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Kurzbeschreibung:

Nach glücklichen Jahren taucht Anne Catherine Marsden wieder ein ins Haifisch-becken der High Society. Ihr Mann hat eine neue Geschäftsidee, die den Inner Circle übertrifft und so gut ist, dass sie gefährliche Leute auf den Plan ruft. Leute, die auch vor Mord nicht zurückschrecken. Und solche, die in Annes Vergangenheit nach den Leichen in ihrem Keller graben. Wird die Liebe Anne retten – oder wird sie ihr zum Verhängnis werden?


Weitere Titel dieser Autorin bei Edel Elements:

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Sophie Oliver

Inner Circle - Wie Eis und Asche


Roman

Edel Elements

1.

»Das wäre unerhört! Sensationell!« In Jamies Stimme lag eine Begeisterung, die Anne verloren geglaubt hatte. »Wenn wir das realisieren könnten …«

Aufgeregt sprang er von seinem Platz auf und lief zum Fenster. Er sah für einen Moment hinaus in den Garten, als ob er sich sammeln müsste, dann drehte er sich ruckartig um und vervollständigte seinen Satz: »Wenn wir das realisieren könnten, würde es sogar den Inner Circle in den Schatten stellen!«

Wie ein leichter Anflug von Übelkeit meldete sich das schlechte Gewissen in Annes Magen. Seit fünf Jahren machte sie sich Vorwürfe, weil sie Jamie geraten hatte, den Inner Circle zu verkaufen. Sie redete sich ein, es wäre ihre Schuld, dass ihr Mann rastlos nach einer neuen Aufgabe suchte, unzufrieden mit sämtlichen Geschäftsideen, die ihm vorgeschlagen wurden, weil er dem Netzwerk seines ehemaligen Online-Clubs nachhing. Fünf Jahre schon gehörte der Inner Circle Juri Ashkani.

Was Anne selbst betraf, bedauerte sie das nicht, hatte sie ihren Ehemann so doch ganz für sich, ohne ständiges Telefonklingeln und Terminstress. Die vergangenen Jahre waren wie ein Traum gewesen. Sie hatten die Welt bereist, gemeinsam und frei. Wäre es nach Anne gegangen, hätte dieses Nomadenleben ewig andauern können. Es tat ihnen gut. Jamie trug sein schwarzes Haar nun länger, und Annes honigfarbene Wellen waren von unzähligen hellen Strähnen durchzogen. Mit gebräunter Haut und diesem Strahlen in seinen wasserblauen Augen sah Jamie jünger aus als vor fünf Jahren, und Anne hoffte, bei ihr verhielt es sich ebenso.

Jedoch lagen Jamies Wurzeln in Großbritannien. Irgendwann hatte er Heimweh bekommen, nach gemäßigtem Klima und den sozialen Strukturen, in denen er groß geworden war. Sie versuchte das zu verstehen. Wahrscheinlich sehnte sich jeder, der ein Zuhause hatte, über kurz oder lang danach.

Zwar wusste Anne nicht, wie sich so etwas anfühlte, aber sie respektierte es.

Wenigstens war Jamie damit einverstanden gewesen, sich London behutsam wieder anzunähern, anstatt direkt zwei Tickets nach Heathrow zu buchen. Nachdem sie beide, oder vielmehr er, in Singapur beschlossen hatte, es wäre genug mit dem Herumreisen, waren sie zuerst nach Irland geflogen. Ein ausgedehnter Aufenthalt bei Jamies Familie hatte sie auf die Rückkehr nach England eingestimmt. Die Wiederanpassung an das starre Klassensystem der Engländer war Anne schwergefallen. Zu süß hatte die Freiheit geschmeckt. Aber sie war nun nicht mehr allein, sondern Teil einer Familie – etwas, wonach sie sich zeitlebens gesehnt hatte. Deshalb nahm sie gern Rücksicht auf die Wünsche ihres Mannes.

Ohne Jamie hätte ihr das Reisen ohnehin keinen Spaß gemacht. Ihre gemeinsamen Erlebnisse waren wunderschöne Erinnerungen geworden, die Anne hütete wie einen Schatz. Wann immer sie die Augen schloss, konnte sie Meereswellen hören und den Duft von Jamies sonnengebräunter Haut riechen. Im Londoner Regenwetter, besonders im herbstlichen, wärmten diese Gedanken wie kleine Sonnenstrahlen.

Bereits kurz nachdem sie ein hübsches Stadthaus bezogen hatten, war Jamie zufällig in einer Bar seinem alten Studienfreund Philip Carr über den Weg gelaufen. Bei zahlreichen Gläsern Draft-Bier war eine Idee entstanden. Und jetzt saßen sie in Philips Wohnzimmer in Norfolk und bauten Luftschlösser. Gemma, Philips Frau kam herein und stellte ein Tablett mit Tee und Schokoplätzchen auf den Wohnzimmertisch. Bevor sie wieder hinausging, zwinkerte sie Anne zu.

»Können wir es denn realisieren?«, fragte Jamie.

Philip goss Tee ein und verteilte die Tassen. »Was den technischen Ablauf betrifft, wäre es möglich. Der finanzielle Aufwand steht auf einem anderen Blatt. Ja, wir könnten es realisieren, es würde allerdings richtig teuer werden.«

»Lass das Finanzielle meine Sorge sein. Wie ist die rechtliche Situation?«

»Freunde machen wir uns damit nicht, das wissen wir beide. Einige Leute werden bestimmt etwas dagegen haben. Aber falls wir es durchziehen wollen, kann uns niemand hindern.«

»Wie lange wird es dauern?«

Anne wollte wirklich aufmerksam bleiben und Jamie bei seinem neuen Vorhaben unterstützen. Sie hätte sich nur gewünscht, er würde ein anderes Projekt verwirklichen, irgendeines, nicht dieses. Trotzdem würde sie sich aktiv daran beteiligen. Dummerweise setzte Philip gerade jetzt zu einem ausführlichen Monolog über Softwarefragen an. Sie konnte es nicht verhindern, ihre Gedanken schweiften ab. Nun blickte sie hinaus in den Garten. Er war weitläufig, ohne Zaun, und ging in flaches Marschland über, welches schließlich ins Meer mündete. Zuerst hatte Anne sich in Norfolk am Ende der Welt gefühlt. Die Fahrt von London hatte eine Ewigkeit gedauert und alles, was sie seit ihrer Ankunft gesehen hatten, waren weite Ebenen, hohes Gras, Wasser und Vögel. Doch je länger sie hier war, desto ansprechender fand sie es. Die herrliche Luft erinnerte sie an Cornwall, die Landschaft hingegen sah anders aus, weniger spektakulär, zahmer, aber dennoch gefällig.

Philips Haus war auf eine gemütliche Art und Weise alt. Der Unterschied zur vornehmen Patina der Harkdale-Immobilien hätte größer nicht sein können. Obwohl sich auch dieses Anwesen seit Jahrhunderten in Familienbesitz befand, war es nicht Respekt einflößend aristokratisch, sondern ein heimeliges Nest, in dem sich sicherlich schon viele Carr-Generationen wohlgefühlt hatten. Neben der Sitzgruppe stand ein altes Klavier. Anne konnte der Versuchung nur schwer widerstehen, den Deckel hochzuklappen. Was würde sie spielen? Debussy vielleicht? Oder Schuberts Forelle, ein fröhliches Lied, das dem kleinen Arthur Carr gefallen könnte? Nach ihrer Reise um den Globus war dieses Haus auf dem Land wie eine mütterliche Umarmung. Noch angenehmer wäre es, wenn ihr Besuch rein privat gewesen wäre. Aber sie musste sich langsam damit abfinden, dass die zweisame Zeit mit Jamie vorüber war und ein neuer Lebensabschnitt begann. Wie bei allen ihren Karriereschritten hatte Anne auch bei diesem vor, ihr Bestes zu geben, deshalb beendete sie ihren sehnsüchtigen Rundumblick in der heilen Welt und konzentrierte sich wieder auf Philips Ausführungen.

»Wir sollten es so lange wie möglich geheim halten«, meinte Jamie gerade. »Was denkst du, Anne?«

»Auf jeden Fall. Es wäre falsch, bereits vorab Ankündigungen zu schalten und die Werbetrommel zu rühren. Ich würde vorschlagen, dass wir mit einem Paukenschlag online gehen.«

3.

»Anne!« Cheryl war teils erschrocken, teils erfreut. Nachdem sie das Büro verlassen hatte, wollte sie nur kurz im Supermarkt etwas zu essen besorgen, damit sie sich in ihrer Wohnung voll auf die Computerrecherche konzentrieren konnte. Sie würde Ashkani nicht noch einmal enttäuschen.

Die Feinkostabteilung ihres lokalen Marks & Spencers bot eine Auswahl an Fertiggerichten jenseits von Mikrowellenmakkaroni. Sie hatte sich für eine Trüffelsuppe, einen Brunnenkressesalat und eine Packung frischer Himbeeren entschieden und überlegte nun, ob sie sich ausnahmsweise noch ein Schokoladeneclair gönnen sollte, auch wenn dies ihre heutige Kohlenhydratbilanz sprengen würde. Sie war so sehr in Gedanken, dass sie Anne beinahe mit ihrem Einkaufskorb gerammt hätte.

»Hallo, Cheryl«, sagte Anne mit einem Lächeln. Ob es ehrlich oder nur gespielt war, ließ sich nicht feststellen. »Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie geht es dir? Du siehst fantastisch aus.«

»Danke. Gut. Und dir?«

»Sehr gut.« Sie deutete auf die Sachen in Cheryls Korb. »Anscheinend gibt es bei dir heute schnelle Küche. Bei uns auch. Aber wie ich dich kenne, wirst du nach dem Essen noch die halbe Nacht am Computer verbringen. Hast du viel zu tun bei Juri Ashkani?«

Es war Cheryl peinlich, direkt darauf angesprochen zu werden. »Hör zu, Anne, du weißt, wie viel mir mein Job bedeutet. Er ist alles, was ich habe. Ich konnte ihn nicht aufgeben, egal, wer mein Boss ist. Ich hoffe, Jamie nimmt mir das nicht übel.«

»Anfangs war er enttäuscht. Aber nachdem er darüber nachgedacht hatte, ist er zu dem Schluss gekommen, dass deine Entscheidung nachvollziehbar war. Wieso solltest du deine Karriere an den Nagel hängen, nur weil die Chefetage wechselt? Es gibt keinen Grund für ihn, dir irgendetwas übel zu nehmen.«

»Tatsächlich? Er hält mich nicht für eine Verräterin?«

Anne lachte. »Aber nein. Und was mich betrifft – ich werde dir sowieso immer dankbar sein. Wer weiß, wie die Sache mit George damals ausgegangen wäre, wenn du mir nicht geholfen hättest.« Dann sah sie Cheryl etwas genauer an. »Geht es dir wirklich gut?«

»Ja ja. Nur der ganz normale Stress.«

»Kann ich dir bei irgendetwas helfen?«

Dieses Angebot überraschte Cheryl. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte sie gelernt, Anne Harkdale zu schätzen. Ihre direkte Art und die Intelligenz, mit der sie alles hinterfragte, beeindruckten sie. Sie wusste, dass Anne die meiste Zeit ihres Lebens auf sich allein gestellt gewesen war. Eine Gemeinsamkeit, die sie beide verband. »Das ist wirklich nett, danke, aber ich komme schon zurecht.«

»Okay. Wenn du mal Lust hast, dich mit mir auf einen Kaffee zu treffen, melde dich bitte, wir sind ja jetzt wieder in der Stadt. Ich würde mich freuen.«

Das klang aufrichtig. Vielleicht würde sie es tatsächlich machen. Die Ereignisse von vor fünf Jahren, Threakstons Ermordung durch George Finmore, verbanden sie irgendwie, auch wenn sie sich aus den Augen verloren hatten. Außerdem war sie natürlich neugierig, woran Anne und Jamie gerade arbeiteten. Denn dass die beiden Privatiers waren, dachte Cheryl für keine Sekunde. Sie blickte Anne nach, wie sie in Richtung Kasse ging. Gut sah sie aus, in ihrer engen Jeans und dem Wollmantel. Cheryl hatte sofort erkannt, von welchem Designer er stammte. Anne machte einen entspannten Eindruck. Sie trug das Haar offen und heller als früher. Ihr gebräunter Teint verriet, dass sie noch vor Kurzem in wärmeren Gefilden geweilt hatte. Aber wer wusste bei Anne Harkdale schon, ob das, was man sah, auch der Wirklichkeit entsprach? Sie war ein Chamäleon, passte sich ihrer Umwelt an, um zu überleben. Genau wie Cheryl.

Ein paar Stunden später, das Eclair lag unangetastet neben einer kalt gewordenen Tasse Tee, starrte sie auf den Bildschirm ihres Computers. Das würde ihrem Boss nicht gefallen.

Madame Adea herrschte anscheinend nicht nur über eine Armee von wunderschönen Freudenmädchen, sondern befehligte auch einen Schlägertrupp, der eben jene Mädchen gewaltsam wieder einnordete, wenn sie vom vorgegebenen Weg abkamen. Es war nicht schwer gewesen, sich Zugang zur Privatkonversation einiger von Madame Adeas Angestellten zu verschaffen. Was sie las, betrübte Cheryl. Die Mädchen waren teilweise blutjung, ihr Leben bestimmt von Sex, Drogen und Gewalt.

Bei Madame Adeas Account stieß Cheryl an ihre Grenzen. In der Hoffnung, dort Verbindungen zu Schleusern oder Hintermännern zu entdecken – immerhin hatte Ashkani ihr aufgetragen, alles herauszufinden –, reizte sie ihre Softwarekenntnisse aus, ohne etwas zu erreichen. In diesen Account konnte sie sich nicht hacken. Im Grunde ihres Herzens war sie deswegen erleichtert, denn irgendwie erschien er ihr wie ein Abgrund, in welchen sie nicht wirklich blicken wollte, wenn es sich vermeiden ließ. Auch so wusste Cheryl, worum es der Albanerin ging. Um Macht und Einfluss in Londons besserer Gesellschaft. Dort saß das Geld, n eues und j ahrhundertealtes. Ein Schlaraffenland. Etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Juri würde kein leichtes Spiel mit ihr haben, so viel war klar.

5.

»Es tut mir sehr leid, Juri, aber was soll ich sagen? Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass du dich persönlich melden würdest. Gibt es denn ein Problem mit meiner Kündigung? Ich habe doch das Formular richtig ausgefüllt und an die Inner-Circle-Geschäftsstelle geschickt. Damit war die Sache für mich erledigt.« Sarah King spielte nervös mit einem Kugelschreiber, während sie mit Juri Ashkani telefonierte. Sie saß an ihrem Schreibtisch und hatte gerade ein paar Minuten Zeit zwischen zwei Meetings. Juris Anruf warf sie völlig aus der Bahn.

»Natürlich ist das ein Standardvorgang«, antwortete er ausweichend. »Trotzdem würde ich gern die Gründe für deinen Austritt aus dem Inner Circle erfahren. Hattest du ein unangenehmes Erlebnis? Wenn es sich um die jungen Damen handelt …«

»Nein, nein, darum geht es nicht.«

»Warum verlässt du uns dann?«

Sarah King war eine aufstrebende Finanzmanagerin aus New York. Sie arbeitete für ein amerikanisches Bankhaus in London. Junge erfolgreiche Manager wie sie waren Zielgruppe Nummer eins für den Inner Circle. Es stieß Juri Ashkani sicher übel auf, sie gehen zu sehen.

»Muss ich es denn wirklich aussprechen? Ja, ich wechsle zu NIC. Ich hoffe, du bist deswegen nicht böse.«

Eine Floskel – sie konnte sich vorstellen, wie verärgert er sein musste. Jeder wollte es in den Next Inner Circle schaffen. In ihrem Bekanntenkreis gab es kein anderes Thema mehr. Wahrscheinlich stand Juri Ashkani einer Flut von Kündigungen gegenüber und musste sich mit dem Gedanken anfreunden, nur noch zweite Wahl zu sein. Wobei – war er das nicht von vorn herein gewesen? Der Inner Circle hatte von Jamie Harkdales Charisma gelebt, von der Anziehungskraft seiner Person. Die Mitglieder wollten das Gefühl haben, zu seinen Freunden zu gehören. Zumindest ging das Sarah und ihrer Clique so. Sobald bekannt geworden war, dass Jamie sein Unternehmen verkauft hatte, war die bessere Gesellschaft in Panik verfallen. Natürlich gab es in London eine Vielzahl exklusiver Clubs, mit Wartelisten so dick wie ein Telefonbuch – aber nichts war mit dem Inner Circle vergleichbar. Trat man aus und woanders ein, verschlechterte man sich zwangsläufig – zumindest in den Augen derer, die wichtig waren. Aus diesem Grund blieben alle zähneknirschend dabei, obwohl sie sich eigentlich nicht unter dem virtuellen Dach eines neureichen Mannes treffen wollten, der sein Vermögen auf undurchsichtige Art und Weise gemacht hatte und nicht einmal über einen halbwegs vorzeigbaren Stammbaum verfügte. Das war einfach nicht chic. Fünf lange Jahre hatten die Leute Jamie Harkdale nachgetrauert, nie verstanden, weshalb er mit seiner Frau – über deren Stammbaum im Übrigen ebenso wenig bekannt war wie über Ashkanis – um die Welt reisen wollte, wo er doch in London alles hatte. Aber nun konnten sie sich gottlob darum bemühen, erneut in seinen Dunstkreis zu gelangen. Und Jamies Next Inner Circle bot neben den privaten sogar noch geschäftliche Vorteile. Alles war wieder gut.

»Natürlich nicht. Mach dir keine Gedanken. Sogar mir hatte man eine Mitgliedschaft angeboten«, sagte Juri knapp und beendete das Gespräch.

Nachdem Sarah aufgelegt hatte, rief sie Jamie Harkdale an und verabredete sich mit ihm für den späten Nachmittag. Sie trafen sich in einem kleinen Café in der Nähe ihres Büros. Er schien nicht sonderlich beunruhigt wegen Juri Ashkani zu sein. Doch Sarah fand es wichtig, ihm von ihrem Telefonat zu berichten. Er sollte wissen, dass sie loyal zu ihm stand. »Nach meiner Einschätzung ist mit wütenden Oligarchen nicht zu spaßen. Grundsätzlich niemals!«, teilte sie Jamie mit. »Und dass Juri aufgebracht ist, liegt auf der Hand.«

»Daran kann ich nichts ändern. Aber ich bin überzeugt davon, dass ein professioneller Geschäftsmann wie er damit umgehen kann. Wer weiß, vielleicht entschließt er sich über kurz oder lang dazu, seine Mitgliedschaft doch anzutreten, denn auch für ihn könnten sich wirtschaftliche Vorteile daraus ergeben. Jedenfalls danke ich dir, dass du mir von eurem Telefonat berichtet hast.«

Sie bereute ihren Entschluss nicht, den Inner Circle verlassen zu haben und NIC beigetreten zu sein. Weil es ihr nicht so sehr auf soziale als auf geschäftliche Kontakte ankam. Sarah King wollte Karriere machen, nicht dem Müßiggang frönen. Und ein von Jamie Harkdale geführtes Unternehmen galt als weitaus prestigeträchtiger als eines, das Juri Ashkani besaß. Sarah kannte Jamie nur oberflächlich, hatte sich aber über die Familie Harkdale informiert, um deren Position in der Londoner Gesellschaft beurteilen zu können. Trotzdem fühlte es sich an, als ob sie zu seinem Freundeskreis gehörte, besonders nach dem heutigen Treffen. Die Mitgliedschaft im Inner Circle hatte ihr in der Vergangenheit unter Jamie mehr als nur einen lukrativen Geschäftskontakt beschert. Als sie von seinem neuen Projekt gehört hatte, war Sarah begeistert gewesen und hatte gehofft, man würde sie in diesen Kreis aufnehmen. Schon immer hatte sie sich auf ihre feine Nase für gute Geschäfte verlassen. Jetzt sagte ihr diese, dass die Zukunft NIC hieß. Und dass Juri Ashkani auf dem alten Inner Circle sitzen bleiben würde wie auf einem Korb fauler Äpfel.

»Ich bewundere deine Ruhe«, sagte sie zu Jamie. »An deiner Stelle würde ich wahrscheinlich mehr als nervös werden bei dem Gedanken, mich mit Juri Ashkani anzulegen.«

»Du irrst dich. Juri ist ein intelligenter Mann, aber er besitzt kein Monopol auf Internetclubs, und NIC ist nicht das einzige Online-Unternehmen, das Mitglieder aufnimmt. Sobald der Anfangshype durch ist, wird sich alles beruhigen.«

Sarah beugte sich vor und griff über ihre Kaffeetasse hinweg nach Jamies Hand. »Toll, wie entspannt du das siehst. Ich freue mich sehr, nun auch zu NIC zu gehören. Vielen Dank, dass du meinen Antrag so rasch bearbeitet hast.«

Mit einem irritierten Gesichtsausdruck zog Jamie seine Hand weg und rutschte ein wenig zurück, als wollte er Abstand zwischen sie bringen. »Das haben meine Mitarbeiter getan. Ich werde deinen Dank an sie weitergeben.«

»Das wäre nett.« Sarah schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Sollte sich Ashkani noch mal bei mir melden, sage ich dir Bescheid. Und falls du mal wieder in der City bist, würde ich mich sehr freuen, dich wiederzusehen. Im richtigen Leben plaudert es sich doch viel angenehmer als im virtuellen, findest du nicht?«

Später, als sie das Gespräch geistig Revue passieren ließ, musste sich Sarah eingestehen, dass ihr Treffen mit Jamie Harkdale nicht so verlaufen war, wie sie gehofft hatte. Weder schien er beunruhigt wegen Juri zu sein noch sonderlich angetan von ihr. Natürlich wusste sie, dass er liiert war – was aber in Sarahs Welt einen Flirt nicht ausschloss. Normalerweise kam sie beim anderen Geschlecht gut an. Es waren gerade die Verheirateten, die einem Abenteuer gegenüber nur selten abgeneigt waren. Und Sarah hatte kein Problem damit, Affären mit vergebenen Männern zu beginnen. Sie stand auf Macht und Einfluss, und nichts erregte sie mehr als der heimliche Wettstreit mit einer Ehefrau, aus dem sie als Siegerin hervorging. Anscheinend war Jamie jedoch immun gegen ihren Charme. Was ihn in Sarahs Augen noch interessanter machte.

2.

Juri saß in seinem Rolls-Royce und schrieb eine E-Mail. Er hielt kurz inne, um über eine Formulierung nachzudenken, und blickte aus dem Fenster. Gerade eben fuhren sie durch Knightsbridge. Vor Harrods hatte sich, wie so oft, eine Gruppe von Pelzgegnern versammelt, die Plakate schwenkte und versuchte, den Passanten Flyer zuzustecken. Die konsumwilligen Kunden ließen sich davon aber, ebenfalls wie so oft, wenig beeindrucken. Jeden Tag prallten vor dem Großkaufhaus Welten aufeinander. Die Aktivisten wurden gern ignoriert. Pelzbehangene Damen strömten an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Da half es auch nichts, wenn sich nackte Tierrechtler komplett in Frischhaltefolie wickelten wie Hähnchenschenkel im Kühlregal, oder sich mit Zuckersirup einschmierten, der Blut darstellen sollte. Es interessierte schlichtweg niemanden, was Juri beunruhigend fand. Wenigstens Touristen hielten das Spektakel auf ihren Handykameras fest, um den Daheimgebliebenen zu zeigen, wie verrückt die Leute in der großen Stadt waren.

Irgendwie würde das Ganze ein interessantes Ölbild ergeben, dachte Juri. Auf einer riesigen Leinwand, wie eines jener alten Schlachtengemälde. Neben ihm kam ein Ferrari zu stehen, nicht ohne den Motor ein letztes Mal aufheulen zu lassen. Am Steuer saß ein junger Mann mit schwarzem Haar und olivfarbenem Teint, sicher noch keine zwanzig Jahre alt. Er telefonierte und ließ dabei den Blick abschätzig über den Royce gleiten. Juri hatte sich den Wagen erst vergangene Woche gegönnt, er war nagelneu. Natürlich wusste er um dessen Wirkung. Damit würde er das Klischee des reichen Russen weiter bedienen, aber das war ihm egal. Er benutzte das Auto als fahrendes Büro, in dem er täglich viele Stunden zubrachte, da legte er Wert auf Komfort. Überhaupt, wer wollte sich schon in einen Ferrari quetschen? Wenn irgendetwas gewöhnlich war, dann doch wohl der!

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der E-Mail zu. Vor dem Mittagessen musste er unbedingt noch einige Punkte auf seiner Agenda abarbeiten. Der Fahrer parkte in einer Seitenstraße, während Juri schrieb. Sobald er fertig war, ließ er sich vor dem zweiten Shoppingtempel in Knightsbridge, Harvey Nichols, absetzen und fuhr mit dem Lift nach oben. Er war mit Eliza im Restaurant verabredet. Nach dem Mittagessen würden sie sich Stockwerk für Stockwerk zurück ins Erdgeschoss arbeiten und Weihnachtseinkäufe erledigen. Schon beim Hineingehen waren ihm die spektakulär dekorierten Schaufenster aufgefallen. Harvey Nichols, Harrods und Selfridges standen alljährlich im Wettkampf um den auffälligsten Weihnachtsschmuck. Während Selfridges in diesem Jahr eine Art Guckkasten-Fenster entworfen hatte und Harrods dem opulenten Weihnachtswahnsinn frönte, hatten die kreativen Köpfe bei Harvey Nichols sich für eine Mischung aus Alice im Wunderland und Die Schneekönigin entschieden. Auf schneebedeckten, knorrigen Bäumen hingen Designerschuhe. In feinstem Porzellangeschirr auf einer eisig gefrosteten Kaffeetafel lagen Ohrringe, Armbänder und Halsketten. Man hätte stundenlang stehen bleiben können, so viel gab es zu bestaunen. Doch Juri hatte keine Zeit. Er wusste, wie sehr Eliza Pünktlichkeit schätzte, deshalb wollte er sie nicht warten lassen.

Inner-Circle