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Über dieses Buch:

Früher konnte nichts die beiden trennen. Jetzt erkennt die fünfzehnjährige Yvonne ihre Schwester nicht mehr wieder: In roten Lettern steht »Halt die Welt an, ich will aussteigen« an der Wand über Angies Bett. Immer häufiger schwänzt ihre ältere Schwester die Schule, verschwindet tagelang und verhält sich seltsam. Auf der Suche nach Antworten findet Yvonne Schnapsflaschen im Zimmer ihrer Schwester und muss kurz darauf entsetzt feststellen, dass auch Drogen hinter Angies erschreckendem Verhalten stecken! Yvonne kann nicht länger tatenlos zusehen, wie Angie auf die schiefe Bahn gerät. Verzweifelt versucht sie ihr zu helfen … als diese sich auf einmal in den Kopf setzt, nach Italien abzuhauen!

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Thomas Jeier veröffentlichte bei jumpbooks auch die folgenden eBooks:

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Die Sterne über Vietnam

Sie hatten einen Traum

Flucht durch die Wildnis

Flucht vor dem Hurrikan

Sturm über Stone Island

Die Reise zum Ende des Regenbogens

Wohin der Adler fliegt – Das Leben der Elaine Goodale

Wo die Feuer der Lakota brennen

Hinter den Sternen wartet die Freiheit

Die Frauen von Greenwich-Village

Der Stein der Wikinger

Blitzlichtchaos

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe Oktober 2018

Dieses Buch erschien bereits 1995 unter dem Titel Rom, zweite Klasse, einfach bei Verlag Carl Ueberreuter.

Copyright © der Originalausgabe 1995 und 2007 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2018 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Aleshyn Andrei

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96053-262-0

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Thomas Jeier

Solange wir Schwestern sind

Roman

jumpbooks

Für Natalie

Kapitel 1

Halt die Welt an, ich will aussteigen.

Ich war ziemlich fertig, als ich den Spruch im Zimmer meiner Schwester entdeckte. Die großen Buchstaben leuchteten rot an der Zimmerwand und klebten wie ein böses Omen auf der gemusterten Tapete. Der Spruch an sich war harmlos. Er stammte aus einem Musical, das vor einigen Wochen im Fernsehen gelaufen war. Mich erschreckte die rote Farbe, die wie Blut an der Wand heruntergelaufen war und jetzt noch auf das Messingbett zu tropfen schien. Mir wurde richtig übel, als ich das Licht anknipste und die nasse Farbe an der Wand leuchten sah.

»Yvonne! Wo bleibst du denn?«

»Ich suche meinen Pullover, den roten mit den weißen Blumen. Ich dachte, er ist bei Angie. Kannst du mal kommen?«

»Ich hab keine Zeit.«

»Ich muss dir was zeigen.«

»Ich koche gerade!, rief meine Mutter ungeduldig. »Was ist denn schon wieder?«

In der Küche klapperten Töpfe, dann hörte ich ihre Schritte auf der Kellertreppe. Im Vorbeigehen hob sie die schmutzigen Schuhe auf, die Angie auf die Stufen geworfen hatte.

»Elende Schlamperei!«, schimpfte Mama leise. Sie warf die Schuhe in die offene Waschküche und kam ins Zimmer. »Ich hab Rouladen auf dem Herd stehen und muss noch Kartoffeln aufsetzen«, meinte sie ungeduldig. »Was ist denn?«

Ich deutete auf die Schmiererei. Es ging mir nicht darum, Angie zu verpetzen. Da musste schon was anderes passieren. Aber ich wollte auch nicht warten, bis meine Mutter die Bescherung von selbst entdeckte. »Das hat Angie geschrieben.«

Mama war sprachlos. Sie rieb ihre Hände an der Schürze trocken und starrte entsetzt auf die rote Farbe. Ihr Gesicht war blass geworden. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die den ganzen Tag mit einem Staublappen in der Hand herumliefen, aber sie hatte es gerne ordentlich und träumte von der glücklichen Familie aus der Margarine-Werbung, die lächelnd auf der Terrasse eines sauberen Eigenheims saß und sich schon beim Frühstück über den herrlichen Sommertag freute. In dieses Bild passte Angies unaufgeräumtes Kellerzimmer schlecht und die blutrote Schrift noch viel weniger.

»Das wäscht sie selber ab«, sagte sie. »Darauf kannst du dich verlassen. Ich mache keinen Handgriff mehr in diesem Zimmer.« Sie ließ die Schürze los. »Wie kommt sie nur auf diesen Blödsinn? Ist das 'ne neue Mode? Beschmiert man jetzt die Wände?«

»Graffiti ist out«, winkte ich ab, »zu Hause jedenfalls. Die beschmieren nur noch S-Bahnen und Fabrikwände, die richtig großen Sachen.«

Sie berührte die rote Farbe und wandte sich angewidert ab. »Das ist Ölfarbe«, sagte sie, »die geht doch nie mehr weg.«

»Ich helfe dir«, sagte ich und lächelte schon wieder. »Irgendein Mittel wird's schon geben. Mach dir keine Sorgen, Mama. Angie hat sich bestimmt nichts dabei gedacht, du kennst sie ja.«

Ich wusste nicht, warum ich meine Schwester plötzlich verteidigte. Wir kamen gut miteinander aus, aber sie war in letzter Zeit selten zu Hause und wir sahen uns kaum noch. Sie hatte ihre Freunde und ich hatte meine. Sie ging auf die Wirtschaftsschule in der Stadt, kam erst am späten Nachmittag zurück und war fast jeden Abend unterwegs. Ich ging auf die Realschule und blieb am liebsten zu Hause. Ich hatte keine Lust, jede freie Minute im Freizeitheim rumzuhängen wie dieses blonde Mädchen aus der Nachbarklasse. Sandra. Die zog sich doch nur Zigaretten rein, machte auf cool und spielte Billard mit den Jungen aus der zehnten Klasse. Wie die schon kicherte, wenn einer dieser Kerle mit seinem Motorrad vor der Schule wartete. »Schau mal, der Markus, der hat 'ne nagelneue Hundertfünfundzwanziger«, sagte sie dann, als ob das einen Unterschied machte. Ich war lieber mit Heike zusammen, die hatte ähnliche Interessen, schaute sich dieselben Filme an und las dieselben Bücher.

»Wo bleibt sie überhaupt?«, fragte meine Mutter, während sie einige DVDs und Zeitschriften vom Boden aufhob und auf den Schreibtisch legte.

»Angie?«

»Wer denn sonst?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich, »ihr Handy war abgeschaltet. Eigentlich müsste sie schon hier sein. Sie hat was von einem neuen Freund erzählt. Ich glaube, sie meint den Typ, der sie letzten Samstag zur Disco abgeholt hat, als sie so geschminkt war. Vielleicht hängen sie in der Stadt rum.«

»Angie? Die soll sich lieber um ihre Hausaufgaben kümmern, sonst schafft sie die Prüfung nie. Apropos ... hast du schon deine Hausaufgaben gemacht? Ihr schreibt doch morgen 'ne Matheprobe, oder?«

»Übermorgen.«

»Und? Kannst du alles?«

»So ungefähr«, antwortete ich, »mündlich war ich ganz gut. Ich schau mir heute und morgen noch mal alles an. Mach dir keine Sorgen. Für 'ne Drei reicht es in Mathe immer. Soll ich mal mit Terpentin ran?«

»Wie?«

»An die Ölfarbe. Soll ich sie mit Terpentin abwaschen? Oder willst du 'ne neue Tapete drüberkleben? Ich glaube, es sind noch ein paar Reste von der Blümchentapete übrig. Die sieht fast genauso aus.«

»Mach, was du willst«, sagte sie. »Ich rühre jedenfalls keinen Finger mehr.« Sie nahm die Schmutzwäsche, blickte noch einmal auf die blutrote Schrift und ging kopfschüttelnd aus dem Zimmer. »So eine Schweinerei«, murmelte sie, während sie die Kellertreppe hinaufstieg. »Mit knallroter Ölfarbe. Ich möchte wissen, was Papa dazu sagt.«

Papa schimpfte kaum, als er um sieben aus dem Büro kam und von Mama in Angies Zimmer geführt wurde. Er lachte sogar und summte die Melodie, die zu dem Spruch gehörte. »Stop the world I want to get off. Euch fällt auch nichts Neues mehr ein.«

»So leicht nimmst du die Sache?«, staunte meine Mutter.

Papa berührte die rote Farbe und zerrieb sie zwischen Mittelfinger und Daumen. »Soll ich ihr den Kopf abreißen? Ich hab mal 'ne große Colaflasche an die Schultür geklebt und musste das verdammte Ding mit einem kleinen Messer abkratzen. Soll sie doch sehen, wie sie den Spruch wieder abbekommt. Ist schließlich ihr Zimmer.«

»Eine Schweinerei ist das!«

»Halb so schlimm.«

So war mein Vater. Er nahm alles auf die leichte Schulter und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Das Leben ist viel zu kurz, sagte er oft, warum soll ich mich über jeden Mist aufregen? Wenn Mama wütend war, brachte sie immer ihren Schwager ins Spiel, der sei viel strenger und bei dem tanzten die Kinder nicht auf dem Tisch. Papa lachte nur. »Ich brauche keine angepassten Roboter«, sagte er. »Ich brauche selbstständige Wesen, die auch mal einen Fehler machen dürfen.« Er war stolz darauf, uns nie geschlagen zu haben. Nicht mal den berühmten Klaps hatte er uns versetzt. Er ging schon hoch, wenn er das Wort nur hörte.

»Du musst was unternehmen«, sagte Mama.

»Ich werde mit ihr reden«, erwiderte Papa.

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin und beobachtete den roten Spruch. Seltsam, dachte ich. Was hat Angie bewogen, diesen blöden Satz an die Wand zu pinseln? Und warum hatte sie die blutrote Farbe benutzt? Bekam sie keine Angst, wenn sie die großen Buchstaben im Halbdunkel sah? Oder wollte sie Mama eins auswischen? Die beiden verstanden sich im Moment nicht besonders gut und hatten öfter mal Krach.

»Ist Angie da?«, fragte Papa.

»Nein«, antwortete Mama. Sie war wütend, aber auch besorgt. So ging ihr das öfter bei Angie. Vor fünf Jahren, als meine Schwester am Blinddarm operiert wurde, hatte sie die ganze Nacht geweint, und kaum war Angie wieder zu Hause gewesen, hatten sie sich heftig gestritten. »Sie müsste längst hier sein«, sagte sie. »Die Schule ist um halb vier aus. Yvonne meint, sie ist vielleicht noch in der Stadt. Sie hat einen neuen Freund, den Jungen, der sie neulich zur Disco abgeholt hat.«

»Na, der sah doch ganz anständig aus«, meinte Papa, »der hatte fast so lange Haare wie ich vor dreißig Jahren.« Er lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Aber sie hätte wenigstens anrufen können. Wozu hat sie denn ein Handy?« Er ersparte uns die Geschichte von seiner Mutter, die ihm eingeimpft hatte, immer anzurufen, wenn er zu spät kam oder irgendetwas nicht in Ordnung war. Papa konnte ziemlich kleinkariert sein, wenn es um Pünktlichkeit ging, auch wenn er selber meistens zu spät kam und obwohl das gar nicht zu ihm passte.

»Du musst mit ihr reden«, sagte Mama noch einmal, als wir die Treppe hinaufgingen. »So geht das nicht weiter. Ich weiß nicht mal, welche Noten sie schreibt. Wenn sie von der Schule fliegt, können wir sie abschreiben. Mit der Hauptschule kommt sie nicht weit.«

»Sie könnte eine Lehre machen, meinte Papa, als wir uns zum Essen an den Küchentisch setzten. Mama stellte die Rouladen und eine Schüssel mit Kartoffeln auf den Tisch und füllte unsere Teller. »Handwerklich war sie doch immer recht geschickt. Erinnerst du dich noch an das Schränkchen, das sie in der Schule gebastelt hat? Das hätte sogar einem Schreiner gefallen, darauf möchte ich wetten.«

»Die nehmen auch nicht jeden«, erwiderte Mama. Sie zog eine Flasche Mineralwasser aus dem Kasten neben dem Kühlschrank, holte drei Gläser aus dem Schrank und setzte sich zu uns. »Heute musst du mindestens Realschulabschluss haben, um eine Lehrstelle zu kriegen. Der Schreiner, der unsere Regale gezimmert hat, hatte sogar einen Lehrling mit Abitur.«

Papa winkte ab. »Das sind Ausnahmen. Bei uns im Werk gibt es auch Lehrlinge mit Abitur. Aber Hauptschüler nehmen wir genauso.«

»Wenn sie gute Noten haben.«

»Und den Test bestehen, fügte er hinzu. »Heute geht überhaupt nichts mehr ohne Tests. Du weißt schon, eine ellenlange Liste mit allgemeinen Fragen und dieser psychologische Kram mit den Tintenklecksen.«

Mama lachte trocken. »Da wäre sie gut aufgehoben. Möchte wissen, was der große Tintenklecks in ihrem Zimmer bedeutet. Halt die Welt an, ich will aussteigen. Was soll der Blödsinn?«

»Kindereien«, meinte Papa. »Wenn sie vier Jahre jünger wäre, würde ich sagen, sie kommt in die Pubertät, aber so ...« Er spießte eine halbe Kartoffel auf und überlegte eine Weile. »Vielleicht 'ne neue Mode, so wie Piercings oder schwarz lackierte Fingernägel, oder sie will uns eins auswischen, weil wir uns nicht genug um sie kümmern.«

»Weil du dich nicht genug kümmerst, wolltest du wohl sagen, konterte Mama. »Du bist doch kaum zu Hause. Entweder bist du auf einer dieser blöden Tagungen oder du bist auf Geschäftsreise ...«

»Einer muss ja das Geld verdienen«, sagte Papa. Er war kaum aus der Ruhe zu bringen. »Oder soll ich in der Fabrik anfangen und ein paar hundert Euro nach Hause bringen? Wer soll dann das Haus abbezahlen?«

»Schon gut«, lenkte Mama ein, »aber du solltest ein bisschen strenger sein. So was darf man nicht durchgehen lassen.«

»Angie ist siebzehn.«

»Sie ist ein ungezogenes Kind«, schimpfte Mama, »und mir ist ganz egal, ob das 'ne neue Mode ist. Sie wäscht diese Sauerei wieder ab und wenn sie die ganze Nacht an der verdammten Farbe rumkratzt.«

»Beruhige dich, Monika.«

»Ist doch wahr«, sagte Mama. Sie stand auf, stellte ihren Teller in die Spülmaschine und ging aus der Küche. Ein paar Minuten später fing der Staubsauger zu brummen an.

Ich lag im Bett und versuchte zu lesen. Heike hatte mir den neuen Krimi von Sue Grafton geliehen und ich ging mit Kinsey Millhone auf Verbrecherjagd. Kinsey war Privatdetektivin und ganz anders als ich. Eine selbstbewusste Frau, unverheiratet und mit beiden Beinen fest auf der Erde stehend. Ihr machte so schnell niemand was vor. Kinsey heulte nie, wenn eine Schnulze im Fernsehen kam, und wenn ihr jemand zu nahe trat, legte sie ihn mit einem gekonnten Judogriff auf die Bretter. Ich bewunderte Kinsey, weil sie für jedes Problem eine Lösung hatte.

Meine Tür war angelehnt und ich hörte, wie sich meine Eltern im Wohnzimmer unterhielten. Mama war immer noch wütend, weil Angie den Spruch an die Wand gepinselt hatte. Kurz nach elf stand sie auf und blickte aus dem Fenster. »Möchte wissen, wo sie sich rumtreibt«, sagte sie besorgt.

»Ich werde mit ihr reden«, versprach Papa, »obwohl sie eigentlich groß genug ist, um zu wissen, was sie tut.« Ich hörte, wie er aufstand, und stellte mir vor, wie er Mama von hinten in die Arme nahm. »Du wirst sehen, es ist halb so schlimm«, sagte er. »Sie ist doch sowieso kaum hier. Wir sollten froh sein, dass sie einen Freund gefunden hat und mit ihm ausgeht.«

Eine Zeit lang war es verdächtig ruhig und ich kam mir schon schäbig vor, weil ich ihre Zärtlichkeiten belauschte, aber dann setzten sie sich und ich hörte Gläser klirren. Sie sprachen über belanglose Dinge, dann fragte Mama, wie es in der Firma ging. Papa arbeitete als Manager in einer großen Autofirma. »Morgen haben wir ein Meeting mit dem Vorstand«, sagte Papa. »Ich glaube, wir haben nicht genug verkauft.«

»Sollen Leute entlassen werden?«

»Wird nicht anders gehen«, antwortete Papa. »Der Betriebsrat ist schon auf hundertachtzig, obwohl bisher nur Gerüchte umherschwirren. In Regensburg wollen sie ein ganzes Werk schließen. Dann säßen über zweitausend Leute auf der Straße.«

»Das ist ja furchtbar.«

»Das ist alles noch nicht amtlich«, schwächte Papa ab. »Aber wir müssen abspecken, daran führt kein Weg vorbei. Das neue Cabrio hat nicht eingeschlagen und gegen die Japaner kommen wir auch nicht an.«

»Du solltest zur Konkurrenz gehen.«

»So gut geht's dort auch nicht. Der neue Kombi von denen hat's auch nicht gebracht. Die Leute kaufen wieder mehr Gebrauchtwagen.«

»Ich denke, wir haben einen neuen Aufschwung?«

»Der ist längst vorbei«, sagte Papa. »Den hat ein Teil der Presse vor der Wahl herbeigeredet. In Wirklichkeit ging es der Industrie nie besonders gut. Vom Export allein können wir nicht leben und auch der wird uns bald durch die Lappen gehen, wenn die Lohnkosten weiter steigen.«

»Ist dein Job sicher?«

»Bis jetzt schon«, sagte er. »Aber es könnte sein, dass ein paar von den Managern nach Alabama gehen müssen, in das neue Werk nach Montgomery. Die brauchen Leute für die Planung und die Ausbildung.«

»Montgomery? Alabama?«, erschrak Mama. »Du willst nach Amerika? Und was passiert mit unserem Haus? Was ist mit unseren Freunden? Willst du alles im Stich lassen?« Sie klang sehr beunruhigt.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Papa, »noch hat niemand was gesagt, und wenn es so weit ist, schicken sie sowieso die unverheirateten Manager. Meinst du, wir müssen von einem Tag auf den anderen nach Alabama?«

»Würde mich nicht wundern«, erwiderte Mama. »Ich kenne doch deine verdammte Firma. Weißt du noch, was sie mit den Leuten aus der Entwicklung gemacht haben? In die Wüste geschickt haben sie die, von heute auf morgen, also erzähl mir nichts. Denen traue ich alles zu.«

»Warte erst mal ab, was der Vorstand sagt«, beruhigte Papa meine Mutter. »Der Betriebsrat und die Gewerkschaft haben auch noch ein Wörtchen mitzureden, so einfach geht das alles nicht.«

»Hoffen wir's«, sagte Mama.

Nachts wurde ich durch das Schlagen der Haustür geweckt. Ich schreckte hoch und sah auf die Leuchtziffern meines Weckers. Zwei Uhr dreißig und dreißig Sekunden. Die Flurtür wurde knarrend geöffnet.

»Angie?«, rief ich mit gedämpfter Stimme.

Ein unverständliches Brummen.

»Angie? Bist du das?«

Wieder dieses Brummen und ein scharrendes Geräusch, als sie mit ihrer Lederjacke die Wand berührte. Polternde Schritte die Treppe hinunter und das Schlagen ihrer Tür. Ich hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde.

Ich stand auf, schlüpfte in meine Hausschuhe und ging in den Flur. Angie hatte kühlen Wind mitgebracht und ich fröstelte. Ich trug nur ein langes T-Shirt, das mit der großen Mickymaus. Auf Zehenspitzen stieg ich die Kellertreppe zu ihrem Zimmer hinunter.

»Angie?«, rief ich wieder.

Keine Antwort.

»Angie? Ich bin's, Yvonne. Mach auf.«

Lärmende Musik, die bis in den Flur hinausdrang und mir einen solchen Schrecken einjagte, dass ich zusammenzuckte. Schräge Gitarren, hämmernder Bass und ein treibendes Schlagzeug. Irgendwas Altes ... Heavy Metal. Angie stand gar nicht auf so einen Quatsch, hörte lieber Robbie Williams und Yvonne Catterfeld und so was, aber das hier, das tat richtig weh in den Ohren.

Ich hämmerte gegen die verschlossene Tür. »Angie! Verdammt, Angie, mach auf! Und stell die Musik leiser. He, Angie, aufmachen!«

Sie hörte mich nicht, natürlich nicht. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie die Musik etwas leiser stellte. Ich hörte ein Klirren, als sie gegen ein Glas oder irgendetwas anderes stieß, dann knarrten die Bettfedern und ich stellte mir vor, wie sie in ihren Kleidern auf das Bett fiel und stöhnend die Augen schloss. Hatte sie zu viel getrunken? Oder hatte ihr neuer Freund sie so beglückt, dass sie nicht mehr geradeaus laufen konnte? Ich musste beinahe lachen, rief noch einmal nach ihr und ging.

Auf der Treppe begegnete ich meiner Mutter. Sie hatte die laute Musik gehört und war sehr wütend.

»Was fällt dir ein, Angie?«, rief sie nach unten. »Mach sofort die Musik leiser! Andere Leute wollen schlafen.«

Die Musik wurde leiser und ich hörte, wie etwas zu Boden polterte. Sie musste ganz schön getankt haben. Wir klopften an die Tür und riefen ihren Namen, schlugen mit der Faust dagegen, bekamen aber keine Antwort. Dann hörten wir, wie sie laut zu schnarchen begann.

»Ich glaub, sie hat zu viel getrunken«, sagte ich leise, sonst hätte sie bestimmt aufgemacht. Komm, wir gehen ins Bett.«

»Hat sie jemand nach Hause gebracht?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du kein Auto gehört?«

»Ich bin erst aufgewacht, als sie zur Tür reinkam«, erwiderte ich. »Ich hab gleich nach ihr gerufen, aber sie hat mich nicht gehört.« Ich schob meine Mutter sanft zur Treppe zurück und führte sie nach oben. »Reg dich nicht auf, Mama«, sagte ich. »Sie hat etwas zu viel getrunken, das ist alles. Sie haben bestimmt gefeiert, einen Geburtstag oder so was.«

»Na gut«, ließ sie sich beruhigen. »Ich rede morgen mit ihr, jetzt hat es sowieso keinen Zweck. Gute Nacht, Yvonne, schlaf schön.«

»Gute Nacht, Mama.« Ich legte mich in mein Bett und starrte auf die roten Leuchtziffern meines Weckers, bis ich einschlief.

Kapitel 2

Angie war zwei Jahre älter und einen Kopf größer als ich. Sie trug ihre Hüftjeans, die schwarze Lederjacke und die abgetretenen Stiefel. Sie stand im Bad und schminkte sich, und ich war mir beinahe sicher, dass sie die muffigen Klamotten die Nacht über anbehalten hatte. Auf dem Waschbecken lag eine brennende Zigarette. Das ganze Bad stank nach Rauch, sie musste also schon ein paar geraucht haben.

»He«, meinte ich verschlafen, »willst du mich vergiften?«

»Hi«, begrüßte sie mich heiser. »So 'n bisschen Rauch hat noch keinen umgebracht.« Sie zog noch einmal an der Zigarette, hielt sie unter das fließende Wasser und warf sie in den Papierkorb. »Warte, bis du selber rauchst, dann merkst du den Qualm gar nicht mehr.«

Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und schüttelte mich wie ein nasser Hund. »Ich rauche bestimmt nie«, sagte ich angewidert. »Das Zeug riecht ja zum Kotzen.« Ich putzte mir die Zähne. Nachdem ich gegurgelt hatte, sagte ich: »Ich hab den Spruch in deinem Zimmer gesehen.«

Ihre Augen leuchteten. »Geil, was?«

»Ich find ihn blöd.«

»Du hast ja keine Ahnung. Oder willst du hier versauern? Wir wollen raus aus der Scheiße, kapierst du das? Wir wollen endlich was erleben und den ganzen Rotz hinter uns lassen.«

»Was für 'n Rotz?«

»Den Alltag und so.«

»Ohne Alltag geht nichts«, erwiderte ich nüchtern. »Irgendwoher muss die Kohle ja kommen. Es sei denn, du heiratest einen von diesen reichen Arabern. Diesen Scheichs, die dauernd mit den Dollars um sich werfen.«

»Das wär echt geil, hm?«

»Ich weiß nicht.« Ich zog mein T-Shirt über den Kopf und seifte meinen Oberkörper ein. Die neue Seife, die ich gestern im Supermarkt gekauft hatte, roch gut und vertrieb den Rauch aus meiner Nase. »Mama war ziemlich sauer wegen des Spruchs«, sagte ich.

»Die beruhigt sich schon wieder.«

»Warum machst du so 'n Scheiß?«, fragte ich. »Warum hast du Ölfarbe genommen? Mama will, dass du den ganzen Mist wieder abwäschst. Papa war auch nicht begeistert.« Ich legte die Seife hin und sah sie an. »Ich frage mal im Farbengeschäft, ob es irgendein Gegenmittel gibt, okay?«

»Meinetwegen«, nuschelte sie. Sie hatte gar nicht richtig hingehört und sich um ihre Augenbrauen gekümmert, die viel zu dunkel geschminkt waren. Auch die Haare waren viel zu schwarz. »Du verstehst das nicht«, sagte sie.

»Ich bin fünfzehn«, sagte ich.

»Eben.«

Ich tauchte den Waschlappen ins heiße Wasser und wusch die Seife von der Haut. Mein Körper war gut entwickelt und ich war sehr zufrieden mit meinem Spiegelbild. Ich war schlank und hatte eine gute Figur und mein Busen war so fest, dass mir schon der junge Hausmeister in der Schule bewundernd nachsah. Das bildete ich mir jedenfalls ein. Meine kurzen Haare saßen locker und meine braunen Augen sahen auch ohne Schminke gut aus. Nur die kleinen Pickel auf der Stirn störten mich.

»Habt ihr was getrunken gestern?«, fragte ich.

»Ein bisschen, wieso?«

»Du warst ziemlich laut. Du hast dich eingeschlossen und die Musik voll aufgedreht. Hardrock oder Heavy Metal oder so was.«

»Weiß ich nicht mehr.«

»Mama ist aufgewacht.«

»So schlimm kann's nicht gewesen sein«, sagte Angie. »Ich hab nur 'n paar Red Bull mit Wodka getrunken. Und den Sekt, den Sandra ausgegeben hat.«

»Sandra? Die blonde Kuh aus meiner Parallelklasse?«

Angie packte ihre Schminksachen ein. »So schlimm ist die gar nicht. Sie hatte gestern Geburtstag und hat 'ne Runde Sekt geschmissen.« Sie lachte und überprüfte ihr Spiegelbild. Ich fand, sie sah mit den schwarzen Wimpern und den knallroten Lippen viel zu ordinär aus, aber sie war zufrieden. »Sandra knutscht ein bisschen viel herum, aber sonst ist sie okay.«

»Ich kann sie nicht ausstehen.«

Angie war schon an der Tür und drehte sich noch mal um. »Hast du vielleicht zehn Euro?«, fragte sie mich. Kriegst sie in einer Woche wieder.«

»Schau mal in meinen Geldbeutel«, antwortete ich. »Steckt in der rechten Jeanstasche. Da muss noch ein Zehner drin sein. Den kannst du haben, aber ich bekomme ihn wieder, versprochen?«

»Versprochen«, antwortete Angie und ging.

Angie war schon aus dem Haus, als ich nach unten kam. Sie hatte einen Schluck von ihrem Kaffee getrunken und war rausgestürmt, ohne mit Mama zu reden. Ich half meiner Mutter beim Streichen der Pausenbrote.

»Sie hat mir versprochen, die Farbe wegzuwaschen«, log ich.

»Hat sie sonst noch was gesagt?«

»Sie haben gefeiert gestern«, erwiderte ich, »wie ich's gesagt habe. Ein Mädchen aus der Clique hat 'ne Runde Sekt ausgegeben. Sie hatte Geburtstag. Muss ziemlich feucht gewesen sein, die Party.«

»Angie benimmt sich unmöglich.«

Ich trank meinen Tee, schlang eine Scheibe Toast hinunter und packte mein Pausenbrot in den Rucksack. »Ich muss gehen, Mama«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen, okay?«

»Das sagst du so einfach.«

Ich schwang mich auf mein Rad, ein altes Sportrad, das wir gebraucht gekauft hatten, und fuhr zur Schule. Wir hatten die ersten beiden Stunden Deutsch und lasen einen Text über Neonazis. Danach diskutierten wir darüber, ob es im Osten mehr Neonazis als im Westen gab. Heike und ich bekamen gute Noten. Meine Freundin kam aus Erfurt und wir hatten oft darüber gesprochen.

In der Pause lehnten wir am Zaun und sahen einigen Sechstklässlern beim Ringkampf zu. Ein wendiger Junge, der einen Kopf kleiner als die anderen war, setzte sich gegen drei Widersacher durch. Er wurde erst durch unseren Vertrauenslehrer gestoppt. Er hatte die Pausenaufsicht und duldete keine Schlägereien. Vor ein paar Monaten war er von einigen Eltern beschuldigt worden, nicht hart genug durchzugreifen, seitdem griff er sogar bei den Kleinen ein, obwohl die es lange nicht so ernst meinten wie einige Jungen aus der zehnten Klasse.

Gestern hab ich deine Schwester gesehen«, sagte Heike. Sie hatte blonde Strubbelhaare und war immer fröhlich. Ihre Eltern besaßen einen Gemüseladen im nächsten Vorort, ungefähr fünf Kilometer entfernt.

»Wo?«, fragte ich erstaunt.

»Vor dem neuen Italiener, gegenüber von unserem Gemüseladen. Sie knutschte mit einem Typ rum. Sie standen unter einer Laterne, sonst hätte ich sie gar nicht erkannt. Die ging ganz schön ran. Kicherte dauernd und zog diesem Langhaarigen beinahe die Hose aus.«

»Das ist ihr neuer Freund.«

»Komischer Typ.«

»Wieso?«