Über Christian David

Christian David, geboren 1972 in Wien, promovierte nach dem Studium in Mailand und Wien über Kinski, arbeitet als Filmkritiker und Journalist.

Informationen zum Buch

Mythos Kinski.

Ein rastloser Star am Rande des Wahnsinns, ein Choleriker und Garant für Skandale, der handgreiflich wurde und seine Regisseure quälte, ein dämonischer Sexmaniac, der Filme wie am Fließband drehte. Diese umfassende Biographie über Klaus Kinski schildert das wilde Leben eines großen Künstlers, in dem Höhenrausch und Abgrund nahe beieinander lagen. Auf der Grundlage zahlreicher Dokumente sowie Gesprächen mit Bruno Ganz, Michael Jürgs, Claude Lelouch und vielen anderen zeichnet Christian David jenseits der gängigen Klischees ein faszinierendes Schicksal nach, bei dem überragendes Talent mit völliger Unfähigkeit zum Kompromiss gepaart war.

Mit einer ausführlichen Filmographie.

»Die erste umfassende und mustergültig edierte Biographie.« Die Presse.

»Eine spannende Geschichte.« Deutschlandradio.

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Christian David

Kinski

Die Biographie

Inhaltsübersicht

Über Christian David

Informationen zum Buch

Newsletter

Anfänge
1926–1955

Kind und Krieg

Engagements – von Berlin nach München

Berufung: Rezitator

Danach und davor
Wien und Berlin 1955–1965

Unfälle

Mit Fritz Kortner in Wien

Kuss und Schluss

Brief einer Unbekannten

Traum und Erwachen – das Burgtheater

Hoffnung und Enttäuschung

Grünauer Idyll

Jahr der Versuche – Kinski im Theater am Fleischmarkt

Zurück in Berlin

Festival der Kommunisten

Durch die Lande – die große Tournee 1960

Die letzte Theaterrolle

Mit Peter Zadek

Die Augen des Schreckens: Kinski spielt Wallace

Die erste Filmhauptrolle

Skandalon – die letzte Tournee

Ein deutscher Filmschauspieler

Abschied von gestern

Der Preis des Lebens
Rom 1965–1975

In der Stadt des Kinos

Der Großschauspieler

Das Leben ist ein Film

Rette sich, wer kann

Jeder für sich und Kinski gegen alle

Was ist und was nicht

Wiederentdeckung

Erlösung dem Erlöser

Mit Herzog im Dschungel

Standortbestimmung

So wild nach dem Erdbeermund

Rettungsversuch
Paris 1975–1980

Die Arroganz der Macht

Gegenfrage

Tour de Force – Nosferatu und Woyzeck

Star und Außenseiter

Schattenzone
Kalifornien 1981–1991

Die Enttäuschung

Das Lachen des Fitzcarraldo

Rückkehr der Normalität

Im Zorn

Verbrannte Erde

Porträt des Künstlers als alter Mann

In der Dämmerung

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Zeittafel

Filmographie

Bühnenverzeichnis

Rezitationen

Diskographie

Personenregister

Dank

Impressum

Wir Menschen sind nur aus Träumen gemacht,

und die Träume sind umgekehrt aus uns gemacht.

Jean-Luc Godard, Pierrot le fou

Anfänge
1926–1955

Kind und Krieg

Die Jahre sind verweht und die Spuren immer schwerer zu sichern. Einen Weltkrieg und acht Jahrzehnte liegen Geburt und Kindheit von Klaus Kinski zurück. Nicht nur das Vergehen der Zeit, sondern auch das der Menschen steht einer authentischen, lückenlosen Aufarbeitung entgegen. Und die noch da sind, können sich teils nicht mehr erinnern, oder sie wollen dies gar nicht.

Am Anfang wie am Ende: Außerhalb dessen sein, was inzwischen als Deutschland bezeichnet wird. Deutsch sein – und doch mehr, nämlich europäisch, schließlich international. Nicht festlegbar auf Tugenden und Untugenden eines konstruierten nationalen Kontextes. Grenzen überschreitend. Das jedenfalls sollte für Klaus Kinski vom ersten Tag seines Lebens an gelten, bis ganz zum Schluss.

Das von der damaligen Hautevolee frequentierte Ostseebad Zoppot war von polnischem Staatsgebiet umgeben, aber vorläufig noch eine deutsche Enklave. Seit 1920 gehörte das ehemals westpreußische Zoppot zur Freien Stadt Danzig, die bis 1939 einen teilsouveränen Freistaat unter dem Mandat des Völkerbundes bildete. Vom Glanz der zwanziger Jahre, vom mondänen Kurleben ist heute nichts mehr geblieben als die Hotelbauten, deren Verfall die Melancholie der Zoppoter Atmosphäre gewiss nicht behindert, im Gegenteil: Man weiß nicht, wohin man blicken soll, auf die trübe See oder auf ebenso graue Fassaden, die nicht vom Leben, sondern vom Aufgeben berichten. Eine Renaissance ist nicht in Sicht.

Um neun Uhr dreißig morgens am 18. Oktober 1926 wurde in Zoppot ein Kind geboren, dem man einen Tag später im Standesamt die Vornamen Klaus Günter Karl gab. Der Familienname Nakszynski ist polnisch, doch nur der Herkunft, nicht der Identität seiner Träger nach. Der Vater war der Apotheker und angebliche frühere Opernsänger Bruno Nakszynski, die Mutter, eine Pfarrerstochter aus Danzig-Langfuhr und Krankenschwester, hieß Susanne, geborene Lutze, und stammte ursprünglich aus Leipzig. Klaus war kein Einzelkind, seine älteren Geschwister hießen Hans-Joachim, Arne und Inge.

Das zweistöckige, mit einem hölzernen Vorbau versehene Geburtshaus ist erhalten, das Bildhauerehepaar Ewa und Andrzej Reichel betrieb darin Jahre später eine Bar sowie eine Galerie, und heute gilt das »Kawiarnia Kinski« – das »Café Kinski« – als beliebter Treffpunkt. Auf dem Haus prangt eine Erinnerungstafel, und im Lokal sieht man die in den Tresen eingelassene Geburtsurkunde sowie zahlreiche Bilder, die der Fotograf Beat Presser in den siebziger und achtziger Jahren von Kinski gemacht hat. Allerdings war der Weg zur nunmehrigen Zoppoter Kinski-Gedenkstätte steinig: Der Lokalhistoriker Wojciech Kass begab sich nach Kinskis Tod 1991 auf die Suche nach dessen Spuren, und eine monatelange Archiv-Recherche brachte schließlich die Geburtsurkunde zutage.1 1994 wurde die Gedenktafel angebracht, ein Festival mit Kinski-Filmen geriet zum Ereignis, und man plante, das größte Lichtspielhaus am Platze in »Kinski-Kino« umzubenennen. Doch schlug nun die Stunde jener Zoppoter, die ihre Stadt nicht mit einem vermeintlichen Enfant terrible assoziiert wissen wollten. Vertreter nationalistischer und katholischer Organisationen machten Kinski seinen angeblich unmoralischen Lebensstil zum Vorwurf, ungeachtet der Tatsache, dass sich der kleine Klaus zumindest in seinen Zoppoter Jahren wohl kaum jenes ausschweifenden Daseins hätte rühmen können, wie er es später in seiner Skandal-Autobiographie Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund2 tat. Es hagelte Beschwerdebriefe an alle möglichen Institutionen, in denen man forderte, doch lieber anständige und moralisch einwandfreie polnische Künstler zu ehren. Ein Pfarrer verwies auf Kinskis verderblichen Einfluss, nachdem unbekannte Vandalen eine Skulptur des Heiligen Adalbert beschädigt hatten, und die Wellen schlugen so hoch, dass schließlich der Danziger Erzbischof Tadeusz Gocłowski mit einem mahnenden Brief einschreiten musste. Inzwischen ist Ruhe eingekehrt, und heute meint man beinahe Stolz auf den Sohn dieser Stadt zu verspüren, zumindest dann, wenn wieder einmal ein ausländisches Fernsehteam zur Berichterstattung anrückt.

Doch lange blieb der kleine Klaus Günter gar nicht in Zoppot: Um 1931/32 zog die Familie nach Berlin um, und der Sohn trat 1936 in das humanistische Prinz-Heinrich-Gymnasium in Berlin-Schöneberg ein, wo er bis zur Untersekunda blieb: Diese Schule, die schon Hans Fallada und Eric Hobsbawm besuchten, war in einem roten Backsteinbau in der Grunewaldstraße 77 untergebracht, der 1944 durch Bombentreffer beinahe völlig zerstört wurde. Das sind die Fakten – aber wer war der Bengel, der später Schauspieler werden sollte, in dieser Frühzeit? Von den Geschwistern würde sich später nur Klaus – vor allem in seiner Autobiographie – eindeutig über die frühen Berliner Jahre äußern. Die anderen hingegen bewahrten gegenüber der Öffentlichkeit Schweigen, so dass als hauptsächliche Quelle für Kinskis Kinder- und Jugendjahre seine Autobiographie bleibt, die jedoch aufgrund ihrer vielfach drastischen Schilderungen an vielen Stellen wenig glaubhaft ist. War Kinski also wirklich das Berliner Straßenkind, zu dem er sich später selbst stilisierte? In den achtziger Jahren behauptete Kinski gegenüber einer italienischen Bekannten allen Ernstes, nicht nur ein solches Straßenkinder-Dasein, sondern dieses noch dazu in Neapel erlebt zu haben.3 Da sind auch die haarsträubendsten Geschichten, die Kinski selbst über seine Berliner Kinderumtriebe erzählte, noch weit weniger erfunden.

Bruno Nakszynski, der Vater, wurde in Kinskis Autobiographie zwar mit Sympathie, doch erkennbar distanziert geschildert: Ein etwas füllig wirkender Mann, auf dem rechten Auge blind, im linken ein loses Brillenglas als Monokel, mit kahlgeschorenem Kopf, der seinen erlernten Beruf anfangs nicht ausüben konnte und deshalb weit unter seinem Niveau leben musste.4 In dem Berliner Haus, in dem die Nakszynskis zunächst wohnten, habe es, so Kinski später, gestunken, Küchenschaben, Wanzen und Ratten hätten die Bewohner geplagt, ein Badezimmer habe es nicht gegeben, und die Toilette sei eine von Schmeißfliegen bevölkerte Latrine gewesen. Dann der Hinauswurf wegen ausbleibender Mietzahlungen, die mühsame Suche nach einer neuen Unterkunft, die in einem schlechten Hotel am Stettiner Bahnhof endete, schließlich – als der Vater endlich Arbeit in einer Pankower Apotheke fand – eine winzige Wohnung samt Etagenklo im dritten Hinterhof der Pallasstraße mit Blick auf die 22. Volksschule. Deren Kinderhort besuchte der kleine Klaus, daneben übte er sich angeblich ausgiebig im Stehlen, von Früchten aus Schrebergärten bis zu Lippenstiften für die Mutter und Hosenträgern für den Vater. Kinski gab später an, nicht nur als beinahe professioneller Dieb, sondern zudem als Gehilfe eines Kohlenhändlers, in Wäschereien, als Leichenwäscher und Kofferträger, bei Müllfahrern sowie Fischhändlern und als Verkäufer von Bockwurst, Putzmitteln und Bonbons gearbeitet zu haben5 – und all dies als noch minderjähriges Kind und Schüler im Berlin der dreißiger Jahre. Mag sein, dass Kinski hier und da mit Gelegenheitsarbeiten Geld hinzu verdiente, doch von einer regelmäßigen Tätigkeit, noch dazu in so wenig kindgemäßen Branchen, ist wohl nicht auszugehen.

Schließlich wurde eine neue Wohnung gefunden, die für die nächsten Jahrzehnte den Nakszynskis als Unterkunft diente: In der Wartburgstraße 3, vierter Stock, mit einem zwei Quadratmeter großen Balkon. Ob die von Kinski behauptete inzestuöse Begegnung dort ebenfalls stattfand, ja, ob sie überhaupt stattfand, bleibt fraglich. Beim Erscheinen der Autobiographie 1975 jedenfalls war der Unwillen der Geschwister über diese Schilderung deutlich zu vernehmen – als einzige öffentliche Korrektur der Schilderungen des mittlerweile berühmten Schauspielers. Dass seine Familie sich über die Schilderungen Kinskis wenig begeistert zeigte, überrascht nicht. In der Fassung von 1991 findet sich diese Stelle schließlich in stark gekürzter und entschärfter Form.6 Überhaupt: Dichtung und Wahrheit – bei Kinski verschmelzen sie zu einem nahezu unentwirrbaren Knäuel. Die Wartburgstraße ist jedenfalls damals wie heute alles andere als eine Gosse in einem Elendsviertel, sondern ein zutiefst bürgerlicher Straßenzug in Berlin-Schöneberg.

Auch die familiären Verhältnisse werden von Kinski übertrieben negativ dargestellt. Angeblich habe er eine kurze, grausame Etappe in einem Kinderheim überstanden, bis seine Mutter Arbeit als Heimnäherin fand. Am Prinz-Heinrich-Gymnasium, habe er mehrmals Lehrer verdroschen, weswegen er – eines von mehreren Malen – von der Schule geflogen sei. Als Ungeheuer sei er bezeichnet worden, und auf keiner Schule habe man ihn noch unterbringen können.7

Zwar hatte der Krieg schon begonnen, aber noch war Kinskis Welt in Ordnung: Er wurde Mitglied der Hitlerjugend und tat dort begeistert mit – weniger aus ideologischen Gründen als aus Freude an den dort gebotenen Spiel- und Abenteuermöglichkeiten. Im Sommer 1940 gelangte Kinski im Rahmen der Kinderlandverschickung zum ersten Mal in die damalige Ostmark, das Gebiet des annektierten Österreich. Der beinahe vierzehnjährige Klaus kam nach Millstatt am See, wo er mit anderen Jungen seiner Schule, von denen er »Naki« gerufen wurde, am Rande des Kurortes in der Villa Schrenk wohnte. Im Sommer 1941 kehrte Kinski erneut an den Millstätter See zurück und lernte die zwei Jahre ältere Lore O. kennen, eine Kärntnerin aus Völkermarkt, die zu dieser Zeit das damals vorgeschriebene Pflichtjahr in Millstatt ableistete. »Wir haben uns regelmäßig gesehen«, wird Lore O. Jahrzehnte später erzählen, »und sind schließlich miteinander ins Reden gekommen. Beim Einkaufen hat er meine Taschen nach Hause getragen. Er war sehr verliebt, und er hatte wunderschöne Augen, ein richtig sattes Blau. Wir haben uns geküsst und an der Hand gehalten – es war schön. Von seiner Mutter erzählte er, dass sie immer sehr schwer gearbeitet hat.«8 Die beiden Pubertierenden fanden so großen Gefallen an einander, dass Kinski später noch zwei Mal auf eigene Faust zu ihr reiste, das erste Mal gemeinsam mit einem Freund, das zweite Mal, Anfang 1942, allein. Er kam bei Lore unter, die in einem Völkermarkter SA-Büro beschäftigt war, und ihre Mutter verwöhnte Kinski, der im übrigen jedes »Heil Hitler« verweigerte, mit gutem Essen. Als Lore sich im slowenischen, von den Deutschen besetzten Prevalje aufhielt, fuhr er ihr auch dorthin nach.

Doch die Flucht aus Berlin blieb nicht folgenlos. Der Schulschwänzer flog vom Prinz-Heinrich-Gymnasium und wechselte auf das Bismarck-Gymnasium in der Pfalzburger Straße, wenn auch nicht für lange: Mit sechzehneinhalb Jahren musste er, nachdem er bereits ein HJ-Wehrertüchtigungslager in den Niederlanden durchlaufen hatte, an die Front und diente bei den Fallschirmjägern. In seinen Memoiren notierte Kinski: »Als ich den Stellungsbefehl lese, weine ich. (…) Ich will nicht töten und nicht getötet werden.«9 Kinski wechselte noch zahlreiche Briefe mit seiner Kärntner Freundin Lore. Erst nach seiner Gefangennahme durch die Briten brach der Kontakt vollends ab – bis 1958. Die Umstände dieser Gefangennahme nach einer Verwundung sind nicht eindeutig belegt. Tatsache ist jedenfalls, dass Kinski schließlich im März 1945 aus Deutschland in ein Kriegsgefangenenlager in Berechurch Hall bei Colchester, in der Grafschaft Essex, verlegt wurde. Was als militärisch-bürokratische Maßnahme zur Konzentration der Gefangenen gedacht war, wurde letztlich zu einer für Kinskis Lebensweg entscheidenden Weichenstellung. Denn im Camp 186 begann er seine Laufbahn als Schauspieler.

Es war ein Zufall, der den aus Koblenz stammenden Schauspieler und Regisseur Hans Buehl zum Entdecker Kinskis werden ließ. Buehl, der das von den Insassen selbst errichtete Gefangenentheater im Camp 186 leitete, hörte von einem blonden, schmächtigen Neuankömmling, der möglicherweise geeignet sein könnte, die stets schwierig zu besetzenden Frauenrollen zu übernehmen.10 Von Buehl darauf angesprochen, reagierte Kinski begeistert und studierte noch am selben Tag die Rolle der Nichte in Die Rivalen von Richard Brinsley Sheridan ein. Der Regisseur, sechzehn Jahre älter als Kinski und im Unterschied zu diesem bereits mit professioneller Erfahrung an Theatern in Koblenz und Gelsenkirchen ausgestattet, erkannte dessen Talent. Er ließ am 21. April 1945, als der Krieg in Deutschland noch immer nicht zu Ende war, den neuen Kollegen zunächst als Erzengel Gabriel in Goethes Faust debütieren, danach folgte eine Tour de Force durch die weiblichen Hauptrollen des gemischten Repertoires aus Klassikern und Boulevardkomödien, darunter die Eve Rull in Kleists Der zerbrochene Krug, die Prinzessin Eboli in Schillers Don Karlos, die Paula Gollwitz in Der Raub der Sabinerinnen der Brüder Schönthan oder das Klärchen in Goethes Egmont. Wer diese Rollen als Mann zu spielen vermag, verfügt ganz gewiss über ein gerüttelt Maß schauspielerischen Talents.

Kinski durfte sich seine Haare lang wachsen lassen, und seine Ausstrahlung blieb nicht ohne Wirkung auf andere Gefangene, die sich um die Gunst des leicht feminin wirkenden Jünglings bemühten. Aber der unvermittelte Karrierestart wurde bald von Kinskis offensichtlich schon zu diesem Zeitpunkt hochexplosiver Persönlichkeit behindert: Nach einem tätlichen Angriff auf einen Kollegen während einer Probe musste er die Truppe Ende 1945 verlassen und wechselte zur Kabarettgruppe des Lagers.11 Kinski ließ übrigens in seiner Autobiographie seine Bühnenanfänge völlig unerwähnt – vielleicht weil er sich bei der Beschreibung seiner ersten Theaterengagements als Naturtalent gerieren wollte oder weil ihm die vielen Frauenrollen im nachhinein nicht mehr ziemlich erschienen.

Mitte 1946 konnte Kinski das Camp 186 endlich wieder verlassen und nach Berlin zurückkehren. Erst da erfuhr der junge Mann von neunzehn Jahren, der unverhofft zu schauspielerischen Erfahrungen und nützlichen Kenntnissen über dramatische Literatur gelangt war, durch seinen Bruder Arne vom Tod der geliebten Mutter. Vom Schicksal des Vaters wusste man hingegen noch nichts, erst später sollte sich herausstellen, dass Bruno Nakszynski in einem Kriegsgefangenenlager in der Tschechoslowakei umgekommen war, wahrscheinlich in oder bei Karlsbad, wo man ihn auch begraben hatte.

Ebenso dunkel sind Kinskis tatsächliche Aktivitäten kurz nach seiner Entlassung aus dem Camp. In seinen Memoiren berichtete er von Vorsprechen an Bühnen in Stuttgart, Kassel, Tübingen und Karlsruhe, aber auch von einer vorübergehenden Tätigkeit als eine Art Zuhälter in Heidelberg.12 Fest steht lediglich, dass Kinski im Juli 1946 eine mehr oder minder professionelle Arbeit als Schauspieler aufnehmen konnte, als er im Rahmen einer Tournee des Ortenauer Landestheaters aus Offenburg mitwirkte. Das Stück war Brandon Thomas’ Boulevardklassiker Charleys Tante: Kinski spielte Charley Wakeham, jenen jungen Mann, der eine südamerikanische Tante erfindet, um ein junges Mädchen zu sich einladen und verführen zu können. Die Premiere fand am 18. Juli im Löwensaal von Gengenbach statt, weitere Vorstellungen gab es in Offenburg, Renchen, Hornberg, Peterstal, Oberkirch und Bühl13 – alles Orte, die das Auftreten eines Klaus Kinski nie wieder würden vermelden können, so sie es denn überhaupt zur Kenntnis nahmen. Doch so unbedeutend dieses Engagement gewesen sein mochte – es vermittelte dem jungen Debütanten doch Sicherheit und Selbstvertrauen, auch außerhalb der geschlossenen Gesellschaft der Kriegsgefangenen als Schauspieler reüssieren zu können. Das nächste Ziel Kinskis war es, eine echte Theatermetropole zu erobern: Berlin.

Engagements – von Berlin nach München

Und tatsächlich wurde Kinski – nach allen Regeln des Standes kein Schauspieler im eigentlichen Sinne, sondern ein Autodidakt – an eine der in den Nachkriegsjahren wichtigsten und bald renommiertesten Bühnen Deutschlands engagiert. Sein erster wichtiger Intendant hieß Boleslaw Barlog, ein 1906 in Breslau geborener Rechtsanwaltssohn, der Regieassistent bei Karlheinz Martin und Heinz Hilpert an der Berliner Volksbühne war, bis er nach der Machtübernahme durch die Nazis einen Karriereeinbruch erlitt, den er erst 1940 als Ufa-Filmregisseur überwand. Im Herbst 1945 wandelte Barlog die Wrangel-Lichtspiele in Berlin-Steglitz in ein Theater um, das mit seinen rund 400 Plätzen fortan als Schlosspark-Theater firmierte und dem er als Intendant vorstand, bis er schließlich 1951 zum Intendanten des staatlichen Berliner Schillertheaters avancierte und zwanzig Jahre lang in dieser Stellung blieb. Kinski äußerte sich später abfällig über Barlog, vor allem über dessen Ignoranz gegenüber den materiellen Sorgen der Schauspieler. Tatsächlich entwickelte sich zwischen den beiden Theatermachern rasch ein gespanntes Verhältnis, und Barlog, ein Regisseur des gepflegten Realismus und alles andere als ein Visionär, zwanzig Jahre älter als Kinski und diesen doch um beinahe zehn Jahre überlebend, hatte postum ebenfalls nur Schlechtes über den Schauspieler und Menschen Kinski zu vermelden: Dieser habe nur sein eigenes Ingenium als Autorität akzeptiert, sei gewiss ein Genie, aber eben ein Genie zum Bösen, nicht zum Guten, gewesen.14

Demnach war sein Berliner Einstand für den bisher nur mit dem Laien- und Provinztheater vertrauten Kinski ein gewisser Erfolg. Am 8. November 1946 fand seine erste Premiere am Schlosspark-Theater statt: Gerhart Hauptmanns bereits klassische Berliner Tragikomödie Die Ratten. Für Regie und Bühnenbild zeichnete Willi Schmidt verantwortlich, einst Assistent des großen Bühnenbauers Rochus Gliese, der später als Professor an der Berliner Hochschule der Künste Förderer von Wilfried Minks oder Karl-Ernst Herrmann war. Kinski trat in der kleinen Rolle des Dr. Kegel auf, und auch seine nächste Rolle war durchaus bescheiden: Vom 8. Januar an gab er in der Inszenierung Barlogs den Pagen im Vorspiel zu Shakespeares Komödie Der Widerspenstigen Zähmung. Zwar hatte es Kinski binnen kurzem an eine solide Großstadtbühne geschafft, aber er war enttäuscht, in die zweite Liga verbannt zu sein. Und der Winter dieses Missvergnügens war für Kinski nicht allein aus künstlerischen Gründen bitter. Die eisigen Temperaturen stellten die Menschen im zerstörten Berlin vor besondere Herausforderungen. Es galt einfach zu überleben in dieser von Ruinen geprägten Erinnerung an eine blühende Stadt.

Im Frühjahr schließlich erlebte Kinski seine letzte Premiere an Barlogs Schlosspark-Theater: Am 28. März 1947 kam Curt Goetz’ Komödie Dr. med. Hiob Prätorius zur Aufführung, der Intendant führte Regie, Kinski war in der Rolle des Studenten zu sehen. Doch nicht zum ersten Mal gewann der selbstzerstörerische Zug in Klaus Kinski die Oberhand, und es wurden jene destruktiven Tendenzen spürbar, die immer dann auftraten, wenn eine bestimmte Situation im Leben des Schauspielers ohne Chance auf Veränderung andauerte, wenn sich Gewohnheit einschlich – oder wenn er diese Situation subjektiv als unbefriedigend empfand. Noch häufiger sollte er in den kommenden Jahren Phasen seines Lebens verfrüht abbrechen, wobei diesen Abbrüchen meist bewusste Provokationen von seiner Seite vorausgingen. Wenn er die Gelegenheit, einen Schlusspunkt zu setzen, nicht geboten bekam, sorgte er eben selbst für die erforderliche Krise.

Tatsächlich fühlte sich Kinski an Barlogs Theater unterfordert, unterschätzt und natürlich unterbezahlt. Den Intendanten respektierte er immer weniger, falls er ihn denn je respektiert hatte. Später wird Kinski über Barlog meinen, dieser sei überhaupt kein Regisseur gewesen und hätte seinen Erfolg nur dem mageren Theaterangebot im Nachkriegs-Berlin zu verdanken gehabt. Zudem habe Barlog Kinski untersagt, die eisigen Nächte im geheizten Theater zu verbringen.15 Kinski fing an, die Aufführungen zu sabotieren: Unzufrieden mit seiner kleinen Rolle in der Shakespeare-Inszenierung, versuchte er sich in den Mittelpunkt zu rücken und putschte sich dazu während der Vorstellung mit Alkohol auf, um sodann nur noch störend aufzufallen, bis der Vorhang fiel. Als Barlog Kinski dann nach dessen Darstellung eine Rolle verweigerte – jene des Nat Miller in Eugene O’Neills 1932 entstandener Komödie O Wildnis! über die am amerikanischen Nationalfeiertag aufbegehrende Jugend, die symbolträchtig am 4. Juli 1947 zur Premiere gelangen sollte –, war das Verhältnis zwischen den beiden endgültig zerrüttet. Kinski warf die Scheiben des Theaters ein – nach Barlogs Ansicht, weil sich der Schauspieler in der Pause zwischen einer Nachmittags- und einer Abendvorstellung schlicht langweilte. Damit zerstörte Kinski in einer Zeit materieller Not und gravierender Probleme mit Heizung und Klimatisierung etwas Lebensnotwendiges und letztlich auch seine Vertragsverlängerung. Später notierte er dazu: »Ich wäre sowieso an dieser Schmiere verhungert und verblödet.«16 In Wahrheit war dies ein erster Moment des Scheiterns in seinem Beruf, eines durchaus selbstverschuldeten Scheiterns noch dazu – weitere solcher Momente sollten folgen.

Kinski stand auf der Straße, unausgefüllt, beschäftigungslos, ohne Geld – und das im trostlosen Nachkriegs-Berlin. Er wusste, dass Talent allein nicht ausreichte, um den Schauspielerberuf weiter ausüben zu können, und beschloss zunächst, eine Schauspielschule zu besuchen, außerdem kamen autodidaktische Sprach- und Sprechübungen hinzu, die er bis in die späten fünfziger Jahre hinein beibehielt: »Ich sondere mich oft wochenlang von allen Menschen ab, schließe mich in mein Zimmer ein und gehe nicht einmal auf die Straße. In dieser Zeit mache ich Sprachübungen, zehn, zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden pro Tag. Oder die ganze Nacht. (…) Ich spreche immer irgendwelche Texte und nehme kaum wahr, was um mich herum geschieht. Wenn ich während der Sprachübungen müde werde oder ein mir selbst gestelltes Pensum nicht zu erreichen drohe, schlage ich mir ins Gesicht.«17

Die Schulung seiner Stimme betrachtete Kinski zu Recht als notwendig: Sie war zu dieser Zeit noch auffallend flach und hoch, wirkte beinahe süßlich, wie auch Kinskis erste Hörspielproduktion – Wie ich es sehe nach Peter Altenberg – bewies, die am 16. Juli 1947 vom RIAS gesendet wurde. Was Kinskis Organ fehlte, waren Strahlkraft, Tiefe, Rauheit, man möchte sagen: Männlichkeit – und dies trotz seines reichlichen Zigarettenkonsums. Erst in den späten sechziger Jahren bekam Kinski jene Stimme von geradezu stählerner Durchschlagskraft, die er sich schon früher gewünscht hatte. Doch ausgerechnet in dieser Zeit, als er unzählige Euro-Koproduktionen und Italowestern drehte, wurde er – Ironie des Schicksals – meist von anderen Sprechern synchronisiert.

Kinski besuchte die Schauspielschule von Marlise Ludwig – wie intensiv, ist allerdings nicht geklärt. Vermutlich hat er allenfalls wenige Lektionen erhalten und blieb vor allem Autodidakt, denn die Selbststilisierung war bei ihm bereits weit vorgeschritten, er verstand nicht zuletzt sich selbst und seine eigene Biographie als Spielmaterial, um sich inszenieren zu können. Mensch und Rolle waren bei ihm längst in einem kommunikativen Austausch begriffen. Er begriff sich gleichsam als poetisch-dramatisches Gesamtkunstwerk, das sich aus der Gosse erhoben hatte. So stellte er einmal ein Bett auf den Dachboden der Wartburgstraße und lud Journalisten ein, ihn dort zu besuchen, so als wäre dies seine authentische Heimstatt. In Wahrheit war dies nichts anderes als eine moderne Variante des Spitzwegschen armen Poeten.

Marlise Ludwig war jedenfalls – wie auch so manche Schauspielschülerin – begeistert von Kinski und dessen geradezu aggressivem sexuellem Charisma. Aber auch ein Schauspielschüler schätzte Kinskis Darbietungen sowie dessen monologisierende Erklärungen zu Rollen und zum Rollenverständnis: Der mehr als zwei Jahre jüngere Harald Juhnke, ein echtes Berliner Kind aus dem Wedding, spürte Kinskis Talent und studierte mit ihm Passagen aus Shakespeares Romeo und Julia ein – mit Juhnke als Romeo und Kinski, natürlich, als Julia.18

Privat bewegte sich Kinski in eher dubiosen Kreisen von Schiebern und Schwarzmarkthändlern, im Homosexuellen- und Prostitutiertenmilieu von Berlin, wie er in seiner Autobiographie schreibt. Inzwischen logierte er in der Berliner Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz als Untermieter bei Eduard Matzig, Bonner Straße 9. Matzig war Regisseur, Maler und Bühnenbildner. Mit Kinski in der Titelrolle wollte Matzig ein Stück namens Savonarola aufführen, doch der war an diesem Projekt nicht interessiert: »Mich kotzt das Stück an. Ich will kein religiöser Irrsinniger sein, und es ist mir auch egal, wer die Bilder von Botticelli verbrannt hat.«19

Dafür durfte er nun eine der ersehnten großen Rollen verkörpern: Am 21. Oktober 1947 debütierte er am Berliner Theater in der Kaiserallee, wo er unter der Regie von Otto Graf in Jean Cocteaus Die Schreibmaschine die Doppelrolle der Zwillinge Maxime und Pascal verkörperte. Um einen epileptischen Anfall – der später die Zuschauer in Angst und Schrecken versetzte – glaubhaft verkörpern zu können, betrieb Kinski Recherchen in der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité. Die Kritiker reagierten überwiegend positiv, etwa Herbert Pfeiffer im »Tagesspiegel«: »Der ganze Mensch fiebert, die Nerven kochen, auch wenn er ganz ruhig scheint. Es ist eine der stärksten Leistungen, die wir von jungen Menschen nach dem Kriege sahen.«20 Und Friedrich Luft sah Kinski für die »Darstellung krankhaft gefährdeter Naturen schon im Typ prädestiniert«,21 was besonders in Hinsicht auf seine Filmrollen der fünfziger und sechziger Jahre beinahe prophetisch war. Die Schreibmaschine erreichte schließlich mehr als 160 Vorstellungen.

Zur selben Zeit erhielt Kinski auch sein erstes Filmengagement. Dies verdankte er dem frischgebackenen Filmproduzenten Artur Brauner, der mit wenigen Mitarbeitern und einem Fiat Topolino seine Central Cinema Company, später eingängiger CCC-Film genannt, betrieb. Brauner, der als Jude selbst der Nazi-Verfolgung ausgesetzt gewesen war, plante einen autobiographisch gefärbten Film über das Dritte Reich. Nach einem Drehbuch von Gustav Kampendonk begann der Regisseur Eugen York in Schildow bei Berlin mit den Dreharbeiten zu Morituri, die zwischen September 1947 und Januar 1948 stattfanden. Morituri erzählt von Todgeweihten, von aus einem Konzentrationslager geflohenen Häftlingen aus verschiedenen Nationen, die zusammen mit anderen Verfolgten in einem Unterschlupf Zuflucht suchen. Erst das Vorrücken der sowjetischen Truppen und der Rückzug der Deutschen rettet sie.

Um genügend Strom zu haben, erreichte Brauner bei den sowjetischen Kulturoffizieren sogar, dass man dafür die Energiezufuhr für die Orte Eberswalde und Prenzlau einige Wochen lang entsprechend reduzierte. Dennoch durfte der Film trotz seiner eindeutig antifaschistischen Thematik in der sowjetisch besetzten Zone und in Ost-Berlin nicht aufgeführt werden. Im Westen wiederum verweigerten sich die Kinobesitzer diesem Film, und als er in Hamburg dann Ende September 1948 doch gestartet wurde, ließen einige Besucher ihre Aggressionen an der Kinoeinrichtung aus. Überdies hagelte es wüste Drohbriefe an Produzent Brauner und Regisseur York. So verlor Brauner mit Morituri vorübergehend sein gesamtes Vermögen. Die Deutschen waren so kurz nach dem Krieg noch lange nicht willens, sich mit ihrer schmachvollen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Kinski agierte in seiner ersten, doch sehr kleinen Filmrolle bereits einprägsam, in den aufgerissenen Augen des holländischen KZ-Häftlings, den er spielte, schien aller Nazi-Schrecken eingefangen. Dennoch erhielt er nicht die erhoffte Aufmerksamkeit. Die widrigen Umstände waren dagegen. Man war nicht bereit: nicht für Kinski und nicht für dieses Thema.

Angesichts dieses Misserfolgs schien es Kinski aussichtsreicher zu sein, beim Theater sein Glück zu versuchen, am besten bei einem offenbar sehr etablierten Regisseur. Er lernte den sechzigjährigen Jürgen Fehling kennen, den er bedingungslos verehrte. Als Schöpfer eigenwilliger und legendärer Inszenierungen war Fehling seit den zwanziger Jahren hervorgetreten, hatte in der Nazizeit zwar weiter inszeniert, war jedoch im Unterschied zu manchen Kollegen nicht durch übermäßige Anbiederung an das Regime aufgefallen. Fehling rechnete sich deshalb gute Chancen aus, Intendant des Berliner Hebbel-Theaters zu werden. Dort führte man am 7. Januar 1948 Jean-Paul Sartres Die Fliegen in Fehlings Inszenierung auf, und der Abend geriet mit Joana Maria Gorvin als Elektra, Kurt Meisel als Orest und O. E. Hasse als Jupiter zum Triumph. Fehling wollte Kinski als Schauspieler für das Hebbel-Theater verpflichten und lud ihn zu einem Vorsprechen ein. Kinski erhoffte sich davon einen Karrieresprung und rezitierte – angeblich sieben Stunden lang22 – aus Shakespeares Romeo und Julia und Othello sowie Schillers Räubern. Anschließend soll Fehling Kinski sogar gebeten haben, aus dem Telefonbuch vorzutragen, weil er seine Stimme so faszinierend fand.23

Doch Fehling war, trotz seiner künstlerischen Meriten, politisch nicht unumstritten: Bereits im November 1946 zerschlugen sich die Bemühungen, Fehling an das von Wolfgang Langhoff geleitete und im sowjetischen Sektor Berlins gelegene Deutsche Theater zu verpflichten, nachdem Fehling einen Nachruf auf den in sowjetischer Lagerhaft in Sachsenhausen gestorbenen Schauspieler Heinrich George verfasst hatte, der sich vor 1945 zeitweise in deutlicher Nähe zum Nazi-Regime bewegt hatte. Schließlich scheiterte auch die Berufung Fehlings zum Intendanten des Hebbel-Theaters am Einspruch des Ensembles. Fehling versuchte daraufhin einen künstlerischen Neubeginn in München. Für Kinski bedeutete dies das Ende seiner Hoffnungen auf einen Durchbruch. Vorläufig hieß es, am Theater in der Kaiserallee weiterzumachen.

Ab 25. März 1948 spielte Kinski den Oswald in Otto Grafs Inszenierung von Ibsens Gespenstern. Kurz zuvor, von Heiserkeit geplagt, hatte Kinski Bekanntschaft mit Kokain gemacht. Tatsächlich schien die Droge seine Probleme vorübergehend zu lösen, und so herablassend er in seinen Memoiren auch über das weiße Pulver schrieb – er blieb dem Kokain bis in die sechziger Jahre hinein treu. Die Aufführung sei so stark gewesen, so Kinski, dass Frauen im Publikum in Ohnmacht gefallen seien. Andere hätten Schreikrämpfe erlitten, selbst von einer Fehlgeburt war die Rede.24 Der Gedanke an die Rolle des aus einer unglücklichen Ehe stammenden Oswald, auf dem die tragisch scheiternde Hoffnung seiner Mutter auf ein besseres Leben jenseits des Machtbereichs des tyrannischen Ehemannes liegt, sollte Kinski nicht verlassen. Noch in den späten fünfziger Jahren versuchte er vergeblich, eine Filmversion der Gespenster als Produktion der ostdeutschen DEFA zu realisieren – gleichsam als Spurensicherung einer von ihm selbst für wichtig gehaltenen Interpretation.

Der Oswald ermöglichte Kinski die Rückkehr an eine renommierte Bühne – allerdings nur für kurze Zeit. Der 47-jährige Wolfgang Langhoff, seit Herbst 1946 Intendant des Deutschen Theaters im sowjetisch kontrollierten Sektor Berlins, engagierte ihn. Am 15. Oktober 1948 erfolgte Kinskis erste – und zugleich, wie noch niemand ahnen konnte, letzte – Premiere an Max Reinhardts einstiger Wirkungsstätte: Er stand in der Rolle des Claudio in Langhoffs Inszenierung von Shakespeares Komödie Maß für Maß auf der Bühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters. Doch Kinski zeigte sich wenig angetan von der Arbeit und der Umgebung, er missbilligte die Probenarbeit Langhoffs, dessen Regiearbeit einem konsequenten Realismus verpflichtet war, und konnte sich zudem mit der Atmosphäre in der sowjetisch besetzten Zone nicht anfreunden. Ein Versuch Kinskis, in Bertolt Brechts Berliner Ensemble unterzukommen, scheiterte. Und auch das Engagement an Langhoffs Bühne war – nach einer wütenden Auseinandersetzung in der Kantine, bei der Kinski den Verwaltungsdirektor und schließlich auch Langhoff ohrfeigte – rasch wieder an ein vorzeitiges Ende gelangt.25

Als Menschendarsteller entfaltete Kinski Anziehungskraft auf Frauen und Männer gleichermaßen. Es war das Nebeneinander von männlichen und weiblichen Zügen – in Kinskis Erscheinung und Charakter –, das beide Geschlechter verzauberte. Kinski lernte den Emigranten Sascha Kropotkin kennen, in dessen Kreisen der Schauspieler eine Zeitlang gern verkehrte. Kropotkin war eine jener Existenzen, wie sie wohl nur das viergeteilte Berlin nach 1945 aufwies: ein russischer Prinz, der in einer erstaunlich pompösen Wohnung an der Ecke Kurfürstendamm 213 und Uhlandstraße – über dem Café Möhring – residierte.

Kropotkin war es auch, der Kinski auf Jean Cocteaus 1930 an der Comédie Française uraufgeführten Einakter La voix humaine, zu deutsch Die geliebte Stimme, aufmerksam machte: Ein nur wenige Requisiten, doch eine herausragende Schauspielerin benötigende Nullpunktbeschreibung. Cocteau erzählte darin von der ins Leere laufenden telefonischen Kommunikation zwischen einer Frau und ihrem früheren Geliebten, der am nächsten Morgen eine andere Frau heiraten würde. Kinski war sofort von der Idee begeistert, die Hauptrolle zu spielen. Kropotkin mietete das Theater in der Kaiserallee für 20 000 Mark, und Kinski probte drei Monate lang, wobei es ihm um die Darstellung eines Schicksals, nicht eines geschlechtlich definierten Menschen ging.

Doch kurz vor der Premiere schien es, als wäre dem Vorhaben wenig Glück beschieden: Die britische Militärregierung untersagte die Aufführung und berief sich dabei auf die Aussage eines französischen Kulturoffiziers, wonach Cocteau angeblich selbst um eine Verhinderung gebeten habe. Dies stellte sich zwar bald als Unwahrheit heraus, doch Kropotkin zog sich von der Finanzierung des Unternehmens zurück. Ein Ausweg ergab sich erst, als der Modefotograf Helmut von Gaza sein Studio am Kurfürstendamm als Aufführungsort zur Verfügung stellte. Dort kam es – in Kinskis eigener Regie und Textbearbeitung – am 12. August 1949 tatsächlich zur vom Publikum gestürmten Premiere. Kinski sprach nicht nur den einer Frau zugedachten Text, sondern er war zudem als Frau – mit Perücke und Make-up – kostümiert. Walther Karsch resümierte im »Tagesspiegel«: »In der Durchdringung des Wortes, in seiner seelischen und geistigen Zerfaserung, in der Umsetzung dieses Vorganges in Gestik und Mimik, in der immer wieder mit neuen Überraschungen aufwartenden Variierung des Organs vom beglückenden Jubel bis zur tonlosen Zerbrochenheit gab Kinski einen klaren Beweis dafür, dass er der interessanteste junge Schauspieler Berlins ist.«26

Diese Selbstinszenierung Kinskis markierte bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt den späteren Weg des Schauspielers, ob nun in den Rezitationsabenden der fünfziger und sechziger Jahre oder in so manchen Kommerzfilmen der Zeit, als Kinski der Bühne bereits vollkommen abgeschworen hatte. Der erste Schritt zur Monomanie war getan, auch wenn weder Kinski noch sein Publikum dies ahnten.

Zu dieser Zeit machte Kinski die Bekanntschaft einer Frau, die ihm noch dienlich sein sollte: die verwitwete Ärztin betrieb eine Praxis in Tempelhof, wo sie auch lebte. Kinski lernte sie kennen, als er an einer Gelbsucht laborierte, und unterhielt schon bald mit ihr sowie mit ihrer Schwester und deren halbwüchsiger Tochter ein reizvolles, wenn auch recht anstrengendes Beziehungsgeflecht. Solche unkonventionellen Konstellationen blieben für Kinski damals charakteristisch.

Für Kinski kam es nun zu einer beinahe zweijährigen Theaterpause, die er zunächst mit einem neuen Engagement beim Film überbrückte: Decision Before Dawn von Anatole Litvak, der zwischen Oktober und November 1950 gedreht wurde. Der Film berichtet in Bildern, die sich an Dokumentarfilmen der US-Army orientieren, von jungen Wehrmachtssoldaten, die kurz vor Kriegsende für die Amerikaner hinter deutschen Linien spionieren sollen. Unter deutschen Kriegsgefangenen wird nach Freiwilligen gesucht, die für diesen Einsatz geeignet sind. Im Unterschied zu Morituri ist Kinski hier nicht als Opfer zu sehen, sondern schlicht als Mitläufer. »Ich bin nur zwangsweise in die Partei eingetreten. Es war die einzige Möglichkeit, um vorwärtszukommen«, sagt Kinski bei seinem kleinen Auftritt zu einem Offizier – und wird als Mitglied des Spionagetrupps nicht ausgewählt. Es war Kinskis erstes Porträt eines deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, weitere, die noch stärker von den Ambivalenzen einer solchen Existenz berichten, würden folgen.

Eigentlich wollte Kinski eine andere Rolle spielen, nämlich den deutschen Offizier mit dem Spitznamen Happy, der sich während des Auftrags für die Sache opfert, aber ihm wurde der damals bereits bekanntere Wiener Burgschauspieler Oskar Werner vorgezogen. Immerhin war dies Kinskis erste Mitwirkung in einer US-Produktion, und in der deutschen Fassung sollte er sich ebenfalls zum ersten Mal selbst synchronisieren.

Anfang 1951 lernte Kinski auf dem Schwabinger Fasching in München zwei Mädchen kennen. Die Freundinnen waren hübsch, Kinski mochte sich zwischen ihnen nicht entscheiden – und beide wurden von dem arbeitslosen Jungschauspieler schwanger. Eine von ihnen ließ abtreiben, blieb Kinski jedoch weiter freundschaftlich verbunden und korrespondierte mit ihm. Die andere trug das Kind aus und heiratete den Vater: Gislinde (eigentlich Roswitha) Kühbeck, eine Münchner Arzttochter, geboren am 3. Januar 1932 in Eichenau im Kreis Fürstenfeldbruck, wurde Kinskis erste Ehefrau und Mutter seiner Tochter Pola, die am 23. März 1952 in Berlin-Charlottenburg zur Welt kam. Doch die Ehe hatte nicht lange Bestand, sie währte nur knapp zwei Jahre und wurde 1954 wieder geschieden.

Es war eine Zeit der Unrast, ständiger Unterkunftswechsel und Geldnot, nur sporadisch stand Kinski auf der Bühne: Am 17. April 1951 hatte Rüdiger Syberbergs in der Sowjetunion spielendes Drama Josip und Joana in der Regie von Beate von Molo im Münchner Ateliertheater Premiere. Kinski verkörperte den Priester Josip, der nach einer Tätigkeit im verborgenen schließlich von einer ihn enttäuscht Liebenden (gespielt von Gisela Trowe) verraten, verhört und von einem Kommissar (Wolfried Lier) erschossen wird. In der »Neuen Zeitung« schrieb Arnold Bauer: »Er ist als Priester der östlichste von den dreien, eine gequälte Dostojewski-Gestalt, stumm leidend, mit monotoner, beinahe ersterbender Stimme, eine Flamme, die sich verzehrt.«27 Dann abermals Cocteaus Die Schreibmaschine, wo er ab dem 16. August 1951 unter der Regie von Hans Grimm im Ateliertheater wieder die Doppelrolle der Zwillinge spielte; am 16. Februar 1952 verkörperte er in Julien Lachaires 1913 uraufgeführtem Drama Die Zwanzigjährigen den Irenée, einen Theologiestudenten, der – wie zuvor in Josip und Joana – eine ihn Liebende enttäuschen muss. Das Ambiente ist ein Berghotel, wo dreizehn junge Menschen während eines Lawinenabgangs zusammenkommen und in der Erzwungenheit des Zusammenseins über Freiheit und Liebe, Menschenwürde und Recht auf Selbstbestimmung, Krieg und Frieden diskutieren. Magali, die Zurückgewiesene, stürzt sich schließlich von einem Gletscher in die Tiefe. Kinskis »selbstverständliche Identität mit den Menschen, die er darstellt«28, wurde von der Kritik gelobt.

Berufung: Rezitator

Bereits 1948 war Kinski zum ersten Mal als Rezitator in Erscheinung getreten. Anlässlich einer Benefiz-Matinee der Berliner Zeitung »Telegraf« im Theater am Kurfürstendamm sprach er Die Rast aus Rainer Maria Rilkes Prosa-Dichtung Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Neben Kinski hatte an dieser Matinee auch der dreiundsiebzigjährige Paul Wegener teilgenommen, einst Protagonist bei Max Reinhardt, zusammen mit Carl Boese Regisseur des Stummfilms Der Golem, wie er in die Welt kam, war von 1920 sowie während der Nazizeit ab 1942 am von Gustaf Gründgens geleiteten Berliner Staatstheater engagiert.

Nun also: François Villon. Dass Kinski von diesem Autor begeistert war, verwundert nicht. Zum einen konnte er mit seinen Texten Rezitationsabende geben, ohne auf das abgespielte klassische Gedicht- oder Monolog-Repertoire zurückgreifen zu müssen. Überdies kamen Villons ungebärdige Sprache und Ausdruck Kinskis Persönlichkeit und Ausstrahlung entgegen, und niemals ergaben sich Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit. Und schließlich war es möglich, in der noch relativ prüden Nachkriegszeit unter dem Deckmantel etablierter Dichtkunst Obszönitäten und radikale Attacken auf die Gesellschaft vorzutragen. Wo sich Kinskis Villon-Debüt ereignete, konnte nie vollständig geklärt werden: Zwar trat er gewiss auch in Valeska Gerts Berliner Kabarett »Hexenküche« in der Paulsborner Straße auf, doch ob dort auch die Premiere war, ist umstritten. Kinski selbst erwähnte das Café Melodie am Kurfürstendamm – ebenfalls ein späterer Auftrittsort des Schauspielers– , doch auch vom Café Bohème war die Rede. Valeska Gert äußerte sich 1961 in einem Leserbrief an den »Spiegel«: »Das stimmt nicht, dass Kinski zuerst im ›Quartier Bohème‹ (sic!) rezitierte. Er tat das in meinem Lokal ›Hexenküche‹ in Berlin. Und ich habe ihm überhaupt erst die ganze Idee, zu rezitieren, gegeben. Ich wollte, dass er bei mir auftreten sollte. Er fragte: ›Womit?‹ Ich sagte: ›Rezitieren Sie.‹ Er fragte: ›Was?‹ Ich: ›Na, zum Beispiel Villon und Rimbaud.‹ Das tat er dann auch, bis ich krank wurde und nicht in mein Lokal kommen konnte. Er schlug in meiner Abwesenheit einen Gast vor den Bauch, man holte die Polizei, Kinski rannte weg, durch die Küche, zertrümmerte die Gläser durch einen Sprung und beschädigte die Mauer. Dann engagierte ihn erst das ›Quartier Bohème‹.«29 Als gesichert kann angenommen werden, dass die ersten Vorstellungen am 11., 13. und 26. März 1952 stattfanden.

Im gleichen Jahr wurde im Rahmen der zweiten Berliner Festwochen im Hebbel-Theater die Ballettpantomime Der Idiot nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor M. Dostojewski angesetzt: Für die Musik war Hans Werner Henze zuständig, die Choreographie besorgte Tatjana Gsovsky, und Jean-Pierre Ponnelle, ein Freund Henzes, entwarf das Bühnenbild. Aus Dostojewski und Bibelzitaten gestaltete Gsovsky einen Text, der vom einzigen Nicht-Tänzer unter den Akteuren gesprochen wurde – eben Kinski. Gsovsky fand in ihm die ideale Besetzung und ließ ihn auch eine Zeitlang bei sich in der Fasanenstraße 64 wohnen. Kinski wurde im Kinderzimmer von Gsovskys Tochter einquartiert, wo er sich – wie sich Gsovskys Mitarbeiter Gert Reinholm erinnerte – geradezu verbarrikadierte, den Raum verdunkelte und in seine Figur eintauchte, für sein leibliches Wohl sorgte die Hausherrin selbst.30 Für seine Rolle ließ er sich einen Vollbart wachsen, was damals noch sehr ungewöhnlich war – und wurde dafür auf der Straße mit hämischen Bemerkungen und Anpöbeleien bedacht.

Während der Probenzeit traf sich ein Großteil des Ensembles im Haus des Fotografen Hans Rama und dessen Frau Maria, die unter dem Dach des »Astor«-Hauses am Kurfürstendamm wohnten. Abend für Abend wurde dort gefeiert, die Ramas bewirteten ihre Gäste und fotografierten sie nebenbei auch. Dabei entstand eine Foto-Serie Ramas, die Kinski als Myschkin zeigt. Einer der Teilnehmer der abendlichen Zusammenkünfte bei Ramas war Klaus Geitel, ein junger Kaufmann sowie Musik- und Theaterfreund, der später zu einem bedeutenden Kulturjournalisten avancierte. Geitel bewohnte eine große, von einer Altbauwohnung abgetrennte Einzimmerwohnung am Prager Platz – und er ließ sich trotz anfänglicher Ängste überreden, Kinski vorübergehend bei sich aufzunehmen: »Kinski war unbehaust. Er hatte jeden Tag Proben und musste irgendwo üben oder seinen Text lernen und richtig schlafen. Man redete mir gut zu, ich solle ihn doch bei mir aufnehmen, damit er von der Straße wegkäme, bis die Premiere sei und die Wiederholung und die Truppe dann nach Venedig abreisen würde, und ich ließ mich schließlich breitschlagen.«31 Und das, obwohl Kinskis Image im damaligen Berlin höchst zweifelhaft war, wie Geitel in Erinnerung hat: »Er galt als absoluter Irrer, dem man nichts anderes zutraute als Katastrophen. Er benahm sich wirklich wüst.«32

Geitels Ängste erwiesen sich als unbegründet. Der Gast gab sich höflich und rücksichtsvoll.3334