Tanka sind Bootsleute, Wassermenschen. Sie leben auf Dschunken, Booten und Schiffen, ohne ein richtiges Zuhause. Wie nennt man das bei Ihnen?« Er überlegte kurz. »Fliegende Händler? Zigeuner?«

Lord Philip nickte beiläufig. »Wir verstehen, was Sie meinen. Und Ihre werte Familie …?«

»Wir sind Han-Chinesen. Unsere Wurzeln gehen auf die erste große Dynastie zurück. Und Lien kommt aus dem Mandschu-Clan, dem auch die kaiserliche Familie angehört, die China regiert.«

»Gewiss, gewiss.«

Nur mit Mühe unterdrückte Crispin ein Grinsen. Lord Philip vermochte unglaublich jovial zu sein, wenn er es darauf anlegte. Schwer zu sagen, ob er einfach nur den britischen Kolonialsnob herauskehrte oder Zhen genauso wenig leiden konnte wie Crispin. Doch das würde er schon noch herausfinden.

»Wie dem auch sei. Sie haben zwar weniger als drei Wochen gebraucht, um nach London zu reisen und uns um Unterstützung zu bitten, was beachtlich ist – aber wäre es nicht möglich, dass sich die Sache bereits erledigt hat, bis wir Hongkong erreichen? Selbst wenn wir Ihre Zeit unterbieten, was wir vorhaben, denn unser junger Freund Mister Fox hier hat den schnellstmöglichen Reiseweg gebucht«, anerkennend nickte Lord Philip Crispin zu, »wird es gut zwei Wochen dauern, bis wir ankommen. In einer so langen Zeitspanne kann viel passieren, gerade was Verbrechen betrifft. Glauben Sie mir, da spreche ich aus Erfahrung.«

»Ich stehe in ständiger telegrafischer Verbindung mit meinem Vater und mit dem von Lien. Wie Sie wissen, kam mittlerweile eine Lösegeldforderung an. Zusammen mit der Ankündigung, dass Lien freigelassen werden würde, wenn zusätzlich zur Zahlung die Geschäftszusammenlegung nicht stattfindet. Das ist natürlich Humbug. Zunächst bat sich Liens Vater Zeit aus, um die Forderung zu überdenken. Nachdem er das ausgereizt hatte, stimmte er zum Schein zu und bat um ein paar weitere Tage, um die geforderten Mittel zu beschaffen. Allerdings tickt die Uhr, das will ich nicht abstreiten.«

Brindisi

Freddie hatte als einziges Mitglied der Ermittlerriege ein Abteil für sich alleine. Lord Philip teilte sich die Kabine mit dem Professor und Crispin mit Zhen. Offiziell wurde das damit begründet, dass man eine ungerade Zahl an Reisenden sei. Inoffiziell kannte natürlich jeder der Herren den wahren Grund. Daher war es mehr als unangemessen, als Crispin kurz vor der Ankunft in Brindisi in Freddies Coupé schlüpfte.

»Was ist los?«, fragte Freddie ihn überrascht. Fertig zum Aussteigen in einem leichten Leinenanzug mit Fliege, hellen Schuhen und Hut, war das Einzige, was nicht zur Erscheinung eines jungen Mannes passte, das üppige, weizenblonde Haar, welches in großzügigen Wellen weit über die Schultern fiel.

»Gottlob hast du deine Perücke noch nicht auf, sonst käme es mir reichlich seltsam vor, das hier zu tun«, bemerkte Crispin mit einem Grinsen, zog Freddie an sich und küsste sie.

Überrascht schnappte sie nach Luft, als er sie wieder losließ. »Crispin Fox! Was fällt dir ein? Wenn mein Onkel dich hier erwischt …«

»… wird er mich lynchen, ich weiß. Herrlich, wie ihm das Gesicht gefror, als er bemerkte, dass ich unter dem Tisch deine Hand drückte.«

»Das ist kein Spiel. Wir hatten die Sache in London besprochen, Onkel Philip, du und ich. Wir befinden uns auf einem offiziellen Ermittlungsauftrag des Sebastian Club. Frauen haben dabei nichts verloren. Daher gebe ich, wie auch schon bei unserem letzten Fall, den jungen Herrn, und mir liegt viel daran, dass diese Rolle glaubwürdig ist. Amouröse Verwicklungen würden uns nur schaden.«

Zerknirscht blickte Crispin zu Boden. »Es tut mir leid. Nur fällt es mir zusehends schwerer, so zu tun, als wärst du ein Mann.«

»Dann hättest du nicht mitfahren dürfen!« Langsam wurde Freddie ungehalten. Seit Zhens überraschendem Auftauchen benahm sich Crispin wie ein eifersüchtiger Schuljunge. Die Gefühle, welche die beiden in den letzten Wochen füreinander entwickelt hatten, waren noch zart, und auch für Freddie war es nicht einfach, zu ihrem Wort zu stehen und Zhen zu helfen, anstatt einen entspannten Sommer auf dem Land zu verbringen, mit gelegentlichen Besuchen von Crispin. Aber so war das Leben. Pläne konnten sich über Nacht ändern. Und wenn ein guter Freund Hilfe brauchte, musste man die eigenen Belange hintanstellen, fand Freddie. Zudem hatte sie keineswegs vor, sich in naher Zukunft an einen Mann zu binden. Das wäre das sichere Ende ihrer Tätigkeit als Detektiv.

»Für mich ist es einfacher, als Gentleman zu reisen. Ich kann mich freier bewegen, besser ermitteln und werde von den Menschen anders wahrgenommen. Besonders in Hongkong wird mir das zugutekommen, dort ist die Rolle der Frau eine noch viel beschränktere als zu Hause in London.« Auch wenn das schwer vorstellbar ist, fügte sie im Geiste hinzu. Denn seitdem Freddie Westbrook das Leben von der männlichen Seite aus kennengelernt hatte, fiel ihr erst auf, wie beschnitten ihre weibliche Existenz war.

»Das weiß ich doch. Ich wollte dich nur rasch alleine sehen, bevor wir auf das Schiff umsteigen und alles wieder hektisch und chaotisch wird.«

Zart strich sie mit der Hand über seine Wange und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Unsere Zeit wird kommen, Crispin. Nur eben nicht gerade jetzt, sondern ein wenig später.«

Lächelnd legte er die Stirn einen Moment lang an die ihre. »Geduld war noch nie meine Stärke.« Er griff nach der blonden Kurzhaarperücke und reichte sie Freddie. »Hier. Ist es nicht schrecklich warm darunter?«

»Und wie! Entsetzlich. Erklär mir noch mal, wie es von Brindisi aus weitergeht. Immerhin hast du die Route geplant – sehr gut, wie ich anmerken möchte.«

»Wir setzen mit der SS Victoria nach Port Said über, und von dort aus schippern wir weiter nach Colombo.«

»Ceylon?«

»Richtig. Der limitierende Zeitfaktor dabei ist der Suezkanal. Dieser darf nämlich nur im Schneckentempo passiert werden, und wenn viel Betrieb ist, müssen wir warten.«

Mit einer liebevollen Geste streichelte Freddie über Crispins dunkelblondes Haar, wobei sich eine vorwitzige Strähne löste und ihm in die Stirn fiel. Sie lächelte ihn an. »Ich denke, wir werden Glück haben und rasch vorankommen.«

Er verbeugte sich leicht vor ihr. »So sei es, Miss Westbrook. Obwohl, nun bist du wieder Mister Westbrook. Bereit zum Aussteigen?«

Nach der langen Zugfahrt tat es gut, endlich festen Boden unter den Füßen zu haben. Auch wenn es sich dabei um ein kurzes Vergnügen handelte, denn sie mussten so rasch wie möglich auf ihr Schiff. Als Freddie damals von Hongkong nach London gereist war, um fortan bei ihrem Onkel Lord Philip Dabinott zu leben, hatte sie eine andere Route genommen, sie war noch nie zuvor in Brindisi gewesen. Die Hafenstadt am Sporn des italienischen Stiefels glühte in der flimmernden Sonne und roch nach Fischnetzen und Menschen.

Beim Verlassen des Zuges wurden die Gentlemen von zahlreichen einheimischen Männern umringt, die allesamt in einem Kauderwelsch aus Englisch und Italienisch anboten, sowohl das Gepäck als auch die Reisenden selbst zur Bootsanlegestelle zu tragen. Was die Herren selbstredend weit von sich wiesen. Zumindest der Professor, Lord Philip, Freddie und Crispin. Zhen hatte keine Skrupel, sich von einem bullig aussehenden Italiener huckepack über den Corso Roma zum Hafen schleppen zu lassen. Die anderen begnügten sich damit, lediglich ihre Koffer abzugeben. Es handelte sich ohnehin nur um einen kurzen Fußmarsch von fünfzehn Minuten, zumeist sogar ein wenig abschüssig, währenddessen Freddie aus dem Staunen nicht herauskam. Auf beiden Seiten der Straße gab es Läden und Verkaufsstände, in denen Essen sowie Souvenirs feilgeboten wurden. Die Menschen waren dunkelhaarig, mit gebräunter Haut, und ein kleines Mädchen an der Hand seiner Mutter hatte so lange schwarze Wimpern, wie Freddie sie noch nie gesehen hatte. Aufgrund ihrer Herrenverkleidung konnte sie ihrer Begeisterung darüber keinen Ausdruck verleihen, das hätte dann doch ein wenig unmännlich gewirkt. An einem der Stände kaufte sie Zitronen und Orangen, deren Schale intensiv duftete und später die Schiffskabine mit Wohlgeruch erfüllen würde.

Das Dampfschiff Victoria der Peninsular and Oriental Steam Navigation Company, kurz P&O genannt, wartete bereits auf die Neuankömmlinge. Mit Schloten, Segelmasten, Rettungsbooten und einem von Menschen nahezu überfließenden Deck. Freddie wusste nicht, worauf sie in dem bunten Treiben ihr Augenmerk zuerst richten sollte, so viele Eindrücke stürzten gleichzeitig auf sie ein. Auch an Bord hatte sie wiederum eine Einzelkabine, glücklicherweise eine außen liegende, während die anderen sich mit Doppelkajüten und Stockbetten begnügen mussten. Aufgrund ihrer kurzfristigen Reisepläne waren nämlich die meisten der Einzelunterkünfte bereits reserviert gewesen, außerdem gab es auf der SS Victoria nur wenige davon. Der Großteil der Kajüten beherbergte drei und vier Betten, selbst in der ersten Klasse, sodass die Herren ihre Unterbringung akzeptieren mussten.

Die schwelende Sommerhitze wich bald nach dem Ablegen einer herrlichen Seebrise. Tiefblaue Mittelmeerwellen glitzerten im Nachmittagslicht, soweit das Auge reichte. Zufrieden ließ sich Freddie neben Professor Brown auf einem Liegestuhl auf dem Deck der ersten Klasse nieder und genoss eine Weile einfach nur den Ausblick. Das Meer sah anders aus als das um England. Und auch anders als die südchinesische See. An diesem Tag wirkte es, als machte es den azurfarbenen Wogen Spaß, sie von einem Ufer ans gegenüberliegende zu schaukeln. Wenigstens kam es Freddie so vor.

»Wie haben Sie es denn geschafft, hier eine aktuelle Ausgabe der Times zu ergattern?«, fragte sie den Professor neugierig, nachdem ihr Blick auf das Datum der Zeitung gefallen war.

Er lächelte sie verschwörerisch an. »Alles eine Frage der Organisation. Ich habe bereits vor unserer Abreise telegrafisch veranlasst, dass mir in jedem Hafen und auf sämtlichen Zwischenstationen die Times ausgehändigt wird.«

»Wie praktisch! So bleiben Sie immer auf dem neuesten Stand.«

»Ich habe auch ein Telegramm von Doktor Pebsworth erhalten.«

Freddie setzte sich überrascht auf. »Wirklich? Was steht denn drin?«

»Eigentlich wollte ich das später nach dem Essen mit allen zusammen besprechen, aber da Sie schon mal hier sind und wir beide es gerade so gemütlich haben – wieso nicht …« Er zog einen schmalen Streifen Papier aus der Tasche seines Jacketts und reichte ihn Freddie, die den kurzen Text darauf aufmerksam las.

Christoforou überfahren. Piccadilly. Latimer Schwert. Docks. Woodard überfordert. – Was soll das bedeuten?«

»Ich hatte den guten Doktor zu den Todesfällen aus der letzten Ausgabe der Times befragt. Sie erinnern sich, wir haben darüber gesprochen?«

Freddie nickte.

»Wie es aussieht, wurde Mister Christoforou mitten in Piccadilly auf offener Straße überfahren und Mister Latimer mit einem Schwert an den Docks ermordet.«

»Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?«

»Noch gar keine. Aber ich habe Doktor Pebsworth telegrafisch gebeten, bei beiden Fällen ein wenig nachzuhorchen. Es ist nur so ein Gefühl, doch ich möchte die Sache nicht aus den Augen verlieren. Zumal von Inspektor Woodard nicht viel zu erwarten sein wird. Sicher muss er zuerst klären, ob der Tod des reichen Geschäftsmannes ein Unfall oder ob es Mord war, bevor er sich um Latimer kümmert, und wir alle wissen, wie Woodard unter Stress reagiert.«

»Mit Magenbeschwerden.«

»In der Tat. Eigentlich hatte er nach dem Fall um Kassiopeias Herz Urlaub beantragt. Er wollte mit seiner Frau an den Lake Windermere fahren, um auszuspannen. Das hätte er bitter nötig, er wird immer dünner und nervöser. Aber offensichtlich hat man ihn zurückbeordert.«

»Armer Kerl«, meinte Freddie mitfühlend. Sie mochte den Inspektor, der neben Arbeitsfrust auch über eine gehörige Portion trockenen Humors verfügte.

Sorgfältig faltete Professor Brown die Zeitung zusammen und stand auf. »Mister Westbrook, ich befürchte, Inspektor Woodard wird noch mehr Arbeit bekommen, denn hier drin«, er hielt die Times hoch, »stehen beunruhigende Dinge. Die wir unbedingt beim Essen diskutieren müssen. Sollen wir uns umkleiden?«

Einen Augenblick lang befürchtete Freddie, der Professor wollte ihr den Arm reichen, um ihr vom Liegestuhl hochzuhelfen, aber im letzten Moment besann er sich eines Besseren und wippte stattdessen nur etwas verlegen auf seinen Absätzen vor und zurück. Normalerweise sah er nonchalant über die Tatsache hinweg, dass sein jüngster Ermittler eine Ermittlerin war, gelegentlich brach jedoch der Gentleman in ihm durch.

Leider war es mit den kulinarischen Künsten des Kochs auf der SS Victoria nicht weit her. In der ersten Klasse gab es zähe Lammrippchen in einer Gurkensoße mit verkochten Kartoffeln und als Dessert einen Sponge-Pudding, der einem Ziegelstein mit klebriger Soße ähnelte, optisch wie geschmacklich. Tapfer aßen die Herren alles auf, denn Seeluft macht hungrig, und der durchaus trinkbare Wein, den sie dazu bestellt hatten, erleichterte die Sache ein wenig.

»Es scheint so, als ob sich seit unserer Abreise die Kriminellen in London ein Stelldichein geben«, eröffnete Professor Brown schließlich das Gespräch. »Die Times schreibt, dass ein Teekontor an den Docks vollständig abgebrannt ist. Dabei gab es zwei Tote, und von den Tätern fehlt jede Spur.«

»Besteht ein begründeter Verdacht auf Brandstiftung?«, fragte Lord Philip.

»Darüber steht nichts in der Zeitung, aber ich bin mir sicher.«

»Es könnte sich genauso gut um ein Unglück handeln, einen Unfall, Fahrlässigkeit, etwas in der Art«, gab Lord Philip zu bedenken. Er sah ein wenig skeptisch drein, und auch Freddie hielt Professor Browns Analyse der Times für reichlich frei interpretiert. Doch der Professor setzte noch einen drauf: »Und dann fand ein weiterer Mord statt: Impy Montgomery ist tot!«

»Der jüngste Sohn von Viscount Shawston?«, rief Freddie überrascht aus. »Er war nicht viel älter als ich. Woran ist er denn gestorben?«

»Aus der Todesanzeige entnehme ich keine Details über sein Ableben«, blieb Professor Brown vage.

Lord Philip war die Skepsis deutlich anzumerken. »Woher wollen Sie dann wissen, dass es sich um Mord handelt?«

»Ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren ist tot!«

»Der dafür bekannt war, sämtlichen Rauschmitteln mehr als zugetan zu sein. Der Ruf seiner Familie leidet darunter. Impy ist das sprichwörtliche schwarze Schaf. Oder besser gesagt, er war es.«

»Was ist das überhaupt für ein Name – Impy?«, fragte Zhen.

Alle Augen richteten sich auf den Professor, immerhin hatte der die Todesanzeige gelesen, dort musste schließlich der volle Name stehen, den er auch gleich würdevoll zum Besten gab: »Charles Imperial Augustus Montgomery, genannt Impy.«

»Konnte man ihn nicht einfach Charly nennen?«

Nun starrten vier Augenpaare Zhen verständnislos an. Es war beinahe schon ein Steckenpferd der englischen Aristokraten, ihre oftmals erschlagend ernsthaften Taufnamen durch kindische Abkürzungen zu ersetzen. Impy war dabei noch einer der nachvollziehbarsten, Freddie kannte auch einen Bunny, Oofy und Binky. Viel wichtiger war die Frage, warum der Professor davon ausging, dass Impy eines gewaltsamen Todes gestorben war, und sah er mittlerweile Gespenster beim Durchforsten der Times? Das konnte heiter werden, wenn er jede Ausgabe filterte.

»Sollten wir nicht von Vermutungen Abstand nehmen, solange wir nicht mit Sicherheit wissen, was geschehen ist?«, warf Lord Philip vorsichtig ein.

»Unbedingt«, stimmte ihm Professor Brown zu. »Deswegen habe ich vor dem Essen bereits Doktor Pebsworth telegrafiert, damit er genau das in Erfahrung bringt. Nicht dass Sie mich für einen alten Narren halten, der ohne jeglichen Beweis den Teufel an die Wand malt.«

Alle protestierten nun durcheinander, dass man dies selbstverständlich niemals tun würde. Aber insgeheim fragte sich zumindest Freddie, ob Professor Brown deshalb so viele Verbrechen in London sah, weil er eigentlich nicht hatte verreisen wollen, und nun glaubte, daheim etwas zu verpassen.

Nach dem Essen machte Freddie einen Spaziergang an Deck, um nachzudenken, als sich Zhen zu ihr gesellte.

»Ziemlich an den Haaren herbeigezogen, die Vermutungen von Professor Brown, findest du nicht?«, fragte er.

»Ich vertraue auf seine Erfahrung. Er ist lange im Geschäft und liegt meistens richtig mit dem, was er sagt.«

Sie standen nebeneinander an der Reling und blickten aufs Meer hinaus. Mittlerweile war es dunkel geworden, und die Sterne am Himmel spiegelten sich im ruhigen Wasser.

»Du warst schon immer ein loyaler Mensch, Freddie, das schätze ich an dir. Aber ich glaube nicht, dass seit eurer Abreise mehr Verbrechen in London verübt werden als sonst. Es gibt täglich zig Todesfälle, die nie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Ich denke, der Professor durchforstet aus Langeweile die Zeitung mit dem Vorsatz, etwas Auffälliges zu finden.«

»Das sehe ich nicht so.« Es schien Freddie wichtig, Zhen zu widersprechen. Immerhin urteilte er über den Vorsitzenden des Sebastian Club, und sein Tonfall gefiel ihr nicht. »Aufmerksam durchs Leben zu gehen hat noch niemandem geschadet. Und lass dir eines gesagt sein: Alle Ermittler aus unserem Club sind äußerst wachsam.« Sie atmete kurz durch, weil sie merkte, wie stark Zhens Kritik an Professor Brown sie enervierte. »Da wir gerade davon sprechen: Wieso bist du den weiten Weg von Hongkong nach London gekommen, um mich bei etwas um Hilfe zu bitten, bei dem ich als Frau dir niemals helfen könnte?«

Zhen lächelte. »Dir entgeht nichts, nicht wahr? Nachdem du uns verlassen hattest, war deine Tante ein wenig einsam und daher oft zu Gast bei meinen Eltern. Dabei erzählte sie nicht nur von dir, sondern auch von ihrem jungen Bruder, Lord Philip Dabinott, einem smarten Lebemann, der so viel mehr zu bieten hätte als nur ein hübsches Gesicht. Tante Persephone wünscht sich wirklich, dass es möglichst bald einer Dame aus gutem Hause gelingt, ihren werten Bruder in den Hafen der Ehe zu locken. Leider sieht sie dabei seinen Herrenclub als Problem. Jener Sebastian Club steckt seine Nase nämlich gerne in Angelegenheiten, die einen Gentleman aus der Oberschicht eigentlich nicht zu interessieren haben, so Tante Perry.«

Freddie schnappte nach Luft. »Das hat sie gesagt? Ich wusste nicht, dass sie derart gut informiert ist.«

»Nicht nur sie«, fuhr Zhen fort. »Wenn man sich ein wenig umhört, stellt man fest, dass sich der Ruf des Sebastian Club mittlerweile sogar bis Hongkong herumgesprochen hat. Immerhin ermitteln die Gentlemen schon eine Weile. Hongkong ist eine britische Kronkolonie, in der sich Mitglieder von Militär, Adel und der besseren Gesellschaft Englands aufhalten. Die meisten davon langweilen sich, tratschen gerne, und die Welt ist sowieso ein Dorf.«

»Also hattest du nie vor, meine persönliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, sondern von vornherein die von Onkel Philip – und du hattest auf die Unterstützung des Sebastian Club spekuliert. Muss eine ziemliche Überraschung für dich gewesen sein zu erfahren, dass auch ich zu den Detektiven gehöre und mich deswegen als Mann verkleide.«

Aus den erleuchteten Fenstern des Speisesaals fiel sanftes Licht aufs Deck hinaus. Nicht genug, als dass Freddie Zhens Gesicht genau hätte erkennen können, vor allem nicht, weil er in die Dunkelheit blickte. Aber sie meinte, eine leichte Zerknirschtheit in seiner Stimme auszumachen.

»Wir waren immer ehrlich zueinander, daher will ich dir nichts vormachen. Ich bin verzweifelt. Wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, das Problem selbst zu lösen, wäre ich niemals den weiten Weg nach London gekommen. Vater war ohnehin dagegen, er ist ein stolzer Mann und findet es peinlich, dass meine Verlobte abhandengekommen ist.«

»So ein Unsinn!«

»Du kennst ihn doch.«

»Was ist, wenn wir zu spät kommen? Eine Reise um die halbe Welt dauert, da kann in der Zwischenzeit viel passieren.«

»Freddie! Male bitte den Teufel nicht an die Wand. Wie ich direkt nach meiner Ankunft in London berichtete, hat Liens Vater mehrere Forderungen von den Entführern erhalten. Zum einen sollen sowohl er als auch meine Familie sich aus dem Geschäft zurückziehen. Wir sind zum Schein teilweise darauf eingegangen, um unseren guten Willen zu signalisieren und um Zeit zu gewinnen. Und dann verlangen sie noch eine horrende Summe an Lösegeld. Wir baten um einen Aufschub, um sie zu beschaffen, und als das Ultimatum abgelaufen war, nochmals. Langsam eilt es, denn ein drittes Mal werden sie bestimmt nicht darauf eingehen.«

»Was ist, wenn ihr nicht bezahlt?«

Zhen zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich mag es mir nicht vorstellen.«

»Du hast sie wohl sehr gern?«, fragte Freddie sanft.

»Wen? Lien?« Zhens dunkle Augen blickten in die Ferne. Dann warf er Freddie einen Blick zu, den sie nicht zu deuten vermochte. »Ich bitte dich, ich kenne sie kaum. Insgesamt begegnete ich ihr zwei Mal. Einmal als Kind, als wir verlobt wurden, und danach noch mal vor ein paar Jahren, als der Termin für die Eheschließung schriftlich festgehalten wurde.«

»Ist sie hübsch?«

»Oh ja, sehr. Aber ich habe noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Das heißt, sie könnte dumm wie Bohnenstroh sein, und ich würde es erst nach der Hochzeit erfahren.«

»Oder sie könnte eine entsetzliche Piepsstimme haben?«

»Genau. Oder eine so tiefe, dass sie wie ein Mann klingt.«

»Oder sie könnte Haare auf den Zähnen haben.«

Jetzt zuckten Zhens Mundwinkel amüsiert, und auch Freddie musste ein Grinsen unterdrücken. Er legte seine Hand auf die ihre, die sich noch an der Reling festhielt.

Schon als Kinder vermochten sie einander gegenseitig stets aufzuheitern. Wann immer einer von ihnen traurig war, gab der andere nicht auf – so lange, bis die trübe Stimmung verflogen war. Freddie machte sich natürlich keinerlei Illusionen darüber, sie könnte irgendetwas sagen, was Zhen die Angst um seine Verlobte nehmen würde, aber wenigstens schien er ihr Bemühen zu schätzen.

»Störe ich?«, ertönte eine Stimme.

Rasch zog Zhen die Hand zurück, allerdings nicht schnell genug für Crispins kritischen Blick. Dessen Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen, sodass zwischen ihnen eine steile Furche entstand.

»Im Gegenteil«, versicherte Freddie eilig. »Wir sprachen über Zhens Verlobte und das Ultimatum, das die Entführer ihrer Familie gestellt haben.«

Die Falte glättete sich, als Crispin antwortete. »Ja, erstaunlich, nicht wahr, welche Geduld sie an den Tag legen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, brauste Zhen auf.

Beschwichtigend hob Crispin die Hände. »Nichts. Nur dass es ein großes Glück ist, dass man Ihnen die Zeit gewährt, den weiten Weg nach London zu reisen und eine Handvoll Detektive mit nach Hongkong zu bringen …«

Suezkanal, Ägypten

Nach der Ankunft in Port Said hatten es alle Passagiere eilig, wenigstens kurz von Bord zu gehen und sich die Beine zu vertreten. Sobald die SS Victoria Kohle nachgeladen hatte, würde es weitergehen. Die Stadt an sich bestand aus um den Hafen gruppierten arabischen Häusern, die allesamt nicht älter als etwa dreißig Jahre waren. Während der Bauphase des Kanals war die Siedlung an der sandigen Küste entstanden und seit Inbetriebnahme der Fahrrinne vor gut fünfundzwanzig Jahren stetig weitergewachsen.

Lord Philip war neugierig auf den Schiffskanal, der das Mittelmeer mit dem Roten Meer verband. Bei seiner feierlichen Eröffnung damals war er ein kleiner Junge gewesen. Sein Vater, Charles Wilbur Baxter Dabinott, der siebzehnte Duke of Farnborough, war zu dem drei Tage andauernden Fest geladen worden wie viele andere Mitglieder des europäischen Adels und der Königshäuser. Philip erinnerte sich gut an den verregneten Tag im Herbst, an dem sein Vater zusammen mit dem erstgeborenen Sohn, ebenfalls ein Charles, abgereist war. Sein Bruder war zehn Jahre älter als Philip und somit schon gesellschaftsfähig. Persephone, das mit Abstand älteste der vier Dabinott-Kinder, hatte ihm aus der Times von der rauschenden Feier vorgelesen, die den Khediven Ismail Pascha Unsummen gekostet hatte. Nie würde Philip die Bilder der fremdländisch aussehenden Personen und der prachtvollen Schiffe vergessen, die Zeitungen waren voll davon gewesen. Nur zu gerne wäre er mit ihnen gefahren, als einer der ersten Passagiere, aber erst jetzt, als erwachsener Mann von zweiunddreißig Jahren, durfte er endlich den Suezkanal durchschippern.

»Schippern« schien als Wort äußerst adäquat, denn gemächlich ging es voran in dem breiten Wassergraben, der beiderseits von hoch aufgetürmten Sandufern begrenzt wurde. So langsam, dass ein Läufer ohne Weiteres nebenher hätte Schritt halten können. Was in der stechenden Hitze des Tages natürlich niemand versuchte. Wie ausgestorben lagen die weißen Behausungen der Einwohner ans Ufer hingestreut.

»Warum fahren wir nicht schneller?«, fragte Professor Brown Lord Philip. Nachdem sie in Port Said zurück an Bord gegangen waren, hatte er sich zuerst in die Kabine verzogen, war jedoch bald darauf mit schweißnassem Gesicht auf dem Oberdeck erschienen. Im Inneren des Schiffes ließ es sich bei diesen Backofentemperaturen unmöglich aushalten. Die beiden Herren trugen Sommeranzüge aus leichtem Stoff und breitkrempige Hüte, aber Philip beneidete die Ägypter, die in ihren traditionellen Galabijas weit weniger zu schwitzen schienen.